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6.5 - Das Ende 

Gruhl-1992

In jeder Art seid ihr verloren; —
Die Elemente sind mit uns verschworen.
Und auf Vernichtung läuft's hinaus.

(Der deutsche Dichter Goethe im Faust II)

367-379

So wie die technische Kultur - wir sprechen lieber von <technischer Zivilisation> - absolut einmalig in der Geschichte des Menschen ist, so einzigartig wird auch ihr Ende sein. Sie wird nicht an kultureller Degeneration des Menschen zugrunde gehen — wie könnte sie das auch, wo doch der kulturelle Stand der Völker höchst unterschiedlich geblieben ist — sondern an der physischen Ausplünderung der Erde, wobei heute alle Völker einmütig handeln. 

Fundamentale Änderungen aller Lebens­verhältnisse sind in weniger als 100 Jahren eingetreten. Der Erdkreis quillt erstmalig an Menschen über; die Grenzen der natürlichen Räume, der Grundstoffvorräte und der Belastbarkeit der Natur sind infolge der Menschenmassen weit überschritten. Der Rest der Tragödie ist nur noch eine <Frage der Zeit>, in der jetzt alle Vorgänge eskalieren. 

Welle auf Welle neuer Probleme brandet heran, jede höher als die vorhergehende. Aufgrund der Ablösung aus der tierischen Vergangenheit, 

»...mit der Tatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Tierseele — war auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Rätselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles, gegeben, daß der Aspekt der Erde sich damit wesent­lich veränderte. 
In der Tat, es brauchte göttlicher Zuschauer, um das Schauspiel zu würdigen, das damit anfing und dessen Ende durchaus noch nicht abzusehen ist, — ein Schauspiel, zu fein, zu wundervoll, zu paradox, als daß es sich sinnlos-unvermerkt auf irgend einem lächerlichen Gestirn abspielen dürfte!«39

Nietzsche meint weiter, daß sich mit dem Menschen "etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein großes Versprechen sei ..." 

Das große Versprechen glaubte Nietzsche in seiner Vision vom Übermenschen gefunden zu haben. Darin sah er die Rettung vor dem Untergang, den auch er kommen sah und doch nicht wahrhaben wollte; es war sein Aufbäumen gegen das Unvermeidliche. Spengler erkannte das Dilemma Nietzsches

"Es ist von tiefster Bedeutung, daß Nietzsche vollkommen klar und sicher ist, solange es sich um die Frage handelt, was zertrümmert, was umgewertet werden soll; er verliert sich in nebelhafte Allgemein­heiten, sobald das <Wozu>, das <Ziel> in Rede steht. Seine Kritik an der Dekadenz ist unwiderleglich, seine Über­menschen­lehre ein Luftgebilde."40

Der Grund mag darin liegen, daß sogar Nietzsche eine irgendwie geartete Hoffnung brauchte. Den Weg zurück sah auch er abgeschnitten; denn unser "Trieb zur Erkenntnis" ist eine Leidenschaft, wenngleich eine unglückliche. Vielleicht geht der Mensch an dieser "Leidenschaft der Erkenntnis" zugrunde, aber selbst diese Aussicht schreckt ihn nicht; 

"wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntnis! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zu Grunde geht, so wird sie an einer Schwäche zu Grunde gehen: was will man lieber? Dies ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande?"41

Daß wir schon 100 Jahre später in diesem Dilemma stecken würden, konnte Nietzsche noch nicht ahnen. Daß der Mensch an seiner Erkenntnis zugrunde gehen kann, hat er allerdings wiederholt ausgesprochen.

Goethes Faust verwettet darauf seine Seele, daß er in seiner Begierde nach Erkenntnis nie zu befriedigen sein werde. Er kann sich, wie jeder faustische Mensch, mit seinem irdischen Schicksal nicht abfinden.

"So sind am härtesten wir gequält:
Im Reichtum fühlend was uns fehlt."
42

Das technische Zeitalter eröffnete solchen Menschen neue Dimensionen für ihren Tatendrang. Erneut flackerte die Utopie auf, in ein endgültiges und glück­seliges Stadium der menschlichen Geschichte eintreten zu können. Der späte Goethe sah skeptisch die Umrisse eines solchen Zeitalters um sich erstehen43 und verwendete das Menetekel für den Schluß seines größten Werkes. Dort wird das Alte abgebrochen, weil es dem "Fortschritt" im Wege steht: die Hütte des alten Ehepaares Philemon und Baucis. Sie sollen "umgesiedelt" werden; doch leider sträuben sie sich ganz unvernünftig gegen ihr Glück, eine moderne Neubauwohnung beziehen zu dürfen, folglich wurden sie eben von den dienstbaren Gesellen gleich mitsamt der brennenden Hütte "weggeräumt". 

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Der erblindete (!) Faust ist es, der das künftige Paradies erschaut. Da wimmelt es von Arbeitskräften, und er ermahnt den Aufseher:

"Ermuntre durch Genuß und Strenge,
Bezahle, locke, presse bei!
Mit jedem Tage will ich Nachricht haben
Wie sich verlängt der unternommene Graben."

Faust meint, "Räume vielen Millionen" zu eröffnen ("Verdichtung" nennt man das heute), und seine letzten Worte sind:

"Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft' ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!"

Hier beginnt der Streit der Deuter, ob auf Grund dieser Worte Mephisto die Wette gewonnen oder verloren hat. Goethe läßt ihn die Wette verlieren, denn Faust hatte im Konjunktiv gesprochen: "Zum Augenblicke dürft' ich sagen: ..." Und der hellsichtige Mephisto wußte schon, daß es bloße Phantasien des blindgewordenen Faust sind; denn ausgerechnet diesen "letzten, schlechten, leeren Augenblick, der Arme wünscht ihn fest zu halten."44) Mephisto sieht weiter:

"Du bist doch nur für uns bemüht
Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen;
Denn du bereitest schon Neptunen,
Dem Wasserteufel, großen Schmaus.
In jeder Art seid ihr verloren; —
Die Elemente sind mit uns verschworen,
Und auf Vernichtung läuft's hinaus."

Und das ist heute, 160 Jahre nach der Vollendung des zweiten Teils der "Faust"-Tragödie, zu einer konkreten Sorge geworden: Die Erwärmung der Erde läßt den Weltwasserspiegel ansteigen — und je höher der Mensch seine Dämme zieht, umso größer wird der Schmaus für Neptun werden; denn je höher die Dämme, umso größer sind die Landflächen, die später der See zur Beute fallen werden. Aber Goethe wäre nicht der große Dichter, wenn er den Dammbau gegen das Wasser nicht als Symbol dafür eingesetzt hätte, daß des Menschen Mauern gegen die Natur insgesamt vergeblich sind. Die Elemente arbeiten unablässig an der Entropie, und der Mensch unterstützt sie dabei seit Goethe Jahr für Jahr stärker

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Was den blinden Faust "ergötzt", das Geklirr der Spaten, rührt nicht vom Dammbau, sondern vom Aushub seines Grabes! Dies symbolisiert die endzeitliche Menschheit, die fröhlich ihr eigenes Grab schaufelt, aber in ihrer Blindheit das nicht weiß! "Die Menschen sind im ganzen Leben blind", läßt Goethe ausdrücklich von "Frau Sorge" konstatieren. Nur Faust ist also einer der wenigen Sehenden gewesen, der erst kurz vor seinem Tod erblindet.

 

Der faustische Mensch versucht, seit er denkt, diese Welt zu transzendieren, in metaphysische Bereiche vorzustoßen. Er will nicht "nur von dieser Welt" sein, sondern möglichst unsterblich. Das bewiesen schon die frühesten Kulturen ganz deutlich in ihren größten Bauten. Unzufrieden mit seinem irdischen Dasein, beanspruchte der Mensch seit jeher ein metaphysisches Schicksal. Er hat nun alle Aussicht, dieses zu bekommen — aber ganz anders, als er sich das vorgestellt hat.

Der französische Wissenschaftler und Politiker Maurice Blin schließt sein unvergleichliches Buch <Die veruntreute Erde> mit folgenden Sätzen

"Nachdem die Menschheit für alle Zeit mit dem Schlummer der Natur und den Köstlichkeiten der Kultur gebrochen hat, stößt sie über das Leben hinaus in das Reich der Metaphysik vor, wo in einer unerhörten Erschütterung Freiheit und Schicksal aufeinander prallen. Diese Aussicht blendet die Menschheit, und sie möchte noch einen Augenblick lang die Augen geschlossen halten. Doch dazu ist es zu spät. Das Abenteuer ist in seinem Ursprung über­natürlich. Alles deutet darauf hin, daß es dies auch an seinem Ende sein wird."45

Ob Ähnliches schon einmal auf irgend einem Planeten geschehen ist? Daß in Millionen Jahren ein Lebewesen entstand, das an seiner eigenen Tüchtigkeit zugrunde ging? Wir wissen es nicht und werden es nie wissen! — Und dennoch wird das Ende des Menschen ein ganz natürliches, nämlich naturgesetzliches sein. Und so weit hat es der menschliche Geist gebracht, daß er die Vorgänge nachvollziehen und auch voraussehen kann. Die gefühllosen Elemente bleiben letztlich die Herren der Lage auf diesem Planeten.

Die Menschen sind Sklaven der Siege geworden, die sie über die Materie und die belebte Natur erfochten haben. Sie irren, wenn sie jetzt die Materie und das Leben zu beherrschen glauben. 

"Der Irrtum ist der kostspieligste Luxus, den sich der Mensch gestatten kann; und wenn der Irrtum gar ein physiologischer Irrtum ist, dann wird er lebensgefährlich. Wofür hat folglich die Menschheit bisher am meisten gezahlt, am schlimmsten gebüßt? Für ihre ›Wahrheiten‹: denn dieselben waren allesamt Irrtümer in physiologicis ..."46

* (d-2011)   M.Blin bei Detopia   *1922 in den Ardennen  

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Die physiologischen Folgen, die uns erwarten, schilderte schon Leonardo da Vinci präzise:

"Die Flüsse werden also ohne Wasserzufuhr bleiben, das fruchtbare Erdreich wird nicht mehr schwellende Triebe hervorbringen, die Felder werden nicht mehr prangen im Schmuck des wogenden Getreides. Alle Tiere werden sterben, da sie kein Gras zum Äsen finden werden, und die Nahrung wird ihnen völlig fehlen, sogar den raubgierigen Löwen und Wölfen und anderen Tieren, die vom Raub leben. Auch den Menschen wird schließlich, nach vielen Vorkehrungen, nichts anderes übrigbleiben, als das Leben aufzugeben, und das Menschengeschlecht wird aussterben. Auf solche Weise wird die fruchtbare und fruchtbringende Erde, nun ganz verlassen, alsbald wüst und öde werden." 47)

Leonardo nennt an dieser Stelle die Gründe dafür nicht, aber seine anderen Äußerungen lassen keine Zweifel, daß er die technische Entwicklung und die Machtübernahme des Menschen meint, der "alles Geschaffene nur vernichtet".48 Er sieht auch die furchtbaren Waffen voraus, die alle Menschen vernichten können. 

"Ihr armen Menschen, euch helfen nicht die uneinnehmbaren Festungen, weder die hohen Mauern eurer Städte noch die Vielzahl ihrer Bewohner noch eure Häuser und Paläste! Da bleibt kein Platz außer in winzigen Löchern und unterirdischen Höhlen, wo ihr, nach Art der Krebse und Grillen und anderer ähnlicher Tiere, Schutz und Rettung finden könntet."49

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prallen nun unvorstellbare Menschenmassen und gewaltige Massen­vernichtungs­waffen aufeinander. Der französische Nobelpreisträger für Wirtschafts­wissenschaft des Jahres 1988, Maurice Allais, hält aus guten Gründen die Menschenmassen für weit gefährlicher:

"Alle sprechen zu Recht von der Atombombe. Aber die Gefahr der Atombombe ist gar nichts verglichen mit der Gefahr, die aus der Bevölkerungs­explosion resultiert. Falls die Atombombe eingesetzt wird, dann wegen der Folgen des Bevölkerungs­wachstums."50 

Hinzu kommt, daß immer mehr Staaten über Atomwaffen verfügen werden. Der Irak stand kurz davor. Neuerdings häufen sich die Meldungen über Schwarzhandel mit waffen­fähigen Kernbrenn­stoffen.51 

* (d-2015:)  wikipedia  Maurice Allais   *1911 Paris bis 2010 Paris (99)

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In Afrika brechen einige Staaten heute schon zusammen, und jährlich kommen weitere hinzu. Die Menschen­massen lassen sich nicht mehr regieren und ernähren. Andere Staaten um den Äquator erleiden das gleiche Schicksal. Die vor zehn Jahren noch nicht bekannte Infektionskrankheit Aids verbreitet sich dort am rasantesten. Doch selbst diese Entwicklung verhindert nicht, daß die Bevölkerung des Kontinents von jetzt 650 Millionen jährlich um drei Prozent zunimmt, sich also in 23 Jahren verdoppelt! Das wachsende Elend wird jedenfalls die Zahl der Staatsstreiche, Revolutionen, Massenaufstände, auch Stammes­kriege noch weiter erhöhen.

Der Afrikaner Tévoédjrè schrieb schon früher, "daß wir bei jeder drohenden Gefahr wirtschaftlichen Zusammenbruchs Zeuge willkürlicher und umfang­reicher Austreibung ganzer Stämme von <Fremden> sind, deren Besitz unter Mißachtung des Rechts gestohlen oder konfisziert wird. Ja, man begeht die Grausamkeit, Schwangere, Säuglinge und Greise, die nur in Frieden leben wollen, über die Grenzen zu treiben. Und wir sprechen von Afrika als <human und brüderlich>!"52  

Aber was reden wir von Afrika? Das Gleiche passierte im Jahre 1991 in Jugoslawien.

Verschiedene Staaten werden immer öfter ihre Nachbarn überfallen, bei denen noch etwas zu holen ist — und sei es nur trinkbares Wasser, oder auch nur zur Ablenkung von den eigenen inneren Kalamitäten. Darum wird die Nachfrage nach Waffen steigende Konjunktur haben, und es werden sich immer welche finden, die solche Geschäfte heimlich betreiben, und in den Industrie­ländern Betriebe, welche auf diese Weise ihre Arbeitsplätze sichern. Der rasche Wandel der politischen Lage bringt es mit sich, daß der Verbündete von heute der Feind von morgen ist.

Der Philosoph Alfred Weber hatte schon 1953 aufgrund der Bevölkerungsexplosion befürchtet, daß "ein Todeskampf um die Futterplätze auf der Erde" entbrennen werde, bei dem ganze Bevölkerungskomplexe von Hunderten von Millionen radikal ausgerottet werden, wenn die Menschheit nicht die zur Gewohnheit gewordene Art der Erdausbeutung aufgibt.53 Aber seitdem ist doch die Ausbeutung erst so richtig in Fahrt gekommen! Daran hat auch Aurelio Pecceis Warnung, daß es schon zu Lebzeiten unserer Kinder und Kindeskinder drei Milliarden Tote geben könnte, wenn es so weitergeht, nichts geändert.54

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Mit gleicher Eindringlichkeit sprach Andrej Sacharow 1968 von drohenden Lebensmittelkrisen, "die zu einem einzigen Hunger­meer zusammenfließen, zu einer Welle von unerträglichen Leiden, Verzweiflung, Vernichtung und Haß Hunderter Millionen von Menschen. Diese Katastrophe bedroht die gesamte Menschheit ... sie wird überall Kriege hervorrufen, allgemeines Absinken des Lebens­standards nach sich ziehen."55

Zwei Jahrzehnte später ging der damalige Außenminister der Sowjetunion, Eduard Schewardnadse vor der Außenpolitischen Gesellschaft in New York soweit zu sagen: "Eines Tages könnten wir beginnen, nicht um politische Vorherrschaft oder Einflußsphären zu kämpfen, sondern um den Zugang zu Wasser, frischer Luft und sogar zu einem grünen Rasen."56

Völkerwanderungen gigantischen Ausmaßes haben in allen Kontinenten längst begonnen, die mit keiner der früheren zu vergleichen sind. Nach Schätzungen des Internationalen Roten Kreuzes sind um die 500 Millionen schon unterwegs, und um das Jahr 2000 werden es 1000 Millionen sein: Flüchtlinge vor Natur-, Umwelt- und Hunger­katastrophen, Elendsflüchtlinge und Opfer politischer Umstürze. Das sind so viele Menschen wie im Mittelalter auf der ganzen Erde lebten! Wenn jetzt nur die Hälfte, ein Viertel oder gar noch weniger Menschen den Planeten bevölkerten, hätten wir vielleicht noch eine Chance. Das Leben geht an zuviel Leben zugrunde.

Zu Zeiten der früheren geschichtlichen Völkerwanderungen, die sich über Jahrhunderte hinzogen, gab es noch leere Räume in Hülle und Fülle — und trotzdem bekriegten sich die Völker. Jetzt ist der Planet besetzt. "Wegen Überfüllung geschlossen!" könnte heute jeder Staat an seine Grenzen schreiben; denn es gibt kein Land mehr, das unter ökologischen Kriterien nicht überlastet wäre. 

"Es muß folglich <Raumkriege> geben, rationaler, populärer und schrecklicher als irgendein Konflikt der Vergangenheit. Wer wollte so blind sein, diese Möglichkeit zu bestreiten?" Das schrieb der französische Zukunfts­forscher Bertrand de Jouvenel in seinem Buch <Die Kunst der Vorausschau> 1967.57

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Im Jahre 1975 habe ich deutlich ausgesprochen, daß es in den kommenden Jahren eine Motivations­änderung in den Streitpunkten der Weltpolitik geben werde, daß es dann nicht mehr um verschiedene Gesell­schafts­systeme, sondern um die nackten Lebensbedingungen geht: fruchtbare Böden, Wasser und Grund­stoffe. Ein intensiver Kampf der überfüllten Räume werde entbrennen, in dem es nicht um etwas Zugewinn oder Verlust, sondern buchstäblich um Leben und Tod geht. Die Kriege der Zukunft würden daher an Furchtbarkeit alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen.58)* Aus der Faszination des Unnötigen wird ein Kampf um das Allernötigste werden.

 

Wenn der Historiker bedenkt, aus welch fraglichen Gründen sich Menschen zu allen Zeiten massenhaft umgebracht haben — Menschenopfer der Heiden, Hexen­verbrennung der Christen, bis hin zu den Massenmorden unter Stalin und Hitler in unserer unmittelbaren Gegenwart — dann muß er daran zweifeln, daß die Menschen sich wohlwollender gegeneinander benehmen werden, wenn es um das eigene Überleben geht. Je länger dem Wahn gehuldigt wird, die Vermehrung der Menschen könne so weiter­gehen, umso grauenvoller wird der Ausgang sein. Die Flut des Lebens ist in der gesamten Natur auch stets eine sich selbst vernichtende Entwicklung gewesen.

Noch geht es nicht um kriegerische Verschiebung der Grenzen. Unter anderem darum nicht, weil die Nachbar­länder in der Regel auch voll sind, und weil die Welt jetzt eine instinktive Furcht hat, Grenzen zu verschieben, denn damit könnte das ganze künstliche Gefüge der Weltaufteilung einstürzen. Also bleibt es zunächst beim Aus- und Einsickern rasch zunehmender Zahlen von Entwurzelten über die Staatsgrenzen. Dabei werden die Zielländer bevorzugt, in denen Wohlstand herrscht. 

Der freie Weltverkehr, technisch überhaupt kein Problem mehr, transportiert Personen, Infektionen und Drogen in unkontrollierbarem Ausmaß. Binnen weniger Jahre wird die rasant steigende Zahl der Eindringenden das Ordnungs- und Wohlstandsgefüge der Zielländer in der nördlichen Hemisphäre ins Wanken bringen. Die Gegenreaktion der einheimischen Bevölkerung erfolgt spätestens dann, wenn die Arbeitsplätze für sie selbst nicht mehr ausreichen. Die diesbezügliche Eskalation ist bereits im Gange. 

* (d-2013) Gruhl 1975 s319

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Der frühere Oberstadtdirektor von Hannover, zuletzt Intendant des Norddeutschen Rundfunks, Martin Neuffer, schrieb 1982 in seinem Buch <Die Erde wächst nicht mit>:

"Der Auswanderungsdruck aus den Ländern der Dritten Welt mit ihrem explosiven Bevölkerungswachstum wird sich angesichts von Elend, Hunger und Hoffnungslosigkeit um ein Vielfaches steigern. Die aktivsten Gruppen werden mit dem Mut, der Hartnäckigkeit und der Verschlagenheit der äußersten Verzweiflung auszubrechen suchen. Sie werden auf allen Wegen, mit allen Mitteln, unter allen Gefahren in endlosen Massen herandrängen — überallhin, wo es nur um ein geringes besser zu sein scheint als in ihrer Heimat. ... Die reicheren Länder werden sich gegen diesen Ansturm zur Wehr setzen. Sie werden Befestigungs­anlagen an ihren Grenzen errichten, wie sie heute nur zum Schutz von Kernkraftwerken dienen. Sie werden Minenfelder legen und Todeszäune und Hundelaufgehege bauen ... Das sind keine freundlichen Aussichten. Doch es hat keinen Sinn, die Augen vor ihnen zu verschließen."59

Die Bevölkerungs­explosion in der südlichen Hemisphäre und am Äquator detoniert so gewaltig, daß das von Neuffer aufgestellte Szenario schon jetzt anläuft. Die Vereinigten Staaten beginnen zur Zeit mit dieser Art von Abwehr. Sie errichten an der Grenze zu Mexiko zunächst auf den kritischsten 26 Kilo­metern einen drei Meter hohen Stahlzaun.60

Eine Aufnahme großer Menschenmassen in der nördlichen Hemisphäre würde nicht nur diese Staaten ins Chaos stürzen, sondern auch der südlichen Welt keine spürbare Entlastung bringen, da ihr Geburtenüberschuß jede denkbare Abwanderung mehrfach übertrifft. Da helfen leider keine wohlgemeinten Absichten, die Lebens­umstände dort soweit zu "verbessern", daß die Menschen zum Bleiben veranlaßt werden könnten.

Es lag in der Logik der Geschichte, daß der Ost-West-Konflikt beendet wurde; denn der Nord-Süd-Konflikt beginnt. Der Golfkrieg war wohl noch nicht der erste Krieg zwischen Nord und Süd; aber er war der erste, bei dem die USA und die Sowjetunion nicht offen oder hinterrücks gegeneinander Partei ergriffen. Es kam erstmalig in der bisherigen Geschichte zu einer Solidarität der nördlichen Halbkugel. Und es war der erste Krieg, bei dem die Technik total über Menschenmassen siegte. Das Verhältnis der Verluste mag etwa bei 1:1000 gelegen haben. Das sagt vieles über die künftigen Macht­verhältnisse aus. Doch das ist für den Norden ein zwiespältiger Trost; denn der Golfkrieg beweist, daß die Verluste an nicht nachwachsenden Ressourcen die Verluste an nachwachsenden Kämpfern auch um das Tausendfache übertreffen. 

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Und es ist ein böses Zeichen, daß dieser Tatsache kaum Beachtung geschenkt wird. So waren zum Beispiel die brennenden Ölquellen den Nachrichtenmedien nur selten der Erwähnung wert, nicht einmal die kuwaitische Regierung schien deren Löschung sonderlich dringend zu interessieren

Dies ist ein krasser Beweis dafür, welch geringen Stellenwert die Lebensgrundlagen nach wie vor haben. Dies ist eine Probe aufs Exempel, mit welch gleichgültiger Behandlung ökologischer Systeme die Völker in ihre letzte Schlacht marschieren werden: die Natur wird nicht zählen, nur das eigene kurzfristige Überleben.

 

Die Frage, woran die Menschen letzten Endes zugrunde gehen werden, zu beantworten, ist noch schwieriger als die, woran der Wald stirbt. Zu vieles wird zusammenkommen und ineinandergreifend sich gegenseitig verstärken, als daß Fristen berechenbar wären. Seitdem es Leben auf diesem Planeten gibt, sind die Geschehnisse nie berechenbar gewesen und die Geschichte des Menschen schon gar nicht. Könnte ein Mensch alles überblicken, dann wäre er ja ein Gott.

Was jedoch zu allen Zeiten berechenbar bleibt, ist das, was der Mensch braucht, um zu überleben. Um die 20 große Entwicklungen, die wir beschrieben haben, gefährden unser Leben auf diesem Planeten — und zwar schon jede einzelne für sich allein. Gemeinsam werden sie sich aber schnell gegenseitig verstärken und damit eskalieren. Dafür sorgen die vielen Vernetzungen der planetarischen Zivilisation von heute. Alle Gefahren resultieren aus der genialen Erfindungsgabe des euro­päischen Menschen und lösen kurzfristig Katastrophen aus, wie sie von der Natur nie erzeugt wurden und auch nie von ihr verkraftet werden können. Es sind Veränderungen, wie sie die Natur nur in Zehntausenden von Jahren vollbringt, die aber der technische Mensch jetzt in einem Jahr schafft. Bei seinem Tun hat er die Folgen nie bedacht, und ihm fehlt auch die Gabe, diese vorauszusehen. 

Die Vorausberechnung gelingt jeweils nur für die einzelne Ursache und deren Folge, nicht für das Zusammen­wirken vieler Ereignisse.

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Wir wissen, daß das Leben auf dieser Erde schon durch bestimmte einzelne Ereignisse beendet werden kann. Total durch einen großen Atomkrieg oder auch durch eine globale Infektion mit noch unbekannten Bakterien oder Viren, die sich auch aus der Genmanipulation ergeben können. Die sichersten Katastrophen werden infolge der Vermehrung der Menschen eintreten. Die Fruchtbarkeit der Menschen zerstört zunächst die Fruchtbarkeit der Erde und dann ihn selbst. Hunger, Infektions­krankheiten, Kriege und totale Zusammenbrüche der staatlichen Ordnung werden Milliarden Menschen das Leben kosten.

Aus allen fort­schritt­lichen Einrichtungen werden über Nacht Gefahrenquellen, die niemand bedacht hatte.

 

Der bis 1939 noch heile Planet ist innerhalb von 50 Jahren in ein Minenfeld umgewandelt worden. Auch ohne ABC-Waffen existieren folgende Großminen in allen Kontinenten: über 400 Atomkraftwerke, einige Hundert Zwischenlager abgebrannter Brenn­elemente, einige Dutzend Wieder­aufbereitungs­anlagen, viele Kern­brenn­stoff-Fabriken. Dazu kommen Tausende chemischer Fabriken, Erdölplattformen und Tanker. Nun werden auch noch Tausende von Labors eingerichtet, die mit Genen aller Art manipulieren und experimentieren.

Unterdessen zerbrechen jetzt schon große Staaten, werden Kriege und Bürgerkriege geführt wie eh und je. Und diese können an Zahl und Ausmaß nur zunehmen, schon weil die Menschendichte unheimlich zunimmt; denn die Massen haben keine Ausweich­räume mehr. Die politische Welt ist gefährlich labil geworden, für fest gehaltene Strukturen stürzen über Nacht ein. Die Superatommacht Sowjetunion zerfiel in wenigen Tagen. Dem legalen Präsidenten wurde die Befehlsgewalt über das riesige Arsenal der Atomwaffen entrissen. Solche Ereignisse werden sich in der Welt wiederholen und selten einen derart guten Ausgang finden. Und selbst bei diesem drohen aus der einen Atommacht Sowjetunion mehrere Atommächte zu werden, mit entsprechend aufge­splitterten Risiken.

Verglichen mit künftigen kriegerischen Überlebenskämpfen wird der II. Weltkrieg harmlos erscheinen.  

Schon der Zusammen­bruch der Stromversorgung führt sofort zum Chaos. Die Lichter verlöschen. Die Kochgeräte bleiben kalt, die Kühlschränke werden warm. Die Züge in Stadt und Land bleiben stehen und auch die Fahrstühle in den Hochhäusern. Die Telefone stehen still, Radio und Fernsehen bleiben stumm. Die wunderbaren Computer rechnen nicht mehr, die Buchhaltungen der Banken brechen zusammen, aber Geld, Aktien und Versicherungen werden ohnehin wertlos sein. Medikamente wird es nicht mehr geben, sobald die Vorräte aufgebraucht sind.

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Längst laufen anschauliche Filme darüber, wie unsere Welt untergehen wird. Auch das ist ein Geniestreich des Menschen, der vor hundert Jahren noch nicht ausgedacht war. Nach jedem Film gehen die Zuschauer wie gewohnt schlafen und ändern nichts — so wenig dieses Buch etwas ändern wird. 

Viele ernsthafte Leute hoffen, daß es sich nur um Irrtümer handelt. Sagte nicht schon der dänische Philosoph Sören Kierkegaard, daß die Welt untergehen werde unter dem Jubel der witzigen Köpfe, die da meinen werden, es sei ein Witz?

In der Tat, die Irrtümer lauern an allen Stationen der Weltgeschichte. 

Wir deuteten sie als Mutationen des Geistes. Wir können es auch mit Nietzsche etwas weniger freundlich formulieren: "Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden — auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus. Gefährlich ist es, Erbe zu sein."61 Und bei Goethe lautet es: "Das Übel häuft sich von Generation zu Generation!" — denn "wir überliefern auch diese geerbten Gebrechen mit unseren eigenen vermehrt, unseren Nachkommen."62 Darum meinte Goethe in diesem Gespräch mit Eckermann auch, es komme ihm oft vor, "als wäre die Welt nach und nach zum Jüngsten Tage reif."

 

Die weit vorausgeeilte Vorhut des Menschengeschlechts hat sich auf ein übermenschliches Wagnis eingelassen. Sie hat dabei grandiose Triumphe gefeiert, an denen sich alle berauschen. 

Wenn wir aber die Zahl der Sterblichen bedenken, die je auf unserem Planeten gelebt haben, dann hat nur ein verschwindender Bruchteil in Hochkulturen gelebt, und selbst in diesen ist es nur einem Teil "gut gegangen", aber zufrieden waren nicht einmal diese! Nur zur Zeit geht es einigen hundert Millionen gut. Doch der Preis, der für deren Verschwendung nun fällig wird, ist der eigene Untergang. 

"Wir bauen uns eine technische und ökologische Katastrophe auf", schrieb der Schweizer Dichter Friedrich Dürrenmatt in seiner letzten Betrachtung <Menschheit im Universum der Katastrophen>, welcher er in den Stunden vor der Nacht des Todes die letzte Fassung gab.63 (FAZ 1991)

Und wie schnell sinkt am Ende alles dahin! Zur Entwicklung der menschlichen Kulturen waren Jahrtausende nötig, zur technischen Zivilisation ein kurzer Sprung von lediglich 150 Jahren. Und in die heutige Supertechnik katapultierten uns die letzten 50 Jahre! Zu ihrer Vernichtung wird es noch weniger Jahre bedürfen — sollte es eine atomare sein, dann nur Stunden.

Bis zum Zweiten Weltkrieg schleppte sich die Weltgeschichte gemächlich fort und fort, teils als Komödie, teils als Tragödie. Daß nun die Tragik überhand nimmt, ist die direkte Folge der Größe des Menschen oder seines edlen Wahns; denn Tragik entsteht nur dort, wo auch Größe ist. Und Größe haben voraus­eilende Menschen in ihren geistigen und künstlerischen Werken der letzten Jahrtausende sowie in ihren wissenschaftlich-technischen Leistungen der letzten Jahrhunderte wahrhaftig bewiesen. 

Doch die technischen Siege haben das Gefüge der Natur gesprengt. Der Titanismus mündet jetzt unmittelbar ins Verhängnis. Die Tragik unserer gegen­wärtigen Endzeit liegt darin, daß gerade die stolzen Triumphe und Siege das unvermeidliche Ende der Menschenzeit ankündigen. 

Was immer vom Menschen übrig bleiben mag, seine Supertechnik muß in sich zusammenstürzen. Damit wird auch das Fenster in den Weltraum, von dem wir eingangs sprachen, wieder zuschlagen. 

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*d-2015:  F.Dürrenmatt bei detopia 

 

 www.detopia.de       ^^^^

Himmelfahrt ins Nichts von Herbert Gruhl 1992