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4.  Unser täglich Brot      Haber-1973

 

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Schon als Kind habe ich Schach sehr gern gemocht, wenn auch heute meine Spielstärke der Liebe, die ich für dieses Spiel empfinde, keineswegs entspricht. Da ich auch Mathematik sehr gern mag, ist mir die hübsche Geschichte von der Erfindung des Schachspiels nicht entgangen. Danach soll ein weiser Mann am Hofe eines indischen Königs dieses Spiel erfunden haben und von seinem Herrscher mit einem Wunsch dafür belohnt worden sein. 

Der weise Mann wünschte sich eine Weizenmenge, die kornweise auf dem Schachbrett ausgezählt werden sollte, und zwar ein Korn auf dem ersten Feld, zwei Körner auf dem zweiten, vier Körner auf dem dritten, acht Körner auf dem vierten und so weiter, immer doppelt soviel auf jeweils dem nächsten Feld, bis zum 64. Feld. Der König lachte nur über diesen törichten Wunsch und wies auf die Juwelen in seiner Schatzkammer hin. Er hatte nicht bemerkt, daß alle Reichtümer seines Königreiches, ja noch nicht einmal der ganzen Welt ausgereicht hätten, den Wunsch des schlauen Erfinders des Schachspiels jemals zu erfüllen. Diese teuflische Multiplikationsfolge nämlich erzeugt auf dem 64. Feld eine so unvorstellbar große Zahl von Weizenkörnern, daß auf jeden Quadrat­zentimeter der Erdoberfläche — wollte man sie gleichmäßig verteilen — im Schnitt zwölf Körner entfielen.

Diese Art der Multiplikation entspricht etwa dem Gesetz, mit dem sich Lebewesen in der Natur vermehren. Nehmen wir ein Mäusepaar, das zwei Junge bekommt, dann sind es vier Mäuse; zusammen mit seinen Eltern bekommt auch dieses Paar wieder je zwei Junge, dann sind es schon acht. In der nächsten Generation sind es sechzehn. 

Nach der gleichen verheerenden Regel, mit der der Erfinder des Schachspiels den König auf den Leim geführt hatte, geht es nun weiter. Mäuse und Nagetiere sind — zusammen mit ihren Verwandten, den Ratten, Hasen und Kaninchen — für eine sehr heftige Fruchtbarkeit bekannt; drei Generationen in einem Jahr sind keine Seltenheit. Freilich sind nach einigen Jahren die ältesten und älteren Mäuse schon längst gestorben, da diese Tiere ja nicht sehr alt werden. Wenn wir davon ausgehen, daß die Mäuse jeweils als Urgroßeltern sterben, dann benötigen wir insgesamt 93 Generationen, bis die Zahl der Mäuse so groß geworden ist wie die Zahl der Weizenkörner auf unserem Schachbrett. Allerdings haben wir dabei vorausgesetzt, daß jedes Mäusepaar pro Wurf nur zwei Junge bekommt; bestimmt sind es mehr. So können wir uns vielleicht darauf einigen, daß nach 75 bis 80 Generationen die Zahl der Weizenkörner erreicht ist. Nach dieser Korrektur brauchen wir also etwa 30 Jahre, bis es dazu kommt, daß auf jedem Quadratzentimeter der Landfläche der Erde 12 Mäuse zu finden wären. 

Just vor einer Stunde hat mein kleiner Junge im Garten eine tote Maus gefunden, deren Größe ich gemessen habe. Eine Maus hat ein Volumen von etwa zehn Kubikzentimeter. Das heißt also, daß die Nachkommenschaft eines Mäusepaares nach etwa 30 Jahren die gesamte Landfläche bis zu über einem Meter hoch bedecken müßte. Da dieser Zustand heute nicht existiert, und andererseits das Geschlecht der Mäuse schon älter als 30 Jahre ist, muß an unserer Rechnung etwas nicht stimmen.

An unserer mathematischen Regel des organischen Wachstums kann es nicht liegen. Ein jeder von uns ist von dem Moment der Zeugung an nach dieser Multiplikationsfolge zunächst einmal gewachsen. Wir alle begannen mit einer Zelle, dann waren es zwei, dann vier, dann acht und so weiter, bis die Billionen von Zellen, aus denen der menschliche Körper besteht, sich zusammenmultipliziert hatten. Dann allerdings verlangsamte sich das Wachstum und kam schließlich völlig zum Stillstand. Die Bremse, welche die Zellenmultiplikation schließlich herunterdrückte und zum Stillstand brachte, liegt im Innern des Organismus und ist Teil der organischen Entwicklung des Individuums. Bei den Mäusen waren es äußere Kräfte, welche in diese geradezu bedrohliche Vermehrungsrate eingriffen. In guten Mäusejahren mästen sich die Eulen, Katzen, Füchse und Elstern, und sollten diese natürlichen Feinde der Mäuse der Vermehrung dieser Nager keinen Einhalt gebieten können, dann erfrieren Millionen von ihnen; sollten immer noch zu viele übrig sein, so werden diese einfach verhungern.

Unser groteskes Beispiel mit den Mäusen auf dem Schachbrett hatte lediglich zur Voraussetzung, daß sich die Zahl der Mäuse in jeder Generation verdoppelte. In der bisherigen Geschichte der Menschheit ist so etwas freilich noch nie der Fall gewesen. Während der ersten anderthalb Jahrtausende lebten auf der Erde fast 50 Generationen, bis sich die Menschenzahl verdoppelte.

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Im letzten Jahrhundert allerdings verdoppelte sie sich bereits innerhalb von drei Generationen, und heute verdoppeln wir uns innerhalb einer einzigen Generation, ja sogar noch etwas schneller. Wenn das nur 900 Jahre so weiterginge wie heute, so würde es uns so gehen, wie den Mäusen auf dem Schachbrett. Und dabei sind 900 Jahre doch gar keine so lange Zeit! Karl der Große hat ja schon vor mehr als 900 Jahren gelebt. Im Jahr 2800 würden es demnach dann 100 Menschen auf dem Quadratmeter geben. Wir würden dann, wie Sardinen dicht gepackt, die gesamte Oberfläche der Erde — nicht etwa wie die Mäuse auf dem Schachbrett nur einen Meter — sondern 40 Meter hoch bedecken. Genauso wie bei unserem Beispiel mit den Mäusen wird sich lange vor dem Jahr 2800 die Rate unserer Bevölkerungszunahme von heute wohl ändern müssen.

Im Gegensatz zu den Mäusen, die von Eulen, Katzen, Füchsen und Elstern unerbittlich verfolgt werden, haben wir Menschen eigentlich kaum mehr nennenswerte natürliche Feinde. Dafür haben wir im Verlauf unserer Geschichte mit unserer Intelligenz gesorgt. Nur eine Handvoll Menschen fallen jedes Jahr Großkatzen in den Dschungeln Afrikas oder Indiens noch zum Opfer; die Zahl der Badenden, die an den Küsten der Weltmeere von Haien angefallen werden, ist auch sehr gering. Die weitaus größte Zahl an Menschenopfern durch größere Tiere kommt auf das Konto der Giftschlangen. Das sind noch unsere größten Feinde.

Auf einem ganz anderen Blatt freilich stehen die Bazillen und Mikroben. Weit um sich greifende Epidemien haben der Menschheit bis noch vor knapp 100 Jahren oft empfindliche Verluste zugefügt, und auch heute noch sind diese Gefahren nicht ganz gebannt. Indessen ist es der medizinischen Wissenschaft gelungen, diese Geißeln der Menschheit praktisch völlig zu beherrschen. Die Zahl der Menschen, die heute jedes Jahr den Pocken, der Cholera, dem Gelbfieber, der Schlafkrankheit oder der Tuberkulose zum Opfer fallen, wird immer kleiner. Genauso bekommen wir die heute noch am weitesten verbreitete Krankheit, die Malaria, langsam in den Griff.

 

Die Berechnung des makabren Zustandes im Jahr 2800 mit einer auf der Gesamtfläche der Erde 40 Meter hoch gestapelten Menschheit ist freilich eine mathematische Fiktion und mit seinem Ergebnis ein kompletter Unsinn. Ich konnte mir jedoch nicht verkneifen, diesen Alptraum zu berechnen, um zu zeigen, daß es mit der Fortpflanzung der Menschheit nicht so weitergehen kann; nein, viel einfacher noch, daß es nicht so weitergehen wird. Das Problem, das uns heute zum Ende des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung ins Gesicht starrt, ist mit Abstand die größte Krise, die die Menschheit seit ihrem Ursprung je erlebt hat. Alle anderen geschichtlichen Ereignisse verblassen gegenüber diesem Problem zur historischen Bedeutungslosigkeit. Die Bevölkerungszahl der Menschen auf dem Planeten Erde ist im Rahmen der Kräfte der Natur aus dem Gleichgewicht geraten. Und das — wie wir uns zuvor klargemacht hatten — bedeutet im echten Sinne eine Katastrophe.

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Ein Problem von dieser gigantischen Größenordnung hat wenigstens einen Vorteil: die Möglichkeiten zu einem Abbruch dieser Entwicklung sind ihrer Zahl nach eben wegen ihrer fundamentalen Bedeutung so gering, daß sich die Alternativen an der Hand abzählen lassen. 

Gegen die katastrophal anwachsende Zahl der Menschheit hätte die Natur lediglich folgende Rezepte:

1. Trotz aller medizinischen Fortschritte und der überaus wirksamen und tüchtigen Wachsamkeit der Weltgesundheitsbehörden könnte eine Seuche ausbrechen. Vielleicht sogar eine völlig neue Seuche, die wir eben wegen ihrer ausgefallenen Mutation nicht schnell genug beherrschen können. Eine Superpest, der heutigen Superpopulation angemessen, könnte vielleicht 50, 60, 80 oder vielleicht sogar auch 90 Prozent der Menschheit innerhalb weniger Monate dahinraffen.

2. Die bisherigen altmodischen Kriege, die nach dem Rezept des Erfinders des Schießpulvers geführt worden sind, sind bei weitem nicht imstande, dem Zuwachs der Menschenzahl auf der Erde Einhalt zu gebieten. Mit einem weltweiten Atomkrieg allerdings könnte ein Drittel, die Hälfte, ja sogar 90 Prozent der Menschheit ihr Ende finden.

3. Mit dem gewaltigen Fortschritt ihrer Technik gelingt es der Menschheit, den Überschuß ihrer Bevölkerung zu anderen Planeten auswandern zu lassen, so daß die Bevölkerungszahl der Menschheit auf einer stabilen erträglichen Höhe erhalten wird.

4. Die Menschheit vermehrt sich weiter, wobei sie sich bei steil zunehmender Zahl freilich pro Kopf mit immer weniger und immer schlechterer Nahrung bescheiden muß. Eine Grenze wird dann erreicht, wenn der Geburtenüberschuß verhungert.

 

Eine Superseuche, welche die heute oder zukünftige Superbevölkerung befallen könnte, erscheint nicht sehr wahrscheinlich. Allerdings sind in der Biologie Monokulturen für einen plötzlichen explosiven Schädlingsbefall sehr verwundbar, so daß es fast zu einer völligen Vernichtung der Population binnen kurzem kommen kann. Durch unseren ungeheuren Bevölkerungserfolg haben wir uns unter den Säugetieren fast schon zu einer Monokultur entwickelt. Umgekehrt sind wir ja Epidemien gegenüber sehr auf der Hut, und selbst von den klassischen epidemischen Krankheitserregern droht uns kaum eine Gefahr. Gewiß, gelegentlich einmal breitet sich ein neuer Grippevirustyp aus. Dieser bekommt dann prompt seinem Ursprung nach einen Namen, und nach wenigen Wochen haben unsere Ärzte einen Impfstoff dagegen gefunden. Auch von dem Aufflackern der klassischen epidemischen Krankheiten, wie der Pest und der Cholera, von denen man in den letzten Jahren gelegentlich gehört hat, droht der Menschheit keine echte Gefahr mehr.

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Eine völlig neue Seuchengefahr könnte eigentlich nur von uns selbst kommen. Unsere biologische Forschung hat in den letzten zehn Jahren so große Fortschritte gemacht, daß wir heute dicht davor stehen, in der Retorte künstlich Leben zu erzeugen. Solche Lebensformen freilich werden die einfachsten sein, das heißt Viren. Was ich nun sage, soll in keiner Weise die Fachkundigkeit und die Sorgfalt meiner biochemischen Kollegen in ein falsches Bild setzen. Immerhin besteht eine Möglichkeit, daß bei unseren Versuchen, einen künstlichen Virus herzustellen, ein völlig neuer Krankheitskeim von unkontrollierbarer Virulenz erzeugt wird. So habe ich mir überlegt, was denn vielleicht passieren könnte, wenn ein solcher künstlicher Virus spezifisch auf die Netzhaut oder auf den Sehnerv des Menschen reagiert. Es könnte dann sein, daß innerhalb von wenigen Wochen fast die gesamte Menschheit durch eine Epidemie dieser Art erblindet. Ganz ausgeschlossen ist so etwas nicht — es ist jedoch so unwahrscheinlich, daß auch dieses zwar katastrophale Ende der Überbevölkerung auf unserem Planeten wohl kaum zu erwarten ist.

 

Die zweite Möglichkeit, daß die Menschheit von dem Fluch ihrer eigenen Überzahl demnächst befreit wird, wäre ein weltweiter Atomkrieg. Wenn man diesen Satz, den ich eben hingeschrieben habe, noch einmal durchliest, so empfindet man ihn als sarkastisch, ja sogar als makaber. An dieser Stelle freilich habe ich mir nicht die Aufgabe gestellt, ein moralisches oder ethisches Essay zu schreiben. Ein weltweiter Nuklearkrieg mit mehr als 90 Prozent Verlusten der Menschheit würde der Überbevölkerung für eine gewisse Zeit Schranken setzen. Die Grausamkeit dieser Idee beleuchtet die Schwere unseres Problems in aller Schärfe. Wir haben an dieser Stelle nun einmal das Thema angefaßt, wie überhaupt der größte Teil der Menschheit auf unserem Planeten verschwinden könnte. Wir wollen ja ohne jedes Urteil über die Moral des Geschehens lediglich Ereignisse ins Auge fassen, denen die Mehrzahl der Menschen in kurzer Zeit zum Opfer fallen könnte. Zu solchen Ereignissen gehört leider auch ein weltweiter Nuklearkrieg.

Dieses mögliche, furchtbare Ereignis ist im Hinblick auf das Wesen des Menschen keineswegs auszuschließen. Immer wieder haben Menschenmassen Diktatoren gehuldigt und ihnen ihre eigene Entscheidungsfreiheit überlassen. Ohne diese bedrohliche Neigung des Menschen hätte es niemals einen Cheops, einen Alexander, einen Dschingis-Khan, einen Napoleon, einen Hitler oder einen Stalin gegeben. Es ist denkbar, daß ähnliche Figuren sich in nicht allzu ferner Zukunft gegenüberstehen und sich entschließen, einander zu bekämpfen, und dadurch mit der übermenschlichen Vernichtungskraft des Atoms das Leben auf unserem Planeten auszulöschen. Sollte sich ein solcher Atomkrieg ereignen — und wir müssen leider mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit rechnen —, so würde dadurch nur eine Katastrophe durch eine andere ersetzt werden.

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Eine Schar ineinander geschachtelter gleichseitiger, sogenannter goldener Dreiecke, deren Seiten mit ihren Grundlinien das Verhältnis des Goldenen Schnitts, 1,618:1, bilden. 

Die schnell wachsende Spirale, welche die Ecken der Dreiecke verbindet, kennzeichnet das organische Wachstum.

Sodann gibt es die Hoffnung, zu anderen Planeten auszuwandern und dort neue und immer größere Kolonien zu gründen. Diese Lösung für das Übervölkerungsproblem wird immer wieder in die Debatte gebracht. Solche Vorschläge kann man freilich nur als idiotisch bezeichnen, und wir erwähnen sie an dieser Stelle nur deswegen, weil es immer noch Leute gibt, die mit dieser Lösung liebäugeln. Die Weltöffentlichkeit hat in den letzten Jahren öfters erlebt, daß ein erheblicher Prozentsatz der technischen und wirtschaftlichen Produktion der Vereinigten Staaten erforderlich war, um etwa im Schnitt alle acht Monate drei Astronauten zum Mond zu befördern und sicher wieder zur Erde zurückzubringen. 

Um die Weltbevölkerung von heute auf dem gleichen Stand zu halten, müßten im Jahr etwa 70 Millionen Passagiere in den Weltraum befördert werden. Der Aufwand hierzu überschreitet die technische Potenz der heutigen Menschheit etwa um das Dreißigmillionenfache. Damit wären diese 70 Millionen Menschen auch erst von der Erde entfernt. Wo sie dann allerdings ihre Zelte aufschlagen und weiterhin glücklich leben sollen, darüber machen sich diese Utopisten weiter keine Gedanken. Eine zweite jungfräuliche Erde, die sie etwa kolonisieren könnten, gibt es in unserem ganzen Sonnensystem nicht. Freilich ist es in weiter Zukunft nicht ausgeschlossen, daß wir den Planeten Venus künstlich umgestalten und aus ihm eine zweite Erde machen können; auch könnte der Antrieb für Weltraumschiffe so rationalisiert werden, daß Passagiere in großen Zahlen ökonomisch sinnvoll transportiert werden könnten. Alle diese Entwicklungen liegen jedoch so weit in der Zukunft, daß uns die Bevölkerungslawine bis zur Lösung dieser technischen Aufgabe längst überrollt haben wird. Diese ganze Idee ist für die Lösung unseres Problems heute völlig ungeeignet und so abwegig, daß wir uns darüber nicht mehr zu unterhalten brauchen.

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Es sieht also so aus, als ob nur mehr die vierte Möglichkeit übrig bliebe: Wir Menschen vermehren uns auf unserem blauen Planeten ungehemmt so weiter, wie wir es bisher getan haben. Irgendwann einmal wird uns dann Nahrungsmangel an unserer Ausbreitung brutal hemmen. Die Grenze wird dann erreicht werden, wenn der jeweilige Geburtenüberschuß der Menschheit verhungert.

Diese lapidare Feststellung klingt sehr grausam und inhuman. Bei näherer Betrachtung jedoch ist dies das wichtigste Rezept im Arsenal der Natur, um in ihrer Population überschäumende Arten in die Schranken zu weisen. Heuschrecken vermehren sich oft bis an diese Grenzen heran oder darüber hinaus. Wenn sie dann quadratkilometerweise alles Grünzeug weggefressen haben, begeben sie sich auf die Wanderschaft und werden dann zu einer Plage, von der schon die Bibel zu berichten weiß. Irgendwann jedoch sagt die Natur «stopp». Wenn es dann nichts mehr zu fressen gibt oder wenn die Heuschrecken die Grenzen ihrer Wanderfähigkeit erreicht haben, so verhungern sie zu Milliarden.

Der Menschheit ist es in ihrer Geschichte diesen Naturgesetzen entsprechend ergangen. Der Grund, weshalb die Menschen in den ersten 100.000 Jahren ihrer Existenz eigentlich immer um ihren Fortbestand bangen mußten, bestand eben darin, daß sie fast immer am Verhungern waren. Mühsam haben unsere Vorväter als Früchtesammler und Kleintierjäger die nötige Nahrung für sich und ihre Nachkommen zusammengekratzt. Der Urmensch hatte immer Hunger, und aus jener Zeit stammt noch eine physiologische Eigenschaft unserer Gattung, welche Ernährungswissenschaftler erst jüngst in ihrer vollen Bedeutung erkannt haben. Es bekommt unserem Organismus gar nicht so sehr, drei volle Mahlzeiten am Tag zu sich zu nehmen. Es ist viel gesünder, wenn man den ganzen Tag über immerzu kleine Happen zu sich nimmt. 

Mit dieser Ernährungsweise sind wir Menschen groß geworden, als unsere Vorfahren noch durch Steppen und Wälder strichen, sich an dieser Stelle eine Beere, dort eine Wurzel oder vielleicht auch einmal eine Heuschrecke oder ein Vogelei zu Gemüte führten. Drei sättigende Mahlzeiten gab es damals praktisch nie. Die Menschheit hat sich während 99 Prozent ihrer bisherigen Geschichte nur sehr langsam vermehrt, weil ihr Seuchen und Krankheiten dauernd zusetzten und auch besonders die Kindersterblichkeit sehr hoch war. Im wesentlichen wohl lag es an dem dauernden Hunger, weshalb den Menschen das Wachstum als Gattung durch die Tausende von Jahren so schwerfiel.

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Die wichtigste Bitte im Vaterunser lautet: Unser täglich Brot gib uns heute. Darin schon drückt sich aus, daß das Problem der unzureichenden Nahrung den Menschen seit Urzeiten verfolgt hat. In jedem von uns steckt ein tiefverwurzelter Respekt vor dem Stück Brot. Ich erinnere mich, daß ich als Kind von einem Märchen tief beeindruckt war: Eine rücksichtslose, reiche Familie nutzte feines Weißbrot, um ihr Kind, das in den Brunnen gefallen war, zu reinigen und zu trocknen. Noch am gleichen Tag traf sie der Blitzschlag. Das erschien mir als eine völlig gerechte Strafe für diesen Frevel am täglichen Brot.

Die Angst vor dem Verhungern hat der Menschheit immer schon in den Knochen gesessen, da es in allen geschichtlichen Epochen Hungersnöte gegeben hat — bis in die neueste Zeit hinein. Noch vor 50 oder 100 Jahren waren Hungersnöte in Indien und China ein oft wiederkehrendes Unglück. Schon seit längerer Zeit gehören diese Länder zu den volkreichsten auf der Erde, und ihre Existenz hing deshalb seit je am seidenen Faden, nämlich an einer guten oder an einer schlechten Ernte. Selbst die Großmacht Sowjetunion muß jedes Jahr um eine gute Ernte bangen. So ist es die Menschheit seit je gewohnt, was den Hunger anbetrifft, an der Kante ihrer Existenz zu leben.

Eine Zeitlang während der letzten 30 Jahre schien es, als ob das Gespenst des Hungers gebannt sei. Im Jahr 1948 haben amerikanische Landwirtschafts­experten die stolze Behauptung aufgestellt, daß man des Hungers der Menschheit Herr geworden, daß die Ernährung der Weltbevölkerung für die Zukunft sichergestellt sei. Damals freilich hatte man die Zahl der Menschen auf der Erde für das Jahr 1960 auf zweieinviertel Milliarden angesetzt. Die amerikanische Zeitschrift Time schrieb damals, daß viele Experten diese Schätzung für übertrieben hielten. In Wirklichkeit war es so, daß im Jahr 1960 bereits drei Milliarden Menschen auf der Erde lebten. 

Das war — 1948 — auch die Zeit, in der die amerikanische und kanadische Landwirtschaft mit ihrer phantastischen Leistungsfähigkeit begann, alle Rekord­ernten zu schlagen. Die Regierung mußte zu Hilfe kommen, um die riesigen Überschüsse der Weizenernten zu stapeln. Alle Silos waren überfüllt, und ausgediente Schiffe in den Häfen wurden mit Weizen vollgepackt. Die amerikanische Regierung schließlich ging dazu über, ihren Farmern eine Prämie für jeden Hektar zu bezahlen, den sie im nächsten Jahr nicht anpflanzten, um den Staatssäckel von weiteren unlösbaren Aufgaben der Lagerung zusätzlicher Jahreserträge zu entlasten. Auch wir in Deutschland kennen das Problem des «Butterberges».

Wozu also sollten wir uns Sorge machen — so dachte ein jeder während der letzten 20 Jahre —, wenn wir nicht einmal wissen, wohin mit dem Überfluß?

Seit dem Ende des letzten Krieges hat unser Gewissen auch nicht geschlagen, wenn wir gelegentlich von Hungersnöten in China oder in Indien gehört haben. Die Amerikaner haben da ja immer sofort eingegriffen, indem sie ein paar hundert Schiffe mit Weizen in die Gefahrenzonen schickten, und nach drei Wochen ward von der Hungersnot nichts mehr gehört. Dieser ungeheure Erfolg der landwirtschaftlichen Technik während der letzten 50 Jahre hat uns alle ruhig schlafen lassen, soweit es die Ernährung der Menschheit angeht. Indessen müssen wir uns erinnern, daß wir letzten Endes den Mäusen auf dem Schachbrett gleichen.

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Das sogenannte Maulbeer-Stadium im Wachstum eines befruchteten Eis. 

Der Keimling vermehrt sich während der ersten 20 Schritte der Zellteilung nach dem Prinzip der Verdoppelung.

 

Wenn man einmal das Welternährungsproblem näher ansieht, so stellt man fest, daß die Menschheit als Ganze hungert. Die Ernährungswissenschaftler haben festgestellt, daß zu einer ausreichenden Ernährung 2400 Kalorien pro Tag erforderlich sind. Der Durchschnitt in volkreichen, unterentwickelten Ländern jedoch liegt bei 1600 Kalorien. Eine Person in den westlichen Kulturländern, die an Übergewicht leidet und täglich ihre Kalorientabelle studiert, kann das freilich nicht beeindrucken. Streng betrachtet jedoch heißt es, daß ein großer Teil der Menschheit heute schon bedrohlich unterernährt ist und daß im Jahr zwischen 5 und 20 Millionen Menschen verhungern. Die Zahl der verhungerten Menschen pro Jahr auf unserem blauen Planeten läßt sich nur schätzen, da ein durch Nahrungsmangel geschwächter Organismus sehr anfällig ist und oft in den Statistiken als Opfer anderer Todesursachen erscheint.

Es liegt eine erschreckende Diskrepanz darin, daß heute noch die Silos der westlichen Welt überfüllt sind und fast alle Industrieländer so oder so auf einem «Butterberg» sitzen, während andererseits viele Menschen in der Welt — vor allem Kinder — vor dem Hungertod stehen. Wenn man als Mensch so etwas bitter beklagt, hat man völlig recht. Es ist aber gar nicht so einfach, 1000 Tonnen Weizen, die in einem Libertyschiff in einem Hafen der Vereinigten Staaten lagern, zu mobilisieren und zu einem Ort der Erde zu schicken, wo sie gebraucht werden und wo auch die Verarbeitung in Brot garantiert ist. An diesen gewaltigen Schwierigkeiten scheitert oft der beste Wille zur Überwindung von Hungersnöten — ganz abgesehen von der Frage, wer diese Operationen letzten Endes bezahlen soll.

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Die Landwirtschaftsexperten aus dem Jahr 1948 sind heute, ein Vierteljahrhundert später, etwas zurückhaltender geworden. Es hat sich nämlich gezeigt, daß die nutzbare Ackerfläche auf unserer Erde nicht sehr viel weiter gesteigert werden kann. Wenn man mit einem Jumbo-Jet um die Erde fliegt und die riesigen Steppen Asiens, die Prärien Amerikas und die Savannen Afrikas überfliegt, so hat man das Gefühl, unser Planet sei praktisch noch unbewohnt und ungenutzt. Das ist bei näherer Überprüfung nicht der Fall. Fast die gesamte Landfläche der Erde ist zu trocken, zu steil, klimatisch zu ungünstig oder schon für andere Zwecke vorgemerkt, so daß eine entscheidende Steigerung pflanzlicher Nahrungsproduktion durch Ackerbau kaum erzielt werden kann. Die Regierungen der Entwicklungsländer wiederholen dabei genau den Fehler, den wir alte Industrieländer uns heute anlasten: Rücksichtslos müssen sie die Wälder herunterroden, um den Ackerbau zu fördern.

An dieser Stelle reden wir nun rein von der Fläche, wobei wir allerdings auch noch nach dem Erfolgsrezept des Ackerbaus der letzten 100 Jahre mit einer Steigerung der Erträge rechnen können. Eine Verdoppelung, eine Vervierfachung, ja sogar eine Verzehnfachung war da die Regel. Das Zauberwort hier ist: künstliche Düngung. Die Menschheit verbraucht im Jahr 30 Millionen Tonnen Kunstdünger. Um den Ertrag des Ackerlandes der ganzen Welt auf ähnliche Werte wie in den Industrieländern zu steigern, wären heute schon 600 Millionen Tonnen Kunstdünger erforderlich. Dann könnten wir die Weltbevölkerung heute ausreichend ernähren. In 30 Jahren freilich, wenn wir uns wiederum verdoppelt haben werden, müßte man mit einem Weltverbrauch von 1,2 Milliarden Tonnen Kunstdünger rechnen. Verläßliche Schätzungen über die Möglichkeit, die Kunstdüngerproduktion der Welt in den nächsten 30 Jahren zu steigern, kommen zu dem Ergebnis, daß im Jahr 2000 wohl nur etwa ein Zehntel dieses erforderlichen Betrages an Kunstdünger produziert werden kann.

Das ist eine bittere, aber nicht abwendbare Tatsache, daß etwa nur ein Zehntel der Landoberfläche unseres Planeten für einen erfolgreichen Ackerbau zur Verfügung steht. Hier sind wir heute schon an einer Grenze angelangt, so daß jede Vergrößerung der Ackerflächen auf Kosten von Grasland und Wäldern ginge. Die Erhaltung dieser Naturschätze jedoch ist, von der Nahrung völlig abgesehen, für die Menschheit ebenso wichtig. Wir wollen ja auch unsere Nutztiere grasen lassen und das Holz der Wälder für unsere Industrie nutzen können. Auch fällt ein großer Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche für die Nahrung unmittelbar aus, da wir ja auch Gummi, Baumwolle, Tabak, Kaffee und Tee anpflanzen wollen. 

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So verweisen viele Experten auf die über 70 Prozent der Erdoberfläche, nämlich das Meer. Die Vorräte des Meeres sind nach menschlichen Begriffen zwar unerhört groß. Jährlich können wir zwischen 100 und 150 Millionen Tonnen Nahrungsmittel aus dem Meer fischen. Diese Ernte erreichen wir heute schon fast, mit dem Erfolg, daß wir diese fundamentale Nahrungsquelle unseres Planeten bereits angeschlagen haben. Fischereibetriebe in der ganzen Welt melden rückläufige Tendenz. 

Sehr kluge Nahrungswissenschaftler haben die einfachste Pflanze der Welt, nämlich die Alge, als letzten Ausweg vorgeschlagen. Die Überlegung dabei war vor allen Dingen, daß bei einer Verkürzung der Nahrungskette Energie gespart wird. Von 1000 Kalorien, welche von den Algen durch das Sonnenlicht umgesetzt werden, kommen nämlich zum Schluß nur, wenn der Mensch einen Räucheraal ißt, weniger als eine Kalorie seiner Ernährung zugute. 

Überzeugende Rechnungen zeigen, daß man mit der Sonnenenergie, umgesetzt unmittelbar durch die Algen und von uns anschließend verzehrt, recht weit kommen kann. Es ist unter diesen Umständen theoretisch möglich, 15 Milliarden oder vielleicht sogar 30 Milliarden Menschen zu ernähren, wenn sie sich auf eine Diät von Algenpasten spezialisieren. Diese Präparate sehen recht unappetitlich aus und sollen stark nach altem Fisch riechen und schmecken. Die Experten, welche diese Algenpasten entwickelt haben, sind wohl in der guten Hoffnung, daß sie auch weiterhin Steaks und Weizenbrot essen, während sich andere von ihren Produkten ernähren sollen.

Man kann sich drehen und wenden wie man will, der Menschheit droht eine weltweite Hungersnot. Unser Brot, um das wir täglich beten, ist uns keineswegs garantiert. Auch unsere vielgerühmte Technik kann das Energieprinzip nicht umgehen. 

Letzten Endes ernährt uns die Energie der Sonne, und alljährlich fällt nur ein bestimmter Betrag dieser lebenserhaltenden Energie auf unseren Planeten. Nur ein Bruchteil dieser Energie setzt sich in Nahrung um, so daß allein dadurch dem Wachstum der Menschheit eine Grenze gesetzt ist. Unsere Intelligenz, unser Erfindungsreichtum und unsere erstaunliche Beherrschung der Naturkräfte haben uns bisher vor dem Schicksal einer globalen Hungersnot bewahrt. Wie lange noch?  

 

Vom Weltall aus gesehen erscheint die Erde völlig leer, und man erkennt keinerlei Zeichen, daß sie in Wahrheit von uns Menschen schon bis an die Grenze der Tragbarkeit bevölkert ist.

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Heinz Haber  1973  Stirbt unser blauer Planet?  Die Naturgeschichte unserer übervölkerten Erde  Mit 52 Abbildungen