5. Keine Rose ohne Dornen
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Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts lebte in England ein Theologe, Historiker und Professor der politischen Wirtschaftswissenschaften — ein damals völlig neues Gebiet. Sein Name war Thomas Robert Malthus. Die amerikanische Enzyklopädie mit ihrer internationalen Ausgabe, die erstmalig im Jahr 1829 veröffentlicht worden ist, schreibt über ihn:
«In seinem berühmten "Essay on the Principles of Population" hat er im Jahr 1798 die seither unter seinem Namen bekannte Doktrin veröffentlicht, nämlich daß der Zuwachs der Bevölkerung einem geometrischen, der Zuwachs der Lebensmittel jedoch einem arithmetischen Gesetz folgen; daß diese Umstände die Lebensverhältnisse der Armen immer hoffnungsloser gestalten; daß weiterhin die Mittel des Lebens schließlich nicht mehr hinreichen, es sei denn, daß Hungersnöte oder Kriege die Bevölkerung der Erde vermindern; daß von zu frühen und unbedachten Ehen abzuraten sei und daß die Menschen sich einer Selbstkontrolle ihrer Vermehrung befleißigen sollten.»
Als junger Wissenschaftler hatte ich freilich von Malthus gehört, und wir haben uns damals über seine These ein wenig erhoben. Er sprach davon, daß die Größe der Weltbevölkerung nach einer geometrischen Reihe anstiege — und das ist auch richtig. Er hat dagegengehalten, daß die Produktion der Nahrungsmittel nur nach einer arithmetischen Folge anstiege.
Nun weiß jeder, der ein wenig Mathematik kann, daß eine geometrische Reihe, die auf Multiplikation beruht, sehr viel schneller wächst als eine arithmetische Reihe, die nur durch Addition zunimmt. So kommt es, daß nach einer bestimmten Anzahl von Gliedern, das heißt nach einer gewissen Zeit, eine geometrische Reihe jede arithmetische Reihe überholt. Darauf hatte Malthus seine berühmte Doktrin gegründet. Damals jedoch meinten wir, daß wir seine Doktrin entwerten könnten, weil er nämlich übersehen hätte, daß auch die Produktion von Nahrungsmitteln, Gütern und Energie ebenfalls nach einem geometrischen Gesetz wachsen kann. Somit glaubten wir, ihn widerlegt zu haben, und die Erfolge der fortschreitenden Wissenschaft und Technik gaben uns recht.
Auch erinnere ich mich der Lektüre eines Buches — heute sind mir Titel und Verfasser entfallen —, in dem ein hinreißendes Argument zitiert war, das jedem Optimismus für die Zukunft der Menschheit Raum bot. Der Autor wies darauf hin, daß alle pessimistischen Prognosen für die Zukunft der Menschheit aus einem Grunde völlig schief lägen: Die Propheten in einem jeden Zeitalter würden immer von den Voraussetzungen ausgehen, die gerade zu ihrer Zeit bestünden. Der klassische Zukunftspessimist, Thomas Robert Malthus, sei mit seinen Prognosen völlig auf die Nase gefallen, weil er zu seiner Zeit die in der Zukunft liegende große Erfindung des künstlichen Düngers nicht voraussehen, nicht voraussagen und damit auch nicht berücksichtigen konnte.
Es ist völlig richtig, daß der Haber-Bosch-Prozeß — die Bindung des Stickstoffs aus der Luft — zu Lebzeiten von Professor Malthus noch mehr als 100 Jahre in der Zukunft lag. Dadurch ist das gelungen, was Friedrich der Große einmal gesagt haben soll: «Die größte Tat des Menschen wird dereinst darin bestehen, daß auf meiner Hand, auf der heute ein Getreidehalm wächst, einmal zwei wachsen werden.» Der künstliche Dünger hat die Wunschvorstellung des preußischen Königs um das Fünf-, ja sogar um das Zehnfache übertroffen. So ist es zu verstehen, daß wir jungen Wissenschaftler der dreißiger und vierziger Jahre von der These des Professors Malthus nicht viel gehalten haben.
In jenem Buch, von dem ich vorhin sprach und das mir damals sehr imponiert hat, stand noch folgendes zu lesen: «Die wissenschaftliche und technische Zukunft der Menschheit gleicht einem riesigen Korridor, der zahllose Türen zu immer neuen Räumen enthält.»
Alles, was wir als Wissenschaftler und Ingenieure zu tun hätten, wäre, eben diese Türen zu immer neuen, immer größeren Möglichkeiten zu öffnen. Noch 1956 habe ich dieser Ansicht gehuldigt.
Ich erinnere mich, daß ich in jenen Jahren für den großen amerikanischen Filmproduzenten Walt Disney einen wissenschaftlichen Film machte. Uns lag daran, mit diesem Film eben jene unbegrenzt erscheinende Potenz des menschlichen Geistes und seiner Fähigkeit darzustellen. Am Ende dieses Films raste eine der populären Disneyfiguren eben einen solchen unendlichen Gang entlang. Im Trickfilm ließ ich Donald Duck immer und immer wieder neue Türen aufreißen, die ihm und seinesgleichen, das heißt uns als Menschheit, völlig neue Möglichkeiten eröffneten.
Heute, fast 20 Jahre später, bin ich wohl etwas älter und daher vielleicht auch in meinem Urteil etwas vorsichtiger geworden. Jene Szene in diesem Walt-Disney-Trickfilm würde ich heute nicht mehr gutheißen.
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Der
englische Theologe, Historiker und Wirtschaftswissenschaftler Thomas Robert
Malthus (1766 bis 1834),
der schon vor knapp eineinhalb Jahrhunderten voraussagte, daß die stets
wachsende Weltbevölkerung den Naturschätzen einst davonlaufen müsse.
Bleiben wir noch beim künstlichen Dünger. Es ist ja bekannt, daß die Pflanzen für ihr Wachstum in jedem Jahr dem Boden gewisse Nährstoffe entziehen. Der Kreislauf der Natur bürgt dafür, daß diese Nährstoffe im Boden auch wieder ersetzt werden. Es dreht sich dabei vor allem um Nitrate und Phosphate, die in den Ausscheidungen der Tiere und Menschen enthalten sind. Der klassische Misthaufen und der berühmte landwirtschaftliche oder auch gartenbauliche Duft sind uns ja allen bekannt.
Selbst als die Bauern alle diese Stoffe dem Boden wieder zurückgaben, hat das nicht ausgereicht, um ein Feld jedes Jahr zu bepflanzen und zu beernten. Schon seit Jahrhunderten gibt es die «Dreifelderwirtschaft». Im ersten Jahr wurde das Feld mit Getreide besät; im zweiten Jahr wurde es als Weideland benutzt, und im dritten Jahr lag es brach. Dabei wurde es mit den damaligen Mitteln gedüngt, und man gab dem Boden eine Chance, sich zu erholen.
Heute, da man die Chemie des Ackerbodens so gut zu kennen glaubt, ist man längst davon abgekommen. Die notwendigen Nitrate und Phosphate werden dem Boden in der Form von künstlichem Dünger wieder zugefügt. Die geradezu erstaunlichen Steigerungen der Erträge pro Hektar haben diesem Verfahren großen Ruhm eingebracht. Ein Großbauer oder ein Großfarmindustrieller von heute kann nur mit einem gewissen Lächeln auf seine Vorgänger herabblicken, die das Korn noch mit der Hand ausgesät und mit der Sense geerntet haben.
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Heute ist die Großlandwirtschaft zu einer Industrie geworden. Sie verfügt über einen gewaltigen Maschinenpark, der die Quadratkilometer jedes Jahr bearbeitet, beerntet, allerdings auch beansprucht, so wie die Natur es sich ursprünglich nicht gedacht hatte. Mit dem Rechenschieber kann man kalkulieren, wieviel Kunstdünger pro Hektar erforderlich ist, um wenigstens den Ertrag des letzten Jahres wieder zu erreichen oder möglichst zu übertreffen. Damit freilich vergewaltigen wir den Ackerboden und machen ihn in seiner Struktur für die zarten Wurzeln der Naturpflanzen immer ungeeigneter.
Die schlimmste Folge der unbeschränkten Benutzung von künstlichem Dünger jedoch hatte niemand vorausgeahnt. Ein amerikanischer Ökologe hat jüngst einmal gesagt, daß die Agronomen der Welt dem Kunstdünger verfallen seien wie ein Süchtiger dem Heroin. Da sie damit in den letzten 10, 15 und 20 Jahren so viel Erfolg gehabt haben, gibt es für sie kein Argument, davon zu lassen. So werden jedes Jahr immer größere Mengen Kunstdünger über die Äcker der Welt geschüttet, obwohl man in der Zwischenzeit längst eingesehen hat, welche zerstörerischen Folgen das hat.
Es ist ja nicht so, daß der Kunstdünger auf einem Acker von den Wurzeln der Nutzpflanzen völlig aufgenommen und verarbeitet wird. Bis zu 40 Prozent, ja sogar bis über die Hälfte des Düngers werden fortgeschwemmt und mit den Bächen, Flüssen und Strömen weitergeleitet. Eine große Zahl von Flüssen der Welt mündet nicht unmittelbar ins Meer, sondern in kleinere und größere Inlandseen. Diese sind dann mit dem Wunderfruchtbarkeitsmittel überladen. Die urtümlichsten Pflanzen, nämlich die Algen, profitieren von dem phantastischen Nahrungsangebot. Den Algen ist es in der ganzen Geschichte unseres blauen Planeten noch nie so gut gegangen wie heute. Da sie von uns mit erheblichem industriellen Aufwand so großartig ernährt werden, machen sie sich entsprechend breit. Die meisten Flüsse und Süßwasserseen der Erde sind mit Algen so übervölkert, daß auch an dieser Stelle das goldene Gleichgewicht der Natur umgestürzt ist.
Die Süßwasseralgen vermehren sich im Schein der Sommersonne und mit den von uns gelieferten Nahrungsmitteln des künstlichen Düngers so ungeheuer, wie es dem Maßstab der Natur schon lange nicht mehr entspricht. Wenn dann die Sonne im Herbst und im Winter weniger scheint, so müssen diese Algen sterben. Sie zersetzen sich dann, sie verfaulen, und diese Verwesungsprozesse verbrauchen einen großen Teil des Sauerstoffs in unseren Süßwasserseen. Davon freilich sind alle anderen Partner in diesem biologischen Gleichgewicht schwer betroffen. Ein solcher Süßwassersee verfault dann. Fischen, Wasserinsekten und anderen Wasserpflanzen wird die Lebensgrundlage entzogen. Der verfaulende Algenschlamm bedeckt den Boden des Sees, der trübe und stinkend die Landschaft verunschönt. Bevor wir Menschen mit unserem gloriosen Kunstdünger diese Zerstörung angerichtet haben, gab es noch klare, frische Flüsse und herrliche blaue Seen.
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Ein Süßwassersee ist — geologisch gesehen — ohnehin schon ein recht empfindliches Gebilde, das nur eine beschränkte Lebensdauer hat. Das wissen wir schon aus früheren Zeiten: Wenn stillstehende Wässer und Gräben mit Wasserpflanzen übervölkert werden, so zerstört das faulende und verwesende Pflanzenmaterial den Teich oder See, ja läßt ihn sogar austrocknen. In heißen Wüstengegenden schließlich verdunsten Seen, die von vorangegangenen Eiszeiten stammen. So war beispielsweise die Wüste der südwestlichen Vereinigten Staaten vor nicht allzu langer Zeit ein Riesensee, der unter Hinterlassung zahlreicher Salzpfannen mittlerweile verschwunden ist. Die Geologen hatten sogar einen Namen für den fast verschwundenen See. Lake Bonneville. Der große Salzsee von Utah ist der traurige Überrest dieses einst imponierenden großen Inlandsees.
Überhaupt ist der nordamerikanische Kontinent sehr reich an großen herrlichen Seen; viele dieser Schönheiten gehören jedoch schon der Vergangenheit an. Als die weißen Siedler nach Nordamerika kamen, haben sich viele von ihnen an den Ufern des Michigan-, des Huron-, des Oberen und des Eriesees niedergelassen. Jahrhundertelang haben sie in dem klaren Wasser alljährlich Tausende von Tonnen von Seefischen gefangen: Salmen, Makrelen und Seeforellen. In den letzten Jahren ist die Ökologie dieser Seen zusammengebrochen. Durch die Einschwemmung zahlloser Tonnen künstlichen Düngers und durch die rücksichtslose Verschmutzung durch Abwässer von den Großstädten sind diese einst so schönen Seen mittlerweile zu Kloaken geworden.
Besonders schlimm steht es mit dem viertkleinsten der großen Seen, dem Eriesee, da an seinem Ufer oder in der Nähe die Großstädte Buffalo, Detroit, Cleveland, Toledo und Erie liegen. Nicht nur ist die Fischereiindustrie dort praktisch schon zum Erliegen gekommen; das Wasser des Lake Erie ist so verschmutzt und mit Darmbakterien verseucht, daß man nicht mehr in ihm baden kann. Das ist ungeheuerlich, wenn man bedenkt, daß der Eriesee fünfzigmal größer ist als der Bodensee. Der Michigansee, an dessen Westufer Chicago liegt, ist in keinem sehr viel besseren Zustand, und dieser See übertrifft den Bodensee an Größe um das Hundertzehnfache.
Gewiß, im Laufe der Jahrhunderttausende wären diese Seen auch gealtert, eben durch den Prozeß einer laufenden Beraubung an Sauerstoff im Wasser. Die Geologen haben dafür sogar einen Namen. Sie sprechen von der Eutrophierung eines Sees, die um so schneller voranschreitet, je weniger Wasserdurchsatz ein solcher See hat. Dieser natürliche Altersprozeß der großen Seen in Nordamerika ist in unserem Jahrhundert durch den Menschen sehr schnell gefördert worden. Man schätzt, daß der Eriesee in den letzten Jahrzehnten um etwa 15.000 Jahre gealtert ist. Die Forscher sind sehr im Zweifel, ob diese Schäden überhaupt wieder rückgängig gemacht werden können.
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Der Einfluß des mineralischen Düngers auf das Pflanzenwachstum und den Ernteertrag.
Äpfel
und Blätter des abgeernteten Baumes:
Baum, gut mit mineralischen Nährstoffen versorgt (oben); Wachstum bei
Stickstoff-Mangel (unten).
Spinatfeld: ungedüngt (links); mit Volldünger und Kalksalpeter behandelt (rechts).
Ähnliche Zerstörungen beobachten wir auch bei den anderen großen Inlandseen unserer Erde, wie etwa bei den großen afrikanischen Seen, dem Aralsee und beim Kaspischen Meer. Dort scheint die Lage auch sehr kritisch zu sein. Selbst unsere großen europäischen Seen, wie der Bodensee und der Genfer See, sind lange nicht mehr das, was sie einmal waren. Nur wenige Seen, wie etwa der Titicacasee, leuchten noch in ihrer blauen, unberührten Schönheit.
Das Sterben unserer Süßwasserseen verdanken wir also zu einem großen Teil den Kunstdüngern, da diese die Frischwasser der Erde — wie man auch sagt — zum «Blühen» bringen. Es ist dies — wie wir gesehen haben — eine Übervölkerung an Algen.
Die Zerstörung dieser Naturschönheiten auf der Erde erscheint vielleicht als ein tragbarer Preis dafür, daß wir mit unseren künstlichen Düngern in den letzten 50 Jahren genügend Nahrungsmittel erzeugt haben, um einen großen Teil der Menschheit vor dem Verhungern zu bewahren. Es ist nämlich durchaus nur die eine Seite der Medaille, wenn man das Sterben dieser schönen großen Seen auf unserer Erde bitter beklagt und nicht daran denkt, daß Maßnahmen zu ihrer Erhaltung vermutlich Millionen von Menschenleben gefordert hätten. Das ist die berühmte andere Seite der Medaille, die sich bei einem anderen, vielleicht sogar einem der größten Umweltschutzprobleme überhaupt in sehr eindringlicher Weise zeigt. Wir sprechen von einer langsam ansteigenden Vergiftung der Welt durch die verschiedenen Insektenvertilgungsmittel, vor allem des berühmten DDT.
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Im Jahr 1939 hat der Schweizer Chemiker Paul Hermann Müller ein neuartiges synthetisches Insektenbekämpfungsmittel entdeckt. Sein voller Name ist — wie oft in diesen Fällen — ziemlich verwickelt: Dichlor-diphenyl-trichloräthan. Wie für alle anderen chemischen Zungenbrecher hat man dafür sehr bald eine einfache Abkürzung eingeführt: DDT.
Ich erinnere mich noch gut, daß ich im Jahr 1945, während der ersten Besatzungsmonate, von einem amerikanischen Major ein Magazin geschenkt bekam, in dem von diesem Superläusepulver DDT berichtet worden war. DDT hat in der Tat die Eigenschaft, daß es auf Insekten fast ausschließlich spezifisch tödlich wirkt, während andere Lebewesen, vor allem wir selbst, darauf — so glaubte man damals — überhaupt nicht reagieren. In diesem Artikel stand zu lesen, daß die amerikanische Armee sich durch massive Anwendung von DDT bei ihrer Truppe praktisch von Läusen und den damit verbundenen Krankheiten befreit hatte. Auch machte man sich damals Hoffnungen, mit dem DDT eine der schlimmsten Geißeln der Menschheit, nämlich die Malaria, entgültig zu besiegen. Auf dem Kriegsschauplatz in der Südsee hatten die Amerikaner mit der Hilfe von DDT auf einer größeren Zahl von Inseln die Moskitos völlig ausgerottet. Das war freilich ein phantastischer Erfolg, den auch ich seinerzeit gebührend bestaunt hatte.
Nach dem Kriege, als die Produktion von DDT auch für den zivilen Verbrauch freigegeben wurde, griffen die amerikanischen Farmer gierig danach. Mit der Superspezialisierung ihrer Agrarprodukte hatten sie sich auch fast unlösbare Probleme der Schädlingsbekämpfung auf den Hals geladen. Entscheidende Fortschritte in den Erträgen der Großlandwirtschaft, die mit hochmechanisierten Mitteln betrieben wird, lassen sich nur in der Form von sogenannten Monokulturen erzielen. Es dreht sich dabei um Anpflanzungen von Weizen, Kartoffeln, Mais, Baumwolle, Tabak oder Orangen, die sich jeweils über Quadratkilometer weit erstrecken. Mit künstlichem Dünger werden diese Monokulturen dann zur Hochblüte gebracht.
So etwas freilich ist eine Einladung zur Bevölkerungsexplosion von Schädlingen, die sich auf die eine oder andere Pflanze spezialisiert haben. Der Kartoffelkäfer war früher überhaupt kein Problem, solange er Kartoffelpflanzen in der natürlichen Wildnis unter Tausenden von anderen Pflanzen mühsam suchen mußte. Als man ihm jedoch sein Lieblingsfutter quadratkilometerweise anbot, durfte man sich nicht wundern, daß er sich daran gütlich tat und zu einer bedrohlichen Epidemie wurde. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg hat die europäische Landwirtschaft den Kartoffel— oder Coloradokäfer bitter gefürchtet, obwohl er eigentlich ein ganz niedliches Tierchen ist und dem Maikäfer ähnelt. Seit der Landwirtschaft DDT zur Verfügung steht, sind diese Sorgen vergessen. Ich erinnere mich nicht, daß in den letzten 30 Jahren ernsthaft irgendwo in den westlichen Ländern von einer erntebedrohenden Insektenpest die Rede war.
Das ist eigentlich ein phantastischer Erfolg, der mit diesen neuartigen Pflanzenschutzmitteln erzielt worden ist. Heute allerdings ist DDT der große Sünder der Umweltverschmutzung und ein Schandfleck in der jüngeren wissenschaftlichen Geschichte.
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Die vorhin schon erwähnte Kehrseite der Medaille wurde der Weltöffentlichkeit fast in der Form einer Sensation übermittelt. Die kluge und literarisch sehr geschickte amerikanische Meeresbiologin Rachel Carson hatte sich in den fünfziger Jahren mit ihrem berühmten Buch über das Meer The Sea Around Us einen großen Namen gemacht. 1963 veröffentlichte sie ein Buch mit dem Titel Silent Spring (Der Stumme Frühling). In diesem Werk hat Frau Carson Klage erhoben über die hemmungslose Verwendung von DDT in der ganzen Welt.
Es ist zwar richtig, und das schrieb sie auch in ihrem Buch, daß DDT überaus spezifisch auf Insekten wirkt. Höhere Tiere jedoch, wie Fische, Vögel und kleinere Säugetiere, die sich als Insektenfresser spezialisiert haben, sind gefährdet. Da sie das Insektengift mit ihrer Nahrung selbst dauernd aufnehmen, staut es sich in ihrem Körper und gefährdet schließlich dann auch sie. Mit ihrem Titel Silent Spring hat Rachel Carson besonders ihrer Sorge Ausdruck geben wollen, daß die Population der Singvögel, die zumeist Insektenfresser sind, gefährdet sei. Die Argumente von Rachel Carson wurden von vielen von uns damals für etwas übertrieben gehalten, wenn heute auch manch einer bei ihr Abbitte leisten muß. Auch ich hielt damals die Gefahr, auf die Rachel Carson hinwies, für nicht ganz so bedrohlich, wie sie sie geschildert hatte.
Inzwischen sind einige Eigenschaften des DDT zum Vorschein gekommen, welche diesen für den Menschen so überaus segensreichen Wunderstoff nicht mehr ganz so hinreißend erscheinen lassen. Diese chlorbiologischen Verbindungen, zu denen DDT gehört, haben die unangenehme Eigenschaft, daß sie chemisch recht beständig sind. Ein Molekül dieses Giftstoffes, das im Zweiten Weltkrieg von einem amerikanischen Sanitätsgefreiten auf Guadalcanal versprüht worden ist, ist heute noch da. Es dauert Jahrzehnte, ja vielleicht sogar Jahrhunderte, bis diese Stoffe sich zersetzen und unwirksam werden. Sodann haben sie die böse Eigenschaft, daß sie fettlöslich sind und sich im Körperfett der Tiere und auch des Menschen ablagern. Von einer bestimmten Konzentration an wird dann dieser Stoff auch für Lebewesen, die nicht Insekten sind, schädlich, ja sogar tödlich.
Hinzu kommt, daß sich innerhalb einer Nahrungskette die Ansammlung dieses Giftes im Körperfett von Glied zu Glied fast verzehnfacht. Ein Mensch, der einen Fisch ißt, der sich seinerzeit von DDT verseuchten Insekten und Pflanzen ernährt hat, baut die hundertfache Menge von DDT permanent in sein Körperfett ein. In einem Wald in Amerika, der nur ein einziges Mal gegen Baumschädlinge mit DDT besprüht worden war, gab es nach wenigen Jahren fast keine Spitzmäuse mehr. Bei den Vögeln scheint DDT eine Eigenschaft zu haben, die in die Erzeugung ihrer Eierschalen eingreift. In DDT verseuchten Gegenden legen Enten und andere Wasservögel, die man untersucht hat, so dünnschalige Eier, daß sie diese während des Brütens zerdrücken und zertreten.
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Rachel Carson hatte ihr Buch — wie der Titel schon sagte — mit einem Appell an das Gemüt geschrieben. Ich kann sie heute recht gut verstehen, denn der Frühling in meinem Wohnort in Tirol ist auch etwas stiller geworden. Drei Jahre lang hat in einer Ecke meines Hauses ein Rotschwänzchenpaar genistet. Seit dem letzten Jahr sind sie nicht wieder gekommen. Diese Zerstörung unserer Natur bereitet vielen Leuten ernsthafte Sorgen, vor allem auch Künstlern, denen es an den Werten des Gemütes liegt. So hat der bekannte Wiener Künstler Hundertwasser kürzlich ein Essay veröffentlicht, in dem er diese langsame Verrottung unserer Umwelt zutiefst bedauert. Ich kann ihm und Rachel Carson nur zustimmen.
Andererseits aber auch habe ich großes Verständnis für die Sorgen der indischen Regierungschefin Frau Indira Gandhi. Als man ihr kürzlich nahelegte, daß alle Länder beschlossen haben, wegen der Verseuchungsgefahr für die Umwelt im Verbrauch von Pflanzenschutzmitteln zurückhaltender zu sein, hat sie auf ihr Problem hingewiesen: Millionen von Menschen in Indien, die zu verhungern drohen. Da die westlichen Länder in den letzten 30 Jahren sich im Gebrauch von DDT auch keine Schranken auferlegt hätten, empfände sie es als sehr schwierig, ihren Landwirtschaftsexperten die Vorzüge dieser an sich großartigen Erfindung nunmehr zu versagen.
Mir fällt es schwer, bei diesen Argumenten Partei zu ergreifen. Herr Hundertwasser hat bei seiner Klage vielleicht nicht an die hungernden Menschen in Indien gedacht; trotzdem empfinde ich für sein Argument Sympathie. Andererseits kann ich auch Frau Gandhi verstehen, der die Millionen von hungernden Landsleuten bestimmt schon oft den Schlaf geraubt haben. Niemand kann ihr übel nehmen, wenn es ihr egal ist, daß die Rotschwänzchen nicht mehr bei mir brüten und die Enten und Kraniche in Nordamerika ihre Eier zertreten. Frau Gandhi hat nur wieder die Wahrheit eines alten Sprichwortes bestätigt: Keine Rosen ohne Dornen.
Die Wirkung von Pflanzenschutzmitteln auf die Erhaltung von landwirtschaftlichen Erträgen, links behandelt, rechts unbehandelt:
Der Flugbrand des Weizens wird durch Beizen bekämpft; Tomaten werden gegen die Kraut- und Braunfäule mit organischen Fungiciden gespritzt.
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Für uns Wissenschaftler bleibt eigentlich nur eines. DDT ist eben doch nicht so gut, wie wir uns vor 30 Jahren eingebildet hatten. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, der Pflanzenschädlinge Herr zu werden, ohne das Gleichgewicht der Weltbiologie anzustoßen und unseren blauen Planeten zu vergiften.
Die künstlichen Düngemittel und die chemischen Pflanzenschutzmittel sind die beiden wichtigsten Pfeiler, auf denen die Ernährungsplattform unserer heute schon so riesig großen Weltbevölkerung ruht. Ohne Kunstdünger könnten wir nur einen Bruchteil der Ernten in jedem Jahr erzeugen, welche wenigstens über 99 Prozent der Menschheit alljährlich vor dem Hungertod bewahren. Aber auch ohne eine überaus wirkungsvolle Schädlingskontrolle stünden wir vor einer Katastrophe. Schon so, wie die Bedingungen heute sind, fällt ein erheblicher Teil der Nahrungsvorräte der Welt jedes Jahr Insekten, Nagetieren, Schimmelpilzen und Fäulnisbazillen zum Opfer. Wir haben viele futterneidische Konkurrenten hier auf unserer Erde, denen wir uns erwehren müssen. Jede Hausfrau, wenn sie ehrlich ist, wird zugeben müssen, daß sie vielleicht im Schnitt bis zu 20 Prozent der Nahrungsmittel in ihrer Küche wegwerfen muß, weil sie verdorben sind. Ähnliche Verluste entstehen freilich auch in der Versorgungskette vom Erzeuger bis zum Haushalt.
Wer also die moderne Technik verflucht, erweist sich eigentlich als ein ignoranter Schwärmer; denn ohne diese Technik wäre es dem Menschen niemals gelungen, seine Bevölkerungszahl straflos so gewaltig in die Höhe zu treiben. Es war auch zu Beginn des technischen Zeitalters, als jene Bevölkerungsexplosion, die uns heute so viel Kummer macht, einsetzte. Würde der Mensch immer noch als Sammler und Kleinjäger existieren oder als Bauer mit dem Jauchefaß sein Feld düngen, so müßte der Großteil der heutigen Menschheit verhungern. Auch die Technik — und das dringt heute langsam auch ins Bewußtsein eines jeden — ist keine Rose ohne Dornen. Die riesige Produktion von Konsumgütern, von Energie, von Transportleistungen und von Ernteerträgen erzeugt nach dem Energieprinzip einen großen Abfall, dessen wir heute nicht mehr so recht Herr werden. Es dreht sich dabei gar nicht so sehr um die immer größer werdenden Schutthalden und Autofriedhöfe, obwohl diese durch die teuflische Erfindung der Kunststoffe immer problematischer werden. In Norddeutschland heißen die Mülleimer heute noch Ascheimer, weil nämlich noch vor hundert Jahren der einzige Abfall eines Haushalts aus Asche bestand. Gelegentlich befanden sich darunter auch eine zerbrochene Tasse oder einige Glasscherben.
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Jeder andere Abfall konnte ohne jeden größeren Ärger in jedem Haushalt im Ofen verbrannt werden, so daß die Müllabfuhr nur noch die Asche abzuholen hatte. Haben Sie schon einmal versucht, eine Plastikflasche zu verbrennen? Der Gestank wird Sie daran hindern, das jemals wieder zu versuchen, und so landet eben die Plastikflasche, wenn sie nicht mehr gebraucht wird, im Mülleimer. Wenn diese nun nicht in einer wissenschaftlich genau überwachten Verbrennungsanlage sorgfältig vernichtet wird, so wird sie noch nach Hunderten von Jahren dort, wo man sie auf der Schutthalde weggeworfen hat, zu finden sein.
Der Abfall der Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten hatte den großen Vorteil, daß er wieder in den organischen Kreislauf des Lebens auf unserer Erde zurückkehrte. Asche ist sogar ein recht guter Dünger, ganz zu schweigen von den Ausscheidungen der Menschen und Tiere. Mit Plastiktüten, die wir jede Woche fast zu Dutzenden nach Hause tragen, kann man freilich keinen Acker düngen. Besonders bedrohlich ist zudem der Umstand, daß diese Abfallprodukte unserer modernen Industrie einfach giftig sind.
Noch vor nicht allzu langer Zeit hat man die Elemente, aus denen der Lebensstoff, das heißt auch unsere eigenen Körper bestehen, an der Hand abzählen können: Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor, Kalzium. In der Zwischenzeit hat man herausgefunden, daß eine große Zahl von sogenannten Spurenelementen für einen gesunden Organismus außerordentlich wichtig sind. Vielfach sind diese Spurenelemente Metalle. So wissen wir zum Beispiel, daß der für das Leben unersetzliche Blutfarbstoff, das Hämoglobin, Eisen enthält. Blutarme Menschen erhalten deswegen Eisenpräparate. Bei Pflanzen ist das Herzstück des grünen Chlorophyllmoleküls ein von vier Stickstoffatomen eingefaßtes Magnesiumatom.
Nun ist es in der Biochemie aber immer so, daß Stoffe, die auf den Organismus entscheidend wirken und für ihn oft erforderlich sind, bei Überangebot auch giftig sein können. Bestimmte Metalle, in winzigen Mengen dem menschlichen Körper zugeführt, sind tödliche Gifte. Das klassische Gift, das die Mörderinnen schon seit Jahrhunderten ihren Opfern in die Suppe mischten, ist ja ein solches Metall: Arsen. Aber auch andere Metalle, denen man es lange Zeit nicht angesehen hat, sind höchst gefährliche Gifte, selbst wenn sie nur in winzigen Spuren vom Körper aufgenommen werden. Zu diesen giftigen Metallen gehören in erster Linie Quecksilber, Kadmium, Thallium und Blei.
Was diese Metallspuren so gefährlich macht, ist wiederum — ähnlich wie beim DDT — ihre Eigenschaft, daß sie sich im Körper der Lebewesen ansammeln und nur langsam wieder ausgeschieden werden. Metallvergiftungserscheinungen sind deswegen so hinterlistig, weil man die Ursache, selbst wenn sie bekannt ist, nicht so leicht beseitigen kann. Unsere moderne Industrie, die ja auf zahllosen chemischen Prozessen fußt, macht fast von allen Elementen Gebrauch.
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Bei den Fabrikationsprozessen kommt es dann immer wieder zu Abfällen, wobei eben auch Spuren dieser giftigen Metalle, vor allem Quecksilber und Blei, in die Umwelt ausgeschüttet werden. Mikrochemische Untersuchungen von Fischen, Muscheln und Schalentieren, vor allen Dingen in der Fischereiindustrie Japans und Amerikas, haben gefährliche Mengen von Quecksilber, Kadmium und Thallium in den für menschliche Nahrung bestimmten Fischen und anderen Meerestieren gezeigt. Fast alle diese giftigen Metalle waren in der bisherigen Geschichte der Menschheit sicher in den Erzen, meist sogar als harmlose Oxyde, aufbewahrt. Erst der technische Mensch hat sie befreit und verstreut sie zwar in geringen, aber doch eben gefährlichen Spurenmengen über die ganze Welt. Der gesamten Biosphäre droht eine Metallvergiftung, gegen die weder Pflanzen noch Tiere noch Menschen gewappnet sind.
Ohne die Hilfsmittel unserer Technik wäre ein großer Teil von uns Menschen schon längst verhungert. Unsere Superindustrie, unsere Superlandwirtschaft, unsere Super-Transportsysteme und unsere weltweiten miteinander verflochtenen Wirtschaften haben es möglich gemacht, daß wir uns überhaupt so stark vermehren konnten. Gemessen an den natürlichen Abläufen und nach den klassischen Naturgesetzen unseres Planeten, hätte sich unsere Zahl überhaupt nicht so stark steigern dürfen.
Gleichzeitig ist es aber auch der Fluch unserer modernen Technik, daß sie die delikate Chemie des Lebens auf unserem blauen Planeten in Unordnung bringt. Ja, es ist sogar so, daß — wenigstens für die Menschheit und das übrige Leben — unsere planetare Wohnstätte langsam vergiftet und für uns als kosmische Heimat untauglich wird.
Aus diesen Überlegungen ergeben sich eine Reihe von unabdingbaren Konsequenzen. Es ist unmöglich, daß wir zu der Idylle der Spätrenaissance zurückkehren, in der es noch keine Großindustrie, keine Eisenbahn, keine Automobile, keine Traktoren und keine Mähdrescher gab. Wir brauchen künstlichen Dünger und Insektenvertilgungsmittel, um jedes Jahr wieder neue Rekordernten einheimsen zu können. Wenn wir heute noch aus dem Sack heraus säen, mit dem Jauchefaß düngen und die Schädlingsinsekten mit der Hand einsammeln würden, wären die Millionen von Tonnen Nahrungsmittel, die wir für die Ernährung der übervölkerten Erde benötigen, nicht zu produzieren.
Die Aufgaben, die sich daraus ergeben, liegen auf der Hand. Unsere Generation von Wissenschaftlern hat sie wohl schon erkannt: Wir brauchen eine ungiftige Großindustrie und Superlandwirtschaft. Die junge Generation, die uns wegen der Umweltverschmutzung vielfach anklagt, muß dieses Problem im richtigen Maßstab sehen. Im Moment nützt es wenig, über die Zerstörung unserer Umwelt Klage zu führen, wenn als Alternative jährlich 20, 30 oder 50 Millionen Menschen zusätzlich Hungers sterben müßten. Der Fortbestand der Menschheit hängt davon ab, daß es uns bald gelingt, eine ungiftige, aber ebenso wirkungsvolle Technik zu entwickeln.
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Die Naturgeschichte unserer übervölkerten Erde mit 52 Abbildungen