Start    Weiter

Teil 1: Ausblick

 

1. Nachdenken über die Zukunft

 

14-25

Im Frühjahr 1995 dozierte ich in einem Seminar über die möglichen Folgen langfristiger Bevölkerungs-, Wachstums- und Umwelttrends.

Für mich war es eine neue Erfahrung — ich bin Forscher und Schriftsteller, kein Dozent —, aber was sich mehr als unerwartet einstellte, das war der tief eingewurzelte Pessimismus meiner Hörer, die meisten von ihnen sachkundige Fachleute Mitte dreißig. 

Offenbar neigten sie alle zu der Überzeugung, daß das Bevölkerungs­wachstum in den ärmeren Regionen der Welt unausweichlich in die Katastrophe führen wird, daß die Umweltverschmutzung nur fortschreiten kann und Gewalt und Konflikte so gut wie sicher zunehmen werden — kurz, daß sich all die bekannten düsteren Prophezeiungen bewahrheiten würden.

Und merkwürdig fanden sie, daß ich, der es doch eigentlich besser wissen müßte, ihre Ansicht nicht teilte.

Warum meine Hörer und viele andere so schwarz sehen, ist nicht schwer zu verstehen.

Die Weltbevölkerung wächst schneller als jemals zuvor: jährlich um 90 Millionen, vor allem in den ärmsten Ländern, die sie am wenigsten unterbringen können. Armut, Krankheit und Hunger überschatten nach wie vor das Leben Hunderter Millionen von Menschen. Nach wie vor gibt es berechtigte Bedenken hinsichtlich der globalen wirtschaftlichen Umwälzungen, die Arbeitsplätze und Existenzgrundlagen vernichten und ganze Gemeinwesen aushöhlen könnten; hinsichtlich der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich; des Versagens der Regierungen wie der sich verschlechternden sozialen Bedingungen.

Gewiß ist es möglich, daß wir den Generationen nach uns eine Erde hinterlassen, die von Umweltgiften verseucht, ihrer Urwälder beraubt und veränderten klimatischen Bedingungen unterworfen ist. 

Jede Woche scheint neue Beweise für das bedrohte Gleichgewicht zu bringen — ein weiteres afrikanisches Land versinkt im Chaos, tödlicher Smog führt zur Schließung von Schulen und Flughäfen in mehreren südostasiatischen Ländern, Drogen und Korruption zu neuer Gewalt in Lateinamerika.

Doch wie ich glaube zeigen zu können, sieht die Zukunft viel komplexer aus und gibt Anlaß zu größerer Hoffnung, als die Schlagzeilen vermuten lassen.

So sehr mich diese pessimistischen Vereinfachungen auch beunruhigen mögen — noch bedrückender finde ich die optimistischen Vereinfachungen. Dabei gibt es durchaus Anlaß zum Optimismus: Demokratie und Marktwirtschaft breiten sich aus, neue Technologien sind auf dem Vormarsch, die Analphabeten­quote sinkt. Die friedliche Evolution Südafrikas zur multi-ethnischen Demokratie, die bemerkenswerte und unerwartete Einführung demokratischer Strukturen in chinesischen Dörfern sowie die raschen Wirtschaftsreformen in Lateinamerika lassen tendenziell auf sich abzeichnende positive Veränderungen schließen. Es ist durchaus möglich, daß derartige Entwicklungen die Chancen, den Wohlstand und das Wohlergehen zumindest vieler Völker der Welt vermehren und verbessern Werden und daß neue Kenntnisse und menschlicher Einfallsreichtum Lösungen für zahlreiche soziale und ökologische Probleme hervorbringen werden. In den kommenden fünfzig Jahren erleben wir vielleicht tatsächlich das Entstehen der ersten wirklich globalen menschlichen Zivilisation. Aber die Betonung liegt hier auf "möglich" und "vielleicht".

Wird vielleicht beispielsweise Lateinamerika die lange kultivierte Gleichgültigkeit gegenüber den Armen und die Vorrechte für die Schwerreichen aufgeben, die es zu einer Region beispielloser Ungleichheit machen? Dazu braucht es mehr als nur Wirtschaftsreformen.

Wird China — die am schnellsten wachsende Marktwirtschaft mit den nach wie vor sozialistischen Strukturen der letzten kommunistischen Großmacht — den inneren Widersprüchen und Spannungen, der extremen Umweltverschmutzung und der massiven Landflucht standhalten können? Oder wird es von Problemen erdrückt, die ihm den Schwung rauben, wie es zumindest vorübergehend Südostasien erleben mußte?

Werden die rund vierzig Staaten im Afrika südlich der Sahara dem südafrikanischen Beispiel folgen? Oder kommen Stabilität und kompetente Regierungen zu spät, um eine Abwärtsspirale von Umweltver­schmutzung, Unterernährung, Verarmung und Gewalt und Chaos abzuwenden?


15/16

Und werden die reichen Nationen die Herausforderung offener Märkte und globaler Führung annehmen? Oder werden sie sich, mit eigenen sozialen Problemen und Überalterung beschäftigt, auf sich selbst zurückziehen? Nordamerika, Europa und Japan stehen, was die eigene Zukunft angeht, am besten da, weil intern kaum eingeschränkt — aber sie haben auch am meisten zu verlieren, wenn in der Welt Verzweiflung, Instabilität und Umweltzerstörung zunehmen.

Spielt es eine Rolle, wenn es dabei Gewinner und Verlierer gibt? Meiner Meinung nach ja. Die Welt ist bereits so sehr vernetzt, daß kein Land mehr unabhängig ist, die Zukunft keiner Region von der einer anderen isoliert werden kann.

Es gibt mehr und mehr Beispiele für derartige Verflechtungen. Im Frühjahr 1997 führte eine Währungskrise in Südostasien an den Aktienbörsen der Welt zum Börsenkrach. So wurde klar, daß angesichts miteinander vernetzter Märkte die falschen Entscheidungen am einen Ort auch weit entfernt Konsequenzen haben können.

Auch Gesundheitsprobleme nehmen globale Ausmaße an. Der für die Immunschwächekrankheit AIDS verantwortliche HIV-Virus bedroht alle Regionen der Welt, ebenso kann der tödliche Ebola-Virus binnen 24 Stunden (und einer Fernreise) an jeden Punkt der Erde gelangen. Somit können menschliche Aktivitäten in den afrikanischen Wäldern — von wo HIV und Ebola stammen — globale Wirkungen zeitigen.

Die Energiefrage veranschaulicht weitere Abhängigkeiten. In den kommenden Jahrzehnten wird die Welt mehr und mehr von den Ölreserven im Nahen Osten abhängen, so daß die Spannungen in dieser Region — zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, zwischen autoritären Regimes und dem wachsenden islamischen Fundamentalismus — zunehmen und die weltweite Energieversorgung gefährden. Und China, das den Treibstoff seiner rasanten industriellen Entwicklung weiterhin aus seinen riesigen Kohlevorkommen beziehen will, wird bald zur größten Quelle jener Treibhausgase, die zur globalen Erwärmung führen. 


17

Es sind solche Entscheidungen — und die jener Industrieländer, die bereits große Treibhausgas-Emittenten sind —, die wohl künftig das Klima des Planeten beeinflussen.

"Kleiner" wird die Welt auch durch Wanderungsbewegungen: Überall strömen illegale Migranten aus verarmten, im Chaos versinkenden Regionen über die Grenzen, in einem Ausmaß, das heftige gesellschaftliche und politische Reaktionen provoziert. So wirken sich Entscheidungen in der einen Region, die Wachstum oder Stagnation bringen, Armut beseitigen oder fortbestehen lassen, Stabilität fördern oder aber Chaos und Gewalt, auch in weit entfernten Teilen der Welt aus.

Kriminalität hat heute bereits globale Dimensionen. Aus Polizeiberichten geht hervor, daß sich die gewaltbereite russische Mafia mit kolumbianischen Drogenkartellen verbündet, um mächtige, weltweit operierende Syndikate zu bilden, die in großem Maßstab Waffen, Drogen und Geld über die Grenzen schaffen, Gewalt und Korruption in reiche wie arme Regionen bringen und Unternehmen wie ganze Staatswesen korrumpieren.

In einer derart enger zusammenwachsenden Welt sind wir alle Nachbarn. Fehler ziehen weite Kreise, Not und Elend breiten sich rascher aus. Deshalb ist keine Region allein Herr ihres Schicksals: Die Geschicke des Globus hängen von regionalen Entscheidungen ab, die unabhängig voneinander in verschiedenen Teilen der Welt getroffen werden.

Am Morgen des 21. Jahrhunderts dämmern andere Herausforderungen herauf: Es geht weniger darum, gewaltige Naturereignisse zu überleben oder einer oft feindlichen und unberechenbaren Umwelt das Lebensnotwendige abzuringen, wie lange Zeit in der Geschichte der Menschheit. Auch nicht um den Titanenkampf zweier sich feindlich gegenüberstehender ökonomischer und politischer Systeme, der die letzte Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend prägte. Heute ist die Menschheit mit einer grundlegend anderen Herausforderung konfrontiert, nämlich den Planeten, seine Ressourcen und die ganze menschliche Zivilisation so nachhaltig zu verwalten, daß beide auf Dauer erhalten bleiben. Wegen des Tempos und der Komplexität des Wandels ist das keine leichte Aufgabe.


18

In den nächsten fünfzig Jahren wird die Menschheit tiefgreifende demographische Veränderungen, ein grundlegend anderes globales Wirtschafts- und Macht­gleich­gewicht und nahezu ständige technologische Innovationen erleben und zu bewältigen haben. Diese Transformationen sind unausweichlich — die sie auslösenden Kräfte wirken bereits —, aber die Ergebnisse stehen beileibe nicht fest.

Niemand vermag mit Gewißheit zu sagen, ob gute oder schlechte Zeiten vor uns liegen. Auch nicht, ob das 21. Jahrhundert der Menschheit neue Höhepunkte der Entwicklung oder Konflikt, Verfall und Tragödie in einem Maßstab bringen wird, der selbst die Exzesse des 20. Jahrhunderts in den Schatten stellt.

Liegt es in unserer Macht, die Richtung vorzugeben — für eine Zukunft, die auch für unsere Nachkommen noch wertvoll ist?

Manch einer mag behaupten, daß unser Schicksal in den Händen höherer Mächte liege, daß wir kaum in der Lage seien, unsere Zukunft zu gestalten.

Anderen ist es gleichgültig — sie meinen, daß wir uns schon irgendwie durchwurschteln werden.

Wieder andere aber — und zu ihnen zähle ich mich — sind der Auffassung, daß weder Schicksalsergebenheit noch Selbstzufriedenheit am Platz sind: Menschliches Handeln kann die Welt von morgen in einem Maße verändern, wie es nie zuvor möglich war, zum Guten wie zum Schlechten. Um aber die entscheidenden Schritte tun zu können, muß man genauer wissen, was die Zukunft für uns bereithalten könnte.

In diesem Buch geht es zwar um die Zukunft, aber nicht um Vorhersagen eher darum, wie man über die Zukunft nachdenken kann.

Weil das Schicksal der Menschheit nicht vorherbestimmt ist, untersuchen wir hier nicht nur eine, sondern mehrere mögliche Welten, deren jede von einer ganz anderen Sicht der Zukunft geprägt ist. Enthalten in diesen sehr unterschiedlichen Sichtweisen sind grundlegende Entscheidungen: Welche Zukunft wollen wir eigentlich? Welche Welt wollen wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen?

Um für derartige Entscheidungen Informationen zu liefern, um Einsichten zu ermöglichen, auf die unser Handeln gründen kann, nähert sich das Buch der Analyse von drei Seiten.


19

Zunächst untersucht es langfristige Trends. Trotz der verwirrenden Komplexität der heutigen Zeit und der uns täglich überschwemmenden Informationsflut lassen sich Faktoren identifizieren, die für die Gestaltung der Zukunft entscheidend sind — beispielsweise jene, die den Antrieb für die bereits erwähnten Transformationen liefern. Diese entscheidenden Trends, global und nach Regionen fortgeschrieben, erhellen die vor uns liegenden Möglichkeiten. Zweitens können wir die Zukunft zwar nicht kennen, aber wir können sie uns vorstellen. Deshalb beschreibt und vergleicht dieses Buch verschiedene Wege in die Zukunft oder Szenarien, an denen sich die Gesellschaft orientieren könnte — Szenarien, die völlig verschiedene Welten sowie die gesellschaftlichen Entscheidungen veranschaulichen, die den einen Weg vom anderen unterscheiden. Drittens — und vielleicht am wichtigsten — werden hier einzelne Regionen der Welt analysiert und dabei wichtige Trends, Szenarien und Informationen zum kulturellen, sozialen und politischen Kontext einbezogen. Da regionale Entscheidungen sich im globalen Zusammenhang auswirken, ist es wichtig, die besonderen Möglichkeiten und Begrenztheiten der einzelnen Regionen zu verstehen.

Langfristige Trends bilden die Grundlage derartiger "Zukunftsforschung". Manche sind positiv: So reduzieren beispielsweise die zunehmende Effizienz industrieller Prozesse und die sich wandelnde Industriestruktur die Umweltverschmutzung. Das Programmieren von Software hat heute einen bedeutenden Anteil am US-amerikanischen Sozialprodukt — hier sind mehr Menschen beschäftigt als in der Stahlerzeugung, und ihre wichtigsten Ressourcen sind nicht Erze, sondern Kenntnisse. Ein wichtiger sozialer Trend in praktisch allen Entwicklungsländern sind sinkende Geburtenraten und die zunehmende Verwendung von Verhütungsmitteln — von weniger als 10 Prozent der Verheirateten in den 60er Jahren auf mehr als 50 Prozent in den 90er Jahren. Beide Trends werden sich in den kommenden Jahrzehnten wohl fortsetzen.

Andere Entwicklungen sind weniger ermutigend. Nahezu ein Drittel der Bewohner Afrikas südlich der Sahara bekommt nicht genug zu essen, die Zahl der Mangelernährten nimmt stetig zu. 


20

In den Entwicklungsländern wächst die städtische Bevölkerung explosionsartig; dort ziehen wöchentlich fast eine Million Menschen vom Land in die Stadt — weit schneller, als vernünftige Behausung geschaffen oder die Wasserversorgung ausgebaut werden kann. Auch die Gewalt nimmt zu: Entführungen und Drogenkriminalität hier, religiöse Konflikte dort, Terrorismus im Inneren sogar in Japan und den Vereinigten Staaten, vielerorts bewaffnete Banden, organisiertes Verbrechen und mehr und mehr Gewaltkriminalität weltweit. Alarmierend wie nie zuvor deutet all dies daraufhin, daß die Welt auf eine keineswegs rosige Zukunft zusteuert.

Trends allein aber erlauben noch keine verläßlichen Aussagen über die Zukunft: Überraschungen sind möglich, gute wie böse. Außerdem gibt es zahlreiche wichtige Phänomene sehr unbeständiger Natur, die eine Darstellung von Trends verbieten, geschweige denn Projektionen auf die Zukunft erlauben. Gesellschaftliche Einstellungen können sich dramatisch wandeln, wie der erstaunliche Stimmungsumschwung in der amerikanischen Öffentlichkeit beim Zigarettenrauchen in den letzten zehn Jahren gezeigt hat.

Ähnlich ernüchternd ist das Beispiel der Börsen: Wie rasch schlagen hier positive in negative Erwartungen um und führen zum Zusammenbruch der Märkte. Auch scheinbar unanfechtbare politische Mandate gehen so schnell verloren, wie die Wählergunst wechselt. Wie Investoren ebenso gut wie politische Beobachter wissen, sind derartige Veränderungen von Natur aus schwer zu prognostizieren — nur wenige Experten, wenn überhaupt, sahen den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus —, doch können sie grundlegend andere soziale und politische Rahmenbedingungen herstellen. Daher kann sich selbst in einein Land, wo die Trends bei den Geburtenraten, der wirtschaftlichen Leistung und der Umweltverschmutzung düster aussehen, plötzlich ein neuer politischer Konsens einstellen und völlig andere Perspektiven eröffnen. Ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit ist die rasche Transformation in Polen und Tschechien.


21

Wenn gewandelte Einstellungen oder Verhaltensmuster tatsächlich der Motor für künftige Entwicklungen sind, wie können wir sie dann berücksichtigen oder die Folgen eines neuen politischen Konsenses und den daraus folgenden politischen Wandel untersuchen? Genau hier liegt die Stärke von Szenarien — jenen genau konstruierten "Geschichten der Zukunft", die alternative Entwicklungen und Wege beschreiben.

Szenarien regen die Phantasie an. Sie helfen uns, neue Möglichkeiten zu entwickeln, extrem verschiedene Alternativen zu erkunden und viele unterschiedliche Faktoren in unser Denken über die Zukunft einzubeziehen. Wir können uns daher eine von Umweltverschmutzung und beschränkten Ressourcen belastete Zukunft vorstellen — in der Armut, Nahrungsmittelmangel und die gesellschaftliche Polarisierung zwischen Armen und Reichen menschliches Leben entwerten und entwürdigen; oder aber eine von derartigen Belastungen freie Zukunft, möglich gemacht durch neue Technologien und klügere Politik, eine Zukunft, in der die Grundbedürfnisse aller befriedigt und die Früchte einer globalen industriellen Zivilisation von allen geteilt werden.

Szenarien bieten ferner die Möglichkeit, einige der wichtigen Entscheidungen zu überdenken, die unsere Zukunft beeinflussen werden — oder könnten. Verschiedene Szenarien zu konstruieren hebt Maßnahmen und Strategien ans Licht, die das Entwicklungspotential einer Gesellschaft oder die Wahrscheinlichkeit einer lebenswerteren Zukunft vergrößern könnten.

Kritische Trends und Szenarien bilden einen wesentlichen Teil des Instrumentariums der Zukunftsforschung, aber sie allein reichen noch nicht aus. Bei meinen Reisen in andere Teile der Welt bin ich immer wieder fasziniert von der Verschiedenheit der Länder. Doch bei all der Medienberichterstattung über globale Trends und globale Märkte mag man die Welt leicht für etwas Einheitliches halten und vergessen, daß die Bedingungen — und wichtiger noch die Erwartungen und kulturellen Muster — von Ort zu Ort enorm verschieden sind. Ich bin in der Tat der Meinung, daß ein grundlegender Fehler zahlreicher Zukunftsstudien darin besteht, daß sie nur globale Strukturen und globale Szenarien und damit die Welt als homogenes Ganzes vorstellen. 


22

Regionale Unterschiede machen aber nicht nur das Spezifikum der entscheidenden Probleme aus, sondern beschränken auch die Wahrnehmung dieser Probleme sowie möglicher Lösungen. Deshalb müssen regionale Unterschiede bei der prospektiven Untersuchung unseres gemeinsamen Schicksals eine zentrale Rolle spielen.

Aus der Distanz mag es beispielsweise für Afrika und seine Probleme wenig Hoffnung geben; aber nur wenigen ist klar, daß der Kontinent noch relativ dünn besiedelt ist und eine geringere Bevölkerungsdichte als die Vereinigten Staaten hat. Afrika besitzt mehr Mineralvorkommen, mehr fruchtbaren Boden und mehr Wasser pro Kopf als China oder Indien — auch dann, wenn sich die derzeitige Bevölkerung verdoppelt hat und etwa genauso groß wie die Chinas ist. Wenn Afrika die Folgen des Kolonialismus abschüttelt, der vor gerade einmal einer Generation zu Ende ging, könnte es sich zum Kontinent der Verheißung, zum vollwertigen Akteur auf dem Weltmarkt entwickeln. Ist das hoffnungsvolle Experiment mit der multi-ethnischen Demokratie in Südafrika etwa der Vorbote dieser Transformation?

Und was ist mit China? Für die Medien sieht China so gut wie sicher einer Zukunft als wirtschaftliche Supermacht und politische Weltmacht entgegen. Aber mehr als einmal in seiner langen Geschichte wurde China von Bürgerkriegen erschüttert und in Teilstaaten gespalten; kann dies wieder eintreten, bei einer überalterten Führung und einer immer schwächer werdenden Zentralregierung, die mit auseinanderstrebenden regionalen Einzelinteressen konfrontiert ist? Bleibt China angesichts einer wohl beispiellosen Landflucht — mit in den nächsten Jahren zu erwartenden 250 Millionen neuen Stadtbewohnern — sozial stabil? Und wenn China wankt — wie wirkt sich seine Instabilität auf die übrige Welt aus?

Blickt man nach Lateinamerika, erscheint die Zukunft dort ungewiß. Auf der einen Seite ist die Region auf Wirtschaftswachstum eingestellt: Die meisten Staaten sind demokratisch, es gibt einen allgemeinen Konsens über die Wirtschaftsreformen, die Bodenschätze sind relativ zur Bevölkerungszahl reicher als in irgendeiner anderen Region, und die Industrieproduktion liegt über der Chinas. Andererseits ist die Konzentration des Landbesitzes, ist die Einkommenskluft nirgendwo in der Welt größer als in Lateinamerika. 


23

Obdachlose Kinder bevölkern die Straßen im brasilianischen Sao Paulo und anderswo. Die mit dem Kokainhandel verbundene weitverbreitete Korruption und die sich ausbreitende Gewalt — der Guerillatruppen, der zügellosen Verbrecherbanden, der an Konflikten über Landbesitz wie auch der an Konflikten zwischen den Banden in den städtischen Armenvierteln Beteiligten — sind für die Region eine erdrückende Last. Können die sozialen Spannungen und die fehlende Verteilungs­gerechtigkeit die Zukunft der Region verbauen und erneut zu Instabilität und Stagnation führen?

Für das Wirtschaftswachstum prädestiniert scheint auch Indien. Mit seiner lebendigen Demokratie und gut ausgebildeten Mittelschicht besitzt es vielen anderen Entwicklungs- und Schwellenländern gegenüber einen Vorsprung. Aber die Mehrheit der Inder lebt in tieferer Armut als die Afrikaner — gemessen an Einkommen, Analphabetentum oder fehlenden Möglichkeiten zur Befriedigung der Grundbedürfnisse —, und die Bevölkerung wird wohl bald größer als die Chinas sein. Religiöse oder im Kastenwesen bedingte Konflikte nehmen zu. Kleinere wirtschaftliche Reformen wurden eingeleitet; werden soziale Reformen folgen, und werden sie rechtzeitig kommen?

Ähnlich ungewiß sind auch die Aussichten für Nordafrika und den Nahen Osten. Die an Ölvorkommen reiche, aber trockene Region ist mit einer Wasserkrise konfrontiert: Bis zum Jahr 2025 wird ihr Bedarf dank der rasch wachsenden Bevölkerung viermal so groß sein wie das Wasserangebot der Natur. Doch sieht sich die Region einer noch größeren Herausforderung gegenüber, nämlich sozialen und politischen Reformen. Ohne Gegenmaßnahmen werden sich die sozialen Spannungen weiter aufbauen, werden Umstürze und Aufstände wahrscheinlicher, werden islamische Fundamentalisten praktisch die einzige Alternative zu autoritären Regimes sein.

Doch werden solche Gruppen, so sie an die Macht kommen, kaum für soziale und politische Veränderungen — und schon gar nicht für eine verbesserte Position der Frau — sorgen, was aber zur Stabilisierung der Bevölkerung und zur Modernisierung der Wirtschaft erforderlich wäre. Die wahrscheinlichen Folgen wären anhaltende Instabilität und Konflikte, möglicherweise hätte es auch Konsequenzen für eine zunehmend vom Erdöl dieser Region abhängige Welt.

23/24

Und Nordamerika, Europa, Japan? 

Trotz ihrer derzeitigen Position als wirtschaftliche Großmächte blicken alle drei Regionen in eine seltsam ungewisse Zukunft. Es geht darum, ob sie ihre enormen ökonomischen und sozialen Vorteile sowie das Kapital und die Technologie, über die sie verfügen, dazu nutzen werden, die Welt in eine hoffnungs­vollere Zukunft zu führen, oder ob sie den sozial und politisch konservativen Strömungen, die in diesen drei Regionen bereits erkennbar sind, nachgeben und einen härteren, egoistischen Autarkiekurs einschlagen werden.

Welche dieser widersprüchlichen Tendenzen und Möglichkeiten werden sich durchsetzen, welche Szenarien Wirklichkeit werden? 

Meines Erachtens wird die Zukunft, wenn die derzeitigen Trends anhalten, Anlaß zu Optimismus wie zu Pessimismus bieten: Wohlstand und Entwicklungs­möglichkeiten werden sich für wenige, vielleicht sogar für viele Völker vergrößern, doch wird sich die Lebensqualität für die meisten Menschen, vielleicht sogar für die Reichen, verschlechtern. Neue Problemlösungen werden sich ergeben, aber möglicherweise nicht rechtzeitig genug, um der sich ausbreitenden Umweltzerstörung entgegenzuwirken. 

Das 21. Jahrhundert wird wohl tatsächlich eine beispiellose globale Zivilisation erleben, verbunden durch das Internet und seine Nachfolger, aber möglicher­weise auch eine Tragödie, gegen die sich der Holocaust bescheiden ausnimmt.

Aber ich bin davon überzeugt, daß wir als Menschen unser Schicksal weitgehend in der Hand haben und das gemeinsame Projekt Erde in jede der genannten Richtungen steuern können. Deshalb bin ich grundsätzlich optimistisch: Keine der beschriebenen Folgen ist unausweichlich, und zahlreiche negative Trends können umgekehrt werden, wenn sich die Gesellschaft dazu entschließt und den nötigen Willen zum Handeln aufbringt. 

Außerdem glaube ich, daß sich grundlegende soziale und politische Veränderungen, die in eine lebenswertere Zukunft führen können, bereits abzeichnen, obwohl erst in Umrissen und weitgehend noch nicht richtig eingeschätzt.

Wichtiger noch: Wenn wir die Zukunft so gestalten wollen, daß sie auch für unsere Kinder und Enkel wünschenswert ist, dann müssen wir genauer wissen, worauf die Welt zusteuert und welche Entscheidungen gefällt werden müssen, auf kollektiver wie auf individueller Ebene. 

Dieses Buch soll dabei helfen — sozusagen ein Führer ins Wahrscheinliche, ins Mögliche.

25

#

 

 

www.detopia.de    ^^^^