Fortsetzung - Kommunismus als Lösung
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Duve: Wenn es nun nicht nur um alte Bäume geht, sondern darum, daß sich zwischen Naturschutz und Industrie eine Interessenkollision von ökonomischer Tragweite ergibt? Nehmen wir an, ein Zementwerk ...
Harich: Das Gesetz entscheidet. Was es vorschreibt, ist heilig. Und wenn Zweifel darüber entstehen, wie es im Einzelfall auszulegen ist, dann müssen eben aus dem zuständigen Wissenschaftsbereich, vorab der Biologie, Expertengutachten beigebracht und notfalls, zusammen mit einer Strafanzeige, der Staatsanwaltschaft zugeleitet werden, der die Kontrolle über die Einhaltung der Gesetze obliegt.
Im übrigen: Ein sozialistischer Betriebsleiter ist ja nicht Privateigentümer wie bei Ihnen der kapitalistische Fabrikant. Er bezieht sein Gehalt, aber er profitiert nicht an dem von ihm geleiteten Unternehmen. Infolgedessen entfällt bei ihm jedes ökonomische Interesse, Umweltschutzbestimmungen zu verletzen. Er verletzt sie höchstens aus Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit, Unwissenheit und ähnlichen Gründen. Und dagegen auf gesetzlicher Grundlage anzukämpfen ist nicht schwer, ist viel leichter, als wenn man, wie bei Ihnen die Bürgerinitiativen, das Profitinteresse, den Zwang zur Kapitalverwertung, die Selbstbehauptung des Unternehmers im Konkurrenzkampf zum Widersacher hat.
Ich habe mit großem Interesse einen Aufsatz des Bundesministers Hans-Jochen Vogel, «Grenzen des Wachstums — Konsequenzen für die Politik», gelesen, in dem es u. a. heißt:
«Nach unseren Informationen sind Umweltzerstörung und -vergiftung etwa für die Sowjetunion ebenso gravierende Probleme wie für die Vereinigten Staaten. Smog, Fischsterben, Ölverschmutzung und Verlandung der Seen, Probleme der Trinkwasserversorgung, Bodenerosion durch Abholzen von Wäldern ... — das sind Stichworte, die uns auch aus der Sowjetunion berichtet werden. ... Die Ursachen sind offenbar die gleichen wie bei uns: Verstädterung, umweltfeindliche Technologien, laxe Anwendung vorhandener Schutzgesetze, Kompetenzschwierigkeiten in der Administration, fehlende Berücksichtigung derjenigen Kosten in der betrieblichen Kalkulation, die der Gesellschaft entstehen.»
Alles richtig. Aber daraus zieht Vogel dann den grundverkehrten Schluß, daß «die großen Herausforderungen unserer Zeit systemneutral» seien, d. h., daß der Sozialismus mit ihnen ebensowenig fertig werden könne wie der Kapitalismus oder nicht besser als er.
Schon wenn man die Interessenlage eines einzelnen sozialistischen Betriebsleiters mit den Motiven, die das Handeln eines kapitalistischen Fabrikanten bestimmen, vergleicht, erweist sich, daß das nicht stimmt. Und zieht man gar die Gegensätze in Betracht, die zwischen sozialistischen und kapitalistischen Eigentumsverhältnissen im ganzen, zwischen sozialistischer Planwirtschaft und kapitalistischer Marktanarchie usw. bestehen, dann wird vollends evident: Umweltzerstörung ist zwar ein Problem der Industriegesellschaft überhaupt, aber davon, daß die Möglichkeit, dieses Problem in den Griff zu bekommen, es zu meistern, systemneutral wäre, kann keine Rede sein.
Hier gilt das Wort Barry Commoners:
«Das klassische marxistische Konzept der Vergesellschaftung der Produktionsmittel vermag den Erfordernissen der Biosphäre besser gerecht zu werden als das des Privateigentums. ... Jetzt, da man die Notwendigkeit des Umweltschutzes in beiden Ländern erkannt hat, dürfte er in der Sowjetunion leichter zu verwirklichen sein als in den Vereinigten Staaten.»
Heißt das jedoch, daß sich aus den sozialistischen Eigentumsverhältnissen idealer Umweltschutz automatisch ergibt? Dies anzunehmen wäre auch wieder ein Fehler. Wenn die Möglichkeiten des sozialistischen Systems nicht in dieser Richtung bewußt, zielstrebig ausgenutzt werden, bleibt seine prinzipielle Überlegenheit ineffektiv, wird sie nicht sichtbar. Und sie maximal effektiv zu machen, sie, sichtbar für alle Welt, praktisch unter Beweis zu stellen, um Leute wie Vogel so zu widerlegen, daß es ihnen den Atem verschlägt - darauf kommt es jetzt an.
Diese Aufgabe ist, wie ich glaube, in der Epoche der ökologischen Krise zum Hauptkettenglied der proletarischen Weltrevolution geworden und wird es von Tag zu Tag mehr. So, wie die Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern die Massen vor den heraufziehenden Katastrophen warnen und ihnen den Kommunismus als das entscheidende Mittel, sie aufzuhalten, plausibel machen muß, so müssen wir alle Anstrengungen darauf konzentrieren, die Richtigkeit ihrer Argumentation durch das einleuchtende Beispiel unseres Handelns zu bekräftigen.
Das West-Ost-Gefälle des Lebensstandards, das bisher den Fortgang der proletarischen Revolution in den kapitalistischen Industriestaaten gehemmt hat, müssen wir von nun an umkehren in ein Ost-West-Gefälle des vorbildhaften Umweltschutzes, des vernünftigen, maßvollen, haushälterischen Umgangs mit den Rohstoffen und einer damit in Einklang stehenden Qualität des sozialistischen Lebens. Gelingt uns das, dann wird unsere Sache siegen, überall.
Duve: Und wenn diese Strategie Nullwachstum verlangt?
H: Auch darüber findet sich im Beitrag des Herrn Bundesministers Vogel ein bemerkenswerter Satz, der allerdings...
Duve: Hans-Jochen Vogel ist doch wohl eher ein Gegner des Nullwachstums.
H: Ich weiß, er ist ein typischer Vertreter der sozialdemokratischen Variante des Wachstumsfetischismus, den er mit der Floskel verbrämt, daß man gegen schädliches, aber für nützliches Wachstum sein müsse; d. h., er will den Pelz waschen, ohne ihn naß zu machen.
Vogel schreibt, er halte die Alternative des Nullwachstums «für übertrieben, gelegentlich auch für irrational mit gewissen Neigungen zur Maschinenstürmerei und zum Fanatismus». Nullwachstum bedeute, «daß die Mittel für den forcierten Ausbau der Gemeinschaftseinrichtungen und die Verbesserung der materiellen Lage der Unterprivilegierten — und dazu gehören ja auch Milliarden von Menschen in den Entwicklungsländern — nur durch Umverteilung gewonnen werden könnten. Das aber ließe sich wohl nur auf gewaltsamem, auf revolutionärem Wege verwirklichen».
Schon wegen dieser Konsequenz lehnt er, als Vertreter des rechten Flügels der SPD, Nullwachstum entschieden ab.
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Duve: Ob rechter oder linker Flügel, so ganz unrecht hat Vogel mit diesen Befürchtungen gewiß nicht.
Harich: Um so weniger sollten die Befürchtungen Vogels von Kommunisten geteilt werden. Es gehört doch zu den Aufgaben der sozialistischen Länder, die Völker im kapitalistischen Teil der Welt zu ermuntern, den Weg der Revolution zu beschreiten. Wenn sie ihnen den praktischen Beweis dafür lieferten, daß bei Nullwachstum menschenwürdiges Leben für alle Glieder der Gesellschaft möglich ist, dann entspräche das dieser Aufgabe.
Duve: Die Völker werden sich für solche «Ermunterung» bedanken. Hier scheiden sich zwischen uns nun wirklich die Geister. Doch zurück zum Auto. Würden Sie so weit gehen, dem Leipziger, nachdem Sie ihn zu Ihren Ansichten bekehrt haben, zu empfehlen, er möge, um ein gutes Beispiel zu geben, seinen Trabant stillegen und aufs Fahrrad umsteigen?
Harich: Daß er dies täte, wäre beim Übergang zum Nullwachstum nicht einmal erforderlich. Die PKW brauchten dann ja keineswegs aus dem Verkehr gezogen zu werden. Die DDR brauchte ihre Automobilproduktion auch nicht etwa aufzugeben. Sie müßte sich lediglich dazu entschließen, 1976 nicht mehr Wartburgs und Trabants zu produzieren als 1975 und auch jedes weitere Jahr immer bei derselben Stückzahl neu hergestellter Wagen zu bleiben.
Duve: Nur wenige also sollen auch künftig ein Auto haben. Und sind Sie nicht, wie die Ökologisten im Westen, grundsätzlich Gegner des PKW?
Harich: Der PKW in Privatbesitz ist nach meiner Überzeugung ein natur- und gesellschaftsfeindliches Konsumtionsmittel, ein antikommunistisches auf jeden Fall.
Duve: Antikommunistischer Konsum?
Harich: Als antikommunistisch bezeichne ich einen Gebrauchswert, der unter keinen, wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Bedingungen von ausnahmslos allen Gliedern der Gesellschaft konsumiert werden könnte und infolgedessen, falls man seine Produktion für alle Zeiten aufrechtzuerhalten gedächte, den Übergang zum Kommunismus nie zuließe, da dieser per definitionem eine an Einkommensunterschiede und Privilegien gebundene Konsumtion nicht kennt.
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Von dem PKW in Privatbesitz glaube ich, daß er über kurz oder lang aus der sozialistischen Gesellschaft verschwinden wird.
Aus sozialen wie ökologischen Gründen gehört hier die Zukunft einem optimalen Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel sowie dem Fahrrad und, nicht zu vergessen, der gesunden, dem Herzinfarkt vorbeugenden Lebensweise des Fußgängers, der überdies, laut Ivan Illich, die größte Freiheit besitzt, sich seine Nahziele und die Wege, auf denen er zu ihnen gelangen möchte, selber auszusuchen.
Je schneller der Einzelne das erkennt und danach handelt, desto besser ist es.
Duve: Sehen Sie eine Aussicht, auch dies Ihrem Bekannten in Leipzig beizubringen, und zwar nicht nur platonisch, sondern so, daß er für sein Teil praktische Konsequenzen daraus zieht?
Harich: Es ist stark zu bezweifeln. Ich erinnere Sie nochmals an die Opfer, die die Bürger der DDR für den Sozialismus haben bringen müssen. Der Leipziger hat zwar von Kindheit an alle Vorzüge des Lebens in einer sozialistischen Gesellschaft wahrgenommen: kostenlose Ausbildung, vorzügliche gesundheitliche Betreuung, einen absolut sicheren Arbeitsplatz, der es ihm unmöglich macht, sich Existenzangst auch nur vorstellen zu können, großzügige Familienförderung und vieles andere mehr.
Aber Opfer hat nichtsdestoweniger auch er gebracht. Oder ist es etwa kein Opfer, drei Jahre lang auf einen Trabant zu warten und dabei stets das Beispiel eines weniger intelligenten und weniger tüchtigen Bruders vor Augen zu haben, der in Krefeld die Automobile fast wie die Hemden wechselt und obendrein seit seiner Verehelichung noch über einen Zweitwagen verfügt?
So sieht das West-Ost-Gefälle des Lebensstandards für unseren Mann im Alltag aus, und seine Bereitschaft, es unaufgefordert, aus eigener Initiative in das anzustrebende Ost-West-Gefälle des Umweltschutzes, der Rohstoffersparnis und der Lebensqualität umkehren zu helfen, ist daher nicht sehr groß.
Duve: Unaufgefordert? Sie könnten ihn ja dazu auffordern.
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Harich: Ich? Glauben Sie, daß das etwas helfen würde? Dazu reichen meine Überredungskünste nicht aus. Ja, wenn die Partei in großen Aufklärungskampagnen gegen den PKW in Privatbesitz zu Felde zöge und es zu einer Sache der sozialistischen Ehre erklärte, daß Genossen und Sympathisanten Radler werden, dann ließe der Mann sich das nicht zweimal sagen.
Zwei, drei Artikel im «ND», gut kombiniert mit einem geringschätzigen Blick des Parteisekretärs in seinem Betrieb, würden genügen, ihn nur noch schamrot am Steuer sitzen zu sehen.
Duve: Also gehört er zu denen, die nicht gerne anecken.
Harich: Wie viele bei uns, die es sich leisten können, einen eigenen PKW zu fahren.
Duve: Wie würden Sie es konkret anstellen, den Wachstumsstandpunkt dieses Mannes zu erschüttern?
Harich: Ich würde einige der niveau- und gehaltvollsten Polemiken, die gegen die hypothetischen Prognosen des Club of Rome in Ost und West bisher veröffentlicht worden sind, darunter Kuczynskis Broschüre «Das Gleichgewicht der Null», mit dem Mann gemeinsam durchgehen und sie Punkt für Punkt widerlegen.
Im übrigen sind alle vorgebrachten Einwände durch andere längst widerlegt worden, besonders in dem Rowohlt-Sachbuch von Peccei und Siebker, auf das ich mich in unserem vorletzten Gespräch bezog.
Ich ließe es aber bei bloßer Widerlegung nicht bewenden. Da ich seit nunmehr zehn Jahren Texte von Ludwig Feuerbach philologisch bearbeite, ist mir die Einsicht geläufig, daß die Menschen zu den schlimmsten ideologischen Verirrungen durch die Macht ihres Wunschdenkens verleitet werden, worauf namentlich die Hirngespinste der Religion in ihren Köpfen, z. B. der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele, seit jeher zurückzuführen sind.
Hierüber würde ich, nachdem ich den Mann über die verheerenden Konsequenzen der Bevölkerungsexplosion, der Umweltzerstörung, der immer näherrückenden Erschöpfung aller nichtregenerierbaren Rohstoffe usw. belehrt hätte, ihm auch noch eine kleine Lektion erteilen, um ihm dann klarzumachen, daß er seinen Wunsch, die Menschheit möge nie zugrunde gehen, für Wirklichkeit nehme und deshalb begierig nach jeder Illusion greife, die eine verantwortungslose Publizistik ihm auftischt.
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Da es sich für Marxisten aber von selbst verbietet, bei einer Ideologiekritik a la Feuerbach stehenzubleiben, würde ich ihm schließlichden Zusammenhang bewußt machen, der zwischen den reaktionären Klasseninteressen der Bourgeoisie und den wissenschaftlich so leicht zu widerlegenden, ja längst widerlegten Einwänden gegen den Club of Rome besteht.
Bei alledem gäbe ich aber eines immer zu: der Wahrheitsgehalt aller bisherigen Veröffentlichungen des Clubs werde durch den kapitalen Fehler beeinträchtigt, daß die Klassenfragen — der Gegensatz von Sozialismus und Kapitalismus, von Arbeiterklasse und Bourgeoisie — darin nicht zur Sprache kommen.
Duve: Haben Sie den Eindruck, daß viele der heute lebenden Menschen, besonders der älteren Generation, wenn sie die hypothetischen Prognosen des Club of Rome zur Kenntnis genommen haben, die Dinge gleichwohl deshalb treiben lassen, weil sie sich bei dem Gedanken trösten, sie würden beim Eintreten der zu erwartenden Katastrophen sowieso nicht mehr am Leben sein?
Harich: Ja, diesen Eindruck habe ich leider. Für die Auseinandersetzung mit diesen Egoisten des «Nach mir die Sintflut» ist besonders die Studie von Mesarovic und Pestel zu empfehlen, der sich entnehmen läßt, daß die Regionalkatastrophen früher einsetzen werden als erst zu dem Zeitpunkt, für den Forrester und Meadows den globalen Zusammenbruch vorausgesagt haben, und daß, infolge der globalen Verkettung aller lokalen Ereignisse, somit durchaus noch zu ihren Lebzeiten Furchtbares geschehen kann. Man sollte indes, wenn man diesen Gesichtspunkt geltend macht, nie versäumen, hinzuzufügen:
«Seht euch eure Kinder an, blickt in die Wiegen eurer Enkel und rafft euch endlich dazu auf, den ekelhaften, widerwärtigen Hintergedanken, daß euch selbst das Schlimmste noch erspart bleiben werde, schamrot aus euren Köpfen herauszureißen!»
Der Trabant-Besitzer aus Leipzig und seine junge Frau haben einen jetzt dreijährigen Knaben. Sie brauchten nur die durchschnittliche Lebenserwartung eines heutigen Mitteleuropäers in die Zukunft zu projizieren, um zu begreifen, was sie, im Lichte der Warnungen des Club of Rome, ihrem Kind schuldig sind.
Duve: Und Sie wollen mit dem Mann auch über Ihre Ansicht diskutieren, daß der Kommunismus schon jetzt verwirklicht werden könne?
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Harich: Ja.
Duve: Und Sie befürchten keine Schwierigkeiten, wenn Sie aus ökologischen Gründen anfangen, der SED den Zeitpunkt vorzuschreiben, an dem die DDR «zum Kommunismus übergehen» sollte? Partei- und Staatsfunktionäre würden Sie gewiß eines Besseren belehren.
Harich: Alle Argumente, die sich hierauf bezögen, würde ich mir geduldig, auch mit der Bereitschaft, mich eines Besseren belehren zu lassen, anhören. Ich kann aber nicht dafür garantieren, daß sie mir auch alle einleuchten würden. Würde man Partei- und Staatsfunktionäre zu einer solchen Diskussion hinzuziehen, so würde ich meinerseits verlangen, daß auch einige Biologen an der Auseinandersetzung teilnehmen müßten.
Duve: An welchem Punkt Ihrer Auffassung vom Kommunismus glauben Sie Ihrer Sache so sicher zu sein, daß Sie nicht bereit wären, von irgend jemandem Belehrungen entgegenzunehmen?
Harich: Es sind vier Positionen.
Hier die erste: Der Kommunismus darf, nach meiner Meinung, nicht in einer so nebelhaft fernen Zukunft angesiedelt werden, daß das Bekenntnis zu ihm, als der besten denkbaren Gesellschaftsordnung, rein platonisch wird, daß Aussagen über die Möglichkeit, ihn zu realisieren, sich in eine erbauliche Sonntagspredigt verwandeln und die Vorhut des Proletariats praktisch auf unabsehbare Zeit, noch für mehrere Generationen, bis ins nächste Jahrhundert hinein, den Sozialismus als das Non-plus-ultra des geschichtlich-gesellschaftlichen Fortschritts hinnimmt.
Duve: Was heißt «darf nicht»? Wie wollen Sie das begründen?
Harich: Vor genau hundert Jahren hat Karl Marx, in seiner «Kritik des Gothaer Programms», die Hauptmerkmale der beiden Entwicklungsstufen der neuen, aus der proletarischen Revolution hervorgehenden Gesellschaft, des Sozialismus und des Kommunismus, skizziert. Fast 58 Jahre sind seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution vergangen. Es existieren heute 14 sozialistische Staaten. Das 20. Jahrhundert ist zu drei Vierteln verflossen. Gewiß, das alles braucht, für sich genommen, keine hinreichende Rechtfertigung meines Postulats zu sein. In meinem Buch über Jean Paul habe ich zustimmend dessen weise Erkennt-
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nis zitiert, daß man «auf den Höhen der Begeisterung, wie auf den Alpen, alles zu nahe an sich herangeschoben sehe». Ich habe diesen Satz als vorzügliche Kennzeichnung der revolutionären Ungeduld gewürdigt, die damals, 1793, den besten Freund des Dichters, Christian Otto, zu der Illusion verleitet hatte, daß die Französische Revolution demnächst auf ganz Europa übergreifen werde.
Der polemischen Auseinandersetzung mit der neoanarchistischen revolutionären Ungeduld der APO habe ich ein ganzes Buch gewidmet. Aus den Schriften von Marx, Engels und Lenin ließen sich viele Stellen zitieren, die bezeugen, daß auch sie eine Vorliebe dafür hatten, Alpenluft zu atmen, d. h. bisweilen der Versuchung unterlagen, in prognostischen Aussagen «alles zu nahe an sich herangeschoben zu sehen».
Vielleicht wird noch ein weiteres Jahrhundert vergehen müssen, ehe ihre Vision des Kommunismus Wirklichkeit werden kann. Aber: Die moderne Wissenschaft hat uns vor kurzem, gestützt auf hieb- und stichfeste Beweisgründe, prophezeit, daß, bei Fortdauer der gegenwärtigen Trends der Weltentwicklung, spätestens um die Mitte des 21. Jahrhunderts die Menschheit sich selbst vernichtet haben wird.
Unter diesen Umständen hat die internationale Arbeiterklasse, haben die werktätigen Menschen aller auf der Erde lebenden Völker einen Anspruch darauf, daß zumindest die marxistische Zukunftsforschung jetzt, sofort damit anfängt, sich sehr konkrete Gedanken darüber zu machen, wie der Sieg des Kommunismus im Weltmaßstab herbeigeführt, wie er zur Abwendung der uns bedrohenden Katastrophen genutzt werden kann.
Hundert Jahre nach der «Kritik des Gothaer Programms» dürfte es nicht zu früh sein, das zu verlangen, und in Anbetracht der hypothetischen Prognosen des Club of Rome ist es allerhöchste Zeit.
Duve: Mir scheint aber doch, daß Ihre DDR-Gesprächspartner im Grunde genommen glauben, der DDR-Sozialismus sei das Äußerste, was je erreicht werden könne?
Harich: Das sehen Sie falsch, Duve. Aber wenn es solche Genossen geben sollte, dann würde ich ihnen nahelegen, sich nicht länger als Kommunisten auszugeben, sondern öffentlich zu erklären, daß sie die Idee des Kommunismus für ein wirklichkeitsfremdes Hirngespinst hielten.
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Duve: Und die zweite Position, von der Sie auf keinen Fall abzurücken gedenken?
Harich: Der Kommunismus ist möglich, er wird aber, wie sich unschwer beweisen läßt, nicht die Überflußgesellschaft sein, die man sich unter ihm seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts — d. h. seit dem Ausgang der Babeufschen Phase der proletarisch-revolutionären Bewegung, ideengeschichtlich seit Cabet, Weitling und Marx — immer vorgestellt hat. Der Kommunismus wird daher auch nie ohne staatliche Autorität und kodifiziertes Recht auskommen, wie dies die Klassiker des Marxismus-Leninismus, darin letztlich mit den Anarcho-Kommunisten übereinstimmend, angenommen haben.
Duve: Damit nehmen Sie eine zentrale These Ihres Buches «Zur Kritik der revolutionären Ungeduld» (Basel 1970) zurück.
Harich: Ja, in diesem Punkt ist das Buch falsch, und ich bedauere, seine Leser insoweit, aus Unkenntnis der Zusammenhänge, die mir erst ein Jahr später, bei der Lektüre von Taylors «Doomsdaybook», alarmierend deutlich geworden sind, irregeführt zu haben.
In dem endlichen System Biosphäre, in dem der Kommunismus sich wird einrichten müssen, kann er die menschliche Gesellschaft nur in einen homöostatischen Dauerzustand überführen, der, so wenig er die Dynamik des Kapitalismus oder die des Sozialismus fortzusetzen erlaubt, auch keine schrankenlose Freiheit des Individuums zulassen wird. Jeder Gedanke an ein künftiges Absterben des Staates ist daher illusorisch.
Die internationale Arbeiterbewegung wird genötigt sein, diesen letzten Überrest des Anarchismus, der ihrer Theorie derzeit noch anhaftet, definitiv über Bord zu werfen und sich in einer dialektischen Spirale, unter Bewahrung und schöpferischer Weiterentwicklung aller ansonst nicht zu bestreitenden Errungenschaften des Marxismus-Leninismus, zu dem historischen Ausgangspunkt ihrer Ideenwelt, zu der kommunistischen Konzeption Gracchus Babeufs, zurückzubewegen.
Drittens: Ich bin zutiefst überzeugt davon, daß alle kapitalistischen Industrieländer für die übergangslose Verwirklichung des Kommunismus reif sind und daß sie sie dringend brauchen.
Darüber hinaus macht, glaube ich, das Vorhandensein mächtiger, in den Völkern und ihren Traditionen fest verwurzelter revolutionärer und reformistischer Arbeiterparteien - sowohl in Westeuropa als auch in Japan - es hochgradig wahrscheinlich, daß diese Gebiete schon in naher Zukunft kommunistisch sein werden.*
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Duve: Alle Wahlergebnisse und alle Parteiprogramme der westlichen Kommunisten bezeugen, wohl eher das Gegenteil. Was aber ist Ihr vierter Punkt?
Harich: Viertens bietet der Übergang der industrialisierten Regionen des Nordens zum Kommunismus die einzige Möglichkeit, zwischen ihnen und den Völkern der Dritten Welt Beziehungen der Vernunft, der Menschlichkeit, des endgültigen, gesicherten Friedens und einer für beide Teile vorteilhaften Zusammenarbeit herzustellen, zu der es keine Alternative gibt, keine jedenfalls, die nicht in unvorstellbare Katastrophen einmünden müßte.
Duve: Erklären Sie dies näher.
Harich: Der Sinn der Weltgeschichte liegt - falls sie überhaupt einen hat - in der fortschreitenden Verwirklichung des Prinzips der Gleichheit aller Menschen. Dieses Prinzip konstituiert alle übrigen sittlichen Werte, die einer vernünftigen Regelung der zwischenmenschlichen Beziehungen zugrunde liegen müssen. Gesellschaftlichen Ordnungen, die dem widerstreiten, wohnt eine — auf die Dauer stets explosive — Dynamik inne, die sie instabil macht und somit den homöostatischen Zustand, in den die Menschheit bei Strafe ihres Untergangs überführt werden muß, vereitelt.
Hieraus ergibt sich, daß die Völker der Dritten Welt nicht nur einen Rechtsanspruch auf denselben Lebensstandard haben, der den industrialisierten Regionen des Nordens eigen ist, sondern daß ohne Erfüllung dieses Anspruchs sich auch keine dauerhafte Harmonie zwischen Mensch und Natur wird herstellen lassen. Fragt sich nur: Wie soll der Anspruch verwirklicht werden? Und worin kann die Hilfe des Nordens bestehen?
Eine den nördlichen Regionen vergleichbare Industrialisierung der Dritten Welt wäre aus verschiedenen Gründen ein Verhängnis.
Erstens würde sie, wenn sie stattfände, das Ende der Biosphäre besiegeln.
* Zu den Perspektiven der USA vgl. den Brief von W. Harich an F. Duve, S. 204 ff.
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Die zusätzlichen Umweltbelastungen wären so ungeheuer groß, daß unter ihrem zerstörerischen Druck die Öko-Systeme und Kreisläufe der Natur zusammenbrächen; schon jetzt, wie sehr erst bei der Erdbevölkerung von 7 Milliarden Menschen, mit der wir für das Jahr 2000 leider rechnen müssen.
Zweitens stünde, bei der derzeitigen Struktur der Weltwirtschaft, eine solche Industrialisierung aber auch im Zeichen der Ausbeutung der Entwicklungsländer durch die herrschenden Klassen des westlichen Nordens, oder sie wäre, in allen Fällen, in denen eine sozialistische Ordnung sie davor schützte, zumindest gegen den übermächtigen Konkurrenzdruck seitens der schon industrialisierten Gebiete nicht durchsetzbar; am wenigsten dann, wenn diese zu den kostspieligen neuen, umweltschonenden, Rohstoffe streckenden Technologien übergingen, die in Anbetracht der ökologischen Krise erforderlich sind. Von der neuerdings zu beobachtenden Infamie der multinationalen Konzerne, Industrien, die in besonders starkem Maße die Umwelt zerstören, durch Verlagerung in die Dritte Welt den Protestaktionen der alarmierten Öffentlichkeit der eigenen Länder zu entziehen, will ich einmal ganz absehen.
Drittens macht die kapitalintensive, höchste Arbeitsproduktivität voraussetzende und erzeugende moderne Produktion diese Art Industrialisierung für die unterentwickelten Länder zu einer Quelle wachsender Arbeitslosigkeit und geschichtlich beispielloser Massen Verelendung; d. h., die absolute Übervölkerung, die weite Gebiete der Dritten Welt ohnehin unter katastrophalen Begleiterscheinungen heimsucht, wird noch potenziert durch die Schrecken relativer Übervölkerung.
Alle — sei es noch so umfangreiche — Entwicklungshilfe ändert daran nichts, solange sie in der Form des Kapitaltransfers gewährt wird, der die ökonomische Abhängigkeit von den multinationalen Konzernen steigert und die Übernahme der kapitalintensiven modernen Technologien, mit all ihren fürchterlichen Folgen, nach sich zieht. Erst der Übergang der nördlichen industrialisierten Regionen zum Kommunismus würde es ermöglichen, das Problem zu lösen. Er würde die Dritte Welt nämlich in die Lage versetzen, einen eigenen, von den Modellen des Nordens scharf unterschiedenen Weg ihrer Entwicklung zu beschreiten, einen Weg, auf dem sie die ihr zuträgliche arbeitsintensive Produktion — «Produktion durch die Massen statt Massenproduktion», wie Gandhi es einmal nannte — mit umweltfreundlichen Technologien und mit pfleglicher Bewahrung der jeweils autochthonen handwerklichen und kulturellen Überlieferung verbinden könnte.
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Duve: Der orthodoxe Marxist Harich als Anhänger von Mich und Ignacy Sachs.
Harich: Meine Vorstellungen sind in diesem Punkt nicht nur von Sachs und Mich beeinflußt, sondern auch von Rene Dumont und John Morgan, und am meisten hat mich E. F. Schumachers hervorragendes Werk «Small is beautiful» (London 1973) angeregt.
Diese Gelehrten, die zugleich Entwicklungshelfer großen Stils sind, weisen der Dritten Welt den einzig vernünftigen Weg. Aber: Bei Fortbestehen des kapitalistischen Systems wäre dieser Weg, falls überhaupt gangbar, ebenso falsch und verhängnisvoll wie die kapitalintensive Industrialisierung, weil er den Abstand zwischen Nord und Süd ja nicht einebnen, sondern verewigen würde. Um die Entwicklungsländer aus Rückständigkeit und Abhängigkeit herauszuführen, müßte die umfassende Verwirklichung der Vorschläge Schumachers durch die Etablierung des Kommunismus in den Industrieländern abgesichert werden. Nur so bliebe die «Produktion durch die Massen» im Süden davor bewahrt, der Massenproduktion des Nordens im Konkurrenzkampf zu unterliegen, und nur so kämen die Völker der Dritten Welt, soweit dies für sie vorteilhaft wäre, als Konsumenten gleichwohl in den Genuß dieser Massenproduktion, ohne sie selber entwickeln zu müssen. Der Norden würde sie mit seinen Industrieerzeugnissen in dem Maße, wie sie sie nicht entbehren könnten, aber selbst auch nicht herstellten, nach dem Grundsatz gerechter Verteilung des Vorhandenen versorgen.
Duve: Versorgen durch Geschenke?
Harich: Das Wort «Geschenk» drängt sich in diesem Zusammenhang nur auf, solange man, in kapitalistischen Kategorien denkend, die Warenproduktion und die mit ihr unlösbar verknüpften Austauschbeziehungen als das Normale ansieht. Tut man das nicht, betrachtet man als das eigentlich Normale und Vernünftige den Kommunismus, dann handelt es sich um die Verteilung vorhandener Gebrauchswerte an diejenigen, die sie benötigen.
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Eine Gegenleistung hätte die Dritte Welt freilich zu erbringen: Das bei ihr Vorhandene, von ihr Produzierte würde, soweit sie es nicht selber verbraucht, wieder bei uns im Norden gerecht verteilt werden. Nach der Tauschwertäquivalenz, die heute in dem Begriff «Gegenleistung» mitgedacht zu werden pflegt, würde dann allerdings nicht mehr gefragt werden. Denn alle nützlichen Dinge — seien es Kugellager oder Füllfederhalter, seien es Kaffeebohnen, Bananen oder Kaschmir-Shawls — produzierte man nur noch als Gebrauchswerte, nicht mehr als Waren, nur noch zum Zweck der Bedarfsdeckung, nicht mehr zum Zweck des Äquivalententauschs auf dem Markt. Die Eigenschaften aber, die unterschiedliche Gebrauchswerte für die Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse tauglich machen, sind grundsätzlich inkommensurabel. Was ist mehr wert: ein Stahl- und Walzwerk oder ein Kilo Bananen? Das hängt, sofern man kein Tauschgeschäft zu machen beabsichtigt, vom Bedürfnis ab. Für einen Hungrigen sind die Bananen mehr wert. Stahl- und Walzwerke ißt man nicht.
Duve: Darauf wollten Sie also hinaus, als Sie in unserem vorletzten Gespräch beiläufig erklärten, daß der Weltmarkt abgeschafft werden müsse.
Harich: Ja, der Weltmarkt muß abgeschafft und durch ein globales System gerechter Verteilung ersetzt werden. Anders ist weder den Völkern der Dritten Welt noch uns zu helfen, die wir ihre Produkte genauso brauchen wie sie die unseren. Wer aber könnte den Weltmarkt abschaffen? Die siegreiche Arbeiterklasse der industrialisierten Regionen könnte es — durch Verwirklichung des Kommunismus.
Duve: Wollen Sie damit zugleich sagen, daß die Dritte Welt, weil der Norden sie mit Industrieerzeugnissen versorgen kann, auf eigene Industrien überhaupt verzichten sollte? Und wenn ja, hieße das nicht wieder ihre Abhängigkeit verewigen — diesmal die Abhängigkeit von kommunistischen Industrieländern, die auf sie auch Pressionen ausüben könnten?
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Harich: Wie sähen die Pressionen denn aus, falls sie von Industrieländern ausgingen, die eigens zu dem Zweck, die ökologische Krise zu überwinden und das Nord-Süd-Gefälle des Lebensstandards einzuebnen, bei sich den Kommunismus verwirklicht hätten?
Die Regierungen solcher Länder würden von der Dritten Welt nichts anderes verlangen, als was in deren eigenem Interesse läge: die Geburtenzahl zu beschränken, rigorose Maßnahmen zum Schutz der Umwelt durchzuführen, haushälterisch mit den Rohstoffen umzugehen und, vor allem, korrupte Regime zu stürzen, die bisher, wenn sie Anleihen erhielten, stets nur in die eigene Tasche wirtschafteten und ihre Völker leer ausgehen ließen. Das wäre alles.
Und die «Gegenleistung» dafür bestünde im Schutz und in der Förderung der autochthonen Produktion der Dritten Welt sowie in der kostenlosen Lieferung von Industrieerzeugnissen an sie; kostenlos schon deshalb, weil das Geld abgeschafft wäre. Soviel dazu. Daß bei alledem die Dritte Welt auf eigene Industrien verzichten solle, habe ich mit keinem Wort gefordert. Sie soll durchaus eigene Industrien aufbauen, vorab solche, die ihre Naturschönheiten unversehrt bewahren, ihren Massen sinnvolle, menschlich befriedigende Beschäftigung garantieren und die Vielfalt ihrer handwerklichen und kulturellen Traditionen, statt sie zu zerstören, organisch weiterentwickeln, vervollkommnen — so, wie E. F. Schumacher es vorschlägt, der die Entwicklung der Dritten Welt ja nicht verneint, sondern passioniert bejaht. Und bei derartigen Industrien brauchte es noch nicht einmal zu bleiben. Sie könnten nach Maßgabe dessen, was dem betreffenden Volk und der Menschheit im ganzen nützt, in dem einen oder anderen hochmodernen Industriewerk des nördlichen Typs ihre sinnvolle Ergänzung finden.
Duve: Wo nehmen Sie den Maßstab her, um zu entscheiden, was nützt und was nicht nützt?
Harich: In einer kommunistisch organisierten Welt wären die Fabrikationsstätten jedes industrialisierten Landes ohne Ausnahme nicht mehr Privateigentum irgendwelcher Konzernherren, sondern Volkseigentum. Sie wären aber auch nicht mehr nur Eigentum des bestimmten Volkes, das in dem betreffenden Land lebt, dessen Arbeiter und Ingenieure in seinen Fabriken tätig sind, sondern Eigentum gleichermaßen aller Völker, gesellschaftliches Eigentum der Menschheit überhaupt.
Die Werke des Flickkonzerns etwa würden nicht mehr der Familie Flick gehören — das sowieso —, aber auch nicht mehr nur dem Staatsvolk der Bundesrepublik, sondern ihm und außerdem allen Franzosen, Indern, Russen, Chinesen, Israelis, DDR-Bürgern, Syrern, Brasilianern, Eskimos, wie umgekehrt auch deren Produktionsstätten den Bundesdeutschen.
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Die Frage nun, ob der Bedarf Indiens an — sagen wir — Kugellagern aus der Produktion eines in der Bundesrepublik bereits existierenden Kugellagerwerks laufend gedeckt werden soll oder aus der Produktion eines Werks gleicher Branche, das in Indien selbst neu errichtet werden müßte, würde unter diesen Umständen nur noch nach Zweckmäßigkeitskriterien technischer, geologischer, ökologischer oder auch ethnologischer Art entschieden werden. Man würde z. B. die Rohstoffsituation beider Länder und die in ihnen vorhandenen Zulieferindustrien in Betracht ziehen.
Man würde die Mühen des Transports der Kugellager von, sagen wir, Schweinfurt nach Kalkutta, den dafür nötigen Energieaufwand der Schiffe, der Eisenbahngüterzüge abwägen gegen die Vor- und Nachteile der Ausbildung indischer ingenieurtechnischer Kader für die Kugellagerindustrie, gegen die Gunst oder Ungunst der örtlichen klimatischen Verhältnisse für eine derartige Produktion, gegen deren Umweltverträglichkeit unter diesen klimatischen Bedingungen usw. usf. — alles Daten für den Computer, der dann die für alle Beteiligten nützlichste Lösung auszurechnen hätte. Das heißt, es ginge um einen Spezialfall der optimalen Standortverteilung von Industriestätten auf unserem Planeten.
Es ginge aber nicht mehr darum, ob irgendein Land eine exportfähige Industrie braucht. Die Frage, ob die Kugellagerproduktion der Bundesrepublik vor indischer Konkurrenz geschützt werden müsse, würde somit keine Rolle mehr spielen; denn keiner konkurrierte mehr gegen den anderen. Desgleichen brauchte in Indien sich niemand mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, ob die für Kaschmir-Shawls oder Darjeeling-Tee zu erzielenden Exporterlöse ausreichten, den Import von Kugellagern zu begleichen. Es würde nichts mehr beglichen werden, denn es gäbe kein Geld, keinen Zahlungsverkehr mehr. Es gäbe den vom Weltwirtschaftsrat ausgearbeiteten Weltwirtschaftsplan mit seinen Kontingentierungsauflagen für die Welt-Kugellagerproduktion wie für alle übrigen Industrieprodukte, und für den Einzelnen gäbe es Rationierungskarten, Bezugsscheine, damit basta.
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Duve: Nehmen wir an, die optimale Lösung hieße: In Kalkutta ist ein großes Kugellagerwerk neu aufzubauen. Würde das die dortige autochthone Produktion a la Schumacher, mit ihrer «Produktion durch die Massen», nicht doch beeinträchtigen, wenn auch unter kommunistischem Vorzeichen?
Harich: Nein, es würde unter kommunistischem Vorzeichen nicht bedeuten, daß nun plötzlich in Indien doch einer Industrialisierung nördlichen Typs Tür und Tor geöffnet wäre. Ebensowenig hätte man sich aber auch, etwa aus falsch verstandener Romantik, auf die vorherrschende arbeitsintensive Produktion wie auf ein Dogma, das keine Ausnahme zuläßt, festgelegt. Für den Kommunismus sind weder urwüchsig-autochthone Produktionsweisen noch technische Perfektion und Effizienz absolute Werte an sich. Ihm geht es um das Lebensglück der Menschen.
Der Kommunismus wird aus dem Sieg der proletarischen Weltrevolution als ein globales System zentral gesteuerter gegenseitiger Hilfe und Bedarfsdeckung hervorgehen, das von Warenaustausch, Konkurrenz, Handelsbilanzen usw. befreit, das einzig und allein am optimalen Nutzen aller orientiert sein wird. In diesem System wird die «Produktion durch die Massen» ihren sicheren, geschützten Platz finden, ohne daß deswegen den Völkern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas die Segnungen technisch hochperfektionierter Massenproduktion, soweit sie wirklich welche sind — und teilweise sind sie es, vorenthalten bleiben müßten.
Fällt das kapitalistische System in Nordamerika, Westeuropa und Japan jedoch nicht, bleibt infolgedessen der kapitalistische Weltmarkt mit seiner Suprematie der multinationalen Konzerne bestehen, dann werden die Völker der Dritten Welt so oder so in immer tieferes Elend versinken, dann wird weder die Industrialisierung nach nördlichem Modell noch eine Entwicklung ihrer Länder, wie Sachs, Dumont, Morgan, Illich und Schumacher sie empfehlen, für sie ein Ausweg sein.
An sich, seinen inneren Bedingungen gemäß, ist etwa der indische Subkontinent noch nicht einmal für den Sozialismus reif, falls man diesen so auffaßt, wie Marx und Engels ihn im Hinblick auf hochindustrialisierte Länder konzipiert haben, geschweige für den Kommunismus. Optimal dürfte für Indien, Pakistan, Bangladesh, auch für Afghanistan, Sri Lanka, Nepal,
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Burma usw. ein Sozialismus modifiziert chinesischen Typs sein. Aber dies nur inmitten der Welt, wie sie heute, auf Grund der Koexistenz von Kapitalismus und Sozialismus bei gleichzeitigem Fortbestehen eines kapitalistischen Weltmarktes, aussieht.
Sobald die industrialisierten Regionen des Nordens den Kommunismus verwirklicht hätten, würden eo ipso auch Länder wie Indien, mit ihrerseits kommunistischer Struktur, zu Gliedern eines kommunistischen Weltwirtschaftssystems werden, gerade so, wie schon in den zwanziger Jahren die damals an sich noch feudale, für den Sozialismus keineswegs reife Äußere Mongolei, weil sie sich an die Sowjetunion anlehnte, die kapitalistische Phase überspringen und den Weg des sozialistischen Aufbaus beschreiten konnte. Wie weit unterentwickelte Gebiete bei der Verwirklichung des Kommunismus gehen können, hängt nicht allein, und nicht einmal in erster Linie, von ihren inneren Bedingungen ab, sondern davon, ob und wie weit der Kommunismus in den fortgeschrittenen, industrialisierten Ländern verwirklicht ist. Das entscheidet alles. Die Revolution in den kapitalistischen Industrieländern voranzutreiben und, sobald sie dort gesiegt hat, sofort in die Verwirklichung des Kommunismus hinüberzuleiten, ist das Wichtigste. Die sozialistischen Industrieländer würden ohne Revolution kommunistisch werden.
Duve: All das ist doch in höchstem Maße weltfremd. Sie reden von dieser und der künftigen Welt, als seien alle Konflikte zwischen kommunistischen Staaten a priori auszuschließen. Als würden die Staats- und Parteiführer in Osteuropa ohne weiteres ihre Ziele und Planungen fundamental ändern, sobald sich neue ökologische Erkenntnisse, die für einen Babeufschen Kommunismus sprechen, durchgesetzt hätten.
Aber ich gehe auf Ihre Hypothese ein: Das Ergebnis wird, Ihren Vorstellungen zufolge, in Ost und West ein Kommunismus der Rationierung sein, und der wird dann, wie Sie annehmen, vom Norden her auf die Dritte Welt übergreifen. Gesetzt den Fall, dies wäre geschehen, würde dann jeder Inder quantitativ und qualitativ dieselben Rationen zugeteilt bekommen wie jeder US-Amerikaner?
Harich: Warum nicht? Es gäbe lokale Differenzierungen gemäß den unterschiedlichen traditionellen Lebensgewohnheiten. In Südasien würde der Reis nicht aufhören, das Grundnahrungsmittel zu sein, ebensowenig wie die Russen und die Engländer aufhören würden, mit Vorliebe Tee, statt Kaffee, zu trinken. Die Bayern kriegten ihre Weißwürste, die Chinesen ihre Haifischflossen.
Aber der kommunistische Weltwirtschaftsplan, basierend auf dem Menschheits-Kollektiveigentum an allen Produktionsmitteln des Planeten, mit seinen Kennziffern ausgerichtet auf «organisches Wachstum» a la Mesarovic und Pestel, würde nach dem Grundsatz der Gleichheit jedem Individuum zuteilen, was es für ein menschenwürdiges Leben an Gebrauchswerten benötigt, nicht mehr, aber auch nicht weniger, in Indien wie in USA, überall.
Womit der Hunger der Kinder in Indien gestillt wäre. Womit endgültig die Stabilität des homöostatischen Welt-Gesellschaftszustandes gesichert wäre, die von der Gleichheit aller abhängt. Womit die Voraussetzungen geschaffen wären für die harmonische Eingliederung des Homo sapiens und seiner Kultur in die Biosphäre.
Duve: Von all dem ist bei den gegenwärtigen Planungen des Comecon doch nichts zu spüren. Warum gibt es denn keinen Übergang zu einem solchen Kommunismus bei euch?
Harich: Ich bin dafür, daß wir den ersten Schritt tun. Aber leichter fiele er uns, täte der Westen ihn gleichzeitig auch. Und je schneller ihn beide tun, desto sicherer, glücklicher und zufriedener wird die Menschheit leben können. Die Erde braucht den Kommunismus. Sie braucht ihn jetzt und braucht ihn überall.
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Comecon: wikipedia Rat_für_gegenseitige_Wirtschaftshilfe
Wolfgang Harich und Freimut Duve 1975