Eine notwendig gewordene
Zwischenbemerkung (2. Januar 1980)
Von Robert Havemann
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Der vorstehende Text stammt aus dem Jahre 1976. Die damals begonnene Niederschrift dieses Buches wurde im November 1976 unterbrochen. Mein Freund Wolf Biermann war in heimtückischer Weise während einer Tournee durch die BRD aus der DDR ausgebürgert worden. Es gab — zum erstenmal in der DDR — massenhafte Proteste, die mit massenhafter Verfolgung der Protestanten beantwortet wurden. Über mich wurde ein unbefristeter Hausarrest verhängt. In den ersten Monaten dieses beängstigenden Terrors gegen viele gute und ehrliche Menschen in diesem Lande waren wir wie gelähmt und erwarteten jeden Tag neues, schlimmeres Unheil. Für viele traf es ein in vielen Formen: fristlose Entlassungen, Verhaftungen und endlose Verhöre, Verurteilungen. Jürgen Fuchs, der bei mir wohnte, wurde aus meinem Auto heraus verhaftet, kurz danach auch unsere Freunde Gerulf Pannach und Christian Kunert.
Monatelang, bis in den Herbst 1977, wurden sie mit dem einzigen Ziel, sie zum "freiwilligen" Verlassen der DDR zu bewegen, einer pausenlosen und nervenzerrüttenden Gehirnwäsche durch die Organe der Staatssicherheit unterzogen. Mein Schicksal war leichter. Ich habe darüber berichtet und will hier nichts wiederholen. Am 9. Mai 1979 wurden die Beschränkungen meiner Bewegungsfreiheit, nachdem sie in den letzten Monaten bis zur vollständigen Einsperrung auch meiner Frau Katja und unserer fünfjährigen Tochter Franziska in den Bereich unseres Grundstückes in Grünheide verschärft worden waren, mit einem Schlage vollständig aufgehoben. Es war unser "Tag der Befreiung". Die Burgwallstraße in Grünheide wurde über Nacht ein Symbol erfolgreichen Widerstands gegen Unrecht und Behördenwillkür.
Das Jahr 1979 brachte aber nicht nur unsere Befreiung. Es brachte auch die neuen Maulkorb-Gesetze des DDR-Strafrechts, mit deren Hilfe jede freie Äußerung kritischer Meinungen im Keime erstickt werden sollte und mit schweren Strafen bedroht wurde. Die Veröffentlichung meines Berichtes über unser Leben in der Isolation und über Perspektiven und Retrospektiven meines Lebens und meines Kampfs für den Sozialismus (R. Havemann, Ein deutscher Kommunist, Hamburg 1978) lieferte den Vorwand, mir wegen angeblicher Devisenvergehen eine Geldstrafe in Höhe von 10.000 Mark aufzubrummen, meine Bibliothek zu fleddern, wertvolle Arbeitsmittel und Geräte, darunter meine Schreibmaschine, Tonbandgerät, Videorekorder mit vielen wertvollen Bändern und Erinnerungsaufnahmen, und noch manches andere, wie Fotonegative und Briefe, zu konfiszieren. Das sind "Tatwerkzeuge"! Ich kann darüber nur lachen, solange mir nur das einzige wirklich entscheidende Tatwerkzeug bleibt, nämlich mein Kopf. Und die Staatsanwältin, die diese — wie sie meinte: sanfte — Beschlagnahme leitete, hatte auch noch den Namen Geier. Kann man da noch an dem Satz zweifeln, "Nomen est omen", — aber Scherz beiseite, denn der Herr Zollrat, der alles zu Papier brachte, hieß immerhin Wunderlich. Ich glaube beinahe, er fühlte sich auch so.
Der Beschlagnahme verfiel auch eine Kopie des vorstehenden Textes der ersten vier Kapitel dieses Buches. Zum Glück war aber das Original und eine weitere Kopie in Sicherheit. Aber ein Schlußabschnitt des vierten Kapitels, den ich während unserer Einsperrung geschrieben hatte, ging gemeinsam mit zahlreichen anderen Manuskripten und Aufzeichnungen zunächst einmal verloren. Ich mußte ihn also neu schreiben. Wie die beiden Texte sich unterscheiden, wird man erst später erfahren, wer weiß, wann.
Im Knast, in der Nazizeit, gab es unter den Häftlingen, die frisch verurteilt waren, die Frage "Wie lange?" und bei vielen die lapidare Antwort: Regierungslänglich! Ich hoffe, heute wird's schneller gehen. Auch mit der Rückgabe meines Eigentums!
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4. Warum auch der reale Sozialismus die Krise nicht abwenden kann
(Fortsetzung)
"Und gegenüber der herannahenden weltweiten ökonomischen und ökologischen Krise wird der reale Sozialismus womöglich noch blinder sein, als sein angebetetes ökonomisches Vorbild." Mit diesem Satz endete der Text des 4. Kapitels aus dem Jahre 1976.
Inzwischen ist die ökonomische Krise des Kapitalismus längst tief in die Volkswirtschaft der sozialistischen Staaten eingebrochen. Als sich der Verfall des internationalen Währungssystems immer mehr auszubreiten begann, als die verschärfte Konkurrenz der kapitalistischen Industrien untereinander zu radikalen Reduzierungen der Zahl der Arbeitsplätze durch den Einsatz der Mikroelektronik und der Prozeßrechner und damit zu Massenarbeitslosigkeit führte, als in vielen großen westlichen Industrieländern die Inflation zu galoppieren anfing und der Wert der Sparguthaben der kleinen Leute dahinschmolz, weil die Inflation das Mehrfache dessen wegfraß, was an Zinsen dazukam, als die Ölpreise sich vervielfachten und die Gewinne der großen Ölmultis astronomische Ausmaße annahmen, als der Butterberg der EG wieder zu wachsen begann und die Sowjet-Union zwei Mißernten nacheinander erlitt, — da erklärten unsere hohen Herren durch den Mund ihrer Wirtschaftsexperten immer noch: Das alles kann uns nicht erschüttern. Jetzt zeigt sich die große Überlegenheit unseres sozialistischen Wirtschaftssystems durch seine Stabilität, durch die unerschütterliche Sicherheit der Arbeitsplätze und die unveränderlichen Preise für alle Güter des Massenbedarfs, für Energie, Verkehr und Mieten.
Aber, wie es schon bei Lao-tse heißt:
"Schöne Worte sind nicht wahr.
Wahre Worte sind nicht schön."
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Auf dem 11. Plenum des ZK der SED 1979 gab es zwar immer noch sehr viele sehr schöne Worte, doch sie dienten schon ganz unverkennbar hauptsächlich als einlullende Begleitmusik zur Ablenkung von einigen schrillen Tönen der zweiten Kategorie, nämlich der wahren Worte. Die DDR muß viele, für ihre Wirtschaft lebenswichtige Güter importieren, aus dem Osten wie aus dem Westen. Diese Importe müssen mit dem Erlös von Exporten bezahlt werden. Rohstoffe und Nahrungs- und Futtermittel gegen hochwertige Industrieprodukte, Werkzeugmaschinen, Chemieprodukte, Fasern, Textilien, Optik und Konsumgüter aller Art. Die Importpreise steigen und steigen, die Exporterlöse dagegen sinken. Für immer weniger muß immer mehr gearbeitet werden. Und auch unser großer Bruder, die UdSSR, verkauft ihre Rohstoffe zu Weltmarktpreisen.
Die Krise rückt uns auf den Leib. Aber den Sinn und das Ziel unserer Wirtschaftsordnung hat das alles nicht im geringsten ändern können. Im Gegenteil: Die pyramidenförmige hierarchische Sozialstruktur und die ihr entsprechende Hierarchie der Warenklassen und Preisklassen wird weiter ausgebaut und noch differenziert. Statt zwei Warenklassen haben wir jetzt drei, wie gesagt drei offizielle, vom ZK deklarierte Warenklassen: 1. Waren des "unteren" Bedarfs, das sind die Grundnahrungsmittel, Kohle, Gas, Energie, Verkehr und Wohnen. 2. Waren des "gehobenen" Bedarfs. Das ist alles, was der Mensch nicht "unbedingt" zum Leben braucht, von Waschmaschine, Radio und Fernseher bis zum Fahrrad und den Autoreifen für den Trabant. 3. Die Waren der "Luxus"- und "Exquisit"-Klasse, darunter auch die Nahrungs- und Genußmittel der "Deli"-Läden, wo französischer Käse und Cognac ebenso zu haben sind, wie Kaviar, Champagner und amerikanischer Whisky.
Die Preise der 2. Kategorie hatte man im Herbst 1979 ganz plötzlich drastisch erhöht, zum Teil mehr als verdoppelt. Dabei wurde versucht, diese Preiserhöhungen zu tarnen, indem man die alten Produkte in neuer Verpackung und Aufmachung anbot. Gleichzeitig verschwanden die Restbestände der noch zu alten Preisen angebotenen Waren schlagartig aus den Läden. Zeitweise — in der Phase des Übergangs — war in vielen Warenkategorien das Angebot gleich Null. Es gab massiv Proteste und sogar Streiks. Die Preiserhöhungen mußten wieder rückgängig gemacht werden, allerdings nicht völlig. Ein Rest von 20 bis 30 % blieb. Die Bevölkerung nahm es hin, wenn auch mit Murren.
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In der 3. Kategorie wurde das Warenangebot immer mehr erweitert, besonders auf dem Gebiet der aus dem kapitalistischen Westen importierten Industriewaren wie Autos, Fernsehapparaten, Kosmetika, Waschmittel und dem ganzen Krims-Krams der BRD-Fernsehreklame.
Wie sieht das alles aus, wenn man es aus der einsamen Höhe des Politbüros betrachtet? Erich Honecker drückte es so aus: "Den größten Teil des Warenangebots wird die mittlere Preisgruppe ausmachen, die einer soliden staatlichen Standardqualität (merkwürdiger Begriff! Anmerkung R. H.) entspricht. ... Wer der Gesellschaft durch seine Arbeit mehr gibt und ein höheres Einkommen erhält, soll sich dafür auch etwas kaufen können." Für das Viertel aller Ein-Personen-Haushalte, die ein Einkommen von weniger als 600 Mark im Monat haben, also alle unverheirateten Personen aller Altersklassen vom jungen Industriearbeiter bis zur alten einsam lebenden Frau, die als Krankenschwester oder als Briefträgerin schwere Arbeit zu leisten hat, — für diese große Gruppe vernachlässigter Existenzen gibt es das offenbar nicht. Sie müssen sich mit dem Warenangebot der unteren Preisklassen begnügen.
Am erstaunlichsten aber ist die Begründung, die das Politbüro für seine Drei-Klassen-Preispolitik gefunden hat: "Bei den neuen hochwertigen Industriewaren muß der Preis in der Regel die Kosten decken und einen normalen Ertrag einschließen, der für die volkswirtschaftlichen Rechnungen notwendig ist. Auch diese Preise in großem Ausmaß zu stützen, würde bedeuten, daß unsere Preisstützungen für solche Waren einen ökonomisch nicht mehr vertretbaren Umfang erreichen." Von einer Preisstützung war aber schon bisher bei allen diesen Waren nicht die Rede. Sie wurden immer weit über dem Werksabgabepreis verkauft, nämlich um die enormen Beträge abzuknöpfen, die für die Subventionierung der Preise der unteren Preisklasse gebraucht werden. Diesen Tatbestand versucht der Bericht des Politbüros schamhaft in dem Satzteil zu verstecken, den ich hervorgehoben habe. Dieser Aufpreis, auch Akzise genannt, übertrifft oft die Gestehungskosten erheblich und ist eben jener "Ertrag ..., der für die volkswirtschaftlichen Rechnungen erforderlich ist".
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Man sieht, auch jetzt nach Eintritt in das neunte Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ist keine Spur von Einsicht in die grundsätzliche Verfehltheit dieser Wirtschaftspolitik zu erkennen. Statt sie zu schließen, wird die Preisschere noch weiter geöffnet, die sinnlose Umverteilung des Sozialproduktes immer drastischer, die durch das Niedrigpreissystem verursachte Vergeudung von Waren, Leistungen und Arbeitskraft noch mehr verstärkt, und was früher immer bei jeder Gelegenheit als Zeichen der wirtschaftlichen Überlegenheit des Sozialismus und als eine seiner weithin sichtbaren Errungenschaften gepriesen wurde, Preisstabilität und Sicherheit, wird ohne zu Erröten auf die unterste Preisklasse des neuen Dreiklassensystems beschränkt. Auch in der Sozialstruktur hat sich die Schere zwischen unten und oben, Wenig- und Vielverdienern weiter geöffnet. Aber gerade auf diesem Feld wirkt das Wertgesetz sich mit Erbarmungslosigkeit gegen den Staat unserer Politbürokraten aus. Es gibt zwei Hauptwirkungen: 1. Die Senkung der Arbeitsmoral und Arbeitsdisziplin. 2. Die Entstehung eines zweiten inneren Wirtschaftskreislaufs. Beide Wirkungen hängen eng miteinander zusammen.
Man kann sich leicht vorstellen, wie angesichts des steigenden Warenangebots der mittleren und oberen Preisklasse denen zu Mute ist, die als einzeln Lebende mit weniger als 600 Mark auskommen müssen oder als Familienväter mit weniger als 1600 Mark - immerhin sind das nach dem Bericht des Politbüros 65 % der Haushalte, also auch solche, bei denen die Frau mitverdient. Man kann kaum annehmen, daß sie sich mit solchen Einkommen zufrieden geben und nicht alles versuchen werden, sich zusätzliche Einnahmen zu verschaffen. Und das tut auch jeder, wo und wie er es nur irgend kann. Zu Anfang gab es die "Feierabend-Brigaden", denen der Staat in seiner Ahnungslosigkeit sogar noch aufmunternd auf die Schulter klopfte. Inzwischen hat sich diese Bewegung zu einer vom Staat nicht kontrollierbaren und von der Steuer nicht erfaßbaren Massenerwerbstätigkeit ausgewachsen. Dabei beschränkt sich dieses unabhängige Wirtschaftssystem innerhalb der Gesamtwirtschaft keineswegs — wie ursprünglich — auf handwerkliche Arbeiten und Dienstleistungen nach Feierabend, wo etwa den zahlungsfähigen Kunden aus den oberen Preisklassen der Geldverdiener Haus, Hof und Garten repariert und schnell eine Datsche im Grünen gebaut wurde, bei einem Stundenlohn von 15 Mark an aufwärts (wenn möglich in "West").
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Längst wird in diesem Sektor der Wirtschaft nicht mehr nur die Arbeitskraft verkauft. Es hat sich ein erstaunlich gut funktionierender grauer Markt entwickelt, auf dem praktisch alles zu haben ist, was es eben sonst nicht gibt. Das funktioniert nach dem Prinzip: Eine Hand wäscht die andere. Wo diese Waren alle herkommen und wofür sie eigentlich bestimmt waren, weiß niemand und will auch niemand wissen. Eins steht aber fest: Eine wachsende Zahl von Menschen aller sozialen Schichten und Altersklassen verdient den größeren Teil ihres Einkommens auf diese Weise und kommt dadurch auch an die Waren der Exquisit- und Deli-Läden heran, die eigentlich für jene bestimmt sind, von denen es im Bericht des Politbüros heißt: "Wer der Gesellschaft durch seine Arbeit mehr gibt und ein höheres Einkommen erhält, soll sich dafür auch etwas kaufen können." Kann man sich da noch wundern, wenn dafür das Interesse an der "normalen" Arbeit im Betrieb mit Stundenlöhnen um 5 Mark immer geringer wird. Man kann sich doch nicht bei dieser schlecht bezahlten Arbeit abrackern! Man muß doch fit bleiben für die eigentliche Arbeit nach Dienstschluß!
Man sieht: Das Wertgesetz wirkt erbarmungslos, wie es so schön heißt: "objektiv" und "unabhängig von unserem Bewußtsein", jedenfalls ganz offenbar unabhängig vom Bewußtsein unserer Wirtschaftsplaner im Politbüro. Die Frage ist nur: Wer betrügt hier eigentlich wen? Die Leute jedenfalls, die sich auf diese Weise einen Stundenlohn von 15 Mark und mehr verschaffen, realisieren auf dem relativ freien Markt des zweiten ökonomischen Kreislaufs nur den tatsächlichen Wert ihrer Arbeitskraft. Nach den Lehren von Karl Marx kann man das kaum als Betrug bezeichnen.
Tatsächlich betrogen wird die Volkswirtschaft des realen Sozialismus als Ganzes, aber nicht durch die Handwerker und Geschäftemacher, sondern durch die Clique der herrschenden Funktionäre, die sich aus Angst vor dem Volk eine Extraklasse von Lobhudlern, von Dichtern und Denkern, Professoren und Präsidenten und ich weiß nicht was noch alles an zwielichtigen Existenzen herangezogen haben, denen sie zum Lohn für ihre Betätigung (als Arbeit möchte ich das nicht bezeichnen) die teuren Waren der Extraklasse beschaffen müssen, größtenteils noch dazu durch devisenschwere Importe aus dem goldenen Westen der Welt.
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Dem allen könnte und müßte man eigentlich noch viel hinzufügen; über die Intershops und die Komödie mit den "Forum-Schecks" (sie werden gegen Westmark von der Notenbank ausgegeben und haben in den Intershops die Kaufkraft der Westmark), über die Sonder-Läden für eine besondere Schicht von Privilegierten, über das Leben im Wandlitzer Ghetto, über die "Staats-Sicherheit", deren geheime Organe den Leib des ganzen Volkes durchdringen, über die Gerichte und über den Strafvollzug in den Haftanstalten der DDR. Viel Trauriges gäbe es da zu berichten. Gäbe es auch Erfreuliches, Positives? Ja, auch das gibt es: Ich will hier nicht die vielen Kleinigkeiten aufzählen, die ja auch viel positiver in ihrer Bedeutung sein könnten, wären sie nicht fast erdrückt von der so unsozialistischen Realität des realen Sozialismus.
Ich will nur die eine große und entscheidende Tatsache anführen, auf die sich alle Hoffnungen gründen, daß es doch noch gelingen wird, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu überwinden: Die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und damit die Beseitigung der Herrschaft einer Klasse über eine andere. An anderer Stelle dieses Buches werde ich meine Meinungen zu dieser Frage ausführlicher begründen.
Hier will ich mich darauf beschränken zu sagen, daß ich das Politbüro und den Partei- und Staatsapparat und auch den ganzen Klüngel von Nutznießern und Privilegierten nicht als eine neue herrschende Klasse ansehe. Sie sind nicht die neuen Privateigentümer der Produktionsmittel, eher die Manager im Auftrag einer anonymen Instanz, und auch selber nur Abhängige, mehr Beherrschte als Herrscher. Ganz abgesehen davon, daß unsere Fürsten und ihre Vasallen überhaupt nur regieren können, weil sie dafür vom großen Bruder erwählt und von ihm geschützt werden, wahrhaftig eine wenig beneidenswerte Rolle.
Der Kapitalismus ist unfähig, die herannahende — nein schon längst im Gange befindliche — große Krise zu meistern, weil diese Krise ja seine Krise ist, seine Endkrise, die nur gelöst werden kann, ohne daß die Menschheit dabei untergeht, wenn es uns gelingt, uns vom Kapitalismus zu lösen.
Der reale Sozialismus wäre vielleicht fähig, den gegenwärtigen barbarischen Zustand der Welt einzufrieren in einem Polizeisystem à la Harich, wenn es ihm gelänge, sich die Weltherrschaft anzueignen. Aber das wäre nicht die Lösung der Krise, sondern der Untergang in die Barbarei.
Der einzige Weg, der durch das große uns nahende Unheil hindurchführt, ohne daß wir dabei untergehen müssen, ist der Weg eines wirklichen, freiheitlichen Sozialismus.
Gibt es noch vernünftige und begründete Hoffnung, daß die Menschheit diesen Weg noch rechtzeitig einschlagen wird? Was könnte sie dazu bewegen, mitten im Lauf einzuhalten und eine neue Richtung einzuschlagen? Sind es nur unsere verzweifelten Wünsche, die uns eine glückliche, friedliche Zukunft vorgaukeln wie eine Fata morgana?
Der Mensch unterscheidet sich dadurch von den Tieren, auch von den am höchsten entwickelten, daß er keines seiner Werke zustandebringt, ja nicht einmal in Angriff nimmt, wenn er es nicht schon zuvor in fast allen seinen Details in Gedanken, in seiner Vorstellung geschaffen hat. In Gedanken muß er sich davon überzeugt haben, daß er wirklich kann, was er will, daß er verwirklichen kann, was es noch nicht gibt und auch bis dahin nicht geben konnte.
Damit wir von dem falschen Weg abkommen, der direkt in den Untergang führt, dazu bedarf es deshalb zweierlei:
Zum einen: Wir müssen die Größe der Gefahr, die uns bedroht, endlich begreifen. Wir müssen aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken. Ich habe auf den bisherigen Seiten dieses Buches versucht, hierzu einiges zu sagen.
Aber zum anderen, das noch viel wichtiger ist: Wir müssen versuchen, uns die Welt auszudenken, in der wir leben möchten, jene Welt, in der der Mensch den Menschen nicht mehr bedroht, sondern alle Menschen einander hilfreiche Brüder und Schwestern sind.
Diese ausgedachte Welt wird phantastisch sein, schon deshalb, weil sie der Phantasie entsprang. Aber sie soll doch ganz real und realisierbar sein, ohne Wunder und ohne Zauberei, eine Welt, von der wir überzeugt sein können, daß wir sie machen können, zuerst in Gedanken und dann mit unseren Händen — jene nahe und doch ferne Welt, die unsere einzige Rettung ist.
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Robert Havemann (1980) Morgen - Kritik und reale Utopie