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5. Utopie und Hoffnung

   Gedicht 1958 

 

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Es gibt in der Welt nichts, das ständig mehr und gefährlicher bedroht ist, als das Leben. Und am meisten bedroht ist es in seiner Entstehung. Das gilt für jedes individuelle Leben, jeden Grashalm, jeden Baum, jedes Tier ebenso wie für die Entstehung des Lebens überhaupt. Im Leben erreicht die Materie eine qualitativ höhere Organisationsform. Daß dieses neue Werden möglich ist, muß man als eines der großen Wunder unserer Welt begreifen. Womit gemeint ist, daß wir es nicht einfach als Wunder, das uns unerklärlich ist, hinnehmen sollen, sondern gerade umgekehrt, daß es uns als Wunder um so mehr bewußt wird, je mehr wir davon begreifen, wie es auf natürliche Weise zustandekam.

Schon bei der Lösung der immer wiederkehrenden Aufgabe, das absterbende Leben in neuem Leben fortzusetzen und zu erneuern, verfährt die Natur mit einer scheinbar verschwenderischen Großzügigkeit. So fallen jedes Jahr Millionen Samen von einem Baum. Wie wenige davon gehen auf! Noch weniger sind es, die einen guten Standort gefunden haben. Kaum einer wächst heran zu einem neuen Baum. Zu jedem Leben muß die Natur millionenfach neuen Anlauf nehmen. Und millionenfach ist auch ihr Mißerfolg.

Niemand kann heute auch nur mit einiger Sicherheit sagen, wie groß die Zahl der Gestirne ist, die ähnlich unserer Erde – oder vielleicht auch auf ganz andere Art – Leben hervorgebracht haben. Oder wieviele es sind, auf denen Menschen oder andere vernunftbegabte Wesen leben, imstande, Wissenschaft und Kultur zu entwickeln. 

Da ich nicht daran glauben kann, daß der ganze unendliche Kosmos nur dazu da war, um nur unsere bisher noch so klägliche und bedrohte Menschenwelt hervorzubringen, meine ich, daß es in den grenzenlosen Weiten des Weltalls viele glückliche und auch unglückliche Menschheiten gibt.

Zwar wohl viel weniger an der Zahl, als aufgrund der klimatischen und Lebensbedingungen überhaupt möglich ist, aber doch wohl an unseren Zahlenvorstellungen gemessen viele. Aber ich fürchte auch, daß, um das Glück des Menschseins zustandezubringen und zu sichern, womöglich millionenfache Anläufe unternommen werden mußten. Die meisten scheiterten, wenige nur erreichten diese neue höhere Stufe der Existenz, das Menschliche.

 

Der Mensch ist zwar seit vielleicht einer Million Jahren auf diesem Planeten erschienen. Den größten Teil dieser Zeit war er aber noch mehr Tier als Mensch. Erst seit wenigen tausend Jahren beginnt seine Kulturgeschichte, ein furchterregendes Auf und Ab zwischen Kultur und Barbarei, Liebe und Mord, Brüderlichkeit und Knechtschaft.

Seit rund hundert Jahren ist die Menschheit in eine neue Epoche eingetreten, die sich mit keiner vergangenen auch nur entfernt vergleichen lassen kann. In den jetzt vergangenen hundert Jahren hat sich das Leben der Menschen von Grund auf verändert. Durch wissenschaftliche Erkenntnis und daraus hervorgehenden technischen Fortschritt sind wir heute im Besitz aller notwendigen Mittel und zumindest aller notwendigen Kenntnisse, um das Leben vieler Milliarden Menschen auf unserer Erde glücklich, sorgenfrei und reich und darüber hinaus zu einem Leben auf einer hohen Kulturstufe zu machen.

Aber späteren Geschlechtern – wenn es sie geben wird – muß unsere »neue Zeit« als eine Zeit des Wahnsinns erscheinen. Statt hoher Kultur, Wohlstand und Glück lebt von den über vier Milliarden Menschen der Erde eine Milliarde an der Grenze des Verhungerns, jedenfalls in tiefem, hoffnungslosen Elend. Weniger als eine Milliarde führt ein Leben relativer Sicherheit, weniger als hundert Millionen davon genießen das zweifelhafte Glück der modernen Wohlstands­gesellschaft. Man könnte alles das noch als unvermeidliche Entwicklungsphase, die vorübergeht, hinnehmen. Aber tatsächlich nimmt die Zahl der Hungernden zu. Auch in den Zentren des Wohlstands breiten sich Unsicherheit und Armut aus. Die Wirtschaft der reichsten Länder gerät in Wirrnis und Chaos. Aber diese vielen schlimmen Zeichen herannahenden Unheils verblassen noch angesichts der furchtbaren Tatsache der von Jahr zu Jahr wachsenden und sich verschärfenden Drohung der totalen Vernichtung – vielleicht allen Lebens – im Atomkrieg. 

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Auf diese unsere Selbstvernichtung sind wir mit einer alles übertreffenden Perfektion vorbereitet. Die Energiemengen, die wir hierfür in Form der großen Atom- und Wasserstoffbomben bereit haben, sind gewaltig. Sie haben bereits Dimensionen erreicht, die kommensurabel sind mit ökologischen Primärgrößen des Lebenshaushalts unseres Planeten.

Nimmt man an, daß der gesamte Vorrat an Sauerstoff in unserer Atmosphäre durch Photosynthese in Pflanzen entstanden ist, wobei praktisch alles vorher vorhandene Kohlendioxid in Kohlehydrate und höhere organische Verbindungen verwandelt wurde, so kann man aus dieser Sauerstoffmenge die Menge gebundenen Kohlenstoffs berechnen, die sich in fossiler Form als Erdöl und Kohle und als gegenwärtiger Bestand lebender und toter organischer Materie auf und unter der Oberfläche der Erde befindet. Da es als sicher gelten kann, daß die Erdatmosphäre vor der Entstehung des Lebens keine bemerkenswerten Mengen an freiem Sauerstoff enthalten hat – auf keinem der bisher untersuchten Planeten hat man mehr als Spuren davon gefunden –, ist diese Annahme, daß erst das Leben den Sauerstoff der Luft geschaffen hat, weitgehend gesichert.

Die Gesamtmasse der Atmosphäre der Erde beträgt 5,15 x 1015 Tonnen. Ein wenig mehr als ein Fünftel dieser Masse ist Sauerstoff, nämlich 1,19 x 1015 Tonnen. Diesem Sauerstoff äquivalent sind 0,447 x 1015 Tonnen gebundenen Kohlenstoffs. 

Die Energie der modernen H-Bomben wird meist in Megatonnen TNT angegeben, was besagen soll, daß die bei der Explosion freigesetzte Energie ebenso groß ist wie bei der Explosion der entsprechenden Menge Trinitrotoluol (TNT). 

Setzen wir der Einfachheit halber zunächst Trinitrotoluol und Kohlenstoff als energetisch gleichwertig, so ergibt sich, daß der gesamte Kohlenstoff­vorrat der Erde etwa fünf Millionen 100-Megatonnen-Bomben äquivalent ist, eine Zahl, die wir noch mit zehn multiplizieren müssen, da bei der Explosion von TNT sehr viel weniger Energie freigesetzt wird, als dem Kohlenstoffgehalt entspricht. Das ergibt für den Gesamtvorrat der Erde an fossilen und rezenten Energierohstoffen organischer Herkunft ein Äquivalent von 50 Millionen großen H-Bomben. Eine Schätzung besagt, daß es gegenwärtig schon etwa 50.000 solcher Bomben bzw. dieser energieäquivalenten Bomben anderer Kaliber gibt. Die zum Zwecke unserer Vernichtung angehäufte Energiemenge beträgt also schon rund ein Tausendstel aller überhaupt vorhandenen Energierohstoffe auf Kohlenstoffbasis. 

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Da nur ein kleiner Bruchteil davon erschlossen und praktisch nutzbar ist, kann man annehmen, daß die akkumulierte H-Bombenenergie durchaus von vergleichbarer Größenordnung ist wie die Gesamtheit unserer sonstigen Energierohstofflager. 

Weitaus beängstigender werden unsere Zahlen aber, wenn wir als Energievergleichsbasis nicht den Sauerstoff, sondern das Kohlendioxid der Atmosphäre zugrundelegen. 

Tatsächlich beruht ja alles Pflanzenwachstum der Erde darauf, daß in der Luft noch genügend Kohlendioxid als Kohlenstoffquelle vorhanden ist. Es wird hauptsächlich von den Tieren erzeugt, in deren Organismus sich der umgekehrte Prozeß vollzieht wie in den Pflanzen, nämlich die Verbrennung von Kohlenstoffverbindungen unter Verbrauch von Sauerstoff und Freisetzung von Kohlendioxid. 

Es ist ein Kreislauf, der gegenwärtig in der Atmosphäre für einen vollständigen Umsatz der Sauerstoffmenge etwa 75.000 Jahre benötigt, für das Kohlenstoffdioxid aber nur wenig mehr als 100 Jahre. Die Gesamtmasse dieses für das Leben unentbehrlichen Kohlendioxids der Atmosphäre beträgt nur 2,34 x 1012 Tonnen, umgerechnet (mit dem Faktor 10) sind das 234.000 100-Megatonnen-Bomben. Die Energie des geschätzten gegenwärtigen Vorrats an nuklearen Sprengkörpern beträgt also bereits mehr als ein Fünftel der dem Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre äquivalenten Energiemenge.

Diese Rechnungen zeigen, daß die Energiemengen, die uns für unsere Selbstvernichtung zur Verfügung stehen, kosmische Dimensionen erreicht haben.

Wenn man außerdem bedenkt, daß wir mit der Explosion dieser Bomben nicht nur energetisch in das Ökosystem unseres Planeten eingreifen würden, sondern darüber hinaus radioaktive Gifte in solchen Mengen in der Atmosphäre verbreiten würden, daß alle, die nicht schon gleich umgekommen sind, nur die Aussicht auf ein sich über Tage und Wochen hinziehendes Sterben hätten, – wer wollte da noch an der Wahrheit jenes furchtbaren Satzes zweifeln, daß wir von allen Techniken nur eine zur absoluten Vollendung gebracht haben: die Technik unseres Todes.

 

So gelangen wir unausweichlich zu unserer großen Schicksalsfrage: werden wir auch nur einer der Millionen Fehlschläge sein, die den immer neuen Versuchen beschieden sind, die Stufe des Menschlichen zu ersteigen? 

Werden wir von einer glücklichen Welt und einer glücklichen Menschheit nur träumen können bis in unsere letzten Stunden, wenn alles um uns durch uns und mit uns versinkt?

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Weil wir noch leben, weil wir noch die Kraft haben, den Lauf der Dinge zu ändern, um der großen Kultur der Menschheit willen, um der Liebe, die uns verbindet, willen, um unserer Kinder willen, um des Todes willen, den der reine Mensch Christus vor 2000 Jahren für uns gestorben ist, dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben. Das Prinzip Hoffnung ist das einzige, das die Welt aufwärts bewegen kann. Niemals dürfen wir dieses Urprinzip des menschlichen Seins preisgeben.

Es liegt im Wesen des Begriffs Hoffnung, daß sie eben keine Gewißheit ist, sondern nur der Ausdruck unserer Sehnsüchte und Wünsche. Indem wir hoffen, wissen wir darum, daß es nicht nur möglich, sondern sogar wahr­scheinlich ist, daß sich unsere Hoffnungen nicht erfüllen. Aber wenn wir aufhören zu hoffen, lassen wir gleich den Dingen ihren Lauf, ihren schlimmen Lauf, und geben den Kampf für das Gute und Bessere einfach auf. Wir überlassen das Feld denen, von denen wir wissen, daß sie das Unheil herbeiführen werden, ob absichtlich oder aus Verblendung.

Hoffnung ist aber nicht einfach platter bequemer Optimismus, der sich nicht vorstellen kann, daß das Unglück nicht nur immer andere trifft, sondern uns selbst. Dieser Optimismus hofft gar nicht, sondern ist einfach nur Ausdruck eines sehr egoistischen Selbstvertrauens und übertriebener Selbst­wert­schätzung, als ob das Schicksal nie an die Tür des Auserwählten pochen könnte. Hoffnung braucht einen Inhalt. Die Ideen der Hoffnung sind konkret und reich an Gestalten. Die Hoffnung lebt von dem festen Vertrauen, daß etwas möglich ist, das es noch nicht gibt.

 

Daher ist der Inhalt aller großen und kleinen Hoffnungen immer eine Utopie. Utopie heißt in wörtlicher Übersetzung: Nicht-Ort, kein Ort, nirgends, und Utopia ist der Name jenes wunderbaren Landes, das nirgends ist, noch nirgends, aber doch schon existiert, in unseren Gedanken.

In der Utopie schaffen wir uns in Gedanken eine Welt, in der die Unmenschlichkeiten unserer Welt aufgehoben sind. Die Utopie ist also eine Form der kritischen Auseinandersetzung mit der Welt, in der wir leben. Darum ist an der Utopie nicht nur das von Bedeutung, was wir uns Neues, bisher nicht Dagewesenes in sie hineingedacht haben, sondern gerade auch das, was es in ihr nicht mehr gibt. In der Utopie ist unsere Welt aufgehoben, in einem dreifachen Sinne: außer Kraft gesetzt und überwunden, aufbewahrt und nicht verloren, und: in die Höhe, auf eine höhere Stufe gehoben. 

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Diese unlösbaren Beziehungen zwischen der Utopie und unserer gegenwärtigen Wirklichkeit machen die Utopie, die doch in der Zukunft liegt, zu einem Bestandteil unserer Gegenwart. Weil sie nicht einfach der Phantasie entspringt wie Pallas Athene dem Haupte des Zeus, schleppt sie viel von der Last und den Irrtümern unserer Tage mit sich und ist mehr als wir wünschen gerade durch das geprägt, was wir in ihr und mit ihr überwinden möchten. Die Zukunft aber, zu der sie uns führt und zu der nur sie uns führen kann, wird die Kraft aller menschlichen Phantasie übersteigen. Doch wer weiß, was die Zukunft bringen wird, ob im Guten und im Sinne unserer Hoffnungen oder auch im Schlechten, in einer phantastischen Form des Untergangs in die Barbarei oder gar im Inferno unserer Selbstvernichtung.

Die große Utopie unseres Jahrhunderts heißt Sozialismus – Kommunismus. Oder sagen wir ehrlicher, sie war es. Denn gerade was den Sozialismus und besonders den Kommunismus betrifft, erlebten die Völker die schwersten Enttäuschungen. Was sich nach 1917 in der Sowjet-Union entwickelte, was sich nach 1945 in Osteuropa und der DDR und nach 1949 in China als neues politisches System ausbreitete und sich Sozialismus und sogar Kommunismus nannte, hat die Utopie des Kommunismus der alten deutschen Arbeiterbewegung und des kommunistischen Manifestes seiner Begründer Karl Marx und Friedrich Engels fast um jede Glaub­würdigkeit gebracht

Aber trotz allem, trotz aller bitterer Enttäuschungen ist an dem Begriff des Sozialismus doch noch ein faszinierender Glanz geblieben, eben die Hoffnung, daß die Ausgebeuteten und Entrechteten eines Tages doch über die Macht der Ausbeuter siegen und eine neue, gerechte und menschliche Gesellschaftsordnung errichten werden.

Von Friedrich Engels stammt eine Streitschrift »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«. Er setzt sich darin in kritischer Weise mit den sozialistischen »Utopisten« seiner Zeit, Saint-Simon, Owen und Young auseinander, die glaubten, daß es genüge, die Handvoll von Konstruktionsfehlern der bestehenden Gesellschaftsordnung herauszufinden und abzustellen, um geradewegs und automatisch den Sozialismus errichtet zu haben. 

Diese Schrift von Engels hat den Begriff der Utopie diskreditiert auf den Partei-Hochschulen der Kommunisten. Utopie ist dort fast ein politisches Schimpfwort geworden. 

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Aber dies ist sicher ein völliges Mißverständnis, gegen das man Engels in Schutz nehmen muß. Engels kritisierte mit Recht die naive und politisch darum sogar gefährliche Meinung, man könnte die menschliche Gesellschaft aus einem oder aus wenigen Punkten kurieren, aus Punkten noch dazu, die gar nicht das Wesentliche der Sache, sondern vielmehr nur Folgeerscheinungen und Symptome der Gesamtkonstruktion der Gesellschaft sind. Und zugleich zeigte er, daß es notwendig ist, diese Gesamtkonstruktion wissenschaftlich zu analysieren und dadurch auch ihr Werden und ihre Entwicklung als gesetzmäßigen Prozeß zu begreifen. Erst auf der Grundlage dieser wissenschaftlichen Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, ihrer Entstehung und ihrer ökonomischen und politischen Gesetzmäßigkeiten, so meinte Engels, könne man rationale Vorstellungen von einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft erarbeiten. Eigentlich müßte man Engels' Schrift heute nennen: »Vom utopischen Sozialismus zur wissenschaftlich begründeten sozialistischen Utopie«.

Engels' Schrift ist über hundert Jahre alt. Niemand konnte damals, auch Marx und Engels nicht, auch nur ahnen, was sich in den folgenden hundert Jahren ereignen würde, wie vollständig und umwerfend sich die Grundlagen menschlichen Lebens durch technischen Fortschritt und Kriegsbarbarei umgestalten würden. Zu Engels Zeiten konnte niemand daran denken, daß wir an die Grenzen stoßen würden, die uns durch die materielle Endlichkeit des Planeten Erde gesetzt sind. 

Diese Tatsachen sind der Grund dafür, daß die kommunistische Utopie des kommunistischen Manifests heute nicht mehr ausreicht, uns ein Bild einer möglichen Zukunft zu entwerfen, an das wir glauben und auf das wir hoffen können. Wir müssen verstehen, im Sinne unserer Großen, die große rettende Utopie unserer Zeit kräftig aus dem Leiden, den Widersinnigkeiten und den Unmenschlichkeiten unserer Zeit zu nähren, so daß sie die Kraft und den Schwung bekommt, den sie braucht, um uns noch zu retten.

 

Damals, vor hundert Jahren, und auch noch danach eine ganze Zeit, wie nah erschien uns der Sozialismus, die große alles befreiende Revolution! Welche heißen Erwartungen gingen aus von dem Sieg der großen sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland! Und doch, wenn man nach den konkreten Vorstellungen fragt, die die Menschen damals mit dem Begriff Sozialismus und Kommunismus verbanden, so findet man nicht viel Konkretes und praktisch Greifbares. Die Revolution sollte alle Probleme mit einem Schlage lösen, jedenfalls die Voraussetzungen für deren Lösung schaffen, die sich dann fast wie von selbst ergeben würde.

Inzwischen haben wir erfahren, daß die Revolution nach dem Muster der Oktoberrevolution in die Schreckenszeit des Stalinismus führte, wohl nicht absolut zwangsläufig dahin führen mußte, aber eben doch dahin geführt hat. Es ist auch ganz offensichtlich, daß die große Revolution unserer Tage nach ganz anderen Gesetzen und in gänzlich anderer Weise vor sich gehen wird, als die Oktoberrevolution, die – wie schon Rosa Luxemburg erkannte und warnend aussprach – nicht zur verkündeten Diktatur des Proletariats, sondern zur Diktatur einer Clique von Funktionären, also, wie Rosa sagte: »zu einer Diktatur in rein bürgerlichem Sinne«, führte.

Wie also wird die große Revolution unserer Zeit vor sich gehen? Ich will mich in diesem Buch ausführlich zu diesen wichtigen Fragen äußern. Aber vorher will ich den Versuch unternehmen, die Skizze einer phantastischen neuen kommunistischen Utopie zu entwerfen. Ich bitte meine Leser dabei um Nachsicht und eigentlich noch mehr, nämlich um die Bereitschaft, mitzuhelfen, daß aus solcher Skizze mehr und mehr ein vielfarbiges Bild wird, das unsere Phantasie immer neu erregt und Neues diesem Bild hinzufügt. Um den Weg in die Zukunft zu finden, müssen wir unser Ziel kennen, selbst wenn es noch so fern im Ungewissen liegt.

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Millionen Samen  -  15. August 1958  

 

Millionen Samen fallen jeden Sommer von einem Baum
Wenige davon gehen auf
und von diesen Wenigen kaum einer wächst heran zu einem neuen
Baum
Auch der Mensch kann das Außerordentliche nur erreichen
wenn er es millionenfach von Neuem beginnt
Auch der Mensch sät Samen
Immer wieder beginnt er
Immer ist jeder dieser Anfänge
gering und fast aussichtslos
Und doch wächst das Große
aus diesen winzigen Samen
Das schier Aussichtslose beginnen, das heißt
die Welt verändern 

Niemals darf man vergessen
wieviel vergehen muß
daß eins werden kann
Wollen wir Menschen auf diesem Planeten
nicht gerne zu denen gehören,
die nicht vergehen mußten?
Dann dürfen wir nicht tatenlos zuschauen
wie das Feuer gelegt wird
in dem der Traum unseres Sterns untergehen kann

Der unendliche Reichtum der Natur
läßt auch den Untergang zu
leichter als den Aufstieg
leichter als wir denken

Was wir verfehlen könnten — den Fortgang des Menschlichen
werden glücklichere Geschlechter auf anderen fernen Gestirnen
wohl erreichen können
Sie werden so mutig sein
und werden so klug sein
und stark sein
wie wir es jetzt sein müssen.

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