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Teil I   -  Der Wasserfall 

 

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Kaum hatte sie den Boden betreten und sich auf ihre Krücken gestützt, fragte sie: «Wo ist denn der Wasserfall?» Ich zuckte die Achseln. Sie sah suchend hinauf zu den Hügeln hinter den Holzhäusern. Dort oben waren wir durch blühende Wiesen gefahren, hoch über dem schmalen Holsfjorden, wo das Ufer steil abfällt zum Wasser, dunkelgrün drüben im Schatten der hohen Fichten, lichtblauer Himmelspiegel auf unserer Seite. Schmale Treppen zu Bootshäusern und Stegen, die meisten Boote draußen, Segel im sanften Wind gebläht.

Die Holzhäuser gelb, dunkelgrün oder rot lackiert mit weiß gerahmten Fenstern und Türen, manche mit weißen geschnitzten Holzbordüren auf dem Giebel, wie Spitzenhäubchen.

Auf lang gezogenen Serpentinen waren wir heruntergefahren in eine andere Welt. Der weite Platz sieht eher aus wie ein amerikanischer Busbahnhof in einer Stadt im Mittelwesten: Betonplatten, mit Wellblech überdachte Wartehäuschen an den Haltestellen, große Tafeln mit Fahrplänen.

«Wo ist denn der Wasserfall?»

Der Platz ist menschenleer, niemand, den ich nach dem Wasserfall fragen kann. Die wenigen Menschen, die mit uns zur Endhaltestelle gefahren waren, hatten sich rasch verlaufen, der Linienbus war mit einigen jungen Leuten gleich wieder in die Hauptstadt zurückgefahren.

Dort drüben an dem flachen Gebäude steht «Information».
Ich eile hinüber, der Schalter ist geschlossen.
Sie steht immer noch da, auf ihre Krücken gestützt, blickt sich ratlos um.

Ich beruhige sie: «Einen Wasserfall kann man nicht einfach zubetonieren, der muss irgendwo sein. Wir werden ein Taxi finden und uns zu dem Wasserfall fahren lassen, dort wirst du das Haus wahrscheinlich finden.»

«Doch nicht dort», sagt sie, «das war doch nicht direkt in Hönefoss, das war doch in Klekken.»

«Klekken, wieso Klekken? Du hast immer von Hönefoss gesprochen!»

«Ja, weil Klekken zu Hönefoss gehört und weil da die Haltestelle am Wasserfall war. Da hat uns dann der Fahrer mit dem Auto abgeholt, oder wir sind zu Fuß gegangen.»

«Klekken — ist das nicht dort oben?»

Das Schild Klekken 5 war mir an der letzten Straßenkreuzung vor der Serpentine aufgefallen.

Ich werde ärgerlich: Also hat sie die ganze Zeit gewusst, dass nicht Hönefoss das Ziel war!

*

Es hatte alles so einfach ausgesehen. Nach der Ankunft am Donnerstagabend waren wir vom Flughafen mit dem Taxi in die Stadt gefahren. Auf dem ersten Linienbus, der uns entgegenkam, stand Hönefoss. Laut rief ich: «Schau, da steht es — es gibt einen Bus, der nach Hönefoss fährt!» Es war wie ein Gruß für mich: «Willkommen, ich zeige dir den Weg!»

Kein Wort von Klekken.

Ich blickte mich um, sah, wie der Bus vor der Universität hielt: Die war leicht wieder zu finden! Minuten später erreichten wir das Hotel. Ich brachte sie rasch auf ihr Zimmer und lief zurück zu dem Holdeplass Universitet in der prächtigen Karl Johansgate und stellte zufrieden fest, dass die Busse von 8.07 bis 23.07 Uhr stündlich verkehren.

In der hellen Sommernacht lief ich die Universitetsgate hinunter zum Hafen, vorbei am roten Backsteinbau des Radhus mit den beiden klobigen Türmen — das einzige Bild, das ich von Oslo im Kopf hatte; ein Foto des Rathauses hatte ich einmal aus einem Erdkundeschulbuch herausgerissen. Damals hatte ich den Bau hässlich gefunden — jetzt gefiel er mir, weil mir alles sofort gefiel in dieser Stadt.

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Auf den Holzplanken der Aker Brygge setzte ich mich an einen Tisch gleich am Wasser und schaute durch die Segelmasten hindurch auf den silbrig glänzenden Oslofjord, trank ein Glas Wein und wartete, bis der helle Himmel langsam bleigrau wurde und die ersten Sterne zeigte.

*

Am nächsten Morgen erzählte ich ihr, dass ich den Fahrplan gefunden hätte, und meinte, es könne wohl nicht weit sein nach Hönefoss.

«Ja, eine halbe Stunde wird man schon fahren.»

Kein Wort von Klekken.

Gut, dann würden wir morgen dorthin fahren, heute eine Stadtrundfahrt machen und ins Kunstmuseum gehen; ich war besonders gespannt, Edvard Munchs «Schrei» endlich im Original zu sehen.

Am Samstag wollte ich dann doch das Widerstandsmuseum in der Festung Akershus und Heyerdahls Floß besichtigen, am Sonntag wäre ja auch noch Zeit, «krönender Abschluss» gewissermaßen, bevor wir am Montag zurückflögen. Sie nickte zustimmend.

Am Sonntag überlegte ich, bei nur einer halben Stunde Fahrzeit könnte man es doch am Nachmittag erledigen, mit dem letzten Bus um 22 Uhr zurückkommen, da wäre es immer noch taghell.

Dann wäre am Vormittag noch Zeit für das Völkerkunde-Freilichtmuseum. Die Bilder im Reiseführer von den nachgebauten Dörfern und den Menschen in ihren bunten Trachten hatten es mir angetan. Ihr war alles recht.

«Mach's nur so, wie du meinst.»

Mittags wollte ich gleich von der Halbinsel Bygdoy mit dem Taxi zur Universität — nein, sie musste noch ins Hotel zurück und «nur ein paar Minuten ausruhen». Dabei hatte ich sie den ganzen Weg im Rollstuhl durchs holprige Gelände geschoben.

Folglich verpassten wir den 14.07-Uhr-Bus, und dann stellte ich erschrocken fest, dass ich mir den Sonntagsfahrplan nicht angesehen hatte:

Helligdager ging der Bus nur alle zwei Stunden!

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Wir fuhren also erst um 16.07 Uhr. Sie schien etwas beunruhigt, als die Fahrt weit hinausging auf eine lange Brücke über den Oslofjord.

«Die hat's damals bestimmt net gegeben — und die Straß' is' glei' über die Berg' 'gangen.»

Wir waren schon länger als eine halbe Stunde unterwegs, als der Bus in eine andere Straße abbog.

Hönefoss 39 las ich auf dem Straßenschild. Von wegen eine halbe Stunde!

Sie aber meinte, damit könnten unmöglich Kilometer gemeint sein, «39» sei wohl die Straßennummer.

Ich beugte mich nach vorne zu einem älteren Ehepaar:

«Excuse me, when does the bus arrive in Hönefoss?»

Lächelndes Kopfschütteln: «No English.»

Ich steckte den Ärger über die Mutter weg.

Wie sollte die alte Frau sich auch nach so vielen Jahren noch erinnern können? Ich hätte mich besser erkundigen müssen, es war meine Schuld. Warum habe ich nur diese Fahrt so lange hinausgeschoben - schließlich sind wir doch deswegen nach Norwegen geflogen!

«Jetzt können wir es nicht mehr ändern, du hast dich eben getäuscht, kein Wunder nach der langen Zeit.»

«Nein, damals war es bestimmt nur eine halbe Stunde, das weiß ich genau.»

*

Es war 17.30 Uhr, als wir endlich in Hönefoss angekommen waren. Ob zu diesem Kaff auch ein Bus fährt? Auf der Tafel der Haltestelle 7 finde ich Klekken. Sonntags fährt der letzte Bus um 17.25 Uhr.

Als ich ihr das sage, sieht sie mich mit einem Aufblitzen in den Augen an und einem Gesicht, das lächeln will und triumphierend aussieht: «Ja mei, da kann man nichts machen. Es hat halt nicht sein sollen.»

Ich spüre Wut in mir aufsteigen, auch über mich.

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Ich selbst war es ja, ich habe die Fahrt immer wieder verschoben!

Sie hat doch nur gesagt: «Mir ist alles recht.»

Aber ich habe nicht gewusst, was sie wusste.

Wie immer hat sie mir nicht gesagt, was ich wissen sollte. Ich kannte nur eine Teilwahrheit - wie immer.

«Mei, ob's des Heim überhaupt noch gibt nach fünfzig Jahren, des weiß ma' doch sowieso nicht.»

Ich packe sie fest an den Schultern — am liebsten würde ich sie schütteln.

«Du glaubst doch nicht, dass ich zweitausend Kilometer geflogen bin, um endlich dieses Haus zu sehen, und jetzt fünf Kilometer vorher wieder umkehre! Wir werden heute noch nach Klekken fahren, das schwöre ich dir. Und du bleibst jetzt hier sitzen, bis ich das organisiert habe.»

Ich drücke sie unsanft auf die Wartebank.

*

Ich sehe ein Taxi langsam über den Platz rollen. Ich laufe ihm entgegen. Der Chauffeur ist mürrisch, der einzige unfreundliche Mensch, der mir in Norwegen begegnet ist.

Nein, er könne nicht nach Klekken fahren, er habe ein anderes Ziel. Nein, ein anderes Taxi könne er nicht rufen. Dort drüben sei ein Taxistand, allerdings würden sonntags um diese Zeit nicht viele hierher kommen.

Die Busse nach Jevnaker würden in Klekken halten, allerdings nur jeder zweite Bus - und ob da heute noch einer führe - Achselzucken. Er rollt das Seitenfenster hoch, gibt Gas, fährt rasch weg.

Wahrscheinlich hat er den deutschen Akzent in meinem Englisch erkannt.

Wahrscheinlich hat er geahnt, was ich in Klekken suche.

Wahrscheinlich wollte er uns nicht hinfahren.

Mein Blick bleibt an einer Telefonzelle hängen.

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Da telefoniert jemand! Ich warte, bis ein großer Mann herauskommt — Cordhose, ein kariertes Hemd unter dem offenen dunkelroten Anorak. Er hält mir die Türe auf, nickt mir freundlich zu.

Ich schüttle den Kopf.

«No. Thank you, I don't want to use it. Do you speak English?»

«Yes, a little. Can I help you?»

Ob er zufällig wüsste, ob der letzte Bus nachjevnaker in Klek-ken hielte, der Taxifahrer habe mir das gesagt, aber ich könne es auf dem Fahrplan nicht finden.

Er blickt mich durch die Gläser seiner randlosen Brille erstaunt an. Dann fragt er langsam:

«Klekken - why Klekken? What do you want in Klekken, Lady?»

Das e dehnt er und es klingt fast wie ein ä: «Klääken.»

Keine Diplomatie, keine Halbwahrheiten, nur Ehrlichkeit hilft mir weiter.

Fest blicke ich in diese freundlichen hellblauen Augen und sage:

«To be honest, I was born there. In 1943.1 am German. Perhaps you know where.»

«I know what you mean», sagt er langsam und mit ernstem Gesicht. Und dann lächelt er auf einmal und nimmt sanft mein Gesicht in seine großen Hände und sagt:

«Welcome home.»

Und während mir die Tränen in die Augen schießen:

«You look Norwegian.»

Ja, ich weiß, wohl alle dachten das, seit ich gelandet bin in Oslo und sehr bewegt meine Füße auf norwegischen Boden gesetzt habe - tatsächlich dachte ich daran, ihn wie Papst Johannes Paul zu küssen!

Die Stewardess, die uns erwartete, sprach mich norwegisch an, ohne zu zögern. Ich nickte, weil ich verstand, dass der Rollstuhl noch nicht da sei und sie erst telefonieren müsse, und sie plauderte munter weiter, bis ich endlich sagte: «Sony, I don't speak Norwegian», und nach einem verwunderten Kopfschütteln wechselte sie ins Englisch.

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Kaum hatte der Zollbeamte meinen deutschen Pass kontrolliert, redete er los, und ich verstand nur snakker norsk. Ich murmelte hilflos mein «sorry», und er sagte mit Blick in den Pass auf Deutsch: «Sie sprechen also nicht Norwegisch, obwohl Sie in Norwegen geboren sind. Das ist eigenartig.»

Er blickte mich sehr ernst an.

Was weiß er, was denkt er?

Er sah wohl die Schamröte in meinem Gesicht, das Wasser in meinen Augen, und er verbesserte sich: «Das ist schade. Sie sollten es lernen.»

Im Taxi, an der Hotelrezeption, im Restaurant, in den Museen, auf der Straße — überall wurde ich norwegisch angesprochen.

Mein «norwegisches» Aussehen empfinde ich als einen doppelten Betrug. Aber ich sehe eben nordisch aus. 

*

«Sorry. I am not.»

Und dann erzählt er mir, dass er selbst auch nicht aus der Gegend stamme, er sei erst nach seiner Pensionierung vor ein paar Jahren hierher gezogen — in ein kleines Haus auf dem Land — ohne Telefon.

Sonntags rufe er immer seinen Sohn in Oslo an. Er lacht:

«But never before I called from this telephone - the one I always use was broken today!»

Nur deshalb sei er heute hierher gekommen, weil er hier eine andere Telefonzelle zu finden hoffte.

Als Osloer kenne er sich hier nicht so gut aus, habe aber schon gehört:

«During occupation there was a German hospital in Klek-ken.»

Ob dieser Bau hoch existiere, wisse er nicht, es gebe aber zwei große Gebäude, das eine «a very extravagant hotel for privileged people», das andere «a rehabilitation clinic».

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«I can drive you there, if you want.»

Man könne sich ja dann dort erkundigen.

Ich kann es nicht glauben, erschrecke, werde misstrauisch -warum würde ein Mann einer fremden Frau ein solches Angebot machen?

Er könnte mich schließlich mit dem Auto irgendwo hinfahren: Wie einfach, ich habe ja keine Ahnung von dem Weg.

Ich schaue noch mal in das Gesicht, es sieht offen und liebenswürdig aus. So kann ich mich nicht täuschen.

Wie freundlich von ihm, bedanke ich mich, gerne würde ich sein Angebot annehmen, freilich auch gerne für seine Unkosten aufkommen - und nachfragen müssten wir wahrscheinlich nicht, weil ich glaube, dass meine Mutter, mit der ich hierher gekommen sei, sich daran erinnern würde.

Ich zeige hinüber zu der zusammengekauerten Gestalt im Wartehäuschen, und noch einmal blitzt ein Lächeln auf:

«She is Norwegian?»

«No, also German.»

*

Jetzt wird er noch mal nachdenken. Freilich haben dort eigentlich norwegische Frauen ihre von deutschen Soldaten gezeugten Kinder geboren. Aus Furcht vor der Schande haben viele ihr Kind «freiwillig» zur Adoption freigegeben, hunderte dieser Kinder sind zur «Aufnordung des deutschen Blutes» per Anordnung «heim ins Reich» verschleppt worden.

Himmler freute sich «über jedes Kind, das wir von dort bekommen».

Ängstlich schaue ich ihn an, wahrscheinlich hat er gedacht, dass ich eines jener verschleppten Kinder sei, als er sagte:

«Welcome home!»

Jetzt wird er sich fragen, warum eine Deutsche in Klekken entbunden hat, und es wird ihm klarwerden, dass diese Frau hier das Unrecht mitverwaltet hat.

Aber nein, er bleibt freundlich, will sein Auto holen und zu dem Häuschen kommen, in dem sie wartet.

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Ich erkläre ihr, dass ich jemanden gefunden habe, der uns nach Klekken fährt, und sie weigert sich:

«Ich geh doch nicht mit einem Wildfremden mit!»

Aber da fährt er schon vor mit einem alten klapprigen Volvo; zugegeben, das Gefährt sieht wenig Vertrauen erweckend aus. Er begrüßt meine Mutter mit einer leichten Verbeugung, schiebt den Beifahrersitz ganz nach hinten und hilft mir, die schwach protestierende Frau ins Auto zu schieben.

Ich setze mich auf den Rücksitz, und mein Herz klopft wild, als diese Reise ins Ungewisse beginnt. Krimifantasien gehen mit mir durch:

Und wenn er es doch ganz einfach auf unsere Handtaschen abgesehen hat? Hoch kann seine Rente nicht sein, sonst müsste er nicht ein solches Schrottauto fahren und in einer telefonlosen Hütte irgendwo im Wald leben! Und wenn er uns dorthin bringen würde, fesseln, knebeln - Lösegeld erpressen?

Er ist groß und stark, leicht könnte ich mich nicht gegen ihn wehren. Ich betrachte sein schütteres graues Haar von hinten. Er muss Ende sechzig sein, das heißt, er hat die ganze Besatzungszeit bewusst miterlebt.

Was hat er erlitten? Wen hat er verloren?

Was haben die Deutschen ihm, seiner Familie angetan?

Vielleicht hat er seit fünfzig Jahren auf eine Gelegenheit gewartet, sich zu rächen? Vielleicht hat er deshalb gelacht, als er sagte, noch nie habe er von dieser Zelle aus telefoniert?

Er kann uns irgendwo niederschlagen, aus dem Auto werfen oder zu diesem mysteriösen Wasserfall fahren und uns hineinstoßen. Nach dem Wasserfall werde ich ihn jedenfalls besser nicht fragen.

*

Solche Gedanken rasen durch meinen Kopf, während er den Wagen bedächtig steuert und mit seiner ruhigen Stimme auf meine Mutter einspricht, die ihm einsilbig antwortet.

Und auf einmal bin ich ganz ruhig, schiebe die Hirngespinste weg. Es passiert, was passieren muss; eine innere Stimme sagt mir: «Es hat alles seine Richtigkeit.»

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Nach der Abzweigung Klekken 5 wird die Straße schmaler, sie windet sich hinauf, rechts und links mehr und mehr rote Holzhäuser. Wir biegen in die Einfahrt zu einem Hotel ein und halten an. Ein lang gestreckter, weiß lackierter Holzbau mit großzügiger Glasfront zur Eingangshalle.

Ein livrierter Hoteldiener eilt auf das Auto zu, seine Schritte verlangsamen sich, als er den Zustand des Volvo erkennt.

Unser Fahrer kurbelt die Fensterscheibe herunter, ruft dem Hotelangestellten etwas auf Norwegisch zu, der entfernt sich wieder, blickt sich ein paar Mal misstrauisch um.

«Is this the place, Lady?», fragt er meine Mutter. Sie schüttelt energisch den Kopf:

«Definitely not.»

«Okay. I bring you to the next place.»

Nur ein paar hundert Meter weiter halten wir wieder vor einem großen Areal mit mehreren flachen Gebäuden. Hospital steht über dem Eingangstor.

Selbe Frage, selbes Kopfschütteln, selbe Antwort.

Er bleibt geduldig, fragt sie:

«Teil me - what can you remember?»

Sie wird ungeduldig, dreht sich zu mir um:

«Mein Gott, an was soll ich mich denn erinnern, ja, solche ochsenblutfarbigen Häuser, die habe ich von meinem Fenster aus gesehen - aber die gibt's hier ja überall.»

Dann schweigt sie, auf einmal schweift ihr Blick in die Ferne, und sie sagt sinnend:

«Doch — der Kirchturm, da war eine Kirche. — I remember a church!»

«A church? There is only one church — let us drive to the church.» Und er steuert den Wagen hinunter in eine Senke — auf der rechten Seite eine Kirche mit spitzem Turmdach. Er hält den Wagen an.

Sie blickt lange hinüber zu dem Kirchturm, nickt bedächtig und wendet dann wie in Zeitlupe ihren Kopf langsam hinüber zur linken Straßenseite.

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Lange schweigt sie, es ist ganz still im Auto, ich spüre die Spannung in meinem Nacken.

Dann zögerlich: «Ja — das muss es sein. Da unten, die Fenster, die sind neu, drum hab ich's nicht gleich erkannt. Ja, das ist es.»

Das sei eine Schule jetzt, erfahren wir, die sei jetzt freilich wegen der Ferien geschlossen. Ich bin enttäuscht, aber sie sagt:

«Das macht nichts. Reingegangen war ich da sowieso nicht. Wie es da drin heut' ausschaut, mag ich gar nicht wissen. Ich mag meine alten Erinnerungen behalten. Lass mich doch einfach da ein bisserl sitzen. Schau dich du nur um.»

*

Vor dem weißen Gebäude gibt es eine halbrunde Holzbank, sie macht die wenigen Schritte darauf zu, setzt sich direkt neben die Bronzeskulptur eines kleinen Mädchens mit Zöpfen.

Nein, die Statue sei damals noch nicht da gewesen.

Die Fassade sei verändert — dort bei dem großen Fenster sei der Eingang gewesen und das große Eckzimmer gleich rechts daneben, das war ihr Zimmer mit dem Blick auf die Straße und die Kirche auf der anderen Straßenseite. Aus dem anderen Fenster hätte sie auf die große Wiese geschaut — ganz weiß von Margeriten sei sie gewesen, als sie angekommen war damals, im Juni 1943.

«Als Erstes habe ich einen dicken Blumenstrauß gepflückt, weil ich so froh war, dass es hier die gleichen Blumen gab wie daheim. Ja, genau — hinter der Wiese, da sind ja diese ochsenblutroten Häuser!»

Ich mag es nicht, wenn sie das dunkle Rot immer «Ochsenblut» nennt, obwohl das, glaube ich, die korrekte Farbbezeichnung ist.

Die Häuser sind immer noch da, die Wiese ist jetzt ein Sportplatz.

Der Eingang muss jetzt auf der anderen Seite sein, eine Einfahrt führt rechts am Haus vorbei. Unser Fahrer begleitet mich auf meinem Rundgang um das Haus.

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Gläserne Flügeltüren zur gefliesten Vorhalle, ein typischer moderner Schuleingang, am Haupthaus ein winkelförmig angebauter langer Seitenflügel, den hat es damals wahrscheinlich noch nicht gegeben. Mein Blick gleitet über die Zimmerfenster im Altbau. Hinter irgendeinem war wohl früher der Kreißsaal.

Hier also bin ich zur Welt gekommen.

Wieder das Brennen in den Augen, wieder das eigenartige Gefühl im Bauch, wie gleich nach der Landung - «heimatlich» darf ich es wohl nicht nennen.

Durch meine Geburt im mit Gewalt besetzten Land habe ich mir kein «Heimatrecht» erworben. Bin ich im Gegenteil nicht zugleich auch schuldig geworden durch diese Geburt?

Dennoch spüre ich so etwas wie «angekommen sein», fühle eine tiefe Ruhe nach der Anspannung der letzten Stunden und Tage — vielleicht der vergangenen Jahrzehnte.

Hier also habe ich den Namen bekommen, den ich als Kind nicht ausstehen konnte. Ich wollte heißen wie meine Freundinnen: am liebsten Maria, vielleicht auch Hanna oder Christel, zur Not noch Bärbel oder Heidi — aber Gisela hieß kein Kind in der oberbayerischen Kleinstadt!

«Des is doch koa Nama», wurde mir schon am ersten Tag im Kindergarten erklärt, und ich habe mich geschämt.

Als ich mit fünf Jahren endlich getauft werden sollte, habe ich um einen richtigen Namen gebeten. Das konnte meine Mutter nicht verstehen: «Gisela ist doch so ein schöner deutscher Name.»

Und außerdem sei das sowieso unmöglich, einen Eintrag in der Geburtsurkunde könne man nicht mehr ändern.

Ich konnte nicht begreifen, dass dieser vergilbte, zerfledderte Zettel mit übertippten Einträgen, den ich vermutlich zum ersten Mal bei der Einschreibung im Kindergarten gesehen habe, eine solche Bedeutung haben sollte. Gerne lege ich meine Geburtsurkunde vom Standesamt Norwegen aus dem Jahr 1943 nicht vor, weil immer stirnrunzelnd der Stempel Der Standesbeamte für die besetzten norwegischen Gebiete entziffert wird und mich misstrauische Blicke mustern.

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Zwar hat nie ein Beamter die Rechtmäßigkeit dieses Papiers angezweifelt, aber ich werde nicht merkwürdig angeschaut, wenn ganz selbstverständlich die Bescheinigung des Standesbeamten des Standesamtes L in der Herzog-Max-Str. 5-7, München aus dem Jahr 1945 akzeptiert wird, obwohl darin behauptet wird, dass ich gar keine Geburtsurkunde habe. Die Bemerkung «Die Ausstellung einer ordnungsgemäßen Geburtsurkunde durch den Standesbeamten in Oslo ist zur Zeit nicht möglich» erweckt weniger Misstrauen als die Urkunde aus Oslo. Das «L» wird ohne Misstrauen zur Kenntnis genommen, weil kaum jemand weiß, wofür es steht.

Der «Lebensborn e.V.» hat die juristischen Sonderrechte zur Einrichtung eigener Standesämter nur erhalten, um die Geheimhaltung in seinen Heimen zu garantieren und die Meldung an die für die Mütter zuständigen Standesämter zu vermeiden. Damit wurde scheinbar dem Gesetz Genüge getan und die vorgeschriebene Beurkundung der Geburten vollzogen.

Mein Name wurde also im Lebensborn-Standesamt eingetragen, nachdem ich in der «Namensweihe» eine Art Taufe erhalten hatte. Dabei wurde nicht gefragt: «Widersagst du dem bösen Feind?»

Sondern es trug sich so ähnlich zu: Auf die Frage «Deutsche Mutter, verpflichtest du dich, dein Kind im Geiste der nationalsozialistischen Weltanschauung zu erziehen?» musste meine Mutter wohl mit Handschlag ihr Jawort gegeben haben.

Danach wurde mein SS-Pate gefragt: «Bist du bereit, die Erziehung dieses Kindes im Sinne des Sippengedankens unserer Schutzstaffel zu überwachen?»

Anstatt mit dem Kreuz wurde ich dann mit einem SS-Dolch berührt: «Ich nehme dich hiermit auf in den Schutz unserer Sippengemeinschaft und gebe dir den Namen Gisela Brunhilde. Trage diesen Namen in Ehren!»

Und mit dieser Formel war ich, kaum geboren, ordentliches SS-Mitglied.

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Also doch schuldig?

Brunhilde war der häufigste Name für Mädchen in Lebensborn-Heimen. Die meisten Knaben wurden selbstverständlich Siegfried genannt.

Ich kann von Glück reden, dass meine Mutter noch kurz vor meiner Geburt einer Gisela begegnet ist und deshalb die germanische Brunhilde auf den zweiten Platz rückte!

Auch wenn er nicht gefährlich war wie andere Zweitnamen, die damals anderen Deutschen per Zwang in den Pass eingetragen wurden, fühle ich mich noch immer unwohl mit diesem Namen.

*

Ich setze mich auf den Wiesenstreifen am Sportplatz, scheinbar in Betrachtung der alten Häuser und des lichten Birkenwäldchens dahinter versunken.

Meine Hände streichen sanft über das Gras; ich hoffe, dass es dem Mann nicht auffällt.

Er setzt sich schweigend neben mich — ich habe Angst vor Fragen, die er nicht stellt. Nach einer Weile sagt er, es sei schade, dass ich während der Ferienzeit gekommen sei, der Direktor der Schule hätte mir gewiss das Gebäude gezeigt. Ich müsse eben wiederkommen und mich anmelden vorher.

Das werde ich, bestimmt werde ich wiederkommen, aber jetzt müssten wir wohl zurück, um noch einen Bus zu erreichen.

Wir stehen gleichzeitig auf, gehen zurück zu meiner Mutter. Sie sitzt noch immer regungslos auf der Bank, schaut sich nicht mehr um nach dem weißen Gebäude. Ihr Blick schweift hinüber zu den bewaldeten Hügeln.

Nein, sie will nicht mehr dableiben und nachdenken.

«Wozu auch.»

Zu gerne würde ich wissen, was ihr durch den Kopf gegangen ist, während ich sie allein gelassen habe. Ich umarme sie, danke ihr für meine Geburt:

«Ich weiß, es war schwer für dich.»

«Ja, schön war das nicht — es war kein Vergnügen!»

Ich weiß, ich war eine Zangengeburt — das hat sie mir kurz vor der Geburt meines ersten Kindes erzählt, es hat mir nicht viel Mut gemacht.

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Außerdem war ich «überhaupt nicht schön», weil ich mit «schiefem Gesicht» zur Welt kam. Sie sei «so erschrocken» über das «hässliche Kind».

«Das hätt' ich damals freilich net gedacht, dass ich einmal mit so einer schönen Tochter wieder herkommen würde!»

Wie ich dieses viel zu hohe Lachen kenne, mit dem sie immer schon traurige Gefühle weggelacht hat! Keine Chance mehr, weitere Fragen zu stellen.

Der Norweger meint, er könne ein Foto machen von Mutter und Tochter am Geburtsort. Freilich — den Fotoapparat hatte ich ganz vergessen.

Später werde ich über mein Lächeln auf dem Bild erschrecken.

Als er mir den Apparat zurückgibt, drücke ich ihm fest die Hand und bedanke mich. Er könne sich gar nicht vorstellen, wie wichtig mir das gewesen sei, hierher zu kommen.

«It was such a big gift, it was so much you did for us.»

Er schüttelt den Kopf: «It was not for you, it was for me.»

Meinen irritierten Blick beantwortet er mit einer Geschichte. Auf einmal spricht er rasch und fließend Englisch, in der singenden Melodie seiner eigenen Sprache:

Vor etwa zehn Jahren, als er noch Angestellter im Rathaus in Oslo gewesen sei, habe er eines Tages nach Dienstschluss das Haus zusammen mit einer alten Frau verlassen. Eine deutsche Frau, mit Krücken, wie meine Mutter. Sie habe ihn auf Englisch angesprochen, ihm erzählt, dass sie eben endlich herausgefunden habe, wo ihr Sohn begraben liege, und ob er ihr helfen könne, den Weg zu dem Friedhof zu finden. Sie zeigte mit dem Kinn auf den Zettel in der Hand. Er habe «nein» gesagt, obwohl er die Gräber der Deutschen genau kannte, und er sei zu seinem Auto gegangen. Im Wegfahren habe er noch gesehen, wie sie da stand und ihm hilflos nachschaute. Er hätte sie leicht mitnehmen können, sein Heimweg führte ihn ohnehin an dem Friedhof vorbei.

«But then I could not do it.»

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Mit Nachdruck betont er, dass er das damals einfach nicht konnte. Er erklärt nicht, warum, aber er habe nie den Blick der alten Frau vergessen und sich seitdem Vorwürfe gemacht. Wer sei sie schon gewesen! Eine arme Frau, «no enemy», die aus Deutschland gekommen war, um nach Jahrzehnten endlich das Grab ihres vielleicht einzigen Sohnes zu finden, der vielleicht nicht wirklich Nazi gewesen sei, sondern eben Soldat. Vielleicht sei er, als er hier erschossen wurde, so alt gewesen wie jetzt sein Sohn.

Und heute hätte er einer anderen alten Frau aus Deutschland helfen können, und wie viel besser sei es, einen Geburtsort zu finden als ein Grab.

Er lacht. «So I did it for me - it was a gift for myself that I could help you! / am happy now!»

Ich muss diesen Fremden in die Arme nehmen und die Tränen laufen mir über die Wangen und er lacht und weint gleichzeitig. Eine Weile halten wir uns ganz fest umarmt.

Unsere Tränen vermischen sich. Und unsere «Schuld».

*

Beim Einsteigen frage ich ihn nach dem Wasserfall.

Freilich könne er da vorbeifahren, der sei mitten in der Stadt.

Meine Mutter hat die ganze Zeit schweigend dagesessen. Irritiert hatte sie auf die norwegisch-deutsche Umarmung reagiert.

«Na so was», murmelt sie, als ich ihr die Geschichte übersetzt habe, «glaubst du des?»

Immerhin, ein tusen takk! kommt ihr über die Lippen, bisher hatte sie kein Wort Norwegisch gesprochen.

«Mange takk!», bedankt er sich fröhlich lachend zurück.

Sie wird wieder lebhaft, als sie das Wasser rauschen hört.

«Da ist er ja!»

Der Wasserfall entpuppt sich eher als ein steiler, reißender Gebirgsfluss, eine breite Brücke führt ans andere Ufer.

Er fährt langsam hinüber. Sie blickt hinaus und sagt: «Das war eine Holzbrücke damals. Da ist man oft an dem Brückengeländer gestanden und hat hinuntergeschaut in die Gischt. Und sich gefragt, wie alles denn werden soll mit dem Kind.»

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Ich bitte ihn anzuhalten. Ein steiler Pfad führt hinunter zum Fluss. Dort knie ich nieder und tauche meine zur Schale geformten Hände ins klare Wasser. Es ist eiskalt. Das tut gut, immer wieder lasse ich es über mein heißes Gesicht schwappen, bis es sich anfühlt wie unter einer Eismaske.

*

Auf dem Rückweg sieht sie schweigend aus dem Fenster. Wie gerne wüsste ich, was sie jetzt denkt! Aber ich will sie nicht mit meiner Neugierde bedrängen, nehme ihre Hand und versuche, mich hineinzudenken in diese Frau, die versehentlich meine Mutter geworden ist, denke an die schwere Geburt, die wohl noch schmerzhafter gewesen sein muss nach unerwünschter Schwangerschaft.

«Sei ehrlich», hatte ich sie schon früher gefragt, «hast du nie an Abtreibung gedacht?»

«Gedacht manchmal schon, aber da gab's doch keine Möglichkeit damals — das war doch sowieso verboten — und moanst du, ich war zu einer <Engelmacherin> gegangen irgendwo in einem Hinterzimmer? Nein, das war mir schon zu riskant gewesen. Und außerdem: das Kind von einem hohen SS-Offizier abtreiben — da wär' ich ja ins KZ gekommen, wenn des auf'kommen war — und auf der anderen Seite wollte ich das Kind auch kriegen.»

Immer sagt sie das Kind, wenn ich sie nach mir frage.

Klar, Deutschland konnte «es sich nicht leisten ... auch nur einen Tropfen guten Blutes durch Abtreibung zu verlieren». So wird Himmler in einem Lebensborn-Bericht zitiert. Derart begründet er die Notwendigkeit, 1935 den «Lebensborn e. V.» einzurichten.

Nach einem Bericht aus dem Jahr 1939 habe der Verein «durch seine Tätigkeit... allein bis jetzt für die deutsche Volkszukunft Werte in Höhe von Reichsmark 83.200.000 geschaffen», wenn man berechnet, «daß jedes geborene Kind durch seine spätere Arbeitskraft der deutschen Volkswirtschaft einen Betrag von Reichsmark 100.000 zuführt».

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Nach Kriegsbeginn konnten Hunderttausende wegen vorzeitigen Ablebens oder Invalidität das erwartete Soll nicht erreichen - der frühe, noch so ehrenvolle Tod für Führer und Vaterland schadete der Volkswirtschaft...

Was lag da näher, als mit geeigneten Mitteln die Produktion zu erhöhen?

Meine Mutter hatte sich wohl mehr unter diesem Gesichtspunkt und aus Angst vor Bestrafung dazu entschlossen, das Kind auszutragen, denn aus mütterlichem Instinkt: «Im Krieg müssen alle Opfer bringen.»

Das wurde ihr immerhin durch ihren «erscheinungsbildlichen und erbbiologischen Wert» leichter gemacht, denn sie wurde den strengen Auslesekriterien für die Aufnahme in ein Lebensborn-Heim gerecht, wonach auch die werdenden Mütter in «rassischer und erbbiologischer Hinsicht alle Bedingungen erfüllen mußten, wie sie in der Schutzstaffel allgemein gelten».

Schließlich sollte aus dem Lebensborn «der Adel der Zukunft, wertvoll an Körper und Geist» hervorgehen.

Meine Mutter überschritt die vorgeschriebene Mindestgröße von 155 cm ja sogar um zwanzig! Ihre Größe galt als ein klares Indiz gegen «westische» oder «ostische» Rassenmerkmale. Besonders durch Zugehörigkeit zur «ostischen Rasse» disqualifizierten sich potenzielle Mütter von SS-Nachwuchs selbst.

Sie wurden abgelehnt, weil «insbesondere die ostische Rasse in ihren Charaktereigenschaften der nordischen geradezu widerspricht und weil durch die Mischung mordisch-ostisch> Menschen entstehen, die innerlich zerrissen und unausgeglichen sind».

Solche unausgeglichenen Menschen konnte man freilich zum Aufbau des Tausendjährigen Reiches nicht brauchen, die hätten möglicherweise Zweifel bekommen angesichts der Leichenberge.

Als reine nordisch-nordische Mischung habe ich also eigentlich keinen Grund für meine innere Zerrissenheit.

*

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Ich schiebe die bitteren Gedanken weg, versuche mich wieder auf die Frau an meiner Seite zu konzentrieren und breche das Schweigen: «Ich bin dir so dankbar, dass du die Strapazen auf dich genommen hast und diese beschwerliche Reise mit mir gemacht hast. Ich bin froh, dass ich jetzt weiß, wo ich geboren bin.»

«Dann ist's ja recht, wenn es dir gefallen hat. Und für mich war die Reise ja auch interessant.»

«Und die Erinnerungen — die sind doch sehr schmerzhaft?»

«Ja schon, aber an die brauch ich ja nicht denken — es gab ja auch viele schöne Momente hier. Lange Spaziergänge haben wir gemacht im Sommer, stundenlang, und Beeren gepflückt — es gab so viele köstliche Waldbeeren! Und überhaupt war das Essen sehr gut und die frische Milch — jeden Tag mussten wir einen Liter trinken, ganz frisch gemolken! Das gab's ja daheim gar nicht mehr. Wir haben auch viel Spaß gehabt, das waren eigentlich lauter nette Frauen hier.»

«Die meisten waren aber doch Norwegerinnen, wie habt ihr euch denn verständigt?»

«Die hatten doch alle einen deutschen Freund, sonst wären sie doch nicht zu uns gekommen, und konnten schon ein bisserl Deutsch. Und die meisten waren doch scharf drauf, dass sie auch heiraten und mit nach Deutschland gehen können, damit sie nicht länger tysker tos, «Deutschenflittchen», genannt werden, drum haben die mit Begeisterung Deutsch gelernt, ich hab gern Lehrerin g'spielt! Und das Personal war ja sowieso deutsch.»

«Du hast mir mal erzählt, dass du mich Gisela genannt hast, weil deine Bettnachbarin im Kreißsaal so hieß?»

«Ja, das stimmt. Ich war doch überzeugt, dass ich einen Sohn bekomme - bei dem Vater!»

Sie lacht schon wieder.

Rechnete sie damit, dass der in Erfüllung des Himmlerschen Befehls zur außerehelichen Fortpflanzung auch mit ihr rassisch wertvollen männlichen Nachwuchs gezeugt hatte, weil er schon einen ehelichen Sohn hatte?

«Dann hätte das Kind <Friedrich-Karl> geheißen.»

«Aber mein Vater hatte doch schon einen Sohn namens <Karl-Friedrich>!»

«Eben, drum hätte ich den Namen ja umgedreht und Friedrich als ersten genommen und Karl als zweiten, weil das Kind

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freilich auch den Namen von seinem Vater haben sollte. Dann hätte es halt <Fritz> geheißen wie mein gefallener Bruder.»

Sie schweigt, dann sagt sie: «Manchmal hab ich gedacht, wenn es ein Bub geworden war, hätten es mir die anderen leichter gemacht, besonders der Martin.»

Die anderen - das waren die Familienmitglieder. Wenn ich also wenigstens ein Junge geworden wäre, hätte ich vielleicht meinem Onkel Martin den gefallenen Bruder, meiner Großmutter den toten jüngsten Sohn ersetzt. Wahrscheinlich wäre es leichter für sie gewesen, einen kleinen «Fritz» statt einer widerborstigen «Gisi» großzuziehen.

Als Kind hatte ich mir oft gewünscht, ein Junge zu sein, und als Jugendliche hatte ich, ohne diese Namensgeschichte zu kennen, die gleiche Leidenschaft wie jener Onkel Fritz, der schon vor meiner Geburt im Krieg gefallen war: das Klettern im Gebirge. Meine Mutter wusste das allerdings nicht, sie wähnte mich beim Bergwandern, wenn ich in einer Felswand hing.

Nur meine Großmutter wunderte sich, dass ich ein großes Foto ihres jüngsten Sohnes beim Kaminklettern in den Dolomiten in meinem Zimmer aufgehängt hatte. Manchmal stand sie davor und betrachtete es lange. Im Gegenlicht aufgenommen, sieht es aus wie ein Scherenschnitt: links und rechts fast senkrechte Felswände, dazwischen im Profil ein Junge, der sich mit dem Rücken und einem Bein gegen die eine und mit dem anderen Bein gegen die andere Wand stemmt.

«Wie der Fritz», sagte sie, wenn ich mit Rucksack und Bergstiefeln loszog.

Glücklicherweise heiße ich nun nicht so.

Eine groteske Vorstellung, wie sonst, zwanzig Jahre nach meiner Geburt, die erste Begegnung mit meinem Halbbruder verlaufen wäre:

«Schön, dass wir uns endlich kennen lernen, Karl-Friedrich. Ich bin dein Bruder und heiße Friedrich-Karl.»

*

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Wieso hat sie nicht daran gedacht, dass die Kinder des gleichen Vaters sich irgendwann begegnen würden?

«Und drum hab ich mir überhaupt keine Mädchennamen überlegt. Des war ein nettes junges Ding, diese Gisela. Die wollte ihr Kind überhaupt nicht, die hat sich halt auch mit einem SS-Offizier eingelassen - anders war sie ja net ins Heim gekommen -, und sie hat auch möglichst weit weg von daheim entbinden müssen. Die hat von Anfang an geplant, dass sie das Kind zur Adoption freigibt, die war noch nicht einmal zwanzig und wollte sich das Leben nicht mit einem Kind versau'n. Aber das Kind ist dann glücklicherweise schon nach ein paar Tagen gestorben, an einem Magenpförtnerkrampf. Verhungert praktisch, da is' nix nei-ganga, es hat die Milch einfach wieder ausg'spuckt. Mei, des war halt ein Geburtsfehler. So hat sich das alles ganz gut gelöst und die Gisela ist glücklich wieder heim nach Westfalen, sobald der Bauch weg war. Da hat dann niemand je erfahren, dass sie nicht dienstlich in Norwegen war.»

So wie sie.

Seit ich mich erinnern kann, hat sie meinen für ein oberbayerisches Kind, als das ich mich fühlte, seltsamen Geburtsort Oslo mit dem Satz begründet: «Weil ich da dienstlich zu tun hatte.»

Dieses «dienstlich» war immer ein bedrohliches Wort für mich. Damit begründete meine Großmutter auch, warum meine Mutter mit den MP-Polizisten mitgehen musste und fast ein Jahr nicht mehr zurückkam.

Da hatte sie «dienstlich» in Nürnberg zu tun.

Und was genau hatte sie «dienstlich» in Oslo zu tun?

Bei unserer Stadtbesichtigung konnte ich dazu nicht viel erfahren. Als wir bei der Busrundfahrt am Parlament vorbeifuhren, kommentierte sie die Aussage der Reiseleiterin, dass sich auch hier während der Besatzungszeit die deutsche Besatzung eingenistet habe, nur mit der Bemerkung:

«Des braucht's doch nicht, dass man das immer noch erwähnt - da muss doch einmal Schluss sein damit!»

«Mutti, das ist ein Teil der Geschichte dieses Landes, ein sehr schmerzlicher noch dazu, warum sollte sie das unterschlagen?»

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«Du glaubst doch nicht, dass die zum Beispiel bei einer Stadtrundfahrt in Tölz auf die Junkerschule hinweisen?»

«Nein, wahrscheinlich nicht - ich finde, sie sollten es tun.»

Später schauten wir uns auch das Schloss Akershus an. Die einst mittelalterliche Burg, teilweise in ein Renaissanceschloss umgebaut, mit den schön möblierten Sälen gefiel ihr. Ich wollte vor allem das im Festungswall integrierte Norges Hjemmefront-museum, das Heimwehrmuseum, das auch «Museum of Resistance» genannt wird, besichtigen.

Sie wollte sich lieber auf dem Wall auf einer Bank niederlassen. In das Widerstandsmuseum wollte sie nun wirklich nicht mitgehen.

«Sei mir nicht bös, aber das muss ich mir nicht anschauen, Uniformen kann ich keine mehr sehen.»

Wahrscheinlich war es gut, dass sie nicht mitkam, ich weiß nicht, wie ich sie an meiner Seite ausgehalten hätte angesichts der Bilder von Gewalt.

Ich wusste es nicht. Ich hatte zwar in der Schule mehr erfahren als die meisten Gleichaltrigen, für die deutsche Geschichte 1933 aufhörte und erst nach dem Krieg wieder begann, aber das Kapitel «Norwegen» war auch in meinem Geschichtsunterricht nicht vorgekommen.

Und obwohl Oslo in meinen Ausweisen steht, habe ich mich immer mit der lapidaren Erklärung «Das war eben damals deutsches Besatzungsgebiet» abgefunden. Wahrscheinlich war es auch eine Art innerer Widerstand, der mich daran hinderte, Genaueres zu recherchieren.

Erst in diesem Museum erfuhr ich, dass der Führer in «geheimer Kommandosache» schon am 1. März 1940 beschloss:

«Die Entwicklung der Lage in Skandinavien erfordert es, alle Vorbereitungen dafür zu treffen, um mit Teilkräften der Wehrmacht Dänemark und Norwegen zu besetzen.»

Diese «Vorbereitungen» liefen sofort danach unter dem Decknamen «Weserübung» an, und schon am 9. April 1940 wurde das friedliche Norwegen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion überfallen und besetzt.

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Die «Herrenmenschen» unterdrückten auch dieses «rassisch so wertvolle nordische Volk» im Sinne der Parole:

«Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt!»

Dabei kalkulierten sie gleichzeitig gezielt die «Aufhordung» des eigenen Volkes ein.

Ich war stehen geblieben vor dem Saal mit der Überschrift:

«1943 - ET LANGT AR - THE ENDLESS YEAR»

Es fiel mir schwer weiterzugehen, um zu erfahren, wie die Menschen in meinem Geburtsjahr, dem dritten Jahr der Besatzung hier, gelitten hatten. Nun las ich in Berichten der «Deutschen Zeitung in Norwegen», deutschen Bekanntmachungen und Anordnungen, in englischen Übersetzungen norwegischer Dokumente, in geheimen Aufrufen und Manifesten, wie die Norweger nach und nach ihrer Rechte beraubt, wie Lebens- und Heizungsmittel rationiert worden waren. Widerstand war erfolglos - dieses grausame Jahr schien kein Ende zu nehmen. Viele sind verhungert und erfroren, viele inhaftiert und ermordet worden.

Fotos von Menschen mit dem Judenstern, von Geschäften mit der Aufschrift Jedisk Forrettning - wie zu Haus im Reich!

Sie standen mit Lebensmittelmarken Schlange, während die Tische der «Besatzer» reich gedeckt waren. Wenn Fischer versuchten, vom reichen Fang, den sie abliefern mussten, auch nur einen Fisch für die eigene Familie zu behalten, wurden sie hart bestraft.

«Die waren doch froh, die norwegischen Mädchen, dass sie im Heim was G'scheits zum Essen gekriegt haben, in Oslo gab's doch nichts mehr - es war doch Krieg!»

So klang mir die Rechtfertigung meiner Mutter in den Ohren.

Nicht der Krieg der Norweger, der Krieg der Deutschen - die hingegen genug zu essen hatten und auch die Mädchen «fütterten», die von deutschen Soldaten schwanger waren.

«Zu meiner Zeit war kein einziges Mädchen im Heim, das nicht in einen deutschen Soldaten verliebt war, die wollten die

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Kinder schon kriegen, sie sind ja sogar finanziell unterstützt worden! Dass sie mit ihren Familien Probleme hatten nachher, ist was anderes. Aber da ist's uns ja net viel anders 'gangen.»

Sie mussten sogar frische Milch trinken, erzählt meine Mutter.

Damit der «nordische Nachwuchs zur Aufbesserung deutschen Erbgutes» auch gesund zur Welt kam?

Es ist mir schwer gefallen, sie nach dem Museumsbesuch wieder abzuholen; langsam ging ich auf sie zu.

Sie saß zusammengekauert auf der Steinbank, hatte sich fröstelnd auch noch meinen Mantel um die Schultern gehängt, ein Kopftuch umgebunden gegen den scharfen Wind, der vom Hafen heraufblies. Sie hatte mich nicht kommen hören. Ich blieb stehen, betrachtete sie, wie sie bewegungslos auf das Meer blickte - oder ins Leere.

Plötzlich tat sie mir sehr Leid. Der ohnmächtige Zorn, der mich in jenem Raum befallen hatte, auch auf sie, die sie in diesem vergewaltigten Land alle Privilegien genossen hatte, war verflogen. Ich sah eine junge Frau alleine ankommen da unten am Hafen in einem fremden Land, unendlich weit weg von Familie und Freunden, keine Ahnung von der Sprache, ohne Vater für ihr Kind, das sich bald nicht mehr unterm weiten Dirndlrock verbergen ließ.

Zum ersten Mal spürte ich ein echtes Mitgefühl als Frau und konnte für einen Moment den Zorn der Töchter vergessen.

Ich setzte mich schweigend neben sie und nahm ihre kalten Hände.

«Schon komisch, da sitzt man hier und fragt sich, wo die Zeit hingekommen ist», sagt sie leise, «fünfzig Jahre - das kann doch gar nicht sein.»

«Siehst du die junge Anni da unten mit dem Schiff ankommen, ganz allein?», fragte ich nach einer Weile behutsam.

«Nein, wieso - ich bin mit dem Zug gekommen, und allein war ich auch nicht.»

Ach so?

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Ich schwieg wieder, mein Mitgefühl wich rasch der Neugierde: «Warum bist du eigentlich ausgerechnet nach Oslo versetzt worden, als du schwanger warst — du hättest doch sicher auch in einem anderen Heim entbinden können, warum denn nicht in Steinhöring?»

«Es hat doch niemand gewusst, dass ich ein Kind krieg! Du hast doch gar keine Vorstellung davon, was des für eine Schand' war für unsere Familie! Ich hab richtig Angst gehabt vor dem Martin! Und drum hab ich meinen Chef gebeten, mich so weit wie möglich von München zu versetzen — das Heim in Oslo war damals am weitesten entfernt! Freilich war des schwer, so weit weg von daheim und so fremd alles und kein Mensch zum Reden.»

Die Angst vor dem «großen Bruder» konnte ich gut verstehen — er war mein Vormund, und ich habe ihn gefürchtet! Aber: «Heißt das, dass du es nicht einmal deiner Mutter gesagt hast?»

«Nein, nur meiner Schwester habe ich es dann geschrieben, die hat's der Mama später langsam beigebracht, wie du schon in Tölz warst.»

Schon war ich wieder den Tränen nahe, ich umarmte sie. Das arme Mädchen! Obwohl, so jung war sie nun auch wieder nicht, immerhin fast dreißig — ich war noch keine zwanzig, als ich zum ersten Mal schwanger war.

Nein, jetzt nicht daran denken, wie sie mich behandelte, als ich es ihr «beichtete»! Ich hatte einen Vater für mein Kind, der sich darauf freute, und wir wollten heiraten.

Aber sie — wie konnte sie nur mit dieser Diskrepanz zwischen Ideologie und kleinbürgerlicher Moral zurechtkommen?

«Da hat man sich schon g'fragt, ob des hat sein müss'n, dass man die Schuld auf sich genommen hat, und warum man sich mit einem einzigen Fehltritt das Leben so versaut hat.»

Das ernüchtert, mein Mitgefühl «von Frau zu Frau» schwindet, der «Fehltritt» macht mich wieder zur Tochter, der es kurz die Sprache verschlägt.

«Wenn du mit dem Zug angekommen bist, müssen wir auch noch zum Bahnhof gehen.»

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Wieso eigentlich mit dem Zug?

«Bis Stockholm sind wir geflogen, und von da bin ich im Sonderzug vom Reichskommissar Terboven mitgefahren. Am Bahnhof sind wir mit Musik und Blumen begrüßt worden.»

Die kleine Angestellte, die sich zum Entbinden nach Norwegen hatte schicken lassen — im Flugzeug und im Sonderzug?

Wir brachen auf. An der Tür des Museums blieb sie kurz stehen:

«Und — hast du viele deutsche Uniformen geseh'n da drin?»

Ich nickte ganz langsam.

Ich setze mich im halb leeren Bus auf die andere Seite, um wie meine Mutter besser aus dem Fenster sehen zu können, und denke wieder an diese Gisela, der ich meinen Namen verdanke.

Wäre das nicht auch die Rettung für meine Mutter gewesen, wenn das Kind gestorben wäre nach der Geburt? Dann hätte niemand erfahren müssen, dass sie «einen Fehltritt» begangen hatte, dann wäre ihr Leben nicht «versaut» gewesen.

Aber das Kind war trotz anfänglicher Hässlichkeit gesund, «erbgesund» sogar, und sie hat es nach Ende des Mutterschaftsurlaubs wieder im Flugzeug, «zusammen mit einer Krankenschwester und mehreren Kindern», nach Deutschland gebracht und gleich bei ihrer Schwester in Bad Tölz abgegeben.

Im Grunde gehörte es auch genau dorthin, weil da alles angefangen hatte.

«Ich bin doch nur nach Tölz, weil es meiner Schwester so schlecht ging nach der Geburt vom Heini», war immer ihre Antwort auf die Frage, weshalb sie im Herbst 1937 ihre gute Stellung in München aufgegeben und sich um einen Posten in der neu errichteten Junkerschule beworben hatte.

Damals war meine Mutter zweiundzwanzig und arbeitete seit dem Abschluss der Handelsschule Riemerschmid schon seit drei Jahren als Sekretärin in einer angesehenen Firma in München. Viel lieber hätte sie ja Abitur gemacht, auf der richtigen Schule war sie schon gewesen, dem Mädchenlyzeum im Angerkloster. 

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Sie war eine sehr gute Schülerin, und die «Armen Schulschwestern» bedauerten es, dass sie die Schule nach der mittleren Reife verlassen musste. Aber der «kleine Bruder» hatte ebenso gute Noten auf seinem Gymnasium, und da nur ein Kind weiter Schulgeld beanspruchen konnte, war klar, dass die Entscheidung zugunsten des Jungen ausfiel, der schließlich irgendwann eine Familie zu ernähren hatte. Immerhin durfte sie noch die Handelsschule besuchen, weil Schreibmaschine, Stenographieren und Buchhaltung nicht auf dem Lehrplan des Lyzeums gestanden hatten. Mit dem doppelten Schulabschluss hatte sie bessere Chancen bei der Bewerbung um die begehrten Arbeitsstellen.

Sie wohnte noch in der elterlichen Wohnung, obwohl die Verhältnisse dort sehr beengt waren. Daran hatte sich durch den frühen Tod des Vaters zwei Jahre zuvor nicht viel verändert. Auch sie wollte dessen Schlafplatz im «Alkoven» — eine fensterlose Kammer neben dem Schlafzimmer — auf einer schmalen Ottomane nicht übernehmen. Lieber schlief sie weiterhin im Ehebett neben ihrer Mutter, das sie sich immerhin nicht mehr mit ihrer Schwester teilen musste.

Der Älteste hatte kurz vor dem Tod des Vaters endlich eine Stelle als Hilfslehrer bekommen und war aus der Abstellkammer in das größte und schönste Zimmer gezogen, weil er es sich jetzt leisten konnte, gleichsam als Untermieter bei seinen Eltern zu wohnen.

Bis dahin war dieser Raum immer an einen «Zimmerherrn» vermietet gewesen; das schmale Gehalt des Vaters reichte nicht, um die sechsköpfige Familie zu ernähren.

Obwohl sie auf das Geld angewiesen war, nahm meine Großmutter nicht jeden an. Der Untermieter musste schon ein «besserer junger Herr» mit Bildung sein, am liebsten ein Student aus gutem Hause. Er bekam das Frühstück auf seinem Zimmer serviert, das war ebenso wie Reinigung und Bettwäsche im Preis inbegriffen. Manchmal wünschten die Herren auch ein kleines Abendessen, Bratkartoffeln oder Spiegeleier.

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Das zuzubereiten und aufs Zimmer zu bringen war Aufgabe der Mädchen. Meine Mutter hasste es, einen hochnäsigen Studenten zu bedienen, besonders dann, wenn der joviale Bemerkungen machte oder ihr gar großzügig 20 Pfennige zuschob. Nur solange sie klein war, hat sie das Geld genommen, später fühlte sie sich gedemütigt und hat es übersehen.

Die Großmutter verdiente sich mit Waschen und Bügeln von Hemden und Unterwäsche noch ein kleines Zubrot, auf die paar Kleidungsstücke mehr kam es beim vierzehntäglichen Waschtag auch nicht mehr an. Der begann um vier Uhr morgens in der Waschküche des Gemeinschaftskellers mit dem Heizen des Kessels unter dem riesigen Zuber. Ob da noch ein paar Unterhosen und Hemden mehr in der Seifenlauge kochten, spielte wohl keine große Rolle. Allerdings mussten die Wäschestücke per Hand auf dem Waschbrett geschrubbt, mehrmals ausgewrungen, auf den Dachboden im fünften Stock geschleppt und dort aufgehängt werden.

«Manchmal habe ich am Abend meine Hände nicht mehr gespürt, und die Handgelenke taten tagelang weh», erzählte Großmutter mir viel später, als sie schon alt war und wir gemeinsam die großen Wäschestücke zum Waschsalon brachten. Sie konnte es gar nicht fassen, dass eine Maschine ihre Arbeit übernahm, während sie zusah und die Hände in den Schoß legen konnte.

Wie froh war sie also, dass sie endlich keinen Zimmerherrn mehr versorgen musste und auch der jüngste Sohn einen Raum für sich bekam.

Er hatte in der kleinen Stube neben der Küche auf der Eckbank am Esstisch geschlafen, seit er dem Gitterbettchen im Schlafzimmer entwachsen war. Jetzt konnte er in die frei gewordene Kammer umziehen. Das kleine Fenster des Abstellraums ging zwar nur zum Treppenhaus hinaus, und man musste es nachts ganz verdunkeln, damit man nicht von jedem späten Heimkehrer, der das Licht einschaltete, geweckt wurde. Gegen die schweren Schritte, die direkt am Fenster vorbeipolterten, half nur guter Schlaf. Bei allen Nachteilen war es doch immerhin sein eigenes Reich, endlich mit 18 Jahren, kurz vor dem Abitur.

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Lieber arbeitete er nun an dem winzigen Tisch in der düsteren Kammer, wo er seine Bücher und Hefte liegen lassen konnte und sie nicht bei jeder Mahlzeit vom Tisch räumen musste.

Bis der große Bruder ausziehen würde, konnte es auch nicht mehr allzu lange dauern. Schließlich war er schon dreißig und verlobt. Sobald er eine Planstelle als Lehrer bekommen würde und damit ein höheres Gehalt, würde er heiraten. Dann würde Mutter das große Zimmer bekommen und ganz nach ihrem Geschmack einrichten. Sie hatte schon angefangen, auf richtige Wohnzimmermöbel zu sparen. Die geschwungenen Möbel, die sie bei Strobel in der Bayerstraße gesehen hatte, sollten es sein: ein großes Büfett mit verglastem Aufsatz aus hoch poliertem dunklen Walnussholz und eine dazu passende kleine Kredenz, eine Chippendale-Bettcouch mit niedrigem Couchtisch dazu, zwei passende Sesselchen, die Polsterbezüge ein großzügiges grünes Blumenmuster auf hellem Grund.

Bis dahin schlief sie weiterhin im Ehebett rechts neben ihrer Mutter, wo sie immer geschlafen hatte, seit sie sich erinnern konnte. Früher hatte sie sich dieses Bett mit ihrer Schwester teilen müssen; sie war glücklich, dass sie seit deren Heirat vor drei Jahren endlich ein ganzes Bett für sich allein hatte!

«Aber dein Vater muss doch irgendwann in diesem Bett geschlafen haben!», wunderte ich mich, als meine Mutter mir diese Wohnverhältnisse zum ersten Mal schilderte. Sie habe sich, als sie erwachsen war, selbst gefragt, wie es überhaupt zum Zeugungsakt zwischen ihren Eltern hatte kommen können, gestand sie dann. Niemals habe sie auch nur den Hauch einer Zärtlichkeit zwischen den beiden erlebt, keine Berührung, kein Streicheln, schon gar keinen Kuss — wie war es da «zu mehr» gekommen? Und vor allem wann und wo? Ihre acht Jahre ältere Schwester jedenfalls hatte auch schon im Ehebett geschlafen, seit sie sich erinnern konnte!

Aber irgendwie muss «es» gelegentlich passiert sein: Immerhin wurde sie nach größerem Abstand von den ersten beiden Kindern geboren, zwei Jahre später der jüngste Bruder und wieder einige Jahre danach hatte ihre Mutter wohl einen «Abgang». 

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Meine Mutter erinnert sich jedenfalls genau, wie sie eines Morgens aufgewacht war, weil das Bett ganz feucht war, und sie erschrocken befürchtete, ins Bett gepinkelt zu haben. Es war aber Blut, das eindeutig aus der Mutter herausfloss; deren Nachthemd war ganz rot. Sie habe voller Angst aufgeschrien, und erst ihr Schrei habe die Mutter geweckt, die wie tot dagelegen habe und so schwach gewesen sei, dass sie nicht aufstehen konnte. Der Vater sei weggelaufen, um einen Arzt zu rufen, und der sei gleich mit Sanitätern zurückgekommen. Auf einer Bahre trugen sie die Mutter weg, eine Nachbarin nahm sie und den kleinen Bruder zu sich, die beiden Großen mussten zur Schule. Erst nach Tagen war die Mutter zurückgekommen, sehr bleich und lange noch schwach. Niemand habe den Kindern erklärt, welche «Krankheit» die Mutter so habe bluten lassen. Erst viel später, nach der Geburt des ersten Enkelkindes, habe sie der älteren Tochter erzählt, dass sie damals ein fünftes Kind «verloren» hatte. Sie hätte auch wirklich nicht gewusst, wie sie das noch hätte unterbringen können: «Du weißt doch selbst, wie eng's bei uns war.»

Mein Großvater hatte im Jahr 1903, kurz nach der Heirat mit der Lehrerstochter Auguste, ohne Beruf, seinen Posten als berittener Gendarm in der unterfränkischen Kleinstadt - unweit des Dorfes, in dem beide Großeltern geboren und aufgewachsen waren — aufgeben müssen und wurde ganz unerwartet als «Königlicher Sortierbriefträger» in die Landeshauptstadt versetzt. Meiner Großmutter war das gar nicht recht:

«Schad', dass er die Uniform hat auszieh'n müssen», erzählte sie gern mit einem Achselzucken, «so schön war er danach nicht mehr!»

Dann lachte sie, und in ihren alten grauen Augen blitzte es ein wenig: «Auf seinem Rappen ist er dahergekommen, als er beim Vater um meine Hand angehalten hat, da hat er schon stattlich ausg'schaut, der oide König, als <Schwollische>!»

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Viel später ist mir klar geworden, dass sie mit diesem merkwürdigen, mir als Kind gänzlich unverständlichen Wort den «Chevalier» gemeint hatte!

Als ob er keinen Vornamen gehabt hätte, sprach sie übrigens nie anders von ihrem Mann als vom «alten König».

«Er hat doch Kaspar geheißen», hatte ich irgendwann als Kind herausgefunden, «warum sagst du immer <der oide König>?»

«Weil er immer schon ein alter Mann war, schon bei der Heirat, da war ich zwanzig und er fast doppelt so alt.»

«Warum hast du denn einen so alten Mann geheiratet?»

«Weil mein Vater froh war, dass wieder eine von seinen Töchtern versorgt war.»

Diese Antwort konnte ich ebenso wenig verstehen wie die Behauptung, dass einer mit nicht ganz vierzig schon ein alter Mann sein sollte. Leider gab es kein Hochzeitsbild von den Großeltern, das war beim Bombenangriff verbrannt. Ich kannte nur den gestrengen alten Herrn mit dem weißen Schnauzbart auf dem Foto im breiten Silberrahmen. Das stand auf der Kredenz im Wohnzimmer direkt unter dem düsteren Gemälde eines Mannes, der dem auf dem Foto so ähnlich sah, dass ich lange glaubte, das sei auch mein Großvater.

Diese merkwürdige, golden schimmernde Kopfbedeckung hielt ich für die «Pickelhaube», von der die Großmutter erzählt hatte. Die gehörte zur Gendarmenuniform, die er nach der Hochzeit hatte ausziehen müssen, also war es vorher schon gemalt worden; er sah damals wirklich schon ganz schön alt aus ...

Ich mochte das Bild nicht, weil es so duster war, es flößte mir Respekt ein, und als kleines Kind hatte ich Angst vor dem unheimlichen Mann, wenn ich in der Dämmerung das Zimmer betrat und der Goldhelm ein wenig aufleuchtete und vom Gesicht nur der weiße lange Schnauzbart zu erkennen war.

Ich habe mich nicht getraut zu sagen, dass es mir lieber gewesen wäre, man hätte das Bild vertauscht gegen ein helles Bild wie bei anderen Leuten, Sonnenblumen vielleicht oder eine heitere Landschaft. Das Bild musste da wohl hängen, weil der Großvater sich in seiner schönen Uniform hatte malen lassen, und jetzt war er schon lange tot und meine Mutter wollte das Gemälde ihres Vaters, meine Großmutter das ihres Mannes nicht entfernen.

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Als ich alt genug war zu überlegen, dass es doch sehr teuer gewesen sein müsse, sich von einem richtigen Maler porträtieren zu lassen, und das gar nicht zu den vielen Geschichten über die Armut der Familie passen wollte, lachten sie wieder über mich:

«Was geht nur in dem Kopf von dem Kind vor? Auf Ideen kommst du!»

Meine Mutter sagte, das sei nicht der Großvater, sondern ein ganz berühmtes Bild von dem berühmten Maler Rembrandt und freilich auch nicht das wirkliche Bild — das sei ganz kostbar und hänge jetzt in einem Museum in Berlin. Dies sei nur ein Druck. Recht hätte ich allerdings mit der Ähnlichkeit, die sei so frappierend, dass meine Mutter damals noch das Original immer wieder in der Alten Pinakothek in München angeschaut hätte. Als sie später den Druck in dem schönen Goldrahmen beim Hanfstaengel im Schaufenster entdeckte, habe sie ihn gekauft und das Bild ihrer Mutter zu Weihnachten geschenkt.

«Da war er schon tot, es hätte ihm bestimmt nicht gepasst, dass wir es aufgehängt haben!»

Auch nach dem Tod der Großmutter blieb das Bild genau an derselben Stelle hängen, und als meine Mutter zu uns zog, war es unter den wenigen Sachen, die sie mitnahm. Es hängt jetzt in ihrem Zimmer im Altenheim, und der «Vater» wird sie wohl bis zu ihrem Tod nicht aus den Augen lassen.

Die Gründe, warum der Großvater so plötzlich nach München versetzt wurde und vom Polizeidienst zur Post wechselte, wurden nie erörtert. Ganz beiläufig erfuhren die Kinder nur, dass er im gleichen Jahr nach München versetzt worden war, in dem sein älterer Bruder nach Amerika ausgewandert war.

Als junge Frau besuchte ich in Amerika die Nachkommen des Bruders meines Großvaters. Dieser Georg, so erfuhr ich, sei ein «jolly good fellow» und seinen sechs Kindern ein liebevoller Vater gewesen, der sich nie recht einleben wollte in der Fremde. So habe er den Kindern verboten, zu Hause Englisch zu sprechen, er selbst habe nur die notwendigsten Brocken der fremden Sprache gelernt und immer Heimweh nach seiner Rhön gehabt.

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Allerdings sei er sehr jähzornig gewesen, man durfte ihn nicht reizen, sonst konnte es schon vorkommen, dass Geschirr und Möbel zu Bruch gingen. Vielleicht sei das ja der Grund gewesen, dass sich in der Familie das hartnäckige Gerücht hielt, er habe in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Deutschland fluchtartig verlassen müssen, weil er im Streit versehentlich einen anderen erschlagen habe. Wahrscheinlich habe sein jüngerer Bruder Kaspar davon gewusst, vielleicht sei er sogar dabei gewesen und habe ihn gedeckt oder als Gendarm die Ermittlungen behindert.

Jedenfalls hat wohl auch Kaspar sein geliebtes Unterfranken nicht freiwillig verlassen, er wäre wahrscheinlich genauso gern wie seine Frau im vertrauten Rhöndorf geblieben. In München ist er nie heimisch geworden, er kam mit den «Stadtmenschen» nicht zurecht und hat sich auch mit dem neuen Beruf nicht abgefunden. Nach ein paar Jahren Postsortierens — er musste das Haus bereits vor Morgengrauen verlassen und verlangte von seiner Frau, mit ihm aufzustehen und ihm das Frühstück um 4 Uhr früh herzurichten — wurde er zum Postassistenten befördert. Jetzt konnte er zwar später aus dem Haus gehen, und meine Großmutter musste nicht ganz so früh aufstehen, aber ihre Hoffnung, dass nun mit stetigem Aufstieg in der Beamtenlaufbahn künftig auch das Gehalt so wachsen würde, dass man auf den «Zimmerherrn» verzichten könne, erfüllte sich nicht.

«Ein König erfüllt seine Pflicht», pflegte er zu sagen oder auch: «Es ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, zum Dienst zu gehen», und so ging er täglich klaglos den kurzen Weg zur Hauptpost am Bahnhof, auch wenn er krank war, im Winter oft von Bronchitis gequält. Er war immer korrekt gekleidet, in schwarzem Anzug und weißem Hemd, und bestand darauf, dass seine Frau ihm täglich einen frisch gestärkten Kragen und steife Manschetten vorlegte. So erfüllte er seine Arbeit wohl gewissenhaft, aber ohne Ambition, jedenfalls kam es zu keiner weiteren Beförderung, er ging als Postassistent in Pension und starb nach einem halben Jahr schwer hustend, am Ende Blut spuckend, angeblich an Lungenentzündung.

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Auch sein Privatleben unterlag strengen Regeln. Wenn er abends pünktlich heimkam, musste das Abendbrot bereits auf dem Tisch stehen, die Kinder ihn dort mit gewaschenen Händen erwarten. Er stellte dann einige Fragen, die sich auf die Schule bezogen und die beantwortet werden durften, ansonsten hatten die Kinder zu schweigen. 

«Beim Essen spricht man nicht.» Jedenfalls nicht als Kind. Er richtete manchmal auch das Wort an seine Frau, ansonsten schwieg auch sie.

Nach dem Essen zog er sich mit seiner Zeitung in den einzigen Sessel zurück, ein alter speckiger Ledersessel, den er sich als Erbstück von seinem Vater erbeten hatte. Die Kinder mussten die Stube verlassen, weil er seine Ruhe brauchte. Das war schwierig für sie, weil es keinen rechten Platz zum Spielen gab in der winzigen Küche oder auf dem Flur, wo man freilich auch flüstern musste. So suchten sie nach Spielgefährten, die man besuchen konnte.

 

Meine Mutter ging am liebsten in die große Wohnung im ersten Stock zu ihrer Freundin Ilse, die sogar ein eigenes Zimmer ganz für sich allein hatte! Das wurde aber nicht so gern gesehen, weil Ilses Vater der neue Hausbesitzer war, der Viehhändler Vollmer. Er war nicht «blutsaugerisch» wie viele andere, ja, es kam sogar vor, dass er ein Auge zudrückte beim Mietezahlen, wenn er gut gelaunt war. Das war er meistens, weil die Geschäfte gut liefen, sonst hätte er es sich nicht leisten können, zum Hinterhaus jetzt auch noch das Vorderhaus dazuzukaufen. Am Ersten des Monats gab er sich oft mit der halben Miete zufrieden, weil er wusste, dass die arme Frau König mit ihrem Geld nicht zurechtkam. Die Schulen haben mit dem Schulgeld nicht gewartet, bis sie genug gewaschen und gebügelt hatte. Aber Herr Vollmer wusste, dass sie ihm die Schulden vor Monatsfrist auf Heller und Pfennig zurückzahlen würde.

Freundliche Leute also, die Vollmers, aber Juden halt doch, keine Manieren und ohne Contenance. Es ging halt zu bei denen «wie in einer Judenschul'»: laut und undiszipliniert. Meine Mutter fand das gar nicht, sie war froh, dass man dort lachen konnte und Ilses Eltern fröhlich waren, auch wenn sie ab und zu laut miteinander stritten.

Die Vollmers sind dann irgendwann «abgeholt» worden eines Nachts, das war wahrscheinlich 1940, jedenfalls waren sie schon «weg», als meine Mutter aus Tölz zurückkam.

«Die Ilse war doch deine Freundin, du musst dir doch Gedanken gemacht haben, wo die Familie hingekommen ist!»

«Was heißt Freundin, als Kind schon, später waren wir doch zu verschieden. Und sie ist auch irgendwie nach England, glaub ich, ich hab nichts mehr von ihr gehört später. Und Gedanken hat man sich keine gemacht, wenn Juden abgeholt worden sind — es hat halt g'heißen, die Juden werden alle <umgesiedelt>.»

Wahrscheinlich wurden sie gerade mal in den Stadtteil Milbertshofen umgesiedelt, in das große Münchner Lager auf dem heutigen BMW-Gelände, und von dort aus mit dem ersten Transport vom Güterbahnhof nach Kaunas in Litauen deportiert, wo sie ermordet wurden.

«Was, glaubst du, war die wichtigste Eigenschaft deines Vaters?», fragte ich meine Mutter einmal. «Er hat nie gelacht», antwortete sie, ohne nachzudenken.

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