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Zum Verständnis der Werke 

von Klaus J. Heinisch 

§ 1  bis   § 25

Alles Gescheite ist schon gedacht
worden; man muß nur versuchen, 
es noch einmal zu denken.  
Goethe

1 Die literarische Gattung des Staatsromans (216)  

2 Die Wurzeln des utopischen Sozialismus (217) 

Die Bedeutung der Utopien für die Gegenwart (218)    

4 Das <utopische> Wesen des Menschen   (219)

Individualismus und Kommunismus der Renaissance (220)

6 Die Überschätzung des Intellekts in der Renaissance  (222)

 

    1  Die literarische Gattung des Staatsromans    

216-222

Die Wissenschaft hat sich mit der literarischen Gattung des Staatsromans (R.Mohl) — der Utopie, wie dieser nach dem klassischen Werke des Staats­kanzlers Heinrichs VIII. von England gewöhnlich genannt wird — eingehender beschäftigt, als es zuweilen den Anschein haben mag. Die am Ende dieses Buches angeführte Literatur gibt davon hinreichend Zeugnis. 

Es ist daher erstaunlich, daß außer der <Utopia> des Thomas More heute kaum einer der älteren Staatsromane in einer modernen Übersetzung greifbar ist, während doch seit den Tagen der Renaissance die Staatslehre und Staatsbildung nicht nur theoretisch, sondern auch vielfach praktisch die Folgerungen aus ihren allgemeinen und besonderen Gedankengängen zu ziehen versuchte.

Wie auf so vielen anderen Gebieten des Denkens, so hat auch auf dem der Staatsphilosophie der Humanismus in bewußter Anlehnung an die Antike bahnbrechend gewirkt. Der gemeinsame Grundzug seiner und damit auch aller späteren Staatsromane ist daher in der stolzen und zuversichtlichen Hervorhebung und der selbstsicheren Betonung des seines Eigenwertes gewissen, weil eben erst bewußt gewordenen Geistes, in einem zukunftsfrohen und zukunftsträchtigen Intellektualismus zu sehen.

Der vorliegende Band enthält die drei hervorragendsten Staatsromane des Humanismus: 

Alles, was menschlicher Scharfsinn seit dem Altertum, seit Platon und Aristoteles, Cicero und Augustinus, an sozialen Theorien entworfen hat, ist hier, an der Schwelle der modernen Zeit, in kühnen und doch oft überraschend wirklichkeitsnahen Bildern wiedergegeben. Wie den beiden Briten die geographisch und politisch bedingte Verfassung ihrer eigenen Insel, so schwebt dem Calabresen bei seiner Schilderung des Sonnenstaates der autoritäre Beamtenstaat des Königreichs Sizilien unter dem gigantischen Macht- und Willensmenschen Friedrich II., dem Kaiser aus dem Geschlechte der Staufer, vor, dessen Züge in dem <Sol> des Sonnenstaates deutlich zu erkennen sind. 

 

   2  Die Wurzeln des <utopischen Sozialismus>   

 

Andererseits enthalten die drei Staatsromane der Renaissance ganz unverkennbar die Keime und Wurzeln des gesamten <utopischen Sozialismus> der späteren Zeit. Kann man bei der <Newen Ordnung weltlich stanäts> in dem Lande <Wolfaria> des Franziskaners Johann Eberlin von Günzburg noch an einer unmittelbaren Beziehung zu Mores <Utopia> zweifeln, so ist die <Christianopolis> des Johann Valentin Andrea bereits eine bewußte, der <Mundus alter et idem> des Joseph Hall eine versteckte, dafür aber um so stümperhaftere Nachahmung des <Sonnenstaats>.

Von größerer Originalität zeugen noch im selben Jahrhundert die <Nova Solyma> Samuel Gotts, das glückliche <Sevarambien> des Denis Vairasse und die <Oceana> James Harringtons, während der <Leviathan> des Thomas Hobbes dank der Genialität seines Verfassers trotz aller eindrucksvollen Bildhaftigkeit eine neue, weit mehr theoretisch gerichtete Abart der Staatsromane begründet, deren Vertreter in den folgenden Jahrhunderten in Rousseaus <Contrat social>, in Fichtes <Geschlossenem Handelsstaat> ebenso Rang und Geltung gewonnen haben wie auf der sozialpolitischen Ebene in Fouriers <Nouveau monde industriel et sociétaire> und Robert Owens <New moral world>.

217


Dagegen nehmen die legitimen Nachfolger der romanhaften Utopie im 18. Jahrhundert eher spielerischen oder wenigstens sensationshungrigen Charakter an. Man kann das schon an der <Basiliade> des sonst so unerbittlich prinzipiellen Morelly feststellen, noch deutlicher aber bei Réstif de la Bretonne und Voltaire und selbstverständlich auch in Fontenelles <Histoire des Ajoiens>, ebenso noch in den weit mehr von sozialer Verantwortung getragenen Entwürfen des 19. Jahrhunderts, im <Ikarien> Etienne Cabets, im <Freiland> Theodor Hertzkas sowie in den späteren utopischen Zukunftsromanen von Edward Bellamy bis George Orwell und Aldous Huxley, die bezeichnenderweise immer mehr pessimistische Züge annehmen.

So sehr alle diese Utopien «im Grunde die eigene Zeit des Autors schildern», so sehr sind sie eben «Spielarten unseres Wesens und zeichnen dessen Konsequenzen in einem Raume von bedeutenderer Schärfe» (E. Jünger). Somit erweisen sie, gerade durch ihren <utopischen> Charakter, die Irrationalität des Menschen, dessen Wesen sich — bisher wenigstens — jeder Berechenbarkeit zu entziehen wußte. Sie liefern daher e contrario den Beweis für die Wesenhaftigkeit der menschlichen Freiheit, die gerade da triumphiert, wo sie überwunden werden soll, und die als unabänderliche Gegebenheit jeder menschlichen Gemeinschaft die ständige Aufgabe stellt, ihr gerecht zu werden. 

 

   3  Die Bedeutung der Utopien für die Gegenwart   

 

Damit ist die Bedeutung der Utopien für die jeweilige lebendige Gegenwart bereits umrissen. Sie ist zentral zu sehen, auf den Kern des menschlichen Wesens gerichtet. Die historische oder gar die philologische Rolle der in Frage stehenden Texte ist bloß insoweit in ein neues oder vielmehr nur maßgerechteres Licht zu setzen, als das zum unmittelbaren Verständnis unerläßlich ist. Darüber hinaus jedoch ist zu versuchen, das Wesentliche ihres Inhalts in seiner Beziehung auf die lebendige Gegenwart, auf uns selbst zu erkennen.

Neben der beiläufigen Frage, welche Absicht der <poetischen> Darstellung staatswissenschaftlicher Theorien bei den drei Verfassern des 16. und 17. Jahrhunderts zugrunde gelegen haben mag, wird also die nach der Wirklichkeitsnähe ihrer Gedanken in den Mittelpunkt einer kritischen Betrachtung zu stellen sein. In dieser sollte demnach weniger von den mannigfachen philosophischen und literarischen Einflüssen, die sich seit Xenophon und Platon, Aristoteles und Augustinus in der Gestaltung und Bewertung eines Idealstaates und insbesondere in der Staatsauffassung der Renaissance ausgewirkt haben, die Rede sein, als von ihrer spezifischen Geschichtlichkeit, sowie von der Art und Weise ihrer theoretischen Darstellung und praktischen Bewährbarkeit in der jeweiligen geschichtlichen Gegenwart, kurz gesagt: inwieweit es sich um historisch wirksame Theorien oder um Utopien von zweifelhafter Unterhaltsamkeit handelt. 

Angesichts der modernen Lösungsversuche in Politik und Literatur sind ja die von den drei großen Denkern des Humanismus entworfenen Bilder bis in ihre letzten Einzelheiten von höchstem soziologischem Interesse. Denn die Grundprobleme des menschlichen Zusammenlebens in Familie, Gemeinde und Staat sind eben trotz aller äußeren Veränderungen dieselben <innermenschlichen> geblieben. 

218


   4  Das <utopische> Wesen des Menschen   

 

Der Mensch ist ein zwiespältiges Wesen. Zwischen den äußersten Gegensätzen der lichtlosen Dumpfheit des Instinktes und der strahlenden Selbstgewißheit des Geistes, zwischen der Göttlichkeit der schöpferischen Freiheit und dem unbewußten Drang der Triebe fühlt er sich unsicher schwankend und zutiefst fragwürdig, von der einen Seite zauberhaft angezogen, der anderen offenbar rettungslos verfallen. Mit allen seinen Kräften strebt er zum Licht und ist doch dem dunklen Schöße der mütterlichen Erde unverbrüchlich verhaftet. So verfällt er immer wieder unversehens in den Zweifel: in jenen Zweiheitsglauben, jenen Dualismus, der Sein und Bewußtsein, Geist und Körper, Leib und Seele sich gegenüber- und entgegenstehen und ihren niemals endenden Kampf führen sieht, einen Kampf, der zudem nirgends anders als eben in ihm, dem Menschen selbst, ausgetragen werden kann.

So schwankt denn der Mensch auch zwischen dem stillen und ruhigen Glück der Geborgenheit in der Gemeinschaft, der scheinbaren Verantwortungs­losigkeit der Masse, des tierhaften Herdenlebens und dem erregenden Rausche der Macht des Einzelnen, der schrankenlosen Selbstbestimmung, dem Triumphe des Herrschafts- und Herrschergedankens. Beides erscheint ihm als Wert, beides erstrebt er daher mit dem Einsatz aller seiner seelischen und körperlichen Kräfte und Fähigkeiten, weil das eine wie das andere ihm jeweils die Erhaltung seines eigenen unendlich kostbaren Daseins zu gewährleisten verspricht. Aber beides zugleich kann er niemals erreichen, da Macht und Geborgenheit, Verantwortungslosigkeit und Selbstbestimmung, Herrschertum und Herdenleben ewig unvereinbar sind.

Der Gedanke des sinnvollen Ganzen, in dem Tier und Gott so völlig und restlos aufgehen, daß die absolute Harmonie, das Glück auf Erden, verwirklicht ist, scheint, obwohl oder gerade weil vom Menschen gefaßt, allein für ihn nicht zu gelten — scheint, denn in Wahrheit steht der, der ihn fassen mußte, im unmittelbarsten Bezüge zu ihm. Bloß ist das Ganze des Tierreichs und das Ganze der Gottheit weder an sich noch als Summe oder als Produkt das Ganze der Menschheit.

219


Der Mensch vielmehr ist ein Grenz- oder Mittelwesen, und seine Einordnung in das Ganze der Welt besteht in der Innehaltung der ihm angemessenen Mittelstellung, in der Achtung und Beachtung also seiner doppelten Bindung an Notwendigkeit und Freiheit, an Seele und Leib, Körper und Geist, Individuum und Gemeinschaft.

Das ist der wahre Sinn des goldenen Mittelweges der organischen Welt- und Lebensauffassung, deren unsterblicher Entdecker — für uns wenigstens, denn das chinesische Denken kennt ihn seit Lao-tse und länger — Aristoteles ist, der «die Realität des Staates» eben nicht «in einer bestimmten Zahl begrifflicher Elemente» (Dilthey) darstellen wollte, sondern nur die metaphysische Idee gab. Er kennzeichnet damit die Über- oder Unvernünftigkeit des Menschen, seine Irrationalität, und zugleich die seines Weges.

Jede Abirrung von diesem Wege aber ist ein theoretisch erlaubter, praktisch jedoch wahrhaft verhängnisvoller Schritt: eine <Utopie> in des Wortes ureigenster Bedeutung. Denn da, wo nur der Geist herrscht, ist (noch) <kein Ort> für den Menschen, und da, wo nur dem Körper sein Recht wird, ist ebenfalls <kein Ort> (mehr) für ihn.

Der Theorie jedoch, die das Mögliche schaut, weil es möglich ist — und alles ist möglich, was geschaut werden kann, denn nur das kann geschaut werden, was möglich ist —, bleibt ein weites Feld in der Zusammenschau beider Bereiche, in der Aufgabe, die lebensfähige und fruchtbare Verbindung des Einen mit dem Ganzen zu suchen und zu finden: die Lebensform, die dem notwendigen Gemeinschaftsleben und dem freien Einzelleben genugtut.

 

   5  Individualismus und Kommunismus der Renaissance    

 

Es ist kein Zufall, daß am Anfang und am Ende der Spätzeit des geistesfrohen italienischen Rinascimento, das ja seinen Namen mit einer gewissen Berechtigung von der Wiedergeburt des Menschen als Menschen, als selbstbewußten Trägers einzelmenschlichen Geistes und nicht minder selbstbewußten Verfechters seiner Rechte ableitet, zwei Staatstheorien stehen, deren <utopischer> Charakter weder gewollt noch begründet ist, sondern selbst in dem literarischen Gewande der zweiten von ihnen seine theoretische Wesensart zu behaupten und zu erweisen versucht hat. Aber es ist genauso sinngemäß, daß diese beiden Theorien und ihre Träger in einem erklärten und zumal bei dem späteren von ihnen nachdrücklichst betonten Gegensatz stehen.

220


Daß es sich hierbei um den krassen Individualismus Niccoló Machiavellis einerseits und den nicht weniger radikalen Kommunismus Tommaso Campanellas andererseits handelt, ist unschwer zu erraten, und es tut wenig zur Sache, daß dieser als getreuer Schüler Platons und Thomas Mores seine kommunistischen Ideale in mönchischer Verzücktheit überspitzt, während jener die Errungenschaften seiner ichbegeisterten Zeit in unbedenklicher, ja zuweilen unbedachter Nüchternheit kühl und sachlich darlegt und auf das staatliche Leben anzuwenden empfiehlt.

Und wenn schon die innere, so ist erst recht die äußere (literarische) Form, die beide Denker ihren Gedanken gegeben haben, von zweitrangiger Bedeutung. Denn entscheidend ist hier, wie immer in politischen Angelegenheiten, der Zweck, und zwar der beabsichtigte und der erreichte, der in beiden Fällen deutlich genug auf der Hand liegt, wenn auch die Geschichte zunächst nur dem Florentiner Recht zu geben und das leidenschaftlich erstrebte Ziel des Calabresen in dem Zusammenbruch einer lokal begrenzten Revolution endgültig zu begraben schien.

Unter der Oberfläche nämlich schwelten seine Ideen, eben weil sie der einen der beiden Richtungen des menschlichen Selbsterhaltungstriebes entsprechen, weiter, flammten hie und da in Weltverbesserungs­versuchen und in den kommunistischen und sozialistischen Utopien der Andrea, Vairasse, Harrington, Morelly, Fontenelle, Restif de la Bretonne, Voltaire, Fourier, Owen, Cabet, Bellamy und Hertzka auf, um schließlich durch das Kommunistische Manifest und die entsprechende Staatstheorie von Karl Marx und Friedrich Engels zu einem unzweideutigen Weltbrande aufzulodern.

Aber nicht nur diese, vielleicht nur mittelbare und in der Denknotwendigkeit der Gemeinschaftsidee begründete Wirkung, nicht nur der leidenschaftlich verfochtene und mehr oder weniger geschickt verteidigte kommunistische Gedanke verleiht dem <Sonnenstaat> Campanellas seine überzeitlich theoretische Bedeutung, sondern vor allem die ihm genau entgegengesetzte und widersprechende, aber besonders das 16. und 17. Jahrhundert beherrschende und daher schlechterdings nicht zu umgehende Berücksichtigung des einzelmenschlichen Machtstrebens, des erkennenden Geistes des zu sich selbst erwachten Individuums.

Es ist daher auch nur allzu verständlich, daß viele Beurteiler der Staatsideen Campanellas (Doren, Gothein, Meinecke) auf seine starke Abhängigkeit gerade von dem von ihm so grimmig befehdeten Machiavelli hinweisen. 

 221


    6  Die Überschätzung des Intellekts in der Renaissance   

 

Denn im Grunde sind sich beide Italiener in der Frage der radikalen Machtpolitik einig, während andererseits die vernünftige Wohlfahrtspolitik Sache der Engländer, Mores also und Bacons, ist. 

Während also hier der Erziehung zum Staate das Wort gesprochen wird, steht bei Machiavelli und Campanella mehr der Zwang zum geordneten Zusammen­leben im Vordergrund.  

Aber mögen die Zeitgenossen More und Machiavelli auch «weltanschauliche Gegensätze von unabsehbarer Tragweite» (Oncken) trennen, so eint sie doch der Glaube an den Geist als den Beherrscher der Materie genauso wie ihre Nachfahren Campanella und Bacon.

Denn in dieser Achtung des Intellekts, dieser Hoch-, ja vielleicht sogar Über-Schätzung der Macht des Wissens, liegt ebenso der gemeinsame Ausgangs­punkt des <Principe> und der <Utopia> wie das verbindende Element des <Sonnenstaats> und der leider nur abgebrochen angedeuteten Verfassung der Insel <Neu-Atlantis>, so verschieden die Ansichten und Absichten gerade ihrer Verfasser, deren Herkunft entsprechend, auch sonst gewesen sein mögen. 

Ja, gerade der ungeheure Abstand, der zwischen den Lebensumständen des trotz aller, vielleicht selbstverschuldeten, Anfeindungen und Enttäuschungen hochgeachteten und vor allem völlig unabhängigen englischen Weltmannes und des verfolgten und verfemten, gefolterten und eingekerkerten, niemals in seinem Leben ganz freien italienischen Mönches liegt, gibt hinsichtlich der Gemeinsamkeit ihrer Anschauungen entscheidende Anhaltspunkte. 

Wenn nicht die Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen, der Gegensatz zur erlebten Wirklichkeit, der Drang, das Bild einer besseren Welt vor die Augen der Zeitgenossen zu stellen, so war es doch bei beiden, wie schon bei Thomas More, die einsame Schau des, freilich eben utopischen, Ideals, die sie zur bewußten Gestaltung zwang.

Gewiß haben also auch die besonderen Lebensverhältnisse ihrer Verfasser zu dem Zustandekommen wie schon zur Konzeption aller drei Utopien ihr Teil beigetragen und lassen daher gewisse Rückschlüsse auf deren Wesen und Inhalt zu.

222

 

 

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