1 Demokratie — vom Schlagwort zum Reizwort
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Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der Demokratieverdrossenheit. Bisher trat es verschleiert unter den Namen "Politikverdrossenheit" und "Staatsverdrossenheit" auf. Das sind Verschleierungen, weil es um eine bestimmte Art von Politik und von Staat geht, die so pauschal benannt eher unbenannt und unerkannt bleiben. "Parteienverdrossenheit" kommt der Sache schon bedeutend näher. Nur wird dieses Wort von Parteileuten, die gern gegen "Politik-" und "Staatsverdrossenheit" polemisieren, nicht in den Mund genommen. Es kommt der bitteren Wahrheit zu gefährlich nahe.
"Demokratie" war eines der größten Schlagwörter des 20. Jahrhunderts. Rückblickend könnte es einmal als das größte und zentrale des vergangenen Jahrhunderts überhaupt gelten, wie "Fortschritt" für das 19. und "Aufklärung" für das 18. Was allein dagegen spricht, ist dies Eine: Dass dieses Schlagwort ein bisher unerfülltes Versprechen geblieben ist, dass wir auch in den demokratischen Ländern allenfalls in einer Halbdemokratie leben. Genauer werden wir allerdings von einer Vierteldemokratie sprechen müssen. So genau kann sich leider das allgemeine Unbehagen nicht artikulieren.
Fragen Sie sich vorher noch ganz unbefangen und ehrlich, verehrter Leser: "Glauben" Sie an unsere gegenwärtige Demokratie? In dem Sinn, dass unsere in Deutschland und seinen westlichen Nachbarn bestehenden öffentlichen Zustände der Idee von Demokratie sehr nahe kommen?
Definieren wir kurz diese Idee als: die Idee einer Selbstregierung des Volkes unter möglichst allseitiger Teilnahme. Es ist offensichtlich zweierlei, dieser Idee anzuhängen, und unsere gegenwärtigen Zustände für voll oder wenigstens befriedigend demokratisch zu halten.
Dieses Manifest wie schon das umfangreichere Demokratiebuch (von 2003) richtet sich nur an Menschen, die der Idee der Demokratie ernsthaft anhängen. Damit sind Missverständnisse schon einmal ausgeschlossen, was Extremisten linker oder rechter Couleur angeht. Ich wünsche sie mir nicht als Trittbrettfahrer — es sei denn, sie ändern ihre extremistischen Haltungen. Haltungen und Denkweisen zu ändern traue ich jedem einigermaßen intelligenten Menschen allerdings jederzeit zu. Von dieser Chance sollte keiner ausgeschlossen werden.
Es gibt vorsichtshalber keine offiziellen Umfragen zu der eben gestellten Frage, genauer gesagt zu den beiden Fragen:
Glauben Sie, dass wir echte, befriedigende Demokratie haben?
Glauben Sie an die Idee der Demokratie?
Das Ergebnis wäre zweifellos ernüchternd, ja vernichtend. Das können Sie durch persönliche Umfragen im Bekanntenkreis derzeit leichter als je feststellen — es sei denn, Sie würden hauptsächlich in der so genannten "politischen Klasse" verkehren. Diese macht sich nämlich immer noch vor, sie würde die Bevölkerung repräsentieren. Dazu genügt es aber nicht, wenn der eine oder andere Vertreter dieser Klasse es auch einmal opportun findet, bei den derzeitigen Hartz-
IV-Protesten mit zu demonstrieren. Man hat noch keine Vertreter dieser Klasse gesehen mit Plakaten wie etwa Revolution der Demokratie statt Kurieren an Symptomen. Hier aber liegt der ganze, feine Unterschied.Nun gibt es durchaus Menschen, auch außerhalb der politischen Klasse, die zögern mit ihrer Antwort auf die erste Frage, weil sie "realistisch" sein wollen.
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Für diese einflussreichen und sehr respektablen Realisten, die ich unter meinen Lesern auch vermute, möchte ich folgende beliebten Vorurteile oder Halbwahrheiten kurz diskutieren:
1. Demokratie ist eine ziemlich schlechte Staatsform, aber es gibt keine bessere. (Churchills Diktum)
Darauf antworte ich: Es gibt in der Tat keine bessere Staatsform als Demokratie, im Sinne unserer vorläufigen Definition, also einer tendenziellen Identität von Regierenden und Regierten. Einzige "kleine Schönheitsfehler": Sie ist bis heute weder hinreichend durchdacht noch verwirklicht. Es gibt dagegen zuviel Verliebtheit in die Unvollkommenheit: meist als Weisheit und Realismus getarnte Trägheit oder Opportunismus der Wohlsituierten.
2. Die politische Wissenschaft zeigt, dass die Menschen doch im Großen und Ganzen mit der Demokratie zufrieden sind.
Die politische Wissenschaft hat aber in der überwiegenden Mehrheit ihrer Vertreter nicht den Mut zuzugeben, wie extrem unzufrieden die Menschen mit der real existierenden Demokratie sind. Und nicht die Courrage, die Berechtigung dieser Unzufriedenheit anzuerkennen. Auch die politische Wissenschaft wird von Menschen betrieben, die der politischen Klasse in der Regel nicht gerade fern stehen, die meist sogar — über Professorenstatus und -gehalt hinaus — zu ihr gehören wollen. Und sei es nur deshalb, um sich nicht weltfremd vorzukommen. Einziger mildernder Umstand für diesen Konformismus der Wissenschaft: Es sind keine alternativen Entwürfe in Sicht, außer der bisher wenig überzeugenden Bewegung für direkte Demokratie. (Das Thema Wissenschaft und ihre Freiheit wird sich überhaupt als eines der schwierigsten in der Demokratietheorie herausstellen.)
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3. Wir können ja doch nicht viel ändern, am wenigsten unsere Verfassung.
Wer so spricht, hat schon den Kampf um die Demokratie verloren. Noch können wir soviel ändern, wie wir einsehen. Das wird allerdings nicht immer andauern. Das deutsche Grundgesetz lädt sogar noch immer ausdrücklich zu einer neuen Verfassung ein (Artikel 146 GG) — selbst wenn der europäische Konvent wieder einmal eine große demokratische Chance ungenutzt ließ und Volksabstimmungen über die neue europäische Verfassung, besonders in Deutschland, als äußerst störende Einmischung der Bevölkerung empfunden werden. Als Anlass zu peinlichen Grundsatzdiskussionen, für die wir doch so gar keine geeigneten Institutionen haben.
4. Mag sie noch so unvollkommen sein, so gibt es doch keine Alternative zu dieser in kleinen Schritten "lernenden Demokratie".
Dass wir bestenfalls Halbdemokratien haben, gehört zum wenig ausgesprochenen, aber gut gesicherten Volkswissen. Die politische Klasse und die, die vom Bestehenden profitieren, wollen dies verschweigen und konstruktive Alternativvorschläge nicht diskutiert haben. Angeblich gibt es "keine Alternativen". Wer solche auch nur in Teilbereichen aufzeigt, gilt dem im politischen Geschäft Kundigen als Theoretiker oder gar als "Populist", womit wohl ein fragwürdiges Bündnis mit der breiten Bevölkerung gemeint ist. Das "Volk, der große Lümmel" (Heinrich Heine) gilt als zu erziehendes, keineswegs ein mündiges.
Was kleine Schritte angeht, so machen wir sie derzeit, unter dem Einfluss und nach dem Vorbild der amerikanischen Terrorismus-Hysterie, eher rückwärts. Dabei sind nicht nur kleine Schritte zur strukturellen Verbesserung der berechtigten Demokratie-, nämlich Parteienskepsis, sondern durchaus größere Schritte, ja Sprünge, unumgänglich nötig. Sprunghafte Veränderung sowohl in Richtung ernstzunehmende Demokratie wie auch soziale Gerechtigkeit wären zudem die weitaus bessere, bei den Wurzeln ansetzende Terrorismusbekämpfung.
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5. Jeder kann nur bei sich selbst anfangen.
Jeder muss in der Tat bei sich selbst anfangen, aber mit praxisbezogenem Denken für die Allgemeinheit. Dadurch geht der Einzelne bereits aus der privaten Hilflosigkeit in öffentliche Wirksamkeit über. Strukturelle Einsicht und Aufklärung über Zusammenhänge sind erste Demokratenpflicht. Dagegen stellt das Appellieren an die Moral der Einzelnen — als ob es auf ihn wirklich für die strukturellen Defizite ankäme — eine fatale Ablenkungsideologie dar.
Moralische Vorsätze und Appelle sind, wie der Volksmund schon lange weiß, das Material, womit der Weg zur "Hölle" gepflastert ist. Der fragwürdige Ethik-Boom, wie ich ihn schon vor zehn Jahren nannte, leistet die perfekte Pflasterarbeit. Für solche Demokratietheorie von ganz unten sind nicht nur die von oben, sondern auch deren "alternative" Zuarbeiter zu haben.
Perfekt gelingt Ablenkung deshalb, weil wirklich niemand etwas dagegen sagen kann, dass die Menschen besser werden müssen. Dass es aber darauf ankommt, was aus dem moralischen Repertoire der Einzelnen — jeder das "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (Marx) — durch eben diese Verhältnisse abgerufen wird, wird gern von den Moralpredigern vernachlässigt. Der Konformismus, das Mitläufertum, der Opportunismus, die in der Nazi-Zeit entscheidend waren — ist das alles in Nichts verschwunden?
Meines Erachtens trägt er heute nur schickere, modernere Masken. Aber gerade in dieser menschlichen Versuchung zum bloßen Mitlaufen liegt die moralische Verantwortung, solche Verhältnisse zu schaffen, die das Bessere und Beste aus den Menschen hervorlocken. Mit Appellen ist das noch niemals nachhaltig geschehen. Der Mensch ist weder von Natur aus gut noch von Natur aus schlecht, sondern von Natur aus gesellschaftlich versuchbar.
Die Halbwahrheit ,Jeder kann nur bei sich selbst anfangen" verkennt das Wesen der Gesellschaft und der Gesellschaftlichkeit des Menschen — es sei denn, sie würde als Aufruf zur Aufklärung im Sinne des Selbstdenkens und des Nicht-Mitläufertums im Hinblick auf mancherlei allzu selbstverständlich hingenommenen gesellschaftlichen Einrichtungen verstanden.
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6. Die soziale Wirklichkeit kann nur spontan von unten her aufgebaut werden.
Die Kräfte der spontanen Gemeinschaftsbildung von unten können nicht ohne das Bedenken des Ganzen, nicht ohne die gesamt-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gedeihen. Die Weimarer Republik gibt ein Musterbeispiel ab für unzählige wertvolle und hoffnungsvolle Reform-Aufbrüche von unten (sog. Lebensreform im Anschluss an die Jugendbewegung). All diese, auch mit der grünen Bewegung, wiedergekehrten guten Initiativen erwiesen sich damals leider als bloße Gesellschaftsspiele auf der untergehenden Titanic — weil man die politische Großwetterlage nicht ernst genug nahm. Und weil man sich in Deutschland "die" Demokratie nicht ernsthaft aneignete.
Das hätte freilich auf spezifisch deutsche, die klassische deutsche Philosophie (einschließlich Marx) weiterentwickelnde Art geschehen müssen. Dieser bescheinigte Heinrich Heine vor wie nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 weltgeschichtliche Bedeutung. Die deutschen Obrigkeiten ignorierten das und bauten ihr Reich auf Macht und industrielle Revolution: die deutsche Spaltung von Macht und Geist. Im Gefolge dessen hat sich ein Großteil der deutschen Intelligenz der Politik, auch dem westlichen Demokratieangebot, versagt.
"Der deutsche Geist ist unpolitisch und wird es immer bleiben." (Thomas Mann 1918 in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen). Zumal eine für schöngeistige Bürger gar garstige, proletarische Revolution 1918/1919 niedergeschlagen werden "musste". Das waren mindestens zweimal sehr spontane Bewegungen von unten, denen etwas fehlte, um erfolgreich zu sein gegen die Macht des Bestehenden — und der Gewalt.
Sind wir nicht heute, sechzig Jahre nach Kriegsende, in Deutschland aufgerufen, diesen unseren eigenen, aktiven Beitrag zur Weiterentwicklung unserer zweiten, importierten Demokratie zu leisten — statt uns nur passiv über die allmählich bedrohlich werdende Demokratie-Dekadenz beim einstigen großen Vorbild jenseits des Atlantik tatenlos zu wundern?
Das Berechtigte an der Forderung des spontanen <Vonunten> wird später mit dem Subsidiaritätsprinzip (Kapitel VIII) aufgegriffen. Doch darf man das Vorrecht der unteren, kleineren sozialen Einheiten nicht mit deren Vormacht verwechseln. Jenes Vorrecht muss bewusst geschützt werden, indem man vom Ganzen her denkt.
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7. Denken hilft schon gar nicht, nachdem alles längst beredet ist.
Praxisbezogenes Denken ändert jedoch Haltungen und geht aufs Ganze, auf ganzheitliches Handeln. Darum, um Bedenken und Neudenken der umfassenden Strukturen handelte es sich schon in den beiden vorigen Punkten. Es bleibt gegenüber dem Vorurteil, das Denken nicht hilft und ändert, nachzutragen, dass ein qualifiziertes Bedenken der sozialen Strukturen gemeint ist, eine die Wirklichkeit greifende Sozialtheorie.
Das frei-schwebende intellektualistische Hin- und Her-Räsonnieren ohne Folgen stellt dagegen ein missbräuchliches Halbdenken dar. Unsere derzeitige politische Philosophie und Wissenschaft haben in der Tat das Vertrauen in die weltverändernde Kraft des Denkens gründlich zerstört, das der klassischen deutschen Philosophie zu eigen war.
Die "kritische Theorie" der 68er-Bewegung hat auf der einen Seite bewiesen, wie stark philosophisches Grundlagendenken in die Politik einzugreifen vermag. Aber dieser Eingriff war fast nur negativ-kritisch. Viel "Staub unter den Talaren" wurde hochgewirbelt. Doch der setzte sich bald wieder ab. Was damals schon erforderlich gewesen wäre, war eine konstruktive Kritik. Erst recht nach der Fehlanzeige eines inzwischen geglückten "langen Marsches durch die Institutionen". Es gibt nur noch eine glaubwürdige Kritik: konstruktive Alternativvorschläge, wie der Staub "nachhaltig" zu entfernen ist. Eben deshalb werden solche Vorschläge gefürchtet und gern als "utopisch", "dogmatisch" usw. diffamiert, nicht zuletzt von jenen Erkenntnisbeamten, deren Versagen dadurch allzu offensichtlich wird.
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8. Weltweit gesehen, könnten wir froh sein, wenn erst einmal alle Länder unsere Sorgen mit der Demokratie hätten.
Weltweit gesehen haben wir in unseren Halbdemokratien — wenn wir vorläufig diesen schmeichelhaften Ausdruck gelten lassen — die große Verantwortung, die Demokratie für die Entwicklungsländer attraktiver zu machen. Das gilt nicht zuletzt auch für die arabischen Länder.
Solange wir z.B. nicht den legitimen Platz des Religiösen in unseren scheinbar aufgeklärten Demokratien klären, solange wir unklare Konfessions¬staatlichkeit in den deutschsprachigen Ländern (oder auf andere Weise in den USA) als Zuckerguss über total wirtschaftsdominierte Gemeinwesen zur Alternative anbieten, sind unsere Demokratien weder glaubwürdig noch attraktiv.
Die kommende Weltmacht China etwa wird sich hüten, diese Art von "kapitalistischer Demokratie" als Beigabe zum westlichen Kapitalismus zu übernehmen. Solange wir im Westen nur überzeugende Technologie, doch keine überzeugenden Sozial- und Demokratie-Entwürfe anzubieten haben, wird diese entscheidende Zukunftsmacht mit Recht zurückschrecken. Zumal die gepriesenen Menschenrechte unteilbar sind: Man kann nicht das Recht auf freie Meinungsäußerung trennen etwa von effektiver Freiheit der Presse (auch von der Marktsteuerung) oder vom Menschenrecht auf Arbeit, also Recht auf solche Wirtschaftsverhältnisse, die arbeitswillige und -fähige Menschen gleichberechtigt in den gesellschaftlichen Prozess zu integrieren vermögen.
9. Heute steht erst einmal die ökologische Frage auf der Tagesordnung.
Der Öko-Dringlichkeitsalarm seit dreißig Jahren führt zur Erhöhung des zivilisatorischen Stresses, aber in der Sache nicht entscheidend weiter, weil keine angemessenen politischen Handlungsstrukturen organisiert sind. Haben die vorhandenen ökologischen Einsichten etwa in unserem Bundestag eine adäquate Chance? Die scheinbaren Natur-Probleme sind in Wahrheit ein riesiges Gesellschafts- und Demokratieproblem. Wir brauchen Institutionen, gemeint sind Parlamente, in denen über ökologische Fragen kompetent, transparent und gesetzeswirksam gestritten werden kann.
Selbst von ökologisch höchst engagierten Abgeordneten höre ich:
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"Tatsache ist, dass der Markt jetzt unwiderruflich global ist, während die den Markt steuern sollende Regelsetzung und der zugehörige Parlamentarismus national geblieben ist. Überspitzt gesagt: Die Regierungen der Welt holen sich ihre Hausaufgaben nicht mehr in erster Linie von ihrem Volk, sondern von Rating-Agenturen, Pensionsfonds, Analysten und auf sie hörenden Wirtschaftsjournalisten. Sie tun das in der zutreffenden Annahme, dass es dem Land und dem Volk noch schlechter ginge, wenn der <Standort> von den Investoren gemieden wird. Und sie lassen sich ihr Tun (siehe Agenda 2010) von ihren Parteien formal-demokratisch absegnen."
Soweit aus einem Brief des Bundestagsabgeordneten Prof. Ernst Ulrich von Weizsäcker an den Verfasser vom 9.2.2004. Hier kommt zur ökologisch-ökonomischen Problematik noch die von nationaler Selbstständigkeit und Globalisierung hinzu. Wenn es so ist, wie hier beschrieben, sind die nationalen Demokratien am Ende. Ließe sich etwa auf deren Trümmern eine internationale, globale Demokratie aufbauen?
10. Am allerdringlichsten sind aktuell die Probleme der Wirtschaftspolitik, des Sozialstaates, der Sozialpolitik: Arbeitslosigkeit, Steuern, Rente, Gesundheitswesen usw.
Doch gerade an diesen Sachproblemen des Sozialstaats zeigt sich die Demokratie-Problematik derzeit besonders krass: Das Parteiensystem ist systemisch unfähig zu sachlicher Politik. Selbst die besten offiziellen Lösungsansätze kommen in die Mühlen der Parteistrategien nach dem Muster: Welchen Vorteil oder Nachteil haben die Regierungspartei, wenn die Opposition ihrer Politik zustimmt?
Derzeit holt die rot-grüne Koalition offenbar die Kastanien des "notwendigen" Sozialabbaus aus dem Feuer. Wenn die jetzige Opposition zu heftig zustimmt, wird sie von denen, die jetzt protestieren, nicht in die Regierung gewählt werden. Aber braucht sie diese sozial Benachteiligten überhaupt für den Regierungswechsel?
Man sieht, in unserer Demokratie wird es durchaus wieder interessant, wenn nicht sehr kritisch. Ob wir aber bei der Chance dieser Krise das tiefer liegende Demokratieproblem selbst, als vernunftbegabte Wesen, endlich adäquater angehen? Oder nutzen wir das Gespött und die Drohungen der Extremisten von Links und Rechts erneut allein dazu, auf dem alten Weg der angeblich "goldenen", in Wahrheit verlogenen Mitte noch eine Zeitlang weiter zu schlingern?
Inzwischen wird "Demokratie" immer mehr vom einst hoffnungsvollen Schlagwort zum unglaubwürdigsten Reizwort. Wie lange kann das gut gehen? Wo sind eigentlich die Lösungsvorschläge aus dem Berliner "Wissenschaftszentrum für Sozialforschung" oder anderen, millionenschweren Hochburgen der Sozialwissenschaften?
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