2 Geschichtliche Orientierung: Demokratie von Gestern
Demokratie noch nichts Fertiges
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Einerseits ist die moderne Demokratie menschheitsgeschichtlich so jung, dass sie bis heute nicht als etwas Fertiges gelten kann. Sie ist kaum zwei Jahrhunderte hindurch bis heute in einem mühsamen Suchprozess begriffen!
In dieser Einsicht liegt ein bedeutsames Korrektiv gegenüber dem verbreiteten Demokratie-Triumphalismus. Demokratie ist allüberall noch ein unabgeschlossener Suchprozess. Dies nicht zuzugeben, beruht auf Täuschung, im passiven oder aktiven Sinn des Wortes.
Beispielsweise: Das allgemeine Wahlrecht unter Einschluss der Frauen wurde erst 1930 in England und erst 1971 in der Schweiz auf Bundesebene eingeführt. Wenn man also das Kriterium "allgemeines Wahlrecht" anlegt, wird deutlich: Die sich unter aller Ermahnungs-, Bejubelungs-, Erbauungs- und Detailabzählungs-Literatur zur Demokratie biegenden Bücherregale täuschen leicht darüber hinweg, in welch zartem Jugendalter sich demokratische Theorie und Praxis noch befinden. Die Aufbruchsstimmungen, besonders in Deutschland nach 1945 wie die leider nur sehr kurze von 1989, lassen das manchem, der nach dem jeweiligen Ende der Diktaturen aufgeatmet hat, unglaublich erscheinen.
Auch die Demokratie in Amerika ist durchaus keine so frag- und fleckenlose Angelegenheit, wie sie sich in der Selbstdarstellung von Siegern darstellt, selbst wenn wir von den jüngsten alarmierenden Entwicklungen seit dem 11. September 2001 noch absehen. Die Lagerwahlkämpfe, die sich dort abspielen, hatten für Europäer schon immer etwas Unverständliches, schwer ernst zu Nehmendes. Dieser Zweifel hat sich seit der inkorrekten Stimmenzählung von Florida, mit denen George W. Bush ins Amt gelangte, und den weltbekannten Fragwürdigkeiten des Irak-Krieges ernorm verstärkt.
Die theoretischen Unsicherheiten und praktischen Mängel sind jedoch nicht sosehr das Ergebnis eines Verfalls von etwas einmal großartig Etabliertem. Sie sind die im Laufe der Zeit stärker sichtbar werdenden Leistungsgrenzen, das Unausgedachte und Unversuchte am Bisherigen.
Ein Vergleich: Ist es eine Schmach für die Pioniere des Automobilbaus vor über hundert Jahren, wenn heute keiner mehr mit ihren Modellen reisen will? Die Gesetze des technischen Fortschritts lassen sich sicher nicht einfach auf die gesellschaftliche Entwicklung übertragen. Dennoch kann uns der Vergleich zu denken geben. Was sich nicht entwickelt, und manchmal sprunghaft, wird mit den neuen Anforderungen der Zeit untauglich.
Zumal in Deutschland wird es Zeit, wie schon erwähnt, dass wir Demokratie von einem Nachkriegs-Importartikel der Siegermächte zu etwas eigenständig Durchdachtem und Gelebtem gestalten! Dies würde eigentlich die wiedergewonnene Souveränität ausmachen.
Demokratie etwas Uraltes
Wenn auf der einen Seite die "westliche" Demokratie als etwas allzu selbstverständlich Gegebenes, etwas zuwenig Hinterfragtes und gedanklich Fundiertes gelten muss, so besteht auf der anderen Seite ein anderer Hauptmangel der üblichen Geschichtsschreibung über Demokratie darin, dass die neuzeitliche Demokratie als eine späte Frucht der Menschheitsentwicklung hingestellt wird, mit dem angeblich einzigen Vorspiel der griechischen Polis, das auf die Philosophen zurückgeht.
Demokratie kann jedoch auch als die älteste Regierungsform angesehen werden. In vielen frühen Kulturen dürften Formen direkter Demokratie auf lokaler Ebene praktiziert worden sein. Leider ist die Literatur dazu bisher spärlich. Diese Tatsachen scheinen nicht recht in das eurozentrische, einlinige Fortschrittsdenken zu passen.
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Was nicht in den Zeitgeist passt, wird bekanntlich auch weniger erforscht, zumal wenn dies anspruchsvoller ist als die Selbstbelobigungshistorie.
Anthropologische Basis dieser historisch ungewohnten These einer ursprünglichen Demokratie, sagen wir vorsichtshalber Proto-Demokratie, ist, dass der Mensch von Anfang an in solidarischer Gemeinschaft mit Seinesgleichen lebte: in Gemeinschaften, die sich selbst die Regeln gaben. Anders als miteinander solidarisch konnten die frühen Menschen und Menschengruppen gar nicht überleben. Die älteste Selbstregierungsform kann solche Proto-Demokratie nur sein, wenn sie die dem Menschen naturgemäßeste Form des Zusammenlebens, der Gemeinschaftsorganisation ist, was in Kapitel
III durch ein Stück philosophischer Anthropologie untermauert werden wird.
Die Begriffe "Demokratie" und "Rechtsstaat"
Demokratie wurde hier bereits als Selbstregierung des Volkes bezeichnet. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, zur Lostrennung der Kolonien von England, verbunden mit der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte", kam die neuzeitliche Demokratie als Baby voll zum Durchbruch, natürlich nicht ohne gedankliche Zeugung in der europäischen Aufklärung. Die bald folgende Feuertaufe des Babys für Europa selbst bildete dann die französische Revolution von 1789.
Definitorisch berühmt wurde, fast hundert Jahre später, die so genannte Gettysburg-Formel für Demokratie von Abraham Lincoln aus dem amerikanischen Sezessionskriegsjahr 1863: "govemment of the people, by the people, for the people".
(Zwanzig Jahre vorher war bereits das bis heute gerühmte Buch des Franzosen Alexis de Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika erschienen. Doch Tocquevilles Bewunderung für das in Amerika erlebte Prinzip Demokratie darf nicht mit Bejahung aller faktischen Verhältnisse verwechselt werden. Zumindest der Süden der Vereinigten Staaten war damals noch eine Sklavenhaltergesellschaft, was ja Hauptanlass für den Sezessionskrieg war.)
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Alle drei von Lincoln benutzten Präpositionen weisen mit unterschiedlichem Nachdruck auf Wesensmerkmale der Demokratie hin:
dass in der Demokratie die Herrschaft aus dem Volk hervorgeht (of),
dass sie durch das Volk ausgeübt wird (by);
und dass diese "Herrschaft", besser Regierungsmacht, für das Volk, d.h. in seinem Interesse (for) ausgeübt wird.
Alles das ist in der schlichten Formulierung "Selbstregierung eines Volkes" implizit schon enthalten. Begriff und Wort "Herrschaft", womit das griechische kratein in herrschaftlichen Zeiten lieber übersetzt wurde, können wir getrost entbehren und mit "Regierung" übersetzen. Machtausübung ist darin zwar mitgedacht, nicht jedoch der Unterschied von Herren und Knechten.
Selbstregierung eines Volkes hat etwas mit "Selbstbeherrschung" zu tun. Manche Gelehrte wollen dagegen in "Selbstregierung", in der Identität von Regierten und Regierenden, eine Unmöglichkeit, gar einen Widerspruch erkennen. Im Gegenteil, wir werden gerade diese reflexiven Selbst-Verhältnisse als wesentlichen Zug sowohl von Subjektivität wie von Sozialität antreffen.
Was in Lincolns Formel noch nicht deutlich wird, ist das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat. Der letztere beinhaltet "Herrschaft" der Gesetze, des Rechts, und zwar eines möglichst gerechten Rechts. Die konstitutiven Monarchien, wie wir sie um 1900 in fast allen europäischen Staaten hatten, waren bereits Rechtsstaaten, auch ohne schon demokratische Selbstregierung der Völker zu sein. Selbst wenn sich einige Staaten damals bereits mit dem Titel "Republik" oder "demokratische Republik" schmückten.
Rein logisch sind "Herrschaft des Rechts" und "Herrschaft des Volkes" voneinander ablösbar. Doch eine Herrschaft des Rechts ohne Herrschaft des Volkes bedeutet Minderheiten-Herrschaft (Oligarchie, z.B. auch Parteien-Oligarchie). Umgekehrt muss eine Volksherrschaft ohne ausgeprägte Rechtsstrukturen zur Willkürherrschaft eines Pöbels führen - zu dem, was Platon und Aristoteles unter Demokratie verstanden.
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Aus demselben Grund zog noch Kant die Bezeichnung "Republik" vor "Demokratie" vor. Man kann sagen, dass "Republik" mehr die Herrschaft des "öffentlichen" Rechts im Gemeinwesen betont, "Demokratie" dagegen die Herrschaft des Volkes.
Die "Herrschaft des Rechts" wird in der europäischen Geschichte eher von der liberalistischen, vorzüglich in England beheimateten, Linie vertreten. Sie ist an balance of powers und an Eindämmung der obrigkeitlichen Willkürmacht orientiert, am Recht der Individuen gegenüber der Obrigkeit. Sie bildet die für die Entwicklung westlicher Demokratien wirkmächtigste Linie. In dieser spielt zugleich die Repräsentation des Einzelnen durch Entsendung von Vertretern in Parlamente eine besondere Rolle.
Heißt dies aber, dass die andere, die direktdemokratische Linie der "Herrschaft des Volkes" - von den frühgeschichtlichen direkten Demokratien über Rousseau, Marx und die bestehenden Reste direkter Demokratie (in der Schweiz wie in vielen kleineren Gemeinschaften und Gemeinwesen) bis zur gegenwärtigen Bewegung für "mehr Demokratie" - im demokratischen Rechtsstaat heutiger liberalistischer Prägung aufgehen kann und überflüssig geworden ist?
Fragen/Aufgaben
Gibt es eine innere, nicht bloß oberflächliche Synthese von direkter und liberal-repräsentativer Demokratie? Das Ziel unseres Gedankengangs ist mindestens dreifach:
eine innere Synthese von repräsentativer und direkter Demokratie,
eine Lösung des schier unlösbar scheinenden Parteienproblems,
eine Lösung für das verhängnisvolle, scheinbar unvermeidliche Wirtschaftsübergewicht in unseren bestehenden Demokratien - auf Kosten der in Feiertagsreden beschworenen "höheren Werte".
Das Gespenst der Demokratieverdrossenheit lässt sich nur bannen, wenn wir auf diese Fragen überzeugende Antworten finden.
Wenn wir uns auch eingestehen, dass trotz des gegenteiligen Anscheins "unsere westlichen Demokratien" und unsere so phrasenhaft viel beschworene "freiheitlich-demokratische Grundordnung" noch keineswegs über das Halbstarkenstadium hinausgewachsen sind. Weder in der Praxis noch, wie die Menschen "auf der Straße" gutgläubig annehmen, in der Theorie.
Was heißt denn Mehrheitsprinzip? Besteht das Wesen der Demokratie im Niederknüppeln einer Minderheit durch eine Mehrheit, die ihre vorgebliche Macht vertrauensvoll an Wenige abgibt?
Welche Rolle spielt das Vertrauen bei der Repräsentation, und wodurch wird es gerechtfertigt? Worin besteht die Souveränität des Volkes? Darin, dass sie abgegeben wird?
Wie stehen eigentlich die Interessengruppen mit ihren berühmten Lobbyisten zu den Parteien und welchen rechtmäßigen Platz haben sie in einer "pluralistischen" Demokratie?
Wie ist das mit dem anderen Pluralismus der Weltanschauungen und Religionen und den gemeinsamen Werten? Gibt es trotzdem eine demokratische "Wertegemeinschaft"?
Welche Chancen haben eigentliche die Werte, deren Verfall stets beklagt wird, angesichts der unleugbaren Volksweisheit, dass das Geld die Welt regiert? Sind Kapitalismus und Demokratie eigentlich miteinander vereinbar?
Die Fragen ließen sich leicht vermehren. Zum Glück beantworten sich viele einschlussweise, wenn einige grundlegende richtig beantwortet werden. Dazu muss aber sozialphilosophisch grundlegend angesetzt werden, ab jetzt.
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3 Der systemische Grundansatz: Vom handelnden Menschen zum sozialen System
Der Mensch: Unendlichkeits-Chimäre auf seinen eigenen Kathedralen?
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Nach allgemeiner, besonders nach-aufklärerischer Überzeugung wird Gesellschaft in all ihren Formationen von den Menschen selbst hervorgebracht. Es ist bisher nur eine einzige Systemtheorie der Gesellschaft aufgetreten, die erklärt, Gesellschaft gehe aus "Kommunikationen" hervor, die von Niklas Luhmann. Das ist insofern anti-aufklärerische Raffinesse, als ausgeblendet bleibt, woher diese Kommunikationen denn stammen. Diese sind offensichtlich Formen menschlichen Handelns. Es war immer ein Wesenszug der Aufklärung, die menschlichen Sinn- und Unsinns-Produkte auf ihren Ursprung im eigenen (geistigen) Handeln zurückzuverfolgen. Mit Luhmann erst trat eine "Soziologische Aufklärung" auf (so der Titel mehrerer Aufsatzsammlungen von ihm), die just mit dem Gegenteil, mit der Entfremdung dieser Produkte von ihrem Ursprung, arbeitet. Eine raffinierte intellektuelle Rolle rückwärts!
Allerdings gab es bislang auch keine einzige Theorie, die den offensichtlichen Ursprung sozialer Systeme aus dem menschlichen Handeln wirklich plausibel macht, also den Übergang von Handeln zu Systemen aufklärt. Um 1970 herum stritten sich die großen Sozialtheoretiker jener Zeit, Niklas Luhmann und Jürgen Habermas, noch um diese Frage, ob und wie menschliches Handeln mit sozialen Systemen zusammenhängt. Der Streit wurde stillschweigend beigelegt, indem Luhmann Theorie von "Systemen" (Sinngebilden mit Innen-Außen-Unterschied wie bei biologischen Organismen) betrieb, bei denen fortschreitend von menschlichem Handeln nicht mehr gesprochen werden musste;
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und indem auf der anderen Seite Habermas zwar die "bösen" Systeme wie Geldsystem und Rechtssystem als Tatsachen anerkannte, aber den handelnden, erlebenden und beobachtenden Menschen in seiner eher kuscheligen "Lebenswelt" platzierte. Verbindungen zwischen Lebenswelt und Systemen wurden nicht näher ausgemacht.
Beide Positionen sind gleichermaßen unbefriedigend. Sie forderten den Autor allerdings heraus, zunächst ganz alt-aufklärerisch das missing link zwischen Handeln und System herauszufinden. Und das besteht nach seiner seit 1975 vertretenen "Reflexions-Systemtheorie des Sozialen" im Prinzip der interpersonalen oder sozialen und damit nicht nur theoretischen, sondern praktischen Reflexion.
Durch dieses Prinzip gelingt es, die Verbindung zwischen handelnden Menschen und ihren selbsterrichteten System-Kathedralen wieder herzustellen. Der Mensch bleibt nicht, wie bei Luhmann, "Unendlichkeitschimäre auf seinem grauen Stein von Notre-Dame", wie Gottfried Benn schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg das Grundgefühl des Menschen gegenüber der von ihm selbst hervorgebrachten staatlichen und wirtschaftlichen entfremdeten "Megamaschine" ausgedrückt hat. (In dem Gedicht Verlorenes Ich. "Chimären" werden die merkwürdigen dämonischen Fabelwesen genannt, die als Wasserspeier oder sonstiger bizarrer Schmuck die gotischen Kathedralen zieren.) Wenn der Mensch nicht weiß, wie im Prinzip diese Entfremdungsgebilde entstehen, kann er sie sich auch nicht wieder aneignen. Ausweichen in eine ebenfalls unverstandene traute "Lebenswelt" hilft da auch nicht.
"Durch soviel Formen geschritten, durch Ich, durch Wir, durch Du": die Sinn-Elemente
Mit dieser Überschrift wird noch einmal Gottfried Benn zitiert (diesmal das Gedicht Nur zwei Dinge), weil er hier die großen "Dinge" benennt, die keine Dinge sind, sondern Reflexionswesen. "Ich" ist ein Reflexionswesen, weil zum Ich-Sagen fundamental der Selbstbezug des Menschen zu sich selbst gehört: seine Refle-
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xionsfähigkeit. Reflexion und Selbstbezüglichkeit sind dasselbe. Die Selbstbezüglichkeit des Menschen zeigt sich in seiner Fähigkeit, "Ich" zu sagen. Diese Fähigkeit ist allerdings auch vorhanden, bevor er "Ich" sagt und wenn er mal gerade nicht "Ich" sagt. Wie Kant treffsicher sagt: "Das Ich denke muss alle meine Vorstellungen begleiten können" (Kritik der reinen Vernunft, B 131). Die Fähigkeit zur (wenigstens punktuellen, d.h. nicht vollständigen) Selbsterkenntnis durch Reflexion unterscheidet das Reflexionswesen Mensch vom Tier (dessen Bewusstsein durch eine "unvollständige Reflexion" gekennzeichnet ist, was es so überaus interessant für "sich selbst" entdeckende Kinder und alle Menschen macht). Wir können von einer gelebten Reflexion oder reflexivem Leben sprechen, im Unterschied zur nachträglichen, nach-denkenden, theoretischen Reflexion.
Richtig praktisch wird die menschliche Reflexion jedoch erst, wenn sie sich auf ein Du richtet, das selbst ein ich-haftes Reflexionswesen ist. Praktisch sein, heißt verändern. Indem Ich mich sprechend auf ein Du richte, bin ich praktisch. Denn ich verändere dieses Du, sobald es mich auch nur zur Kenntnis nimmt. Und natürlich umgekehrt. Bevor wir diese praktischsoziale Reflexion und ihre Stufen weiterverfolgen - sie wird sich als das systembildende Prinzip herausstellen - soll das dritte Reflexionswesen zum Thema werden.
"Wir" gibt es nicht erst bei Gruppen, sondern schon in der Zweierbeziehung: die Gemeinsamkeit, der gemeinsam aufgebaute Sinn-Raum, besonders (aber nicht allein) durch Sprechen miteinander. Dem derartig aufgebauten "Zwischen" (wie Martin Buber dieses Wir nannte), liegt jedoch ein immer schon vorausgesetztes Medium der Gemeinsamkeit zugrunde. Die Sprache steht für dieses Medium zwischen Menschen. Doch liegt der Sprache schon ein vorgängiger Sinnraum zugrunde. Sonst könnten sich Sprecher verschiedener Sprachen nicht verständigen, und sei es "mit Händen und Füßen". Diesen vorgängigen Sinnraum nenne ich nicht nur "Apriori der Kommunikationsgemeinschaft" wie der Frankfurter Philosoph Karl-Otto Apel. Denn er ist nicht nur ein je subjektiver Gedanke "a priori" (aller weiteren Füllung vorweg),
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sondern eine tatsächliche sinnhafte Gemeinsamkeit. Ich nenne es Sinn-Medium, sei es aller konkreten Kommunikation vorweg als bloßer, überkultureller Alles-Gedanke, zu dem jeder Mensch fähig ist, sei es als kulturelle, sprachliche Konkretisierung, sei es als soziale Gemeinsamkeit wie Werte und Normen, sei es nur als das konkrete Zwischen der einzelnen Begegnung.
Der Begriff "Sinn" wird hier in einer ganz neutralen Bedeutung verstanden: Gehalte wie z. B. Wortgehalte, die in Bewusst-seinshandlungen vollzogen werden. Die Einheit von Gehalt und Bewußtseinsaktivität heißt hier Sinn. (Wenn die "dialektische" Einheit von Vollzug und Gehalt nicht festgehalten wird, ergibt sich dagegen Entfremdungs- und Verdunkelungsgefahr.)
Es ist jetzt schon abzusehen, dass alle Füllungen oder Konkretisierungen des Sinn-Mediums (als eines zunächst unendlichen und unendlich offenen Gehaltes) aus der wechselseitigen Reflexion der beiden Reflexionswesen Ich und Du hervorgehen, allerdings unter Einbeziehung von kulturellem "Stoff", geschichtlich von den schon mitgebrachten Gehalten der Beteiligten.
Wenn wir jetzt noch die Welt der nicht-selbstreflexiven Dinge, des Es, hinzunehmen, können wir diese Elemente, als Sinn-Elemente aller Begegnung, in folgendem Schema zusammenfassen:
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Der Mensch ist: leibhaftiges Wesen der Selbstreflexion (von daher der Freiheit), aber von Anfang an in Interaktion mit Natur (Dingen), mit Seinesgleichen und dem unendlichen Sinn-Medium. All diese Instanzen sind Vermittlungsinstanzen seiner "großen" Selbstreflexion, was der große Kreis andeuten will. Die kleine Selbstreflexion ist dagegen nachträglich und theoretisch. Insofern stellt jedes Ich ein "großes Ich" dar, während das "kleine Ich" der Selbstobjektivierung nur eine Vorstellungs-Fiktion ist.
Dieses Gefüge der Sinn-Elemente könnten wir bereits "System" nennen: ein vollständiges Ganzes einer Reihe aufeinander bezogene Elemente. Man kann dieses vom Ich her betrachten (personales System) oder vom Wir her: als soziales System. Aber dies wäre soweit noch ein statisches, noch kein dynamisches Verständnis von System. Dynamische sind zugleich reale Systeme, während man bei statischen System-Gefügen die Frage stellen kann, ob sie nur gedankliche Systematik darstellen.
Interpersonale Reflexion als Prinzip dynamischer Sozialsysteme
Ein dynamisches Verständnis von interpersonalen bzw. (bei Einbezug vieler Interaktionspartner) sozialen System ergibt sich nun dadurch, dass wir die Reflexionswesen Ich und Du (Ego und Alter) aufeinander reflektieren lassen, jedoch praktisch (nicht durch die bloße, in der Sozialwissenschaft schon länger bekannte "Perspektivenübernahme", die eine je theoretische Reflexion bleibt).
Praktisches Handeln wird die Reflexion dadurch, dass sie den Zustand des jeweils Anderen ändert.
Nehmen wir als alltäglichstes Beispiel den Blick:
(1) Ich blicke den Anderen an (schon wissend zwar, dass dieser "Gegenstand" ein anderer Mensch ist): einfache Beziehung.
P1 ---------------------> P2
Figur 2a: unreflektierte Intentionalität
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(2) Ich blicke den Anderen an, sofern er selbst blickt: reflektierte Beziehung.
Figur 2b und 2c: einseitige Interessenverfolgung unter Reflexion der Intentionen des Anderen
(3) Ich blicke den Anderen an, sofern dieser mich als Blickenden anblickt und sich eine Gegenseitigkeit des Blickes herstellt: doppelt reflektierte und gegenseitige Beziehung.
Figur 2d: vereinfachte Schematisierung der doppelt-gegenläufigen Reflexion
(4) Ich nehme zu dieser faktischen Gegenseitigkeit des Blickes Stellung (ablehnend, freundlich, forschend, fragend usw.) und nehme sogar zur Stellungnahme des Anderen Stellung: nochmalige Reflexion der Gegenseitigkeit oder Abschlussreflexion.
Sinn-Medium
Figur 2e: der systembildende interpersonale Reflexionskreis
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Von hier an kann es nicht weitergehen, außer mit neuem Stoff. Aber es kann nicht mehr höher reflektiert werden. Strukturell ist ein Abschluss erreicht. Uns interessiert hier nur das Strukturelle, nicht die Inhalte und Wertungen dabei.
Meist bleibt diese Stufung wie überhaupt das alltägliche Blickgeschehen ganz implizit oder, wie man sagt, "unbewusst". Das Unbewusste ist implizites Bewusstsein. Sozialtheorie muss diese sozialen Strukturen ausdrücklich machen - ähnlich wie die Psychoanalyse oder Biologie und Medizin das (in anderem Sinn) unbewusste Funktionieren unseres Körpers.
Das soziale Handeln wurde "klassisch" von Max Weber als Orientierung des Handelns am Verhalten anderer definiert. Wenn wir diese "Orientierung" als interpersonale, gelebte und zugleich praktische Reflexion mit obiger Stufung weiter denken, zeigt sich eine entscheidende strukturelle Konstante: die Vierstufung des sozialen Handelns. Die oben im Blick aufgezeigten Reflexionsstufen können überwiegende Komponenten konkreten sozialen Handelns werden:
(1) instrumentales Behandeln des Anderen,
(2) strategisches Berücksichtigen des Anderen für die eigenen Interessen,
(3) kommunikatives Eingehen auf die Erwartungen und Wünsche des Anderen,
(4) metakommunikatives Eingehen auf die Voraussetzungen und Normen des sozialen MiteinandersHier werden mehrere Ausdrücke von Habermas in eine systematische Stufenordnung gebracht, die dieser als solche mitsamt ihrem Prinzip, dem Reflexionsprinzip, nicht erkannt hat. Deshalb konnte er keine systemische Sozialtheorie entwickeln (während sein Kontrahent Luhmann einen völlig abstrakten, unterbestimmten Systembegriff hat und aus dieser Not mit vielen "dialektischen" Manövern eine Tugend zu machen suchte). Die soziale Reflexion liefert die Antwort auf die in jener Habermas-Luhmann-Diskussion unbeantwortet gebliebene Grundfrage, wie es vom individuellen Handeln zum sozialen System kommen kann.
Praktisch-soziale Reflexion ist der Baustoff, das Bindemittel, aber auch das architektonische Prinzip des Sozialen schlechthin. Sie wird nur voll erkannt, wenn man zugleich ihre wesentliche, folgenreiche Struktur als Vier-Stufung erkennt.
Das heißt, der Reflexionskreis, der die beteiligten Akteure zu einem System zusammenschließt (horizontale Reflexion), wird nur verstanden, wenn und dadurch dass man die vertikale Stufung und deren strukturellen Abschluss versteht:
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