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    3.   Staatspartei — Parteistaat   

Henrich-1989

 

    Luxemburg und Lenin über die «Organisationsfrage» 

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Mit der Charakteristik des Sowjetstaates als <ökonomische Despotie> habe ich die Rolle des sozialist­ischen Staates für die Planwirtschaft angesprochen. Wenn jetzt vom Parteistaat die Rede ist, meint dies schon den gedoppelten Apparat, der auch das Ideologiemonopol verwaltet.

Die funktionale Arbeits­teilung in Politik und Verwaltung, die dieser Differenzierung letztlich zugrunde liegt, ist naturgemäß im Staatssozialismus weniger ausgeformt als in den Gesellschaften, die das Prinzip der Gewalten­teilung offen zum Modell ihrer Machtverfassung erklären. 

Das bedeutet freilich nicht, daß die «Einheit von Beschluß­fassung und Durchführung», die im Staats­sozialismus die Gewaltenteilung ersetzen soll, wörtlich zu nehmen ist. Auch der Sozialismus ist auf Arbeitsteilung in jeder Hinsicht angewiesen. Mit der politischen Arbeitsteilung aber gehen wie mit jeder anderen Arbeitsteilung soziale Differenzierungen einher.

Die Partei, jedenfalls soweit ihr hauptamtliches Funktionärskorps betroffen ist, stellt neben dem höheren Offizierskader der Geheimpolizei die tonangebende Gruppe innerhalb des Sozialismus dar.

Sozial gesehen rechnet zur Nomenklatur der Politbürokratie darüber hinaus noch die ganze Schicht unbefristet berufener oder gewählter Kader (finden «Wahlen» statt, dann ist das Abonnement auf Wiederwahl funktions­gebunden), welche hauptberuflich alle maßgeblichen politischen, administrativen und wirtschaftlichen Leitungs- und Machtfunktionen besetzt halten, einschließlich der in den Militär- und Sicherheitsapparaten sowie den ideologischen und kulturellen Einrichtungen.

Es ist das Ideologie- und Entscheidungsmonopol, das diese großen Menschengruppen von anderen Klassen und Schichten abhebt und ihren Rang im gesellschaftlichen Leben bestimmt. Auf der obersten Ebene des Partei- und Staatsaufbaus plaziert, üben die Spitzenfunktionäre dieser politischen Klasse zumeist in Personalunion wichtige Funktionen in Partei und Staat gleichzeitig aus.

Wer angesichts dieser Verhältnisse die staatsrechtlichen Unterschiede zwischen Partei und Staatsapparat überbewertet, verfällt dem Schein unserer politischen Verhältnisse. Für gewöhnlich schaffen sich moderne Staatsparteien im Parteistaat die ihnen maßgeschneiderte Daseinsweise!

Politisch entmündigt wie alle anderen Bürger auch sind dagegen die einfachen Mitglieder der Partei. Mitglieder in den unteren Rängen dürfen zwar ihre Meinung äußern, es ist ihnen jedoch streng untersagt, das mit anderen gemeinsam in organisierter Form zu tun.

Während das Mitgliedschaftsverhältnis in der Partei so einerseits den erklärten Verzicht auf politische Selbstorganisation beinhaltet, verpflichtet es andererseits alle Mitglieder zu einer soldatischen Disziplin.

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Für das Selbstverständnis des Staatssozialismus ist nun die Einsicht darein von großer Wichtigkeit, daß und wie sich noch vor den Oktoberereignissen aus den innerparteilichen Auseinandersetzungen der russischen Sozialdemokratie heraus die erste moderne Staatspartei formiert. Bereits in dieser Phase wird nämlich parteiorganisatorisch vorentschieden über die politischen Bedingungen und Freiheiten, unter denen der Aufbau des Sozialismus vollzogen werden soll. Wenn die Staatspartei ihr Statut und Programm beschließt, entscheidet sie gleichzeitig über die von ihr erstrebte Staatsverfassung.

Die Macht über das Massen-Ich wurzelt in der Formbestimmung des Partei-Ich! Die Formbestimmung des Partei-Ich findet aber statt, bevor sich die Politbürokratie funktional differenziert der Politik und Verwaltung zuwendet.

Genau dieses Phänomen, die Formbestimmung einer «Partei neuen Typus», war Gegenstand des jahrzehntelangen Streits zwischen Rosa Luxemburg und Lenin, eines Streits, der sich im Jahre 1904 an «Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie» entzündete und in der Folgezeit niemals beigelegt wurde.

Kompromißloser noch als Antonio Gramsci, der ebenfalls die rüde Form der innerparteilichen Auseinandersetzungen in der russischen Sozial­demokratie frühzeitig gerügt hatte, verfocht Rosa Luxemburg, unbeeindruckt von Lenins Autorität, gegen die totale Funktionalisierung der Partei das Prinzip der diskursiven Willensbildung in der Politik.

Damit stellte sie sich von vornherein, und zwar noch bevor die industrielle Despotie Gestalt annahm, auf die Seite der einfachen Parteimitglieder und der arbeitenden Massen, deren Entmündigung nach der «Revolution» mit der Formbestimmung der Partei beschlossen werden sollte.

Man hat ausgerechnet Rosa Luxemburg vorgeworfen, in diesem Streit vorschnell und ohne ausreichende Kenntnisse der politischen Verhältnisse in Rußland geurteilt zu haben.

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Der vollständig nur aus der Formationsspezifik Rußlands begreiflichen Besonderheiten war sich Rosa Luxemburg allerdings durchaus bewußt, ohne daraus jedoch gleich die Notwendigkeit einer Ausschaltung der innerparteilichen Demokratie abzuleiten.

«Unter normalen Bedingungen», so schrieb sie, «das heißt dort, wo die entfaltete politische Klassenherrschaft der Bourgeoisie der sozialdemokratischen Bewegung vorausgeht, wird die erste politische Zusammen­schweißung der Arbeiter in hohem Maße schon durch die Bourgeoisie besorgt.» 11)

In der bürgerlichen Gesellschaft sei demnach die Organisation der sozialdemokratischen Bewegung «nicht ein künstliches Produkt der Propaganda, sondern ein historisches Produkt des Klassenkampfes, in das die Sozialdemokratie nur das politische Bewußtsein hineinträgt».12

Im Gegensatz dazu sei aber in Rußland der Partei «die Aufgabe zugefallen, einen Abschnitt des historischen Prozesses durch bewußtes Eingreifen zu ersetzen und das Proletariat direkt aus der politischen Atomisierung, die die Grundlage des absoluten Regimes bildet, zur höchsten Form der Organisation — als zielbewußt kämpfende Klasse zu führen»13).

Der soziale Handlungsrahmen, den Rosa Luxemburg zu sehen glaubte, berücksichtigte durchaus die Formationsspezifik der Verhältnisse im zaristischen Rußland, wie sie sich auf der Basis einer im Wandel befindlichen tributären Produktionsweise darstellten. Unter diesen Bedingungen wollte aber Rosa Luxemburg im Gegensatz zu Lenin die sozialdemokratische Arbeiterbewegung als soziale und politische Emanzipationspartei und nicht als Staatspartei organisiert wissen. Das belegt die Kritik Rosa Luxemburgs an Lenins programmatischer Schrift «Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück». In der demokratischen Seinsweise der Partei sollte sich die Arbeiterklasse und mit ihr die ganze Gesellschaft wiederfinden.

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Wie Lenins Replik zeigt, nahm dieser subjektiv für sich genauso in Anspruch wie Rosa Luxemburg, die soziale und politische Emanzipation zu befördern. Praktisch organisierte Lenin jedoch längst die Staatspartei als den neuen Arbeitsherrn der kommenden russischen Industriegesellschaft. Genau dieses Geheimnis hat Rosa Luxemburg verraten!

Die Phänomenologie der «Partei neuen Typus», die Rosa Luxemburg anhand der Leninschen Parteilehre entwickelte, ist bis heute die beste Darstellung der Staatspartei geblieben, die jemals gegeben wurde. Aus dem sicheren Instinkt für die kommenden Konsequenzen des Leninismus erkennt Rosa Luxemburg:

«Das uns vorliegende Buch des Genossen Lenin», übrigens ein Buch, welches bisher als Katechismus der Lehre von der Partei in Gebrauch ist, 

«ist die systematische Darstellung der Ansichten der ultrazentralistischen Richtung der russischen Partei. Die Auffassung, die hier in eindringlicher und erschöpfender Weise ihren Ausdruck gefunden hat, ist die eines rücksichtslosen Zentralismus, dessen Lebensprinzip einerseits die scharfe Heraushebung und Absonderung der organisierten Trupps der ausgesprochenen und tätigen Revolutionäre von dem sie umgebenden, wenn auch unorganisierten, aber revolutionär-aktiven Milieu, andererseits die straffe Disziplin und die direkte, entscheidende und bestimmende Einmischung der Zentralbehörde in alle Lebensäußerungen der Lokalorganisationen der Partei.»14

Was Rosa Luxemburg vorausgesehen hat, können wir heute in allen Staatsparteien erleben. Nämlich die kollektive Selbstherrschaft einer Zentralbehörde, welche 

«die Befugnis hat, alle Teilkomitees der Partei zu organisieren, also auch die persönliche Zusammensetzung jeder einzelnen russischen Lokalorganisation von Genf und Lüttich bis Tomsk und Irkutsk zu bestimmen, ihr ein selbstgefertigtes Lokalstatut zu geben, sie durch einen Machtspruch ganz aufzulösen und von neuem zu schaffen und schließlich auf diese Weise indirekt auch die Zusammensetzung der höchsten Parteiinstanz, des Parteitags, zu beeinflussen. Danach erscheint das Zentralkomitee als der eigentlich aktive Kern der Partei, alle übrigen Organisationen lediglich als seine ausführenden Werkzeuge.»15

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Wer das Statut einer Staatspartei zur Hand nimmt, der kann sich selber davon überzeugen, daß dies genau die Partei ist, die wir heute haben.

Der verlegene Einspruch Lenins gegen die Feststellungen Rosa Luxemburgs, der darauf hinauslief, nicht er sei es gewesen, sondern namentlich nicht genannte Mitglieder der Statutenkommission des 2. Parteitags der SDAPR, die dem Zentralkomitee diese selbstherrschaftliche Machtposition zugebilligt hätten, ändert im Ergebnis nichts am sachlichen Inhalt der Kritik Rosa Luxemburgs. 

Lenin plante die geschlossene, disziplinierte und militante Partei, die um jeden Preis den bedingungs­losen Kampf um die Macht führen sollte. Die «tätigen Mitglieder» der Partei mußten sich deshalb innerhalb der von ihm entworfenen Organisations­strukturen «in reine Ausführungsorgane eines außerhalb ihres eigenen Tätigkeitsfeldes im voraus bestimmten Willens, in Werkzeuge eines Zentralkomitees verwandeln».16

Der Doktrin Lenins stellte Rosa Luxemburg von allem Anfang an ihr Postulat der Einheit von Organisation und Aufklärung entgegen. Organisation und Aufklärung wollte sie nicht als «getrennte, mechanisch und auch zeitlich gesonderte Momente» gelten lassen, sondern ausschließlich als verschiedene Seiten eines einheitlichen Gemeinschaftshandelns begreifen. Das von ihr vertretene organisatorische Prinzip schloß zwar «die gebieterische Zusammen­fassung des Willens» selbständig operierender Parteigruppen in sich ein, doch sollte der einheitliche Wille über einen in den Basisgruppen verankerten «Selbstzentralismus» hervorgebracht werden.

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Die von Lenin in höchsten Tönen besungene Disziplin der Fabrikarbeit, die nichts weiter als eine besondere Form derselben Disziplin war, die der Arbeiterschaft «auch durch die Kaserne, auch durch den modernen Bürokratismus» angedrillt wurde, sollte dagegen nach Meinung Rosa Luxemburgs gebrochen werden. Gerade diese Disziplin der «Willen- und Gedankenlosigkeit einer vielbeinigen und vielarmigen Fleischmasse, die nach dem Taktstock mechanische Bewegungen ausfuhrt», war es ja, die schrittweise ersetzt werden sollte durch die «freiwillige Koordinierung von bewußten politischen Handlungen».

Man mußte schon Rosa Luxemburg heißen und Polin sein, um im Jahre 1904 hinter der von Lenin geforderten Parteidisziplin den Schatten der kommenden Staats- und Arbeitsdisziplin im Sozialismus wahrzunehmen.

Soviel jedenfalls sah Rosa Luxemburg voraus, daß mit der «bloßen Übertragung des Taktstockes» aus der Hand des alten Arbeitsherrn in die Hand des Zentral­komitees der Partei zwar die zaristische Despotie erledigt, nicht aber die Subalternität der Massen beendet würde. Ob Lenin diese jemals als das zentrale Problem der industriellen Gesellschaft angesehen hat, darf in Anbetracht seiner speziellen Vorliebe für bürokratische Organisationsformen ruhig bezweifelt werden.

«Bürokratismus versus Demokratismus», so lautete die Leninsche Formel, die Rosa Luxemburg in Harnisch versetzt hatte, «das ist eben Zentralismus versus Autonomismus, das ist eben das organisatorische Prinzip der revolutionären Sozialdemokratie gegenüber dem organisatorischen Prinzip der Opportunisten der Sozialdemokratie.»17

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Die stets riskante Vermittlung marxistischer Gesellschaftsvorstellungen über das Vehikel bürokratischer Mechanismen erschien Lenin letztlich trotz aller Vorbehalte unbedenklich. Erst in seinem Vermächtnis, der Schrift «Lieber weniger, aber besser», gestand er unmittelbar vor seinem Tode ein, daß es der praktischen Belehrung eines Jahrfünfts bürokratischer Partei- und Staatspraxis bedurft hatte, um ihn diesbezüglich «gehörig mit Mißtrauen und Skepsis» zu erfüllen.

Praktische Konsequenzen für die Organisation des Staatssozialismus hatte diese späte Einsicht nicht mehr. Statt dessen zog die Parteizentrale der Bolschewiki nach Lenins Tod aus theoretischen Differenzen, die man auf allgemeine sozialökonomische Widersprüche und solche innerhalb der Arbeiterbewegung zurückführte, ihre bürokratischen Schlußfolgerungen. Der innerparteiliche Machtkampf ersetzte den Kampf der Meinungen; anstelle von Diskussionen veranstaltete man Säuberungen. 

Das von der Parteizentrale angeblich vertretene Klasseninteresse stellte sich alsbald als das Interesse dar, die einmal inthronisierte Ideologie des Leninismus um jeden Preis zu verbreiten. Da der einmal entbrannte Machtkampf weder von einer normativen Lehre der Angemessenheit der Mittel gezähmt noch durch Toleranz gebändigt wurde, konnte es gar nicht ausbleiben, daß ihm in der ersten Runde der Auseinandersetzungen die alten menschewistischen Bündnispartner der Bolschewik! zum Opfer fielen; späterhin mußte jeder um seine Existenz furchten, dessen politischer Glaube Zweifel aufkommen ließ.

Was das bedeutete, bekam schließlich sogar das Politbüro zu spüren. Von den sieben Mitgliedern des Politbüros des ZK der SDAPR(B) im Revolutionsjahr 1917 (das waren: Lenin, Stalin, Trotzki, Sinowjew, Kamenjew, Sokolnikow, Bubnow) starben allein Lenin und Stalin eines natürlichen Todes.

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Wie hatte doch Rosa Luxemburg geschrieben? Das von der zaristischen Despotie «ekrasierte, zermalmte Ich» revanchierte sich dadurch, «daß es sich selbst in seiner revolutionären Gedankenwelt auf den Thron setzt und sich für allmächtig erklärt — als ein Verschwörerkomitee im Namen eines nichtexistierenden <Volkswillens>»).18 

Was die Kassandra der deutschen Arbeiter­bewegung noch nicht voraussehen konnte, war, daß sich das alte Partei-Ich am Ende selbst entleiben würde, um das die enttäuschten Erwartungen einklagende revolutionäre Gewissen für eine ganze Epoche zu verdrängen.

Als im Jahre 1927 die letzte «neue Opposition» im Vaterland aller Werktätigen massakriert wurde, war der Anteil der alten Parteikader von 1917 bereits auf 1,4 Prozent der Mitglieder geschrumpft.

Erst jetzt war die stalinistische Machtstruktur vorhanden, die es dem bürokratischen Subjekt erlaubte, die Industrialisierung und Kollektivierung durchzupeitschen. Folgerichtig beendete man zu dieser Zeit die «Neue Ökonomische Politik» und arbeitete den ersten Fünfjahresplan aus.

Die innere Gleichschaltung der Partei wurde derweilen über die Gleichschaltung der Sowjets in das öffentliche Leben der russischen Gesellschaft übersetzt. Die zündende Parole aus den April-Thesen Lenins «Alle Macht den Sowjets!» paßte ohnehin niemals in dessen bürokratisches Organisationskonzept. Noch während des Bürgerkrieges schaffte man denn auch ohne lange Diskussion die freie Kandidatenwahl für die Sowjets ab. Späterhin wurde sie zwar wieder zugelassen, aber nachdem man um die Jahresmitte 1918 die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki aus den Sowjets vertrieben hatte, war da niemand mehr außer den Wunschkandidaten des Politbüros, den man hätte wählen können.

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Noch bevor die Bolschewiki die Sowjets gleichschalteten, schrieb Rosa Luxemburg in der Einsamkeit ihrer Breslauer Gefängnishaft ihr Manuskript «Zur russischen Revolution», das Paul Levi 1922 veröffentlichte.

Bis auf den heutigen Tag versuchen Parteiideologen diese Schrift als Ergebnis mangelhafter Information und «fehlerhafter» Auffassungen hinzustellen. In Wahrheit wiederholte aber Rosa Luxemburg lediglich ihre Kritik aus dem Jahre 1904.

Hatte sie damals die Bolschewiki aufgefordert, ihren Kampf gegen den Opportunismus nicht als Parteiausschluß­verfahren zu führen, verlangte sie diesmal, die «wichtigsten demokratischen Garantien eines gesunden öffentlichen Lebens und der politischen Aktivität der arbeitenden Massen» wieder­herzustellen.

Der bolschewistischen Staatspartei hielt sie vor, sie hätte «durch Erdrückung des öffentlichen Lebens die Quelle der politischen Erfahrung ... verstopft»19.

Für die im abendländischen Staatsdenken verwurzelte Rosa Luxemburg war der sich im Sowjetsystem institutionalisierende politische Überbau, der nahtlos an das Erbe der zaristischen Despotie anschloß, unakzeptabel. Sowjets ohne die gleichzeitige «Schule des öffentlichen Lebens» erschienen Rosa Luxemburg als Vehikel der Aufhebung der bestehenden politischen Arbeitsteilung und Mittel gegen die Subalternität der Massen unbrauchbar und allein als Legitimations­kulisse für bürokratische Machtverhältnisse geeignet.

Mag die Programmatik «uneingeschränkter, breitester Demokratie» angesichts hungernder Menschen und einer vom Bürgerkrieg zerrütteten Wirtschaft vielleicht noch historisch vorwitzig gewesen sein — darüber zu streiten ist sinnlos —, so entfaltet diese Programmatik in der heutigen Zeit ihre Wahrheit aus sich selbst.

«Fällt das alles hinweg», dann lautet nun einmal die Frage: «Was bleibt in Wirklichkeit?»

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Und die Antwort auf diese Frage ist dieselbe geblieben, die schon Rosa Luxemburg den Bolschewiki gegeben hat:

«Lenin und Trotzki haben anstelle der aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Vertretungskörperschaften die Sowjets als die einzige wahre Vertretung der arbeitenden Menschen hingestellt. Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muß auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungs­freiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in dem die Bürokratie allein das tätige Element bleibt.

Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft — eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker ...»20

Dem Maßstab menschlicher Emanzipation, den Rosa Luxemburg ihrer Kritik zugrunde legte, konnten — ob gewollt oder nicht — Lenin und die Bolschewiki 1917 nicht genügen. Insoweit ist es gar nicht verwunderlich, wenn Rosa Luxemburg und Lenin, und das bei nur geringfügigen Unterschieden im philosophischen Ausgangspunkt ihres Denkens, ausgerechnet in der «Organisations­frage» zu völlig entgegengesetzten Antworten gelangten.

Wer den Blutzoll bedenkt, der den Veteranen der bolschewistischen Garde abverlangt wurde, der kann nicht ernsthaft daran zweifeln, daß deren politische Entscheidungen Folgen ausgelöst haben, die unbeabsichtigt waren.

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Es bedarf schon einiger Phantasie, um daran zu glauben, daß Männer wie Sinowjew oder Bucharin Beschlüssen bewußt zugestimmt hätten, die das Ende ihrer staatsmännischen Karriere vor einem Erschießungspeloton bezweckten. Und doch war der tragische Tod dieser Männer das Ergebnis von Entscheidungen, denen sie selber zugestimmt hatten.

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Die grausame Enttäuschung, die ihnen widerfahren ist, können wir nur dann verstehen, wenn wir die illusorischen Erwartungen bedenken, an die sie sich bei ihren politischen Entscheidungen geklammert haben. Nicht zuletzt hat die Irrealität dieser Erwartungen ihren Blick für die realen Folgen ihres Handelns verwirrt. Oder was in gewisser Weise dasselbe ist: viele Entscheidungen wären ohne die illusionären Erwartungen und in Voraussicht der realen Folgen vom Zentralkomitee überhaupt nicht gefällt worden. Man kann sich schlecht vorstellen, daß Lenin seine Doktrin von der «Partei neuen Typus» in Kenntnis der geschichtlichen Folgen dieser Lehre überhaupt zu Papier gebracht hätte.

Nachdem wir heute wissen, wie blutig die kurze Geschichte des Staatssozialismus ausgefallen ist, können wir uns die Wieder­holung der immer gleichen Formeln und damit die Wiederholung der Vergangenheit ersparen.

Die Bürokratisierung der Partei, die sich aus der Innenansicht in der Souveränität des Apparats gegenüber der politisch entmündigten Mitgliedschaft der Partei widerspiegelt, bedarf natürlich der Rechtfertigung. Im «Gesetz der führenden Rolle der Partei» wird das auch außerhalb der Parteistrukturen wahrgenommene Phänomen der Verselbständigung und Monopolisierung von Politik zur historischen Notwendigkeit verklärt. Die «führende Rolle» wiederum rechtfertigt sich aus der Funktion der Staatspartei, welche die «welthistorische Mission der Arbeiterklasse» anleitet und — wenn erforderlich, mit Hilfe der Staatsmacht — garantiert.

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Wollen wir die wahre Bedeutung aller dieser Parolen entschlüsseln, dann sollten wir die von Rosa Luxemburg hinterlassene Kritik der Staatspartei so lesen, wie sie geschrieben steht, nicht nur als Menetekel (was sie sicherlich auch ist), sondern als zutreffende Charakterisierung der historischen Grundlage unserer politischen Seinsweise im Sozialismus. Wichtigste Bedingung dieser Seinsweise aber ist, daß das «öffentliche» Leben, von dem Rosa Luxemburg immer wieder gesprochen hat, «eingeschläfert» wurde, sobald der Formationswandel vollzogen war. Ohne diese Voraussetzung wäre weder die Verselbständigung der Parteizentrale noch der vormundschaftliche Staat möglich. 

Politisches Desinteresse der Menschen und Kuschbereitschaft sind maßgebend für die Bestandserhaltung der Parteistaats-Herrschaft. Erst das allgemeine Desinteresse macht bürokratische Grundsatz­entscheidungen ohne allzu große Rücksichtnahme auf die Werte und Ziele der Arbeiterbewegung möglich.

Man muß sich über den Gewinn an Entscheidungsfreiheit durch die Machthaber klarwerden, der damit verbunden ist. Beinahe alles wird möglich! Länder werden besetzt, Befreiungsbewegungen werden ebenso unterstützt wie mörderische Regimes, Demokratie wird verordnet oder unterdrückt, der Frieden wird zum höchsten Gut der Menschheit erklärt, und zugleich verfolgt man die Friedens­arbeit... Beliebigkeit — und zwar im Guten wie im Bösen — wird positiviert!

Angesichts der Entwicklung des Staatssozialismus scheint es, als ob die Industriearbeiter in der Gegenwart zu einer ähnlich konservativen Klasse geworden sind, wie die westeuropäischen Bauern im 19. Jahrhundert es waren.

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Beide Klassen klammern sich verbissen an den perspektivlosen Wohlstand, den sie erstritten haben — uninteressiert und staatsfromm gleichermaßen. So nahe aber das Sozialverhalten der Arbeiter und Bauern beieinander liegen mag, der Vergleich hinkt beträchtlich hinter der Wirklichkeit her.

Die Bauern erkannten die vorhandene Herrschaftsordnung als von alters her geltend an, so, wie sich diese ihnen im Recht, in den Sitten und Gebräuchen offenbarte. Allein schon das biblische Alter der meisten überlieferten Normen symbolisierte ihnen die Unabänderlichkeit des Bestehenden. Im Gegensatz dazu hat die alte Arbeiterbewegung in Ost und West, die Produzenten mit der neuzeitlichen Skepsis gegen unabänderliche Werte und Normen ausgerüstet. Man kann sagen, die Erwartungen der Menschen wurden neu geordnet.

In dieser Situation erzeugt die Arbeitsteilung zwischen der symbolisch agierenden «Sinnproduktion» und der auf einer techno­kratischen Ebene operierenden «Entscheidungsproduktion» von vornherein schärfere Gegensätze, als dies in der traditionellen Gesellschafts­formation jemals der Fall sein konnte. Der Technokrat im Staatssozialismus orientiert sich für gewöhnlich an Zweckmäßigkeits­erwägungen, er handelt instrumental, ohne sich dabei um eine übergreifende Legitimation seines Handelns zu kümmern. Die eigentliche Aufgabe der Staatspartei ist es nun, die Arbeitsteilung zwischen Entscheidungs­praxis und Rechtfertigungs­ideologie zu vermitteln und auftretende Gegensätze abzuarbeiten.

Konkret heißt das:

Die Staatspartei muß einerseits die technokratische Abteilung innerhalb der Bürokratie zügeln, damit diese nicht allzu überraschende Wendungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik vollzieht, andererseits aber muß sie die den Realitäten ständig hinterherlaufenden Propagandisten motivieren, die jeweils letzten Entscheidungen ideologisch zu rechtfertigen.

Während die Wirtschaftslenker allein den ökonomischen Nutzen, die Devisenlage usw. im Auge haben, interessiert die Ideologen vorrangig die Verankerung des politökonomischen Systems in Werten und Normen. Die Bereinigung der dadurch bedingten Differenzen ist ein ständiges Problem im Staatssozialismus, zu dessen Lösung die «führende Rolle der Partei» beiträgt.

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Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real-existierenden Sozialismus