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  Teil 2   Die Wirklichkeit des Staatssozialismus 

4.   Zur Genesis des bürokratischen Sozialismus in Deutschland 

 

 

   Formationsverdrängung: die Ausnahme von der historischen Regel   

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Obwohl die machtvolle Einflußnahme sowjetischer Administratoren die entscheidende Voraussetzung bei der Errichtung der Staatsmacht und -produktion östlich der Elbe gewesen ist, wird der nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges unter deren «oberster Regierungsgewalt» vollzogene Bruch, der im Ergebnis die staatssozialistische Gesellschaft in der einen Hälfte des geteilten Landes aus der Kontinuität der deutschen National­geschichte entbindet, bis heute im Sinne des Vorworts «Zur Kritik der politischen Ökonomie» dem organischen Wirken angeblich objektiver Gesetzmäßigkeiten zugeschrieben.

Abgerundet wird ein derartiges Bild durch die Einordnung dieser Formationsverdrängung in das unter dem Gesichtspunkt der Eigentumsfrage (gemeinschaftliches Eigentum — Privateigentum — gesellschaftliches Eigentum) erstellte Schema der Weltgeschichte. Was an Fragen unbeantwortet bleibt, wird den Ungereimtheiten einer «Übergangsperiode» zugeschrieben.

Wie in fast allen Ländern, die unter sowjetische Führung geraten sind, wird Formationsgeschichte bei uns nunmehr als Variation über ein und dasselbe Thema begriffen: Lehrstück aus einer Epoche des welt­um­spannenden Übergangs vom Kapitalismus in den Sozialismus zu sein. Daß ausgerechnet diese Art von «Übergang» in den klassischen Metropolen des Kapitals nirgendwo stattfindet und gegenwärtig in der prophezeiten Form immer unwahrscheinlicher wird, ist der einzige Schönheits­fehler, welcher dieser Lehre seit ihrer Entstehung anhaftet.

Das Beispiel der beiden deutschen Staaten mit seiner unübersehbaren Determinanz internationaler Faktoren widerspricht der ideologischen Verwertung einer organischen Geschichtsauffassung, die aus der Analyse der englischen und französischen bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ihr politökonomisches Wissen bezogen hat. In der Französischen Revolution von 1789 und in der industriellen Revolution Englands wurden bekanntlich originäre bürgerliche Produktionsverhältnisse mit einem entsprechenden Überbau versehen. Den inneren Mechanismus dieser Dialektik deckte Marx auf, indem er die Notwendigkeit übereinstimmender Entwicklungen der materiellen Produktivkräfte mit den in diesen Gesellschaften vorhandenen Produktions- und Verkehrs­verhältnissen hervorhob.

So treffend aber im «Vorwort» die Entwicklungsdynamik der politischen Ökonomie in den Ursprungszentren der bürgerlichen Gesellschaftsformation auch entfaltet ist, bietet dieses dennoch keine «abgeschlossene Formulierung der Grundsätze des Materialismus, ausgedehnt auf die menschliche Gesellschaft und ihre Geschichte», wie Lenin einst meinte. 

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Schon die beginnenden Umwälzungen des alten Ständestaates in den deutschen Ländern waren ja durchaus den Revolutionskriegen nach 1792 und der napoleonischen Imperialpolitik geschuldet, ebenso wie die der «ausgebildeten Bourgeoisie entsprechenden politischen Formen den Deutschen» nach einem Wort von Marx durch die Julirevolution «von außen zugeschoben wurden». 

Noch viel weniger als diese Entwicklungen genügt die deutsche Gegenwartsgeschichte der Entwicklungs­dynamik, wie sie unsere Ideologen aus dem «Vorwort» herauslesen. Unterstellen wir nämlich, daß in Deutschland (Ost) nach Kriegsende die Ablösung der kapitalistischen Produktions­verhältnisse fällig war (mindestens aber materiell vorbereitet, wie manchmal einschränkend vermerkt wird), weil sich dieselben von Entwicklungsformen zu Fesseln der Produktivkräfte gewandelt hatten, dann ist es schleierhaft, warum wir nicht vier Jahrzehnte Geschichte in Deutschland (West) als «Epoche sozialer Revolution» miterleben durften.

Von dem krassen Niveauunterschied der Produktivkraftentwicklung in beiden Wirtschaftssystemen gar nicht erst zu reden. Was ist das also für ein Unding von Revolution, wäre mit Stefan Heym zu fragen, die es nicht fertigbringt, von einer Straßenseite in Berlin auf die andere überzugreifen?

Versuchen wir den Klassikern des Marxismus ernsthaft zu folgen. In ihrem frühen Werk «Die deutsche Ideologie» (das Lenin übrigens niemals gelesen hat) haben Marx und Engels die Möglichkeit durchaus in Rechnung gestellt, daß ein nationaler Widerspruch der Produktivkräfte gegen die Verkehrs- und Produktions­verhältnisse in einer Gesellschaft international zu Buche schlägt, wenn in Fällen nachfolgender militärischer Besetzungen «dem eroberten Lande die auf einem andern Boden entwickelte Verkehrsform fertig herübergebracht wird».21

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Später hat Marx in den «Grundrissen» das über Eroberungen vermittelte «Einspielen» fremder Produktions­verhältnisse in eine geschichtlich anders bestimmte Produktionsweise im einzelnen systematisiert:

«Bei allen Eroberungen ist dreierlei möglich. Das erobernde Volk unterwirft das eroberte seiner eigenen Produktions­weise (z.B. die Engländer in Irland in diesem Jahrhundert, zum Teil in Indien); oder es läßt die alte bestehen und begnügt sich mit Tribut (z.B. Türken und Römer); oder es tritt eine Wechselwirkung ein, wodurch ein Neues entsteht, eine Synthese (zum Teil in den germanischen Eroberungen).»22

Daß ein derartiges «Einspielen» fremder Produktionsverhältnisse in eine militärisch unterworfene Gesellschaft niemals ohne zwischen­staatliche Gewalt abgeht, versteht sich von selbst. Zweifellos ist die Formationsverdrängung auf deutschem Boden anhand dieses Modells viel plausibler zu erklären, als das jemals mit Hilfe des im «Vorwort» enthaltenen Paradigmas möglich wäre. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die von Marx ausgewählten Beispiele ausnahmslos auf traditionale Gesellschafts­formen verweisen. Allein den politökonomisch gänzlich trivialen Tatbestand, der einer Nation «übertragene, nicht ursprüngliche Produktions­verhältnisse» einbringt, gilt es an dieser Stelle festzuhalten. Aus dieser Sicht ist es einerlei, ob eine andersartige Produktions­weise im Ergebnis der Abwehr einer Aggression und nachfolgender Militär­verwaltung des besiegten Landes oder im Verlaufe eines Kolonialkrieges übertragen wird.

Von ausschlaggebender Bedeutung war allerdings, daß die Formationsverdrängung erst in einer Phase der deutschen Geschichte vollzogen wurde, in der sich der Staatsapparat und die Wirtschaft als Systeme zweckrationalen Handelns längst aus ihrer Verwurzelung in der familiären Lebenswelt gelöst hatten. Die politische und ökonomische Umwälzung konnte deshalb entscheidend nur die Systemebene betreffen, währenddessen die Lebensweise des empirischen Menschen nur oberflächlich beeinflußt wurde.

Mit Ausnahme einiger untauglicher Versuche in den Gründerjahren, die private Lebenswelt der Produzenten umzukrempeln (man denke an solche dilettantischen Versuche wie die Schaffung der zehn Gebote einer sozialistischen Moral, die Veränderung eingefleischter Rituale usw.), wagt sich die Politbürokratie auf der Ebene der sozialen Integration nicht allzuweit vor. Während die Macht der Sowjetgesellschaft nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs augenscheinlich groß genug war, unseren politischen und ökonomischen Verhältnissen ihren Stempel aufzudrücken, überzeugt deren zivilisatorische Ausstrahlung bis heute nicht. 

Solange aber die soziale Integration der Menschen auf symbolische Überlieferung und eingeübte Sozialisationsmuster angewiesen bleibt, ergibt sich aus diesem Mißverständnis ein den allgemeinen Widerspruch zwischen System- und Sozialintegration verschärfender Gegensatz, der immer wieder andernorts unbekannte Orientierungs- und Legitimations­probleme erzeugt. Dieser Gegensatz relativiert dauerhaft den formativen Wandel! 

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   Staat und Recht   

Bis zur Übernahme der staatlichen Regierungsgewalt durch sowjetische Administratoren war Deutschland von jedem «anorganischen» Formations­wechsel verschont geblieben. Selbst der allwissenden deutschen Philosophie war ein solcher niemals ernsthaft in den Sinn gekommen. Allein Georg Forster, der Mainzer Jakobiner, hatte sich vorsorglich die Frage nach den Auswirkungen eines dem «chinesischen» analogen Regierungssystems gestellt. Ihm noch schien es ausgemacht, daß die «reichhaltigere Organisation des Europäers sich so gewaltsam nicht in eine Form zwängen, seine regeren Geisteskräfte sich nicht so gänzlich ersticken lassen» würden, um sich auf lange Zeiträume mit einer despotischen Verfassung abzufinden. 

Inzwischen mußten wir die peinliche Erfahrung machen, daß nicht nur Menschen aus dem «östlichen Asien» jene «Marionetten-Natur» ausbilden können, wie sie zu Lebzeiten Forsters das politische Handeln der Menschen in den nach dem Muster orientalischer Despotien organisierten Staaten bestimmt haben sollen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es jedenfalls der «totale Zusammenbruch», aus dem sich die Struktur ergab, welche die Möglichkeit eröffnete, entgegen allen geschichtlichen Vorerfahrungen die historischen Fertigprodukte der tributären Produktionsweise — Staat und Ökonomie des Sozialismus — durch Oktroi in die deutsche Privateigentums­gesellschaft zu übertragen. Ohne die vorübergehende, subjektiv durchaus ernst gemeinte Inanspruchnahme traditioneller Zielvorstellungen der deutschen Arbeiterbewegung und den moralischen Kredit derjenigen Kräfte, deren entschlossener Widerstand gegen die Nazibarbarei über jeden Verdacht erhaben ist, wäre das nicht möglich gewesen.

Wer die Auseinandersetzungen um Staat und Recht in der ostdeutschen Sozialbewegung nach Kriegsende nicht vergessen hat, weiß, wie weit unsere heutige Staatspraxis von den ursprünglichen Absichten ihrer Stifter abweicht. Das spricht für sich genommen gar nicht gegen die Praxis, wohl aber gegen eine Geschichts­auffassung, die seit damals das ganze Gesellschafts­denken verwirrt.

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Denn Verwirrung stiftete ja wohl der berühmte Aufruf der Partei vom 11. Juni 1945, wenn darin programmatisch gefordert wurde, «die Sache der Demokratisierung Deutschlands, die Sache der bürgerlich-demokratischen Umbildung, die 1848 begonnen wurde, zu Ende zu führen», und zwar ohne «Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen»! Die Fragwürdigkeit dieser Grundsatz­erklärung, die den Aufbau «einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk» zum zentralen Anliegen der Parteipolitik erklärte, ist heute nicht mehr zu leugnen.

Übersetzt in das Vokabular des Leninismus verlangte der Aufruf der Partei, den Widerspruch zwischen Staat und Gesellschaft entsprechend den «zwei Taktiken der Sozial­demokratie in der demokratischen Revolution» zu organisieren, um späterhin der politischen Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates das zivile Begräbnis der bürgerlichen Gesellschaft folgen zu lassen. Was zunächst nach Konzessions­bereitschaft gegenüber den besonderen Bedingungen in Deutschland aussah, mußte angesichts der sich bald verschärfenden Konfrontation zwischen den Siegermächten Illusion bleiben. Der Aufruf der Partei formulierte genau die Alternative für den Staatsaufbau, die in der Praxis nicht zu verwirklichen war.

Trotz nachträglicher Bestätigung der eingesetzten Amtsträger durch Wahlen vollzog sich die Errichtung der Staatsmacht in Form der «hierarchischen Investitur». Mit der «hierarchischen Investitur» schlug gleichsam die Stunde Null für die sozialistische Politbürokratie. Deren Aktivitäten waren von Beginn an folgerichtig auf die Abwehr jeder wirksamen Art von Kontrolle und den Ausbau der eigenen Machtvollkommenheit gerichtet. Schon die Kontrolle der Bürokratie durch die ersten Vertretungs­organe war faktisch eine Kontrolle der Funktionäre durch sich selbst.

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Den Löwenanteil der neuen Abgeordneten stellte die Verwaltung (z.B. waren in Sachsen-Anhalt von 109 Abgeordneten des Landtags 68 hauptberuflich im Apparat tätig). Durch den Ausschluß des Rechtsweges für die Geltendmachung der aus der rechtswidrigen Handhabung der öffentlichen Gewalt entstehenden Ansprüche wurde die Souveränität der Bürokratie perfektioniert. Das geschah, indem erst der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten mit dem Versprechen einer zu schaffenden Verwaltungs­gerichts­barkeit ausgeschlossen wurde, um dann die in einigen Ländern entstandenen Verwaltungsgerichte zu liquidieren.

Bei Konflikten mit der Macht konnte der Bürger nurmehr auf deren guten Willen und Selbstdisziplin hoffen, so wie er anderer­seits die verbindlichen Definitionen des Allgemein-Interesses durch die Bürokratie hinnehmen mußte. Wie es hieß, wären «angesichts des unbedingten Vorrangs der großen Aufbauaufgaben vor allen individuellen Belangen» Verwaltungs­rechtsverfahren nur geeignet gewesen, «die Festigung der antifaschistischen demokratischen Ordnung» zu hemmen. Der erste Präsident des Obersten Gerichts der DDR ermutigte die Bürokratie gar noch mit dem Hinweis, «die nur auf Privatrecht beruhenden Rück­sichten zurückzustellen». Damit vollends deutlich wurde, was gemeint war, erklärte das Oberste Gericht in einem Grundsatz­urteil aus dem Jahre 1951, es sei unvermeidlich, daß bei der Durchführung von Verwaltungs­maßnahmen «in dem einen oder anderen Falle die Person, das Eigentum, das Vermögen oder sonstige Interessen des einzelnen in Mitleidenschaft gezogen würden».

Unterzieht man diese Rechtsentwicklung und die als Beispiele des «entschlossenen Selbstbehauptungs­willens» beklatschten Urteile des Obersten Gerichts einer genaueren Betrachtung, wird schnell deutlich, daß der Rechtsweg für den einzelnen nicht etwa deshalb abgeschnitten wurde, weil dieser sich mit seiner Klage gegen die «Errungenschaften» des Sozialismus stellen wollte.

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Im Ernst hätte das kein Mensch gewagt. Ausgeschlossen wurde der Rechtsweg allein zugunsten der Souveränität der Politbürokratie. Machtausübung der Politbürokratie, das bedeutete in der ersten Phase des Staatssozialismus, wie inzwischen eingestanden wird, Machtausübung der Innenministerien. Diese wurden nach den Worten von Karl-Heinz Schöneburg zum «Kern der staatlichen Macht» und fungierten als «die eigentlichen Leitungszentren der gesellschaftlichen Umwälzung».

Zugunsten der Freiheit des Staates wurde auf die von der deutschen März- und Novemberrevolution erstrittene politische Freiheit des einzelnen verzichtet. Das entsprach gewiß nicht der Absicht so mancher Gründerväter des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden. Deren Vorsatz deckte bestenfalls die Zerschlagung des faschistischen Staates und die Enteignung des großen Kapitals ab, nicht aber die Verewigung der politischen Vormundschaft über die von den Schlachtfeldern der Welt heimkehrenden Arbeiter und Bauern in neuen Unterwerfungs- und Entmündigungs­verhältnissen. Entgegen allen Erklärungen stellte sich aber bald heraus, daß die politisch-rechtlichen Bedingungen, unter denen der Wechsel von der einen in die andere Gesellschafts­formation stattfand, in sich bereits das historische Maß der kommenden Verfassungs­wirklichkeit des entwickelten Sozialismus enthielten. Mit der Beseitigung der Verwaltungs­gerichtsbarkeit entschärfte die Politbürokratie jedenfalls die Wirksamkeit des sie in ihrer Tätigkeit disziplinierenden Rechtssatzes der «Gesetzlichkeit der Verwaltung».

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Daneben richtete sie ihre ganze ideologische Macht gegen die Inhalte des Verwaltungsrechts und gegen das diesen Inhalten entsprechende Rechtsbewußtsein der Menschen. Pauschal wurde das Verwaltungsrecht als Quelle eines «Normenkultes» und «leeren Formalismus» verdammt und dasselbe in seinen Vertretern persönlich verantwortlich gemacht für die in den Augen der Politbürokratie immer noch «politisch neutrale» Tätigkeit des Staates.

Den Schlußpunkt unter diesen beispiellosen Kreuzzug gegen die gewachsene deutsche Rechtskultur setzte die im Schatten der Reaktion auf den ungarischen Aufstand veranstaltete Konferenz von Babelsberg (1958). Auf dieser Konferenz erlitten die schon bis dahin nicht gerade systemkritischen DDR-Juristen ihr politisches Waterloo. Von den Folgen hat sich die Rechtskultur in der DDR bisher nicht erholt. «Der Begriff des ... Verwaltungsrechts verleitet direkt zu einem formaljuristischen Verhalten der Mitarbeiter des Staatsapparates ...» hatte Walter Ulbricht verkündet und damit nicht nur den Begriff, sondern gleich einen ganzen Rechtszweig auf den Index gesetzt.

Noch immer gibt es Menschen, die der Überzeugung sind, diese Rechtspraxis sei die Verwirklichung «grundlegender Prinzipien der Pariser Kommune». In der Staatstheorie hierzulande ist genau diese Behauptung das Dogma überhaupt. Doch wenn Marx und Engels Blanquisten, Parteigängern Proudhons und selbst den Anarchisten in der Pariser Kommune einst Beifall spendeten, weil diese die bürgerliche Gewaltenteilung aufgehoben haben und ihre berühmte arbeitende Körperschaft (vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit) anstelle der nach Versailles geflohenen Regierung des nationalen Verrats setzten, dann wollten sie damit gewiß keinem despotischen Zentralismus das Wort reden.

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Wenn wir es ehrlich meinen, müssen wir heute eingestehen: Mit der «Überwindung des bürgerlichen Grundsatzes der Gewaltenteilung» sind wir nicht nur der Realisierung des alten Kommune-Ideals um keinen Schritt nähergekommen; wir haben uns auch ohne Not vom Rechtsstaat abgewandt.

Aber nach Weimar führt kein Weg zurück. Schon gar nicht für die Politbürokratie. Auch dann nicht, wenn die jüngste Verfassung der Sowjetunion im historischen Nachtrag den «Rechtsweg» für die Überprüfung von Verwaltungs­maßnahmen wieder öffnen will. Ich zweifle nicht, daß dies auch in der DDR vor Ablauf des kommenden Jahres geschehen wird. Was als Ausdruck antagonistischer Gegensätze zwischen Staat und Bürger und Sinnbild der Gewaltenteilungslehre jahrzehntelang verunglimpft wurde — die Verwaltungsgerichtsbarkeit —, soll in der Perspektive helfen, den Anschein einer gewissen Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen.

Sicher wird das nicht zum Schaden des einzelnen in seinem täglichen Kleinkrieg gegen den Übermut der Ämter sein, aber bei Gott kein Fortschritt für denjenigen, der die eigene Rechtsgeschichte bisher nicht vergessen hat. Gemessen an der deutschen Rechtsgeschichte ist die Rechtsentwicklung im Staatssozialismus bis auf weiteres durchaus nicht die «Aufhebung des Niederen durch das Höhere», wie der Architekt unserer Rechtsordnung, Karl Polak, einst hoffnungsvoll verkündete, sondern zunächst erst einmal die Rezeption fremden Rechts. Was wir erlebt haben, war ein Wandel im Recht, in dessen Verlauf die Normierung einst errungener Freiheiten in Menschen- und Bürgerrechten wieder zurückgenommen wurde.

Nach dem vorläufigen Abschluß der Rezeption staatssozialistischen Rechts ist das Problem der «Bürger- und Menschenrechte» weder psychologisch noch politisch vom Tisch.

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Noch steht als «signa libertatis» Roland der Ries erinnernd auf den Marktplätzen unserer Städte. Roland der Ries ist das Symbol dafür, daß untergründig und vielfach übertönt von der Phraseologie ein Rechtsbewußtsein wirkt, welches im Schutz der individuellen Freiheit vor der Willkür wechselnder politischer Obrigkeiten noch immer den wesentlichen Sinn und Zweck des Rechts sehen will.

 

   Wirtschaft 

Nachdem die traditionell gegebene «natürliche» Struktur unserer Ökonomik mit den Verstaatlichungen nach Kriegsende außer Kraft gesetzt war, wußten die meisten gar nicht richtig, welches System der Produktion wirklich aus der Taufe gehoben werden sollte. Im Zuge der Bodenreform wurde Junkerland an die Bauern und Neusiedler verteilt. Die Betriebe in der industriellen Produktion wurden in «Volkseigentum» überführt. Was das eigentlich für eine Eigentumsform war, blieb zunächst weitgehend unklar. Die frisch inthronisierte Politbürokratie selber fühlte sich einen historischen Augenblick lang an den Ausgangspunkt der ursprünglichen Akkumulation erinnert. Und das nicht nur, weil die kapitalistischen Strukturen östlich der Elbe in Deutschland von ihren personalen Trägern entblößt waren; hinzu kamen chaotische Produktionsverhältnisse sowie eine auf militärische Bedürfnisse eingestellte, in ihrer materiellen Substanz ruinierte Maschinerie und Infrastruktur. Der gleichförmige Takt des Produktions­rhythmus als objektive Basis «kasernenmäßiger Disziplin des Fabrikregimes» war unterbrochen.

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Angesichts dieser Situation ist es nicht verwunderlich, daß es der aus der Emigration zurückgekehrten Parteibürokratie verhältnismäßig schnell gelang, ihre politische Macht mit der ökonomischen Direktion zu verschmelzen.

Normative Grundlage für die Inbetriebnahme einer staatssozialistischen Ökonomik war der Befehl Nr. 76 des Marschalls Sokolowski vom 23.4.1948, der die Verwaltung der volkseigenen Betriebe regelte. Erschienen der sowjetischen Militär­administration bereits bei der Investitur der Verwaltungsbürokratie die Einbeziehung der Massen und die Einhaltung demokratischer Spielregeln entbehrlich, so fand diese Politik auch im ökonomischen Sektor ihren Ausdruck. Der Befehl beschränkte die «Initiative der Arbeiter und des ingenieurtechnischen Personals» von vornherein auf «die Durchführung von Wettbewerben mit dem Ziel der ständigen Verbesserung der Produktion». Die Organisation der Produktion wurde nach dem Prinzip der Einzelleitung geordnet.

Alle nachfolgenden Wirtschaftsreformen haben die durch den Befehl des Marschalls begründeten Strukturen der ökonomischen Direktion unberührt gelassen. Die Lektüre des Textes des Befehls könnte einem aktuellen Handbuch der Wirtschaftsleitung entnommen sein, wenn es » darin heißt: «Die Verwaltung» der Wirtschaftseinheiten «wird durch einen Direktor geführt, der... ernannt wird... Der Direktor stellt den einzigen Verfügungsberechtigten dar.» Ein derartiges Organisationsschema war vom Ansatz her bereits gegen die Teilhabe der Produzenten am Produktions­mitteleigentum gerichtet. An die Stelle der vertriebenen Kapitaleigentümer trat eine anonyme Verwaltung, die Pläne und Bilanzen erstellte und von den Produzenten unabhängig über die Ergebnisse der Produktion verfügte.

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Formen einer verantwortlichen Mitwirkung der unmittelbaren Produzenten an der Wirtschaftsleitung sah der Befehl nicht vor. Die Interessen der Produzenten sollten durch einen «Verwaltungsrat» gewahrt werden, der sich aus Mitgliedern der Gewerkschaft zusammensetzte und einmal monatlich zur «Besprechung» der wirtschaftlichen Situation einberufen wurde, ohne jedoch Entscheidungsbefugnisse zu besitzen. Als demokratisches Feigenblatt war diesen «Verwaltungsräten» nur eine kurze Lebensdauer beschieden. Bereits zwei Jahre nach ihrer Gründung wurden sie mit dem Erlaß der Verordnung über die Reorganisation der volkseigenen Wirtschaft ungefragt abgeschafft.

 

   Vom deutschen Untertanengeist 

Wollen wir uns mit einem tieferen Verständnis für die Besonderheiten der Formationsverdrängung ausrüsten, bedarf es mindestens noch einer ergänzenden Bemerkung. Ich denke, es mangelt an dem ausdrücklichen Hinweis darauf, daß der formative Bruch mit der deutschen Nationalgeschichte paradoxerweise dadurch erleichtert wurde, daß die politischen Kräfte, die ihn vollzogen haben, mit bereits vorhandenen, begünstigenden Bewußtseins­strukturen rechnen konnten.

Mit dem Aufbau einer staatssozialistischen Verwaltung und Justiz, der Gründung einer Vielzahl von Massen­organisationen usw. mußten kurzfristig in großer Zahl Funktionäre aus den Reihen der Arbeiter, Angestellten und Bauern umworben werden. 

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Sieht man einmal davon ab, daß in der konkreten historischen Situation nach Kriegsende in großer Zahl auch sozial sehr fragwürdige Elemente mobilisiert wurden, dann waren es tatsächlich Menschen aus den bis dahin benachteiligten Schichten, die nunmehr die Richterstellen besetzten, als Staatsanwälte tätig wurden oder auf der Ebene der Städte und Gemeinden in die Verwaltungen einzogen. Die weit überwiegende Mehrheit dieser Menschen wurde zur Aufnahme einer solchen Tätigkeit überredet. Es war nur eine Minderheit, die innerlich einem «Klassenauftrag» folgte, wie man im Sprachgebrauch der damaligen Zeit sagte. Der größte Teil der «frischgebackenen» Funktionäre war ohne Sachkunde, was immer wieder herausgestellt wird, sobald vom «schweren» Neuanfang die Rede ist.

Kaum jemals Beachtung findet allerdings, daß gerade diese Menschen bewußtseinsmäßig durchaus auf ihre Tätigkeit in der Bürokratie eingestellt waren. Und das nicht etwa, weil sie über so etwas wie ein «Klassen­bewußtsein» verfügten. Vorbereitet waren alle diese Menschen durch die rationell-schematisierende Arbeitsteilung, wie sie sich im maschinellen Großbetrieb, innerhalb der Kontore, Kaufhäuser, bei Post und Bahn in Deutschland seit der Industrialisierung durchgesetzt hatte. Die Tätigkeit innerhalb der Bürokratie verlangte von ihnen nun eine durchaus ihrer bisherigen Arbeit entsprechende Anpassung an bürokratische Vollzüge und dementsprechend ein Bewußtsein, wie es etwa die Bedienung und Kontrolle einer Maschine erfordert. Die meisten Arbeiter und Angestellten, die aus der Werkhalle oder dem Kontor kamen und nunmehr eine bürokratische Funktion ausübten, waren daran gewöhnt, ein «Schräubchen» im Getriebe zu sein, sich als Individuen im Prozeß ihrer täglichen Arbeit zu «teilen». 

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Die Trennung ihrer Arbeitskraft von der eigenen Persönlichkeit, die notwendige Unterordnung unter ein zweckgerichtetes Regime reiner Sachbeziehungen, bereitete den in das bürokratische Korps übernommenen Arbeiter- und Bauernkadern kaum Schwierigkeiten. Diese Kader hatten genau das «verdinglichte Bewußtsein», dessen Phänomenologie Georg Lukács in seinem Artikel «Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats» meisterhaft beschrieben hat.

Diese den Prozeß der Formationsverdrängung begünstigende Verdinglichungsstruktur des Bewußtseins der Parteikader wurde durch ein an Gehirnwäsche grenzendes Schulungssystem im Marxismus-Leninismus zusätzlich «wissenschaftlich vertieft». Wer es bis dahin nicht wußte, dem wurde als Teilnehmer im «Parteilehrjahr» anhand der Werke Stalins schnell klargemacht, daß die an ihn ergehenden Weisungen der Parteispitze stets Ausdruck geschichtlicher Gesetzmäßigkeiten waren. Lernen mußten die neuen Kader aber auch, daß die Heimlichtuerei in den Ämtern nichts weiter als «Wachsamkeit» gegenüber dem Klassenfeind war oder etwa die bürokratische «Gewissenhaftigkeit» fortan identisch mit der «Klassendisziplin» sein sollte.

Daß eine solche Entwicklung innerhalb der Arbeiterbewegung selbst stattfinden konnte, wird letztlich erst dann verständlich, wenn wir in diesem Zusammenhang eine Seite des deutschen Gesellschaftscharakters in Rechnung stellen, die Heinrich Mann im «Untertan» in klassischer Weise beschrieben hat. Potsdam gilt dafür als das Symbol. Thomas Mann ging bekanntlich so weit zu sagen, die Deutschen seien ein ganz und gar unpolitisches und konservatives Volk, unfähig zu jeder Art Demokratie, weshalb der «Obrigkeitsstaat» die ihnen maßgeschneiderte Regierungsform sei. Man muß dieses Urteil nicht unbedingt teilen. Fest steht aber, daß die Verpreußung Deutschlands ihre Spuren in unserem Gesellschaftscharakter hinterlassen hat.

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Diese Spuren wurden mit der Gründung des sozialistischen Staates nicht getilgt. In Gestalt des vielzitierten Untertanengeistes kann man die Spur «Potsdam» über die Zeit der Formations­verdrängung bis in den entwickelten Sozialismus verfolgen. Noch immer gilt es als moralisch zulässiges Verhalten, auferlegte Pflichten erforderlichenfalls gegen die eigene, innere Überzeugung widerspruchslos zu erfüllen. Weiterhin begeistert man sich für die perfekte Organisation, preußischen Gehorsam usw., ohne die Gefahren der Organisations-Welt und den eigenen Mangel an Personalität zu sehen. All diese Seiten des deutschen Gesellschafts­charakters, die mit der Verpreußung Deutschlands zusammen­hängen, beutet der Staatssozialismus als Gesellschafts­formation skrupellos für sich aus.

 

Zur subjektiven Seite der Formationsverdrängung

 

Welche Wirkungen die Formationsverdrängung langfristig auf die subjektive Verfassung der Menschen zeitigen wird, kann man nicht genau sagen. In gewisser Weise ist ja der einzelne zwischen zwei Formationen geraten. Und sein Leben wird dadurch zum Leiden. «Ein Mensch der Antike», hat Hermann Hesse einmal geschrieben, «der im Mittelalter hätte leben müssen, wäre daran jämmerlich erstickt, ebenso wie ein Wilder inmitten unsrer Zivilisation ersticken müßte. Es gibt nun Zeiten, wo eine ganze Generation so zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Lebensstile hineingerät, daß ihr jede Selbstverständlichkeit, jede Sitte, jede Geborgenheit und Unschuld verlorengeht.»23)

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Solche Grundbefindlichkeit des Menschen ist historisch durchaus nicht neu, sondern geht einher mit der Auf- und Auseinanderfolge der Formationen im Wandel der Zeiten. Wenn sich aber schon in dieser progressiven und organischen Auf- und Auseinanderfolge der Gesellschaftsformationen Kulturen und Lebensweisen, Religionen, Ideologien und Staats- ebenso wie Rechtsformen bedrohlich und mitunter verlustreich überschneiden, muß dies um vieles mehr dort der Fall sein, wo einer Gesellschaft von außen ein ihr fremder Überbau übergestülpt wird. Zu den historisch gängigen, die nationale Individualität eines Volkes wahrenden Widerspruchsbeziehungen zwischen zwei Entwicklungsstufen, zum Kampf des Alten gegen das Neue, tritt hier die Auseinandersetzung des Eigenen mit dem Fremden, mit der Verfremdung des Nationalen hinzu.

Daß mit der durchgängigen Orientierung an der Staats- und Produktionsordnung der sowjetischen Siegermacht, die mit einem affektiven Rückzug aus der eigenen Vergangenheit einherging, zugleich Verleugnungs­arbeit großen Stils geleistet wurde, steht dabei außer Zweifel. Wer sich zu den Siegern der Geschichte rechnet, welchen nachfühlbaren Grund zur Trauer sollte der schon haben können? Das ganze Geschehen hatte durchaus vergleichbare Züge wie das Verhalten der Deutschen nach der ersten Weltkriegs­katastrophe. 

Wieder wurden, um es mit den Worten von Rainer Maria Rilke zu sagen, durch schmerzverpflichtete Menschen

«Schmerzsummen von nie dagewesener Höhe, die fällig waren, unterschlagen... Die Vorstellung des Opfers, der harte Stolz, die fortwährend geübte Umdeutung von soviel Unheil, das doch Unheil war, von soviel Unrecht, das doch Unrecht bleibt, von soviel Tod, der doch nichts als Tod war und tödlichster, weil mit keiner inneren Kontinuität des Lebens zusammenhängender Tod: 

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diese Umdeutung des Tatsächlichen in seine patriotischen Potenzen hat den Schmerz bis auf ein mindestes abgestellt, ja auch dieses mindeste glänzte von einem Zwielicht der Freudigkeit wie von dem Widerschein einer allgemein verabredeten, einer, wenn man so sagen darf, geheiligten Schaden-Freude, war grau, hatte an keiner Stelle die unerschöpfliche Schwärze des vollkommenen Schmerzes! Um den Frieden festzusetzen, hätte, könnte man denken, eines genügen mögen: die bloße einfache Verstattung an einen jeden, den übergangenen Schmerz nachzuholen, nachzulernen, nachzuweinen, Stunde für Stunde, Ursache für Ursache.»24)  

Ein solches Verhalten hätte die einzige wahre Gemeinsamkeit zwischen den Deutschen abgeben können. Aber dieses einzige Wirkliche wollten die Deutschen im Osten wie im Westen von Anfang an nicht wahrhaben. In den politischen Auseinander­setzungen der Nachkriegszeit wurde der Schmerz abgewehrt, indem man sich in einen Haß auf den jeweiligen Kontrahenten hineinsteigerte, der heute kaum mehr vorstellbar ist. In dieser Einstellung konnte es gar keine geistige Erneuerung geben. Was möglich war, das war ein erneuter kollektiver Selbstbetrug.

 

   Kulturelle Verödung  

 

Veröden mußte in der «Auseinandersetzung der Systeme» zugleich die deutsche Kultur östlich der Elbe. Die deutsche Kultur gehörte formativ immer dem Westen zu, wenngleich sie auch in verschiedenen Epochen das verbindende Glied zum Osten darstellte.

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Der dieser Kultur angestammte Sprach- und Existenzraum wurde zerstückelt. Grobschlächtig wurde der kulturelle Verkehr unterbrochen, was im Ergebnis zu einer geistigen Provinzialisierung der DDR führte. Diese Konsequenz der Formations­verdrängung konnte so lange übersehen werden, wie die nach Kriegsende in die DDR heimgekehrten Emigranten das Niveau hierzulande mit ihren Produktionen bestimmten. Immerhin hatte man in der ersten Aufbau­euphorie deutsche Künstler von Weltgeltung wie Arnold Zweig, den Romanisten Werner Krauss, die Musiker Paul Dessau und Hanns Eisler ins Land gerufen. 

Und getreu seiner selbstgewählten Losung: «Wir werden ein nationales Theater haben oder keins», organisierte Bertolt Brecht das «Berliner Ensemble», welches bald zum Mekka der Theaterschaffenden in Ost und West wurde. Unter der Leitung Walter Felsensteins brachte die «Komische Oper» erste Aufführungen eines neuen Musiktheaters. Adorno und Horkheimer veröffentlichten ihre Texte in der Literaturzeitschrift Sinn und Form. Und nicht zu vergessen, ein mit seinem Fühlen und Denken zutiefst in der deutschen Kultur verwurzelter Mann wie der Lyriker Johannes R. Becher amtierte als zuständiger Minister. Es genügt, sich dieser Sterne erster Ordnung zu erinnern, um abzuschätzen, was von dem kulturellen Glanz der Nachkriegszeit übriggeblieben ist. Seit dem Ableben von Anna Seghers, der letzten Galionsfigur des bürokratischen Kulturbetriebs, ist die schleichend kulturelle Verödung zwischen Oder und Elbe nicht mehr zu verheimlichen.

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Verschärft wird die mit der Formationsverdrängung ausgelöste Tendenz der kulturellen Verödung durch den periodischen Exodus der nachgeborenen Künstlergenerationen. Das Heimatverbot, mit dem die Politbürokratie 1976 den Sänger Wolf Biermann belegte, wurde für viele Künstler der Anlaß, um der kulturellen Provinz für immer den Rücken zuzukehren. Damals wurde dem größten Teil der Kulturschaffenden klar, «daß die Alternativen, in denen wir leben, eine nach der anderen zusammenbrechen und daß immer weniger wirkliche Lebensalternativen übrigbleiben»25.

Philosophisch kam ein Bewußtsein von der zunehmenden Zahl unbelebbarer Alternativen auf. Eine Bewußtwerdung fand statt, die ihre exemplarische Entsprechung in dem Titel «Kein Ort. Nirgends» gefunden hat. Christa Wolf, die unter diesem Titel die kulturelle Befindlichkeit so vieler Menschen in einer ästhetisch einmaligen Form und Weise zur Sprache gebracht hat, fand darüber hinaus deutliche Worte für die Folgen bürokratischer Kulturpolitik: 

«1976 war ein Einschnitt in der kulturpolitischen Entwicklung bei uns, äußerlich markiert durch die Ausbürgerung von Biermann. Das hat zu einer Polarisierung der kulturell arbeitenden Menschen auf verschiedenen Gebieten, besonders in der Literatur, geführt. Eine Gruppe von Autoren wurde sich darüber klar, daß ihre direkte Mitarbeit in dem Sinne, wie sie sie selbst verantworten konnte und für richtig hielt, nicht mehr gebraucht wurde. Wir waren ja Sozialisten, wir lebten als Sozialisten in der DDR, weil wir dort uns einmischen, dort mitarbeiten wollten. Das reine Zurück­geworfensein auf die Literatur brachte den einzelnen in eine Krise; eine Krise, die existentiell war.»26

Im Ergebnis dieser Situation haben viele Kulturschaffende das Land verlassen. Augenscheinlich ist der kulturelle Aderlaß, den wir seit 1976 erleben, nicht einmal mehr mit handfesten Privilegien zu stoppen. Das alles bedeutet natürlich noch lange nicht, daß sich zwei deutsche Kulturen herausgebildet haben. Ein ausdifferenziertes politökonomisches System kann man mit Macht vom Markt auf einen Staatsplan umschalten, wohingegen die deutsche Kultur in Ost und West nur ihre eigene Geschichte fortsetzen kann oder keine.

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Was uns allerdings nachdenklich stimmen muß, sind die überlieferten Beispiele kulturellen Stillstands, die den für die tributäre Produktions­weise nicht gerade untypischen Mauerbau in der Vergangenheit oftmals begleitet haben. Vermutlich ist die Gefahr des Opportunismus, der künstlerischen Anpassung an die kulturellen Bedürfnisse der Politbürokratie im Gegensatz dazu unbedeutend. Künstler, die in der Moderne nicht vorbehaltlos dem Eigensinn des Ästhetischen frönen, verderben zwar den guten Geschmack, die menschliche Sehnsucht nach der Vermittlung authentischer Erfahrungen im Umgang mit Subjektivität können sie jedoch niemals stillen.

Ebensowenig kann der bürokratische Kulturbetrieb die Autonomie der Kunst zurücknehmen. Diese wird weiterhin in ihren ästhetisch bleibenden Schöpfungen ebenso wie in der exemplarischen Lebensweise ihrer Akteure ein kollektives Orientierungs­muster zur Geltung bringen, welches das fühlende und reflektierende Individuum und nicht wie von der Politbürokratie gewünscht die «Klasse» in den Mittelpunkt rückt. Das geschieht nur dort nicht, wo sich Literaten, bildende Künstler oder Musiker erneut dem «Hofstaat» zugesellt haben. 

Hier, im Bereich des «höfischen Lebens» der Politbürokratie, ist die Wahrheit tatsächlich «Parteilichkeit» und die Kunst ist «Waffe» im Interessenkampf. Hier, in einem korrupten Verein des «bedürftigen Scheins» rekrutiert die amtliche Kulturpolitik ihre ideologischen Klopffechter. Deren Auftrag ist es, die zerbrochene Sinneinheit von Individuum und Gesellschaft wenigstens auf dem Papier wiederherzustellen. Es ist speziell dieser Verein, der die ganze Welt der intelligiblen Gegenstände daraufhin überprüft, in welchem Maße sie zur Gleichschaltung der Menschen beitragen könnte.

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  Wer sind wir — wer wollen wir sein?  

 

«Ich liebe dieses Land, dessen Wälder und Auen mir vertraut sind. Die Sprach lieb' ich, die mein Vater sprach. Ist dies Tugend? Doch wie kann ich einen staatlichen Komplex lieben, der sich allmählich bildete... Nein! nennt ihr das Vaterland, so lieb' ich's nicht und keiner liebt's. Es ist ja auch wahrhaftig so unsinnig, daß man sich nicht anders helfen konnte, als indem man dieses närrische Gefühl, das keiner wirklich hegt, zur Tugend stempelte. Und denkt doch: wird dieses Stückchen Land, das mich gebar, vom großen Ganzen abgerissen, und behalt' ich das große Ganze lieb, so bin ich ein Verräter!»   Arthur Schnitzler: Vaterland    wikipedia  Arthur_Schnitzler  1862-1931

Im alltäglichen Schacher um den Leitbegriff der Nation werden die Erinnerungen an den Formations­wechsel ebenso wie die verbliebenen Restbestände nationaler Gefühle weichgeklopft. Was Ausländern oftmals wie ein Streit um des Kaisers Bart anmutet, ist in Wahrheit der überlebensnotwendige Versuch unserer Gesellschaft, die trotz Staatsgründung und stabiler Ökonomie aufgrund der Formationsverdrängung nach wie vor wider­sprüch­liche Lebenssituation und die zutiefst verunsicherte Identität der DDR-Deutschen verbindlich neu zu definieren.

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Im Inneren sollen die ständigen Definitionsbemühungen der Staatspartei dazu beitragen, die bürokratische Lenkung des Massen­verhaltens langfristig abzustützen. Die Gleichförmigkeit im Verhalten der Menschen setzt die verbindliche Definition der nationalen Situation voraus. Nur wo eine solche Definition vorliegt, kann der einzeln Handelnde sicher abschätzen, welche individuellen Beiträge von ihm zur kollektiven Aktion erwartet werden.

Wie das frühe Bürgertum seinen Begriff der Nation nicht getrennt von dem eines nationalen Marktes denken wollte, in vergleich­barer Weise setzt die Politbürokratie seit dem Abschluß der «Übergangsphase» — orientiert an ihren eigenen Gruppeninteressen — den Begriff der Nation mit dem des staatssozialistischen Systems in eins. Während die DDR-Verfassung von 1968 noch die «Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschlands» als Verfassungsgebot postulierte, ein politisches Fernziel, welches auf dem Wege der «schrittweisen Annäherung der beiden deutschen Staaten» vollzogen werden sollte, wollte die Parteizentrale bereits zwei Jahre später davon nichts mehr wissen: «Wer von der marxistisch-leninistischen Lehre vom Klassenkampf ausgeht», heißt es seither, «der weiß, daß es zwischen Imperialismus und Sozialismus nichts Gemeinsames und deshalb auch keine Annäherung geben kann. Das betrifft die Systeme, und das betrifft gleichermaßen die Staaten, die diese Systeme repräsentieren.»

Entlarvend ist der wiederkehrende Hinweis auf die Systeme, mit dem ein «objektiver Prozeß der Abgrenzung» begründet wird, während andererseits die naheliegende Bezugnahme auf die engmaschige deutsch-deutsche Gesamtstruktur unterbleibt. Auf diese Weise werden die ethnischen und kulturellen Gemeinsam­keiten, die bisher noch jedes politische System überdauert haben, kaum eines Wortes gewürdigt.

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Ein mit Hilfe des Systemdenkens zurechtgeschnittener Begriff der kollektiven Identität ist natürlich gefühlsmäßig weitgehend unbeachtlich. Wer ist schon willens, sich selber als Element eines Systems zu verstehen? Gedanklich wäre solches vielleicht noch möglich, die Gefühlswelt aber läßt sich so nicht umgestalten. Die Systembezeichnung D-D-R kann das Wort Deutschland nicht einfach ablösen. In den Tagebüchern von Maxie Wander gibt es eine Stelle, in der die Autorin auf diesen Sachverhalt anspielt: «Das Wort Österreich, wie das klingt, Skandinavien, England, Frankreich ... Und was sagt uns das Wort DDR? Ein abstrakter Begriff? Kann man eigentlich ein Gefühl entwickeln für ein Land, das so heißt?»

Offensichtlich überschätzt die Politbürokratie, wenn sie die Gesellschaft als Ganzes ihrem system­theoretisch bereinigten Begriff der Nation unterwerfen will, die Möglichkeiten der von ihr betriebenen Agitation und Propaganda.

Ob sich allerdings letztendlich ein in erster Linie am Modell des Systems der Politökonomie oder ein an den lebensweltlichen Handlungs­zusammenhängen abgelesener Begriff der kollektiven Identität durchsetzen wird, mündet soziologisch gesehen vermutlich in die Frage ein, in welcher Beziehung System- und Lebenswelt zueinander stehen. Moralisch-praktisch ist dagegen von Bedeutung, welchen Begriff die politischen Sprecher bei der Definition der nationalen Situation in Deutschland bevorzugen. Denn stillschweigend beinhaltet die begriffliche Wahl eine Stellungnahme für oder gegen die Vormacht des Politsystems über den Willen, und die Gefühle der Menschen.

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Im ideologischen Hick-Hack um den Begriff der Nation zeigt sich aber auch, wie begrenzt die Definitions-Macht der Machthaber ist, sobald Fragen der Identität betroffen sind. Die nationale Frage ist nun einmal nicht mit dem schlichten Fingerzeig auf die politischen Systeme zu beantworten. Unserer durch geschichtliche Überlieferungen geprägten kollektiven Identität können wir uns nur gemeinsam vergewissern, wenn wir diese als Ausdruck eingeschliffener Lebensformen verstehen. Lebensformen aber kann man nicht einfach ablehnen oder umbenennen. 

Wir können unsere seit der Formationsverdrängung verunsicherte nationale Identität bestenfalls dialektisch aufheben, indem wir uns gemeinsam fragen, wer wir eigentlich am Ende dieses Jahrtausends sein wollen, was im Hinblick auf die deutsch-deutschen Verhältnisse sein soll. Ein nationales Kollektiv aber, wenn es denn ein solches ist, braucht sich um «Abgrenzung» nicht zu bekümmern. Indem es die Frage nach der eigenen Identität auf wahrhaft demokratische Weise aufwirft, eignet es sich diese Identität in bewußter Weise an und schafft sie dabei neu.

Wer sich statt dessen vorrangig um «Abgrenzung» bemüht, der muß sich nicht wundern, wenn er den Sinn der Identitätsfrage verfehlt. Mit sich selbst identisch sein heißt nicht Abgrenzung von anderen Völkern, Rassen und Systemen, das heißt aber auch nicht, daß wir uns unserer Herkunft nicht mehr erinnern. Worum es uns ernsthaft nurmehr gehen kann in der Moderne, ist eine Weise des gesellschaftlichen Verhaltens, welche die anderen nicht ausschließt, sondern einnimmt. Solange die Frage nach der kollektiven Identität der Deutschen in der DDR auf die Abgrenzung gegenüber und die Auseinandersetzung mit dem «anderen System» verkürzt wird, bleibt unser nationales Selbstverständnis und damit unsere Ich-Identität gespalten. Damit verfehlen wir langfristig die Möglichkeit, die mit der Formationsverdrängung über uns gekommenen Nöte zu lindern.

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Gegen die beschädigte kollektive Identität der Deutschen wird neuerdings ein entstaatlichter Begriff der Nation aufgeboten, der von der Vorstellung frei ist, die Nation sei an die Wiederherstellung des Bismarckschen Einheitsstaates gebunden. An die Stelle der Identität eines Staatsbürgerkollektivs soll die Identität einer übergreifenden kulturellen Gemeinschaft treten. Vom Standpunkt einer» solchen Struktur her wäre es möglich, daß sich der einzelne frei macht von den Borniertheiten, die ihm mit der jeweiligen Staatsbürgerschaft zugemutet werden. Ausgestattet mit einer sich an kulturellen Werten aufrichtenden Identität könnten wir damit beginnen, den mit der neuzeitlichen Idee der Freiheit und der Individualität des einzelnen gesetzten Widerspruch zwischen universalistischen Ich-Strukturen einerseits und der partikularen staatlichen Interessenlage andererseits aufzuheben.

Der Staat als das Machtinstrument der Herrschenden verschafft allemal deren besonderen Interessen Gehör und Geltung, selbst wenn diese Interessen anhand universalistischer Normen und Werte nicht mehr gerechtfertigt werden können. Unter diesen Bedingungen kann auch anderswo die Entzweiung des Ich von der Gesellschaft nicht mehr innerhalb der staatlichen Organisations­form behoben werden. Die beschränkte, am Staat haftende Identität eines Kollektivs behält allein dort ihren Sinn, wo sie verhindert, daß die Freiheit einer Gemeinschaft zur Bestimmung ihrer Identität von Dritten beschnitten wird.

Von dieser Ausnahme abgesehen, kann man sagen, daß es in der Gegenwart nicht mehr möglich ist, aus organisierten Erlebnissen des kollektiven Stolzes (z.B. auf die Errungenschaften des Sozialismus) oder gar des Hasses (z.B. auf den Klassenfeind) eine Identität zu gewinnen, die auf vernünftige Weise den globalen Menschheitsproblemen gerecht wird.

Gewiß, die Kriegsgeschichte lehrt uns im Hinblick auf die äußeren Beziehungen — ebenso wie die Geschichte der Klassenkämpfe dasselbe für die inneren Gesellschafts­verhältnisse zeigt —, wie bereitwillig wir unsere Gruppen­identität gegenüber einem gemeinsamen Feind befestigen. Viel schwerer fällt uns dagegen der Abbau nationalistischer Einstellungen in der Kollaboration mit denen, deren Gesicht das offizielle Feindbild ziert.

Das in der Gegenwart manchmal beklagte defizitäre Nationalbewußtsein der Deutschen ist dann kein Mangel mehr, wenn es um die Herausbildung einer vernünftigen, die Staaten und Bündnissysteme übergreifenden neuen Identität geht, die sich an universalistischen Werten und Normen orientiert. Angesichts der globalen Menschheits­probleme ist es längst das Gebot der Stunde, eben diese universalistische Identität auszubilden.

Bis die aber erreicht ist, sollten wir die Mahnung des Schriftstellers Martin Walser nicht vergessen: «Wir alle haben auf dem Rücken den Vaterlandsleichnam, den schönen, den schmutzigen, den sie zerschnitten haben, daß wir jetzt in zwei Abkürzungen leben sollen. In denen dürfen wir nicht leben wollen. Wir dürften die BRD sowenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten.»   

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Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real-existierenden Sozialismus