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5.   System und Macht      Henrich-1989

 

  Die Abstraktion des Systems der Politökonomie  

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Bürokratische Herrschaftsformen ebenso wie ein System der Politökonomie hat es in Deutschland schon gegeben, bevor wir von der Formations­verdrängung überrascht wurden. Was also ist das Neue im Staatssozialismus? Am besten läßt sich diese Frage beantworten durch einen Vergleich der Systeme, bei dem wir uns durch die aus der Formations­verdrängung resultierende Unschärfe nicht allzusehr beirren lassen wollen.

Die Bürokratie in der bürgerlichen Gesellschaft wird bestimmt durch ihre Abhängigkeit von der Bourgeoisie, die sie als soziale Klasse hervorbringt. Die Aufgabe der Bürokratie als eines leitenden Ganzen ist es im wesentlichen, die bourgeoisen Klassen­interessen in Gesetzesform zu bringen und durch­zusetzen.

Im Zuge dieser historischen Liaison hat die bürgerliche Bürokratie dieselbe progressive Mission verwirklicht wie ehemals die Bourgeoisie selber. Besonders in Deutschland war es die politische Aufgabe der Bürokratie, die Inkonsequenzen der gesellschaftlichen Rekonstruktion von 1848/49, die vor allem im Verzicht des Bürgertums auf eine radikale Demokratisierung sichtbar wurden, in mühevoller Kanzleitätigkeit durch die Anwendung bürgerlichen Rechts in quasi legalistischer Manier auszugleichen.

So etwa wird im allgemeinen die historische Rolle der bürgerlichen Bürokratie im Marxismus umschrieben, wobei zumeist die das Allgemein­interesse vermittelnde Funktion derselben etwas vernachlässigt wird. Aber nicht darum geht es an dieser Stelle. Wichtig für den Vergleich mit der Bürokratie im Staats­sozialismus ist, daß die ökonomische Direktion in der markt­wirt­schaftlichen Gesellschaft selbst dann noch bei der Bourgeoisie verbleibt, wenn sich die Verflechtungen zwischen Staat und Ökonomik erkennbar verdichten.

Ganz anders dagegen ist die Stellung der Bürokratie in der staatssozialistischen Gesellschaft, in der es eine solche strukturelle Distanz zwischen ökonomischer und politischer Macht nicht gibt. Hier verkörpert sich in der Politbürokratie die Einheit der ökonomischen und politischen Macht. Die Spitze der bürokratischen Leitungspyramide (die oberste Etage des «Großen Hauses») hält der Generalsekretär der Staatspartei besetzt. Politik und Ökonomie sind im Sozialismus ihrem Inhalt nach miteinander vermischt. Juristische Formen fixieren hier nicht bloß «rein ökonomisch» funktionierende Handlungs­zusammenhänge — sie konstituieren dieselben. Jede rechtliche Normierung, welche die politische Herrschaft in ihre Schranken verweist, berührt die Eigentümerbefugnisse des Kapitals bestenfalls mittelbar, während sie die der staatssozialistischen Bürokratie durch die damit verbundene Beschränkung der Verfügung über die lebendige Arbeit in der Substanz trifft. 

Selbst wenn ein Kapitaleigentümer nicht mehr den geringsten Einfluß in politischer Hinsicht hat, ja sogar dann, wenn die ganze Bourgeoisie wie in den faschistischen Staaten zeitweilig von der Machtausübung ferngehalten wird, verliert der Kapitalist seine Ausbeutungs­möglichkeiten und die damit verbundene Gelegenheit, Reichtum zu scheffeln, nicht.

Für die Angehörigen der Nomenklatura im Staatssozialismus stellt sich die Sache völlig anders dar. Die an das Entscheidungs­monopol geknüpfte Möglichkeit, andere auszubeuten, ist genau in dem Moment nicht mehr gegeben, wenn die politbürokratische Karriere endet, was hin und wieder vorkommt. Die Ausbeutung im Staatssozialismus ist also ein «politisches Phänomen», wie Rudolf Bahro einmal gesagt hat.

In der für die bürgerliche Gesellschaft typischen Abspaltung der politischen von der ökonomischen Autorität lag die Voraussetzung, um die politischen und zivilen Rechte der Menschen rapide zu erweitern. Sobald die unmittelbaren Produzenten erst einmal dem «stummen Zwang» der Ware-Geld-Beziehungen und den «Naturgesetzen der Produktion» ausgeliefert sind, signalisiert die straf- und verwaltungsrechtliche Absicherung des Arbeitszwangs nurmehr die Ausnahme von der Regel in der marktwirtschaftlichen Produktion.

Historisch war der Herausbildung dieses Handlungsrahmens jener für Europa eigentümliche Prozeß vorausgegangen, in dessen Folge sich die mittelalterliche «Identität» der politischen Stände mit den «Ständen der bürgerlichen Gesellschaft» auflöst, womit die «Emanzipation des Privateigentums vom Gemeinwesen» und die «besondere Existenz» des modernen bürgerlichen Staats «neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft» überhaupt erst möglich wurde.27 Zwischen die Familie und den Staat treten die sich systematisch verselbständigenden ökonomischen Verhältnisse. Diese haben den Staat zu ihrer Voraussetzung, der als ein Selbständiges vor ihnen sein muß, um ihren Bestand zu sichern.28

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Wie die Entstehung des Staatssozialismus im zaristischen Rußland beweist, sind die Verhältnisse hier nicht mit dem seit Hegel und Marx geläufigen Paradigma zu erklären. Welcher gesellschaftliche Formenwandel ist es also, der dem Staatssozialismus zugrunde liegt? Ordnen wir unser Wissen über die asiatische Produktionsweise und die tributäre Despotie, dann liegt folgendes Erklärungsmuster nahe:

Erstens wird der Staat im Sozialismus nirgendwo in vergleichbarer Weise gegenüber der Ökonomik verselbständigt. Die Politbürokratie nimmt gerade mit Hilfe der Staatsmacht die gesamte Wirtschaft unter Kontrolle, um die aus der tributären Produktions­weise tradierte Einheit von Politik und Ökonomie bis in die letzte Dorfgemeinde hinein auf einem höheren Niveau der Komplexität zu erzwingen.

Zweitens begnügt sich die Politbürokratie im Staatssozialismus nicht mehr nur mit der Organisation einzelner, bestandserhaltender Gesellschaftsvorhaben und der Betreibung des Tributs. Sie löst darüber hinaus mit Hilfe des Staates die ehemals normativ integrierten Arbeitsbeziehungen der agrarischen und handwerklichen Produktion aus dem dorfgemeindlichen und städtischen Lebens­zusammenhang heraus, um diese Beziehungen innerhalb eines Systems der Arbeitsteilung mit der industriellen Produktion in den Staatsbetrieben zu verbinden.

Auf diese Weise entsteht ein den Horizont der gemeindlichen Lebenswelt weit übersteigendes zentralisiertes System der Politökonomie. Auf einer normativ entwurzelten Ebene funktionaler Verflechtungen treten in der Arbeitswelt dem einzelnen die «staatsökonomischen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs» in Gestalt von Plänen und Bilanzen gegenüber.

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Vom Vorverständnis der Alltagspraxis werden diese Formen nicht mehr eingesehen. Zurück bleibt die sich allmählich wandelnde Familie mitsamt dem ganzen Kreis persönlicher Gemeinschaften und sozialer Verständigungsformen, in denen nach wie vor die grundlegenden Prozesse der Subjektkonstitution ablaufen und der Konsens geschmiedet wird, der die herrschenden Machtverhältnisse bestätigt oder in Frage stellt.

Mit der Zentralisierung der Eigentümerbefugnisse, der Aneignungsmacht hinsichtlich des erzeugten Mehrprodukts und der Direktion des ganzen lebendigen Arbeitsvermögens der Gesellschaft stellt sich die ökonomische Despotie — in ihrer Gestalt als bürokratisch organisierter Korpus — als das unbeschränkte Subjekt des Volkseigentums in der staatssozialistischen Gesellschaft dar. In der Politbürokratie verkörpert sich der ordnende Wille, der gemeinsame Zweck der Gesellschaft, der für sich selbständig ist und demgegenüber sich die Willkür des Individuums und seiner Kollektive zu bescheiden hat. Die politbürokratische Autorität wird zum entscheidenden Bindeglied, welches den über den einzelnen Betrieb, die Städte und Gemeinden hinweggreifenden Handlungs­zusammenschluß wahrt. In der Subjektivität des General-Sekretärs erscheint die Rechtseinheit auf den Punkt gebracht. Er ist der Herr, um es mit Hegel zu sagen, der «dem Besondern entgegentritt».

Im Ergebnis der Verselbständigung des politökonomischen Systems im Staatssozialismus werden alle antiquierten Formen persönlicher Abhängigkeit gebrochen; gleichzeitig aber wird die dem einzelnen zukommende Freiheit und Unabhängigkeit entsprechend dessen Wohlverhalten und Eingruppierung innerhalb der Hierarchie neu festgeschrieben.

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Unter dem Zugriff des politökonomischen Systems wird mit Hilfe der Macht versucht, noch die empirischen Lebens­verhältnisse der Menschen zu schematisieren und systematisch dem Maßstab der Nützlichkeit zu unterwerfen. Während mit der Auflösung der bornierten Lebensformen, die das Bild der asiatischen Gesellschaftsformation bestimmen, in großem Stil Rationalität freigesetzt wird, hält die staatliche Bevormundung des Individuums bis in den privaten Bereich hinein zugleich «die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt», in engen Grenzen.

Sobald die Ausdifferenzierung eines komplexen Systems der Politökonomie erfolgt ist, wird der Widerspruch zwischen den integrativen Prinzipien, die das Verhalten der Menschen in der System-Welt regulieren, und den Prinzipien, die das Handeln der Menschen in ihrer persönlichen Welt normieren, bestimmend. Es ist dieser Hauptwiderspruch, der das Leben der Menschen im Staatssozialismus prägt. Je nachdem auf welcher gesellschaftlichen Ebene, in welchem Lebensbereich miteinander gesprochen und kooperiert wird, stets muß der einzelne den erwähnten Gegensatz im Auge behalten.

Aufgespalten in unterschiedliche Qualitäten, fuhrt der Mensch auf diese Weise nicht nur gedanklich, in seinem Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit des Staatssozialismus ein wahres Doppelleben. Die hier besprochene Differenz, die der Persönlichkeit im Sozialismus ihre Form verleiht, hat nichts zu tun mit dem bekannten Unterschied zwischen dem klassischen bourgeois/proletaire einerseits und dem citoyen andererseits, den Karl Marx in der «Judenfrage» behandelt hat. In der Systemwelt tritt der Mensch im Staatssozialismus auf als der den Erfordernissen des Systems angepaßte «Produzenten-Untertan» mit seiner «Marionetten-Natur».

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Als eigentlicher, «in seiner sinnlichen individuellen nächsten Existenz» wichtiger Mensch kann er sich dagegen nur entfalten in seinen persönlichen Beziehungen.»

Die soziale Erfahrung, die im Staatssozialismus diese Doppelung bewirkt und das Bewußtsein der Menschen spaltet, ist zunächst die, daß der einzelne die meisten seiner materiellen Bedürfnisse nur dann befriedigen kann, wenn er sich widerspruchslos in das politökonomische System eingliedert (Dasein für das System). Dieser angesichts des von der Bürokratie verwalteten Stellenplans in den Betrieben gut faßbare, objektive und subjektive Tatbestand veranlaßt nun den einzelnen, in seinen persönlichen Beziehungen die eigene Differenz gegenüber dem politökonomischen System herauszustellen (Sein für sich). Hier, im Kreise der Familie, gemeinsam mit Freunden und Bekannten, werden denn auch die Probleme besprochen, die das allgemeine Interesse wirklich hinter sich haben. Wenigstens zeitweilig bildet hier der individuelle Mensch eine Einheit. Das gesellschaftliche Wesen wird zur individuellen Eigenschaft. Die Fähigkeit, im persönlichen Umgang mit den anderen anders zu reden, als man für gewöhnlich «offiziell» daherredet, wird damit zur Voraussetzung für die Gestaltung lebensnaher Beziehungen.

Man weiß seit langem, daß das «Privatleben der Leute» im Sozialismus nicht unbedingt «unpolitisch» ist. Seine im Verhältnis zu anderen Gesellschaften größere Bedeutung für die Entfaltung der Persönlichkeit steht sachlogisch im Zusammenhang mit der Tatsache, daß dem Menschen mit der Pseudopolitisierung der Massenorganisationen und mit der Verwaltung der Öffentlichkeit alle staatlich beglaubigten Formen entfremdet wurden, in denen er politisch aktiv werden könnte. Außerhalb des Systems der Politökonomie will sich der Mensch aber auch im Sozialismus konsensabhängig orientieren.

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Diese Möglichkeit ist ihm jedoch innerhalb der sozialistischen Massenorganisationen verwehrt, da dieselben sich allesamt nur als Transmissionsriemen des Partei- und Staatsapparats verstehen. In der von diesen Organisationen fabrizierten Scheinwelt einer sozialistischen Demokratie wird jede Aktivität zum politischen Puppenspiel. Inzwischen ist die Mitgliedschaft der Menschen in dieser Art von Organisationen längst nicht mehr als Ausdruck eines persönlichen Engagements zu werten. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht selten ist gerade die Nichtmitgliedschaft Anzeichen für das politische Bekenntnis eines Menschen.

 

  Macht als Steuerungsmittel   

 

«Wenn zwei oder drei Menschen zusammenkommen, sind sie deshalb noch nicht beisammen. Sie sind wie Marionetten, deren Drähte in verschiedenen Händen liegen. Erst wenn eine Hand alle lenkt, kommt eine Gemeinsamkeit über sie, welche sie zum Verneigen zwingt oder zum Dreinhauen. Und auch die Kräfte des Menschen sind dort, wo seine Drähte enden in einer haltenden herrschenden Hand.» 
Rainer Maria Rilke  

Ungeachtet der handfesten Analogien, die aus dem in Ost und West gleichermaßen zu verzeichnenden Wider­spruch zwischen der System- und Sozialintegration resultieren, bleiben die formativen Unterschiede staatssozialistischer und marktwirtschaftlicher Industriegesellschaften beachtlich. Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft werden mittelbar über das Geld begründet. 

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Reichtum als Wert begriffen ist «bloßes Kommando über fremde Arbeit», heißt es bei Marx in den «Grundrissen». Wer jemals Zahlungsmittel sozialistischer Länder in der Tasche hatte, der weiß um die Schwierigkeiten, damit konsumptive Ansprüche einzulösen, gar nicht erst zu reden von Machtansprüchen. Die politökonomische Kommandogewalt wird im Staatssozialismus eben nicht über Geld ausgeübt. Damit ist keinesfalls gesagt, daß nicht auch die Politbürokratie im Staatssozialismus das Geld als Steuerungsmedium zu nutzen weiß. Spätkapitalismus und Staatssozialismus unterscheiden sich aber nicht zuletzt im Hinblick auf die Prioritäten, die sie bei der Wahl ihrer Mittel setzen, mit denen sie die gesellschaftliche Kommandogewalt vollstrecken.

Was in der einen Gesellschaftsformation vorrangig über das Geld bewirkt wird, muß in der anderen die Macht leisten. (Unter «Macht» verstehe ich an dieser Stelle die aus der Arbeitsteilung von Kopf- und Handarbeit resultierende Möglichkeit der Politbürokratie, das Handeln der Menschen durch offene oder verdeckte staatliche Sanktionsdrohungen zu dirigieren.) So gesehen sind das Geld in der bürgerlichen und die Macht in der staatssozialistischen Gesellschaft gleichermaßen dazu bestimmt, die Handlungskoordinierungen innerhalb der aus dem lebensweltlichen Verkehrszusammenhang ausgegliederten Marktwirtschafts- und Staatswirtschaftssysteme von den Notwendigkeiten sprachlicher Konsensbildung weitgehend freizustellen und das Risiko mißlingender Verständigung herabzusetzen.

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Angesichts der gewachsenen Komplexität des Gesellschaftslebens ist die Politbürokratie zur Sicherung des allgemeinen Verkehrszusammenhangs im Staatssozialismus gezwungen, einerseits den Austausch zwischen dem System der Politökonomie und dessen sozialer Umwelt, andererseits die Arbeitsteilung der spezialisierten gesellschaftlichen Teilsysteme untereinander weitgehend unabhängig von den Stellungnahmen der betroffenen Menschen zu organisieren. In dem Maße, wie ihr das gelingt, erweitern sich die gegebenen Möglichkeiten für ein am Erfolg orientiertes Handeln! 

Die erforderlichen Handlungskoordinierungen werden gegenüber der Alternative Widerspruch und Einverständnis immunisiert. Auf diese Weise konditioniert die Politbürokratie die Produzenten zu Zielerreichungshandlungen, die teilweise in keinem erkennbaren Zusammenhang mehr mit deren motivationalen Bedürfnissen stehen. Nach der persönlichen Ansicht und Überzeugung des einzelnen Produzenten wird nicht mehr gefragt. Dieser muß lediglich wissen und spüren, was ihm widerfährt, sobald er dem an ihn adressierten Anspruch der Politbürokratie auf Folgebereitschaft nicht nachkommt. Und er muß über die verfügbaren Reserven, das kasernierte Gewaltpotential Bescheid wissen, welches der Machthaber bereithält, um seinen Anspruch durchzusetzen. Das aber bedeutet, der einzelne Produzent muß lernen, was der Macht-Code im einzelnen besagt.

Funktionieren kann die Macht als Steuerungsmittel jedoch nur innerhalb einer besonderen Kategorie von Verhältnissen. Im Unterschied zum Geld, welches den Verkehr zwischen zumindest formal gleichberechtigten Tauschpartnern regeln kann, die unterschiedlichen Gemeinschaften angehören, setzt die Anwendung der Macht stets eine Form hierarchischer Kollektivität voraus, wie sie für den Staatssozialismus typisch ist: Einer ist der Machthaber, dem ein anderer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.

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Wo gleichstarke Mächte aufeinandertreffen, ist dagegen die Macht als Steuerungsmittel nicht zu gebrauchen. Ebensowenig lassen sich alle die Beziehungen über Macht codifzieren, die in ihrer Substanz auf sprachliche Verständigung angewiesen bleiben (z.B. Familie, Freundschaften, Liebesverhältnisse usw.).

Während Marx unbestritten im «Kapital» die Bedeutung des Geldwesens erschöpfend behandelt hat, ist ihm die Ausdiff­erenzierung eines Systems der Politökonomie über ein Steuerungsmedium, wie es die Macht darstellt, gar nicht erst in den Sinn gekommen. Deshalb kann Marx auch an verschiedenen Stellen sei. es Werkes von der «Zerschlagung» der Staatsmacht und ihrer «Überflüssigkeit» schreiben. Erst Parson hat die strukturellen Analogien zwischen der Macht und dem Geld in ihrer Bedeutung erkannt.

Im Staatssozialismus erscheint die Macht zunächst in verdinglichter Form, sei es in Gestalt von Waffen, Gefängnissen, den Einsatzkräften des Sicherheitsapparats usw. Als Wert verstanden drückt sich in der Macht vor allem das Kommando über fremde Arbeit aus. Der abstrakte Wert der Macht liegt im Handlungsspielraum (der Möglichkeit, Befehle zu erteilen und Gehorsam zu finden), den sie dem Machthaber erschließt. Mit ihr kann man die eigenen Machtansprüche erweitern und wahren. Wie die Jagd nach Profit für das Kapital charakteristisch ist, so ist für die erfolgreiche Macht ebenso kennzeichenend, daß diese immer mächtiger wird (sich erweitert reproduziert, immer mehr Machtmittel anhäuft). Gebrauchswertmäßig kann sich die Macht in der praktischen Verwirklichung des Allgemeininteresses konkretisieren. Ebenso kann die Macht aber auch zur Realisierung egoistischer Zwecke, im Interesse der Erhöhung privaten Konsums, der Sicherung verschiedener Privilegien usw. eingesetzt werden.

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Man kann die Macht kaufen, wie das peinliche Geschäft des Häftlingsfreikaufs gegen Devisen und der damit zwangsläufig einhergehende Verzicht auf den staatlichen Strafanspruch beweist. Vergleichbar zirkulationsfähig wie Geld ist Macht allerdings nicht. Das zeigt der ständige Rückfall in den Personenkult in fast allen sozialistischen Ländern. Auf geradezu symbiotische Weise verbindet sich die Macht mit der Person des jeweiligen General­sekretärs (wenngleich nicht so ausgeprägt, zeigen sich auf der lokalen Ebene genau dieselben Phänomene). Um diese Tendenz in unseren Verhältnissen auszugleichen, um die Macht wieder von der Person zu lösen, muß nach seinem Tode buchstäblich jeder Machthaber in der «Versenkung» verschwinden.

Macht verfällt. Um dem Verfall der Macht zu begegnen, muß man diese periodisch und exemplarisch gebrauchen, weshalb der Macht das Odium der Willkür zukommt. Insoweit ist die Macht auch mit einem tragischen Moment behaftet, denn alles Machtgebaren, was sich um sich selber dreht, ist in gewisser Weise selbstzerstörerisch. Während die Akkumulation des Kapitals in der Regel zur erweiterten Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft beiträgt, befördert jede allzu große Anhäufung von Macht am Ende nur Leerlauf und Apathie. Niemand entscheidet mehr, bevor der zu treffende Entschluß «von oben abgesegnet» wurde. Wer als Leiter im Sozialismus mit heiklen Problemen befaßt ist, der ist gut beraten, wenn er sich vor wichtigen Entscheidungen «Rückendeckung» bei der Staatspartei einholt. Mit dieser üblichen Verhaltensweise sind unterschiedlichste Effekte verknüpft. Denn solche Rückfragen binden die Partei an das, was sie zuvor entscheidungsmäßig bestätigt hat.

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Der jeweilige Leiter handelt gewissermaßen «im Namen» der Staatspartei. Alternativen stehen für diese insoweit nicht mehr offen. In allen bedeutenden Entscheidungs­lagen werden die im Staatssozialismus erforderlichen Bindungswirkungen auf diese Weise hergestellt. Über zirkulierende Bindungen ist die Staatspartei in alle gesellschaftlichen Konflikte verwickelt, sie ist verantwortlich, ob sie das selber will oder nicht. Daß damit zugleich für die erforderliche Arbeitsteilung enge Grenzen gesetzt sind, leuchtet ein.

Nicht ganz so einfach stellt sich dagegen die Machtbeziehung für den «kleinen Mann» dar. Der Macht als Medium mangelt es an einem dem Geld entsprechenden Zeichensystem. Die im Vergleich zum Geld verwirrende Symbolik der Macht, die von Uniformen über Orden und Sitzordnungen bis hin zur Farbe der bei Unterschriftsleistungen verwendeten Tinte reicht, erschwert es einfältigen Gemütern, sich über die konkrete Machtausstattung eines Entscheidungsträgers genau zu informieren. Bei den nicht selten einander widersprechenden Weisungen der Politbürokratie wird dieser Umstand zum Problem. Der Machthaber selber ist kaum besser dran. Wer sich im Zweifel darüber ist, wieviel er ausgeben darf, der läßt sich Kontoauszüge vorlegen. Was aber macht derjenige, der Konsumverzicht, Normerhöhungen o.ä. mit Macht durchsetzen will?

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   Kader-Auslese — die Reproduktion der Macht   

 

Der formative Umbau des politökonomischen Systemzusammenhangs in Deutschland wäre unvollständig geblieben, hätte nicht die Partei mit der Zeit ihre eigenen Prinzipien der Kader-Auslese auf den ganzen Staats- und Gesell­schaftsbau übertragen. Während von Wahlen seit dem Beginn der fünfziger Jahre nicht mehr gesprochen werden konnte, nachdem mit den Einheitslisten, den Veto- und Vorschlagsrechten übergeordneter Instanzen usw. das entscheidende Kriterium für eine jede Wahl — die Ungewißheit des Ausgangs der Wahlen — entfallen war, blieb einige Zeit unklar, nach welchen Prinzipien die Rekrutierung für öffentliche Ämter vonstatten gehen sollte. 

Auch in dieser Hinsicht mußte sich der deutsche Staatssozialismus erst einmal systematisieren, damit hinter den zahllosen Ungereimtheiten der Übergangsphase die für den Sozialismus typischen Prinzipien der Kader-Auslese hervortreten konnten. Die mit dem Abschluß der Übergangsphase zeitlich zusammenfallende Nachfolgerbestimmung Ulbricht—Honecker, mit den die politbürokratische Spitze erstmals planmäßig neu besetzt wurde, hat diesbezüglich Klarheit geschaffen.

Seither wird die Neubesetzung von wichtigen Ämtern im Partei- und Staatsapparat, in den Massen­organisationen, den Betrieben, kulturellen Einrichtungen usw. entsprechend dem ungeschriebenen Gesetz des Rückgriffs auf bestimmte Funktionsträger gelöst. Bevor Honecker zum Generalsekretär der Partei und Staatsratsvorsitzenden avancierte, war er erster Sekretär des staatlichen Jugendverbands. Bedenkt man, daß mit ihm auch ausnahmslos alle anderen Funktionäre, die diesen Posten in seiner Nachfolge bekleidet hatten, in die Funktion eines ersten Bezirkssekretärs der Partei oder gar in das Politbüro berufen wurden, rundet dies das Bild ab. 

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Die in diesem Muster enthaltene Verkettung politischer Rollen und Entscheidungsbefugnisse, die sich auf den unteren Ebenen des polit-ökonomischen Systems wiederholt, ist natürlich weder im Statut der Partei noch in der geltenden Verfassung vorgesehen. Rechtlich gesehen ist die feste Designation geradezu ungesetzlich, denn die grundgesetzlichen Bestimmungen gehen durchweg von der Wählbarkeit aller wichtigen Entscheidungsträger aus.

In dieser Form wird mit der Kader-Auslese dafür gesorgt, daß die Aufsteiger in der Politbürokratie über immer weniger praktische Lebenserfahrungen verfügen. War es noch vor nicht allzu langer Zeit üblich, in die politische Klasse auch Menschen zu rekrutieren, die in der Produktion Erfahrungen gesammelt hatten, so ist es heutzutage der hauptamtliche Jugendfunktionär, der sich entschließt, die bürokratische Stufenleiter weiter zu ersteigen. Die Lebenserfahrung, die dieser Typ Funktionär in das Amt einbringt, ist das Ergebnis seiner Teilnahme an der bürokratischen Konkurrenz. Außerhalb des Apparats weiß ein solcher Funktionär sich nicht mehr zu bewegen.

Da Alternativen in der Besetzung der Ämter nicht bestehen, hat die nachträgliche Bestätigung der bürokratischen Kaderauslese in Wahlen naturgemäß den Charakter eines entleerten Rituals. Unter diesen Bedingungen ist es inzwischen sinnlos geworden, die politische Herrschaft weiterhin mit der Publikumsrolle des Wählers zu konfrontieren. Wo nicht gewählt wird, bedarf es des Wählers auch nicht mehr! Motiviert ist der «Wähler» im Staats­sozialismus ohnehin nicht, da der Wahlausgang bis auf zwei Stellen hinter dem Komma vorher feststeht.

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In der Praxis berücksichtigt die Politbürokratie durchaus diese Zusammenhänge. Ihre wichtigste Wahlvorbereitung besteht deshalb nicht etwa darin, dem Wähler in den Kandidaten unterschiedliche Möglichkeiten in der Politik vorzustellen, und sei es auch nur im Rahmen des staatssozialistischen Systems, sondern in der Initiierung einer ökonomisch ausgerichteten Wettbewerbsbewegung. Anläßlich der Wahlen zu den «Volks­vertretungen» werden dann Produktionsergebnisse abgerechnet. Mit diesen Produktionsergebnissen sowie mit seiner Stimmabgabe zeigt das Volk sein Bekenntnis zur Politik der Partei und Regierung.

Durch die mechanische Verknüpfung unterschiedlichster bürokratischer Rollen versetzen sich die Entscheidungsträger im Staatssozialismus untereinander in normative Beziehungen. Auf diese Art und Weise reduzieren sie gewissermaßen ihre Abhängigkeit «vom Willen des Volkes» auf ein Minimum. Eignung und Leistung sind in diesem beinahe geschlossenen Zirkel der Kaderauslese bestenfalls sekundäre Kriterien für die Rekrutierung. Wichtiger ist schon die Unterstützung anderer Funktionäre, die dem jeweiligen Spitzenbürokraten den Rücken stärken.

Problematisch ist der Modus der Kader-Auslese im Staatssozialismus aber nicht deshalb, weil er die vorhandenen Interessen­gegensätze innerhalb der sozialistischen Gesellschaft weder artikuliert noch dieselben zur Entscheidung bringt. Das leisten andere Systeme ebenfalls nicht. Wirklich von Nachteil ist, daß mit diesem Modus der Kaderauslese die Beweglichkeit des Systems der Politbürokratie selber erheblich eingeschränkt ist. In dieser Form wird zwangsläufig eine spezifische Art politischer «Naturwüchsigkeit» erzeugt, die das System in periodischen Abständen gerontokratisch entarten läßt.

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Das jahrelange Siechtum Breschnews und die anschließende Investitur zweier todkranker Greise an der Spitze der sozialistischen Welt haben jedermann vor Augen geführt, was das für Risiken in sich birgt. Je weiter der einzelne Politbürokrat aufsteigt, um so sicherer wird sein Status. Wer einmal Sitz und Stimme im Politbüro innehat, der sitzt dort oftmals bis an sein seliges Ende. Faktisch mangelt es bisher an einem funktionierenden Mechanismus innerhalb des politischen Systems, der im Bedarfsfall einen Kaderwechsel erzwingt.

Weil sich mit dem Namen des jeweils amtierenden Generalsekretärs zugleich die strategische Linke der Staatspartei symbolisch verbindet, hindert dieser in seiner Person die ganze Gesellschaft daran, daß die Einseitigkeiten der betriebenen Politik frühzeitig erkannt und bereinigt werden. Vergrößert wird die Schwerfälligkeit des politischen Apparats noch dadurch, daß der amtierende Generalsekretär seinerseits wiederum zur Rücksichtnahme auf die politischen Rollenträger gezwungen ist, die ihn bei seinem Aufstieg unterstützt haben. Das beschränkt zweifellos seine Entscheidungsfähigkeit nicht unerheblich. Die wohlwollende Rücksichtnahme gegenüber den anderen «Spitzenfunktionären» der Staatspartei ist der politische Preis, den der Generalsekretär für seine Unabhängigkeit vom Wählerwillen zahlen muß.

Die Abhängigkeit des Generalsekretärs von den anderen Spitzenfunktionären führt immer wieder dazu, daß die Lösung grundlegender gesellschaftlicher Probleme aufgeschoben wird. Wo Wahlen stattfinden, büßt der Amtsträger allemal Stimmen und damit Machtanteile ein, der Interessengegensätze nicht aufzuheben versteht. Im Staatssozialismus ist die Lage eine andere. Hier ist die Politbürokratie zwar nicht gehindert, auftretende Interessen­gegensätze zu bearbeiten. Bevor das aber geschieht, müssen die Entscheidungs­rechte und Machtpositionen zwischen den Apparaten neu verteilt werden.

Burgartig ausgebaute Machtstellungen müssen geschleift werden, ohne — und darin besteht der Springpunkt der Angelegenheit — daß sich der Despot bei diesem riskanten Unternehmen etwa auf einen ihn tragenden Wählerwillen berufen könnte. In dieser Beziehung rächt sich, daß es dem Generalsekretär an ausreichendem Abstand, sei es nun auf Grund eines Wählerwillens oder besonderer sozialer Attribute, gegenüber seinen «Kampfgefährten» mangelt.

Die von diesen beschworene «Kollektivität der Führung», die manches naive Gemüt als Ausdruck innerparteilicher Demokratie verstehen will, verstärkt den genannten Widerspruch.

Wie sehr gerade dieser Widerspruch einen reformfreudigen Generalsekretär behindert, kann man am Beispiel Gorbatschows sehen, der seit Jahren einen großen Teil «seiner Kräfte» im Kampf gegen die bürokratische Hydra verschleißen muß. Darin zeigt sich, daß die strukturellen Mängel der staatssozialistischen Ordnung mit Popularität nicht wettzumachen sind.

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   Macht und Legitimation   

 

«Dse Gung fragte den Meister nach den Grundlagen einer guten Regierung.
Kung Fu-Dse sagte: Ausreichende Nahrung, eine ausreichende Armee und Vertrauen in den Herrscher.
Und müßte unbedingt eine dieser drei Voraussetzungen aufgegeben werden, fragte Dse Gung weiter, welche würdet Ihr an erster Stelle opfern?
Die Armee, erwiderte der Meister.
Und wenn von diesen zweien noch eine aufgegeben werden müßte, welche wäre es dann?
Die Nahrung, sagte der Meister. Denn seit Menschengedenken müssen alle sterben. Doch ohne das Vertrauen des Volkes kann keine Regierung bestehen.» 

Konfuzius

 

Von den genannten Widersprüchen, die der Machtausübung im Staatssozialismus anhaften, gehen naturgemäß immer wieder krisenhafte Entwicklungen aus, die zuweilen die Macht der Politbürokratie in Frage stellen. Zudem rücken alle diese Widersprüche ein Problem der Macht in das Blickfeld der Menschen, welches am Ende mit bürokratischen Methoden nicht gelöst werden kann: die Legitimität der Macht im Sozialismus.

Wenn die Macht ihrer sozialen Funktion, das politische und ökonomische Leben in der sozialistischen Gesellschaft regelhaft zu- gestalten, nicht anders nachkommen kann als durch die verbietende oder gebietende Inanspruchnahme der Handlungsweisen der Menschen, dann erweist sich jeder Machtspruch semantisch als ein Imperativ (Befehl, Gebot oder Verbot).

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Welcher Machtunterworfene sieht sich nicht, sobald er der Macht begegnet, einem gebietenden oder verbietenden Wollen konfrontiert, welches ihm ein dem entsprechendes Sollen abverlangt? Dieses Basisverhältnis in unserer Gesellschaft erlebt der einzelne, wenn er bewußt lebt, natürlich als Bevorteilung des Imperators der Imperative und eigene Benachteiligung. Denn mit jedem Macht-Spruch stellt die Macht den Machtunterworfenen vor die Alternative des Gehorsams oder der Inkaufnahme von Sanktionen.

In die Basisbeziehung der Befolgung von imperativen ist von vornherein ein Verhältnis der Über- und Unterordnung eingelassen, der Imperator der Imperative genießt das Vor-Recht der Initiative! Damit eine derartige Benachteiligung für die Macht­unterworfenen nicht unerträglich wird, bedarf es neben der Angst vor Zwang und Strafe wenigstens einer minimalen Vertrauensbasis, die den Bestand der Macht verbürgt. Jede Macht ist also bis zu einem gewissen Grade auf Legitimation angewiesen. Allein durch die glaubwürdige Bezugnahme auf das Allgemeininteresse kann sie das aus der imperativischen Struktur der staatssozialistischen Verhältnisse resultierende «sic volo, sic jubeo» annehmbar machen.

Wo diese Bezugnahme fehlt oder nicht mehr plausibel vermittelt werden kann, verkommt die Macht zur räuberischen Gewalt, die der des Banditen ähnelt. Denn Gewalt für sich genommen, darin ist sich alle dem demokratischen Erbe und der Vernunft verpflichtete Theorie seit Rousseau und Kant sicher, ist ungeeignet, sittliche Verpflichtungen auszulösen. Der Gewalt nachgeben bedeutet deshalb in der klassischen Lesart nichts weiter, als eine durch äußerliche Notwendigkeiten erzwungene Verrichtung zu tun. Wer gezwungen wird, der gehorcht nicht aus Pflichtbewußtsein.

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«Wenn mich ein Räuber im Walde überfällt», schreibt Rousseau in seinem «Contrat social», «so muß ich mich der Gewalt fügen und ihm meine Börse geben; verpflichtet mich aber wohl mein Gewissen, sie zu geben, wenn ich imstande wäre, sie ihm vorzuenthalten? Die Pistole, die er mir vorhält, ist ja schließlich doch eine Gewalt.» Für Rousseau folgt daraus: «Kommen wir also dahin überein, daß Stärke kein Recht gewährt und daß man nur verpflichtet ist, der rechtmäßigen Gewalt Gehorsam zu leisten.»29

Bleibt die Frage, ob wir uns nicht im Kreise drehen, denn es ist der Machthaber, der meistens bestimmt, was rechtmäßig ist und was dem Allgemeininteresse entspricht. Wollen wir dessen Vorurteile nicht ungeprüft hinnehmen, müssen wir uns seine Begründung dafür ansehen, warum wir die bestehende Herrschafts­ordnung oder die an uns adressierten Imperative als «richtig und gerecht» anerkennen sollen. Geltungsansprüche gleich welcher Art sind schließlich nur dann akzeptabel, wenn diese «gute Gründe» hinter sich haben, die erforderlichenfalls vorgezeigt werden können.

Inzwischen hat zwar die psychoanalytische Aufklärung die naive Vorstellung eines sich weitgehend an der eigenen Vernunft orientierenden Menschen erschüttert. Die unbewußte Zustimmung aus Angst, die ein Machthaber findet, ist massen­psychologische Realität. Doch dies entwertet nicht die Bedeutung der Vernunft. Zudem hat jede Art einer angstbedingten Anerkennung der politischen Vormundschaft die ja auch im Staatssozialismus mit einer Unterdrückung des wahren Selbst einhergeht, ihre Kosten und Grenzen in der psychischen Verelendung. Längst ist es ein ganz profanes Magengeschwür, wodurch der einzelne Mensch bis in seine Freizeit hinein die Verkörperlichung des erzwungenen Konsenses zu spüren bekommt.

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Es ist abzusehen, daß der Gesellschaftskritik im menschlichen Körper ein weiteres Erkenntnisorgan zuwächst, das vielen die Legitimationsschwäche der herrschenden Ordnung auf der leiblichen Ebene anzeigen wird. Noch klingt der «Urschrei» etwas kläglich, mit dem die leiblich-natürliche Instanz kritischen Eingedenkens den Schmerz erinnert, der uns angetan wurde. Unüberhörbar kündigt sich damit aber ein erweitertes Erkenntnis­interesse an, welches nicht zuletzt die Erkenntnis, die in jedem Gefühl ist, übersetzen will. Auf diese Weise erhält das «subjektive, ideelle Ich vom objektiven», wie es Hegel einmal ausgedrückt hat, «die Materie seiner Idee» geliefert. Einer Idee, die den Menschen letztendlich veranlaßt, aus guten Gründen jeder Macht seine Anerkennung zu entziehen, die unnützes Leiden mit sich bringt.

Im Staatssozialismus ist es das Postulat einer historischen Gerechtigkeit, womit die Legitimität der bestehenden Herrschafts­ordnung praktisch gerechtfertigt werden soll. Die Politbürokratie will der Vollstrecker dieser Art von Gerechtigkeit sein. «Unser Recht ist nicht deshalb gesellschaftlich legitimiert, weil es der Gerechtigkeit entspricht — das wäre ein sozialistisch firmierter naturrechtlicher Ansatz! —, es ist vielmehr dann legitimiert (d.h. historisch gerecht)», behauptet der tonangebende DDR-Rechtsphilosoph Kienner, «wenn es mit den objektiven Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung übereinstimmt und sie optimal durchzusetzen hilft.»30) 

Begründung und Bewertung, Rechtfertigung, Kritik und Korrektur der Legalität «sind folglich mit den Mitteln und Methoden der Gesellschaftswissenschaft zu erschließen», wobei von vornherein die moralische und juristische Berechtigung der sozialen und diese wiederum der historischen Berechtigung untergeordnet werden soll. Daß nach Kienners Auffassung zur Durchsetzung der historischen Gerechtigkeit «zuweilen die Tugend des Terrors» erforderlich ist, kann man nachlesen.31

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Sehen wir einmal von der sprachlichen und logischen Konfusion ab, die sich in der kraftmeierischen Rede von einem Recht ausspricht, welches nicht unbedingt der Gerechtigkeit dient, gleichwohl aber «historisch gerecht» sein soll, so ist das, was Kienner selber anbietet, auch nicht viel mehr als ein Abklatsch der von ihm geschmähten historischen Rechtsschule seligen Angedenkens. Mit dieser teilt unsere Rechtsphilosophie, die aus dem stalinistischen Justizterror nicht das geringste gelernt hat, den kindlichen Glauben, daß die unabhängig vom bewußten Entschluß des einzelnen ablaufende «gesetzmäßige Entwicklung» der sozialistischen Verhältnisse letztendlich von selbst auf eine allseits befriedigende Staats- und Rechtsordnung zusteuert. 

Legitim ist dieser Geisteshaltung alles, was machbar ist. In dem, was wird, offenbart sich ihr das Seinsollende. Wie in allen anderen dem bürokratischen Leib maßgeschneiderten Konzeptionen wird die praktische Rechtfertigung der sozialistischen Legalität im Interesse einer unbeschränkten Handlungsfreiheit der Macht außerhalb des Rahmens einer gegenwärtigen, sprachlich vermittelten Intersubjektivität gesucht. Unklar bleibt lediglich, aus welcher Quelle die staatsphilosophisch weniger bewanderten unmittelbaren Produzenten, die nicht über die erforderlichen «Mittel und Methoden» der Gesellschaftswissenschaften verfügen, in der Gegenwart ihren Glauben an die Legalität der politbürokratischen Herrschaftsform schöpfen sollen.

Sicher, es sind in der Gegenwart wohl in erster Linie empirische Motive, die das Mißtrauen wecken, ob es denn der Politbürokratie überhaupt noch um die für die Identität einer sozialistischen Gesellschaft entscheidenden Werte geht.

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Angesichts des ungeschminkten Opportunismus der sozialistischen Realpolitik sind Zweifel dieser Art unvermeidbar. Daneben aber stimmt vieles, was uns zur Rechtfertigung der Macht aufgetischt wird, in sich schon nicht mehr überein mit dem geltenden Rechtfertigungssystem. Das hat zur Folge, daß die angebotenen Legitimationen immer häufiger von immer mehr Menschen als ungültig erkannt werden. Um ein Beispiel zu geben: Berufsverbote für große Teile der Bevölkerung mit verwandt­schaftlichen Bindungen in dem anderen deutschen Staat werden mit staatlichen Sicherheits­bedürfnissen begründet. Solche Berufsverbote gelten z.B. für die zivile Schiff- und Luftfahrt, das grenzüberschreitende Transportwesen, den Außenhandel und die Beamtenlaufbahn. Die immanente Widersprüchlichkeit dieser Legitimation ist unschwer zu erkennen. Denn abgesehen davon, daß die überzogenen Sicherheitsbedürfnisse der politischen Klasse ohnehin nicht zustimmungsfähig sind, geht das geltende Rechtfertigungssystem nach wie vor von der beruflichen und schulischen Chancengleichheit für alle Bürger aus.

Man muß sich klar darüber sein, daß mit der Feststellung von Unstimmigkeiten und Widersprüchen bei der Rechtfertigung bestimmter Maßnahmen der Macht noch keine Kritik des geltenden Rechtfertigungssystems geleistet ist. Dieser Umstand wird selbst von profilierten Kritikern des Staatssozialismus oftmals übersehen, wenn sie mit dem «Widerspruch zwischen Theorie und Praxis» auf den Lippen gegen die bedrückende Herrschaftsordnung zu Felde ziehen. Unter der Hand verwandelt sich dabei der in praktischen Fragen den Maßstab liefernde Marxismus in eine Art Ersatzreligion. Was Marx gesagt hat, ist in diesem Rahmen fraglos gültig.

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Aus seinem Werk werden jeweils «letzte Gründe» herausgelesen. Der Unterschied zwischen den streitenden Parteien besteht in diesem Fall nurmehr darin, daß die eine Seite (die «wahren» Marxisten) den ursprünglichen Gehalt der Lehre bewahren will, während die andere Seite (die «funktionalistischen» Marxisten) den Marxismus als Staatsreligion und Rechtfertigungslehre gebrauchen will. Auf unbedingt Geltendes greifen beide Seiten in ihrer Auseinandersetzung zurück.

Stimmt die sozialistische Wirklichkeit in dem einen oder anderem Aspekt einmal mit der kanonisierten Lehre überein, geht man auf beiden Seiten von deren Legitimität aus, gleichgültig ob sich die gegebene Ordnung auf einen kontingenten oder erzwungenen Konsens gründet. In ihrer Geisteshaltung gleichen die streitenden Parteien der schon von Kant belächelten «Gesellschaft von Geistlichen», die sich «untereinander auf ein gewisses unveränderliches Symbol» verpflichten, «um so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk zu führen...»32.

Will man eine wirkliche Kritik der Legitimation des Staatssozialismus leisten, muß man grundsätzlicher ansetzen, als dies unter vielen Marxisten heute üblich ist. Den prozeduralen Maßstab für eine solche Kritik, anhand dessen in der Moderne Legitimitäts­ansprüche vernünftig bewertet werden können, hat bereits Kant formuliert: 

«Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes. Ist nämlich dieses so beschaffen, daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte (wie z.B. daß eine gewisse Klasse von Untertanen erblich den Vorzug des Herrenstandes haben sollten), so ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, daß ein Volk dazu zusammen stimme, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten: gesetzt auch, daß das Volk in einer solchen Lage, oder Stimmung seiner Denkungsart wäre, daß es, wenn es darum befragt würde, wahrscheinlicherweise seine Beistimmung verweigern würde.»33

Politiken, gesetzliche Maßnahmen und gesellschaftliche Institutionen sind also — gemessen an diesem Probierstein der Vernunft — immer dann richtig und gerecht, wenn diese die begründete Annahme zulassen, daß die im Gebrauch ihrer Vernunft selbständigen Mitglieder des betreffenden Gemeinwesens sich auch freiwillig eine dadurch bestimmte Ordnung auferlegen würden. An diesem universalistischen Maßstab gemessen, kann keine Herrschaftsordnung, die Konsens erzwingt oder erschleicht, gerechtfertigt werden.

Wenn wir in Fragen der praktischen Rechtfertigung des Staatssozialismus den Kantischen «Probierstein» verwenden, bedeutet das keine Abkehr von Marx. Es bedeutet lediglich, daß die Marxisten wie alle anderen Gesellschaftsdenker auch den Nachweis führen müssen, daß ihr Plan einer sozialistischen Ordnung wenigstens die Vermutung zuläßt, in einer Gesellschaft von Freien und Gleichen beschlossen zu werden (ohne daß es dazu der Anwendung oder des Beistands staatlicher Gewalt bedürfte).

Marx selber war sich über dieses Erfordernis stets im klaren. Deshalb scheute er ja auch keine Mühe, um die Legitimität der Pariser Kommune zu begründen. Diese war als Herrschaftsordnung nicht deshalb gerechtfertigt, weil sie mit irgendwelchen historischen Gesetzmäßigkeiten übereinstimmte, sondern weil sie nach Meinung von Marx eine «durch und durch ausdehnungsfähige politische Form» war, in der die «Mannigfaltigkeit der Interessen» der weit über­wiegenden Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft gut aufgehoben war.

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Henrich-1989