12 Marxismus und Christentum
Staat und «Kirche im Sozialismus» Staat und Religion Marxismus und Metaphysik
«Christus ist der Geist des Höchsten, ist Ausdruck des Ewigen. Die Manifestation dieses Ausdrucks des Ewigen ist in der Geschichte nicht auf Jesus beschränkt. Erlösung wird erwirkt durch den ewigen Christus, der nicht mit dem historischen Jesus verwechselt werden darf, als Mittler des Wortes Gottes. Erlösung steht all denen offen, die niemals von ihm gehört haben und doch dem Geiste der Wahrheit dienen. Das vierte Evangelium lehrt, daß das Wort Gottes, das uns in Jesus heilig ist, in aller Schöpfung von Anfang an wirksam gewesen ist, und daß es das wahrhaftige Licht ist, welches alle Menschen erleuchtet.»
(S. Radhakrishnan) wikipedia Sarvepalli_Radhakrishnan 1888-1975
Staat und «Kirche im Sozialismus»
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Um allen Mißverständnissen vorzubeugen: das unbestreitbar Menschengemäße an der Religion soll nicht bezweifelt werden mit dem Versuch, das Verhältnis von Staat und «Kirche im Sozialismus» näher zu charakterisieren. Es geht hier zunächst nur um den Beitrag der Kirche zur Erhaltung des Zustandes, in dem sich das politische System des Sozialismus gegenwärtig befindet.
Denn zur Systemerhaltung will die Kirche ja beitragen, wie ihr eigenes Wort «Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern Kirche im Sozialismus sein» aussagt. Welche die sozialistische Wirklichkeit gestaltende Aufgabe die Kirche insoweit beabsichtigt übernehmen will, hat die klerikale Bürokratie unüberhörbar verlautbart. Man möchte gerne der «Mund der Schwachen und Benachteiligten in der eigenen Gesellschaft» ebenso wie anderswo sein; man will für Offenheit in den gesellschaftlichen Beziehungen streiten, dem Umweltschutz und der Kriegsgefahr die kirchliche Aufmerksamkeit widmen, man will Fragen nach dem Sinn des Lebens beantworten, Verständigung und Gerechtigkeit fördern sowie an der Bewältigung von Angst und Leiden teilhaben.
Neben diesen bezweckten oder wenigstens mitbedachten Wirkungen sind es aber gerade die im allgemeinen übersehenen, ins Vergessen abgeschobenen Ergebnisse kirchlicher Politik, die in das gesellschaftliche Bewußtsein gehoben werden sollten. Es sind die — soziologisch gesprochen — «latenten Funktionen» der Kirche als einer bürokratischen Organisation im Staatssozialismus, die das öffentliche Interesse verdienen. Funktionale Beziehungen zwischen Staat und Kirche also, die sich die klerikale Bürokratie ebensowenig wie die Parteibürokratie eingestehen will und darf, weil sonst das kirchen- und parteipolitische Handeln nicht mehr glaubhaft motivierbar wären.
Welchem Pfarrer schwillt nicht die Brust, sobald ihm hochrangige Partei- und Staatsfunktionäre bescheinigen, daß der sozialistische Staat in der Behindertenfürsorge am liebsten auf die Mitarbeit christlicher Pflegekräfte zurückgreift? Wie aber verhält sich derselbe Pfarrer, sollte sich herausstellen, daß die Arbeitsteilung zwischen der bürokratischen Organisation Kirche und dem Staat durchaus über unverfängliche Aufgaben wie die Behindertenfürsorge hinausgeht?
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Wenn es etwa zuträfe, daß die Kirche objektiv dazu beiträgt, die geistige Erneuerung unserer Gesellschaft zu erschweren, kann ein Pfarrer dann überhaupt noch ein wirkliches Interesse an der aufklärerischen Reflexion der bürokratischen Organisation Kirche entwickeln?
Es mag unfein erscheinen, Devisenbezüge, gesicherte Reisemöglichkeiten und was es sonst noch für kirchliche Privilegien gibt, in diesem Zusammenhang anzusprechen. Es kommt aber darauf an, die Kirche als bürokratische Großorganisation so zu zeigen, wie sie wirklich ist — und das in einer Zeit, die deshalb wieder der Kirche naiv alles das abnimmt, was diese von sich selber behauptet, weil der Klerus von der Machtausübung ausgeschlossen scheint. Da hilft es dann manchmal schon weiter, wenn man sich nicht scheut, wieder einfache Kinderfragen zu stellen, um die partikularen Interessen der Pastoren und höheren kirchlichen Angestellten deutlich zu machen (etwa diese: warum erhält der Pastor einen Reisepaß, nicht aber der Betriebsparteisekretär?).
Wenn an dieser Stelle von der Kirche als einer «bürokratischen Organisation» die Rede ist, so sind damit vor allem Phänomene der Bürokratisierung gemeint, wie sie sich in der Praxis der evangelischen Landeskirchen widerspiegeln. Bekanntlich ist die DDR das sozialistische Land, in dem die überwiegende Mehrheit der konfessionell gebundenen Menschen dem Protestantismus anhängen. Das rechtfertigt es in gewisser Weise, den Blickwinkel auf die evangelische Kirche zu verengen. Der Blickwinkel, unter dem die nachfolgenden Erörterungen stehen, bedarf aber noch in einem weiteren Punkt der Erläuterung.
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Wird jetzt das «bürokratische Phänomen <Kirche im Sozialismus>» in den Blick genommen, dann darf dabei keinen Moment vergessen werden, daß es natürlich auch innerhalb dieser Kirche ebenso wie außerhalb stets ein Christentum der Nachfolge gibt, welches in sich selbst als messianische Praxis der gelebten Nachfolge zugleich politisch und mystisch ist. Im Wissen um die Existenz dieser jederzeit präsenten «unsichtbaren Kirche» ist die Darstellung bürokratischer Phänomene klerikalen Handelns an keiner Stelle denunziatorisch gegenüber dem einzelnen Gemeindemitglied oder seinem Pfarrer gemeint. Sie soll vielmehr den Blick schärfen gegenüber einer Form des real existierenden Christentums, welches sich ganz von selbst in Frage stellt, sobald es das erschreckende Manko an politischer Widerstandsgeschichte und das erdrückende Übergewicht der Gehorsams- und Anpassungsgeschichte verdrängen will, die das deutsche Luthertum bis in die Gegenwart hinein charakterisieren. Die Tatsache, daß der Protestantismus, einmal etwas mit Protest zu tun gehabt hat, darf nicht länger vergessen werden.
«Die politische Praxis evangelischer Kirchen hat diesem Vergessen über Jahrhunderte hin kräftig nachgeholfen. Seit der Reformation bis zum Jahr 1918, also für nahezu vier Jahrhunderte, erkannten die evangelischen Kirchen in Deutschland den jeweiligen Landesfürsten als ihren Bischof an; zu Recht gelten sie deshalb noch immer als Musterbeispiel obrigkeitsfrommer Kirchen. Der wirksamste Beitrag des Protestantismus zur Moderne, zu ihrer politischen Kultur und zu ihrer Wertorientierung liegt keineswegs in seinem Protestpotential, sondern in seinem Arbeitsethos.
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Der sittliche Charakter beruflicher Pflicht, der Verzicht auf die Erfüllung eigener Wünsche, der Gehorsam gegenüber staatlicher Gewalt, die Anerkennung ständischer Grenzen in der Gesellschaft, die Einfügung in familiäre Rollen: darin sah und sieht man vielfach noch heute die Kennzeichen des protestantischen Ethos. Es erfüllte in hohem Maß eine politische Funktion.»62)
Mit der Beschreibung «klerikalen Handelns» soll klargestellt werden, daß der Protestantismus auch noch im Staatssozialismus seine jahrhundertealte Rolle weiterspielt und daß diese Tatsache eng mit seiner bürokratischen Organisationsform zusammenhängt. Daraus aber können alle alternativen Kräfte nur die Lehre ziehen, daß in der Stunde wirklicher Not die wahre Kirche nicht in der hierarchischen Organisation zu finden ist, sondern einzig in der vor Ort versammelten Gemeinschaft von zu Widerstand und Befreiung entschlossenen Frauen und Männern, der es nicht an der erforderlichen Zivilcourage mangelt. Eine solche Gemeinde wird es jedoch nur dort geben, wo sich zuvor innerhalb des Gemeindelebens das kindliche Verhältnis der Unmündigen zu den bestellten «Vormündern» in ein freieres Verhältnis gewandelt hat, in dem eben nicht mehr nur die Amtsträger bestimmen, in welchem Maße das Evangelium gelebt werden darf. Das muß besonders gelten für das Verhältnis der deutschen Christenheit zum Staat. Gerade in der jüngsten Vergangenheit sind die evangelischen Kirchen verhängnisvoll in die Irre gegangen, und sie haben in Deutschland viele Tausende Gemeindemitglieder in die Irre geführt, weil sie allzu «unterthan der obrigkeitlichen Gewalt» waren, das Tier aber nicht wahrhaben wollten, was im 13. Kapitel der Offenbarung aus der Tiefe des Meeres heraufkommt.
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Die Unterscheidung zwischen Gehorsam und Servilität ist im Staatssozialismus nicht leichter geworden, wie wir sehen werden. Wollen wir den darin liegenden Gefahren nicht leichtfertig anheimfallen, müssen Christen wie Marxisten, ja man kann sagen «alle Bürger des Landes» neu verstehen lernen, was die Apostelgeschichte uns andeuten will mit ihrer Weisheit: «Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.» Eine Weisheit, die unseren Vorfahren in der Reformationszeit konkrete Weg-Weisung war und die noch bei Kant nachklingt, wenn er sagt, das Gewissen ist «der Gott in uns».
Bischöfliche Kirchensprecher (Schönherr, Krusche u.a.) haben in der Gegenwart wiederholt den Weg der «Kirche im Sozialismus» als Wanderung auf dem schmalen Grat zwischen politischer Opposition und opportunistischer Anpassung beschrieben. Mit dieser Bestimmung der kirchlichen Marschroute im Staatssozialismus, die lediglich festlegt, was die Kirche nach ihrem eigenen Selbstverständnis nicht sein will, reagierten die Kirchenleitungen seinerzeit auf den in den Reihen des eigenen Kirchenvolks geäußerten massiven Verdacht, die Kirchendiplomatie gegenüber der Partei- und Staatsmacht habe mindestens latent die Neuauflage einer Bündnispolitik nach dem Muster «Thron und Altar» zu ihrem Vorbild.
Wie verlockend der Gedanke für die Kirchenbürokratie tatsächlich ist, mit der Partei- und Staatsmacht wieder in althergebrachter Weise arbeitsteilig zu politisieren, hat Albrecht Schönherr bereits 1979 vor den Synodalen der Berlin-Brandenburgischen Kirche ausgesprochen: «Die Gefahr der Anpassung ist darum so groß», sagte er, «weil die Macht gerade eine machtlos gewordene Kirche verlocken könnte, die Freiheit und die Fülle ihrer Verkündigung für das Linsengericht einer größeren <Überlebenschance> preiszugeben.»
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Der Altbischof der «Kirche im Sozialismus» deutet hier selbst an, welch hohen Stellenwert für die beamteten Vertreter unserer Kirche die Notwendigkeiten bürokratischen Handelns einnehmen. Anders gesagt: weil sich die klerikale Bürokratie selbst als der letzte Endzweck von Kirche versteht, ist sie den Verlockungen der Macht preisgegeben. Das «Überleben», d.h. die Bestandserhaltung der bürokratischen Organisation, wird zum Inhalt der Kirchenpolitik, weshalb diese notgedrungen — wie noch zu zeigen ist — mit ihren verkündeten Zielen in Konflikt geraten muß. Denn wessen «Machtverlust» beklagte der alternde Bischof eigentlich?
Der lange Abschied von der bornierten Struktur einer «Volkskirche», welche die Macht der großen Zahlen auf ihrer Seite hat, betrifft im Herrschaftsbereich des deutschen Staatssozialismus allein die großen evangelischen Landeskirchen, währenddessen die Freikirchen bezeichnenderweise weder unter der Säkularisierung noch unter der Formationsverdrängung in ihrem Bestand wesentlich gelitten haben. Gerade aber an der unterschiedlichen Problemlage, in die sich die Landeskirchen im Gegensatz zu den Freikirchen gestellt sehen, kann man ablesen, daß deren Widersprüchlichkeiten weitgehend aus ihrer Selbstbehauptung als bürokratische Großorganisation herrühren.
Vor diesem Hintergrund erscheint es doch sehr fragwürdig, wenn sich die Kirchenoberen ausgerechnet auf einen wahrhaft christlichen Mann wie Dietrich Bonhoeffer berufen, um dem Kirchenvolk die strategische Linie ihrer «Kirche im Sozialismus» schmackhaft zu machen. Man will «Kirche für andere» sein, ist zu hören, und auf fast allen Märkten des Landes wird das Losungswort von der «Zeugnis- und Dienstgemeinschaft» gehandelt. Bis in die Wortwahl wiederholen unsere Kirchenleitungen ganze Sätze aus dem theologischen Nachlaß Bonhoeffers, um ihr interessengeleitetes Handeln zu verbrämen.
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Dabei ist es in evangelischen Kirchenkreisen Bonhoeffer gewesen, der unzweideutig auf die Gefahr hinwies, die daraus erwächst, daß das «uns unmittelbar Gegebene» nicht mehr länger die Natur ist, «sondern die Organisation». Aus der Organisation als dem ursprünglichen «Schutz vor der Bedrohung durch die Natur» kommt nach den Worten Bonhoeffers «selbst wieder eine neue Bedrohung des Lebens» auf uns zu.63)
Daraus folgerte Bonhoeffer, die Kirche sei nur dann Kirche, «wenn sie für andere da ist». Geradeso als wollte Bonhoeffer der mißbräuchlichen Verwendung des Begriffs «Kirche für andere» vorbeugen, stellte er sogleich , seinem Wort klare Handlungsmaximen an die Seite. «Um einen Anfang zu machen», sollte die Kirche nach den Vorstellungen Bonhoeffers, «alles Eigentum den Notleidenden schenken». Und die Pfarrer sollten «ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben»64).
Was es ihnen bedeutet, «für andere dazusein», sollten die Kirchenmänner «helfend und dienend» inmitten des menschlichen Gemeinschaftslebens durch das eigene «Vorbild» den Menschen aller Berufe sagen. Die von Dietrich Bonhoeffer gewollte, zur Gesellschaft werdende Christförmigkeit steht zweifellos der von Marx im «Bürgerkrieg in Frankreich» geforderten joachitischen Kirchenform nahe. Hier wie dort haben wir die Forderung nach der «Auflösung und Enteignung aller Kirchen, soweit sie besitzende Körperschaften» sind! Und hier wie dort ist den Klerikern aufgegeben, ganz nach «dem Bilde ihrer Vorgänger, der Apostel» unter ihrer Gemeinde zu sein, abhängig «von der freiwilligen Betätigung des Frömmigkeitstriebs» der Menschen.65)
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Glaubhaft hat die «Kirche im Sozialismus» weder in der Lehre noch praktisch versucht, den «Anfang zu machen», von dem Bonhoeffer gesprochen hat. Statt dessen ist der evangelische Kirchenkonzern im Staatssozialismus weiterhin das geblieben, was die bürokratische Kirche diesseits aller Transzendenz immer schon gewesen ist: nämlich eine Eigentümerorganisation, die korporativ ihre Pfründen verwaltet. Und nicht aus der «Umkehrung alles menschlichen Seins», die aus der Begegnung mit Jesus Christus herkommt, kann die tatsächliche Stellung der «Kirche im Sozialismus» verstanden werden, diese Stellung ist allein zu begreifen aus der Verfügungsbefugnis über einen Millionenfonds an harter Westmark, den ihr die Gemeinden in der Bundesrepublik zukommen lassen, sowie aus den Notwendigkeiten einer bürokratischen Organisation.
Nicht auf das «Verhältnis zu Gott», wie es nur aus dem Dasein für andere und damit aus der «Teilnahme am Sein Jesu» hervorgeht, gründet sich die reale Bestimmung der Kirche, sondern auf die Dienstherrschaft über 40.000 Beschäftigte. Man sehe sich nur einmal den aus Prestigegründen vom Staat und der evangelischen Kirche gemeinsam wiederaufgebauten wilhelminischen Architekturkoloß, den Dom in Ost-Berlin, an.
Wer dieses monströse Bauwerk auch nur ein paar Minuten auf sich wirken läßt, der bekommt ein Gefühl dafür, wie wenig unsere Prälaten ernsthaft bereit sind, sich an den Tugenden («Demut, Genügsamkeit, Bescheidenheit») zu orientieren, die Kirche für andere überhaupt erst sichtbar werden lassen. Anstelle der «Kirche für andere» erleben die Menschen im deutschen Staatssozialismus tagtäglich ein «real existierendes Christentum», welches immer besser lernt, aus dem strukturellen Sondersein der «Kirche im Sozialismus» konkreten Nutzen zu ziehen.
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Welche Funktionen sind es nun aber, die der Kirche im Staatssozialismus zukommen? Auch im Staatssozialismus leben in Anbetracht unserer kulturellen Vergangenheit viele Menschen weiterhin in christlichen Sinnzusammenhängen, die allein religiös interpretiert werden können. Die ideellen Interessen dieser Menschengruppe zielen auf klassische Heilsgüter wie Gnade, Erlösung und ewiges Leben. Probleme innerer Not, denen sich diese Personengruppe ausgesetzt sieht, lassen sich außerhalb religiöser Beziehungen schwer bewältigen. Dieser Interessenlage entspricht der traditionelle Betrieb der «Seelsorge». In dieser Funktion kann der sozialistische Staat die evangelischen Kirchen nicht durch andere Einrichtungen ersetzen.
Erhellend für das Verhältnis von Kirche und Staat im Sozialismus ist es jedoch, wie die Kirche das aus der Formationsverdrängung resultierende Leiden der evangelischen Christen ethisch beurteilt hat. Denn mit der Bewertung des Leidens hatte schließlich die Kirche neben der Partei den allergrößten Einfluß darauf, ob das aus dem Zusammenprall der in der protestantischen Ethik etablierten Gerechtigkeitsvorstellungen mit der sozialistischen Realität resultierende Widerstandspotential stillgelegt oder in soziale Handlungsalternativen ausschlagen würde.
Was die evangelischen Kirchen in der durch die Formationsverdrängung in Deutschland charakterisierten historisch einmaligen Lage ihren Mitgliedern zu sagen wußten, ist am Ende nicht viel mehr gewesen, als daß in der Nachfolge des Leidens Christi nichts Außergewöhnliches sei und Benachteiligungen ein besonderes Merkmal christlichen Daseins in dieser Welt darstellen. Mit dieser pauschalen Bewertung des Leidens, die nichts mehr weiß vom alten protestantischen «Durst nach Gerechtigkeit» und ihrem Verzicht auf die unüberhörbare Verurteilung aller inhumanen Konsequenzen der Parteipolitik, haben die Landeskirchen selber erheblich dazu beigetragen, den von der christlichen Ethik her motivierten Widerspruchsgeist gegen alles Unrecht mundtot zu machen.
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Statt den Durst nach Gerechtigkeit zu löschen, wurde ein sich frühzeitig ausbreitendes evangelisches Selbstbewußtsein gehätschelt, das von Selbstmitleid nur so trieft. Entsprechend diesem Selbstverständnis erleiden Mitglieder der christlichen Gemeinde Nachteile in Schule und Beruf, da sie sich religiös bekennen. Man fühlt sich kontrolliert von den Sicherheitsorganen des «atheistischen Weltanschauungsstaates». Die Wahrnehmung fremden Leidens ist diesem der bürokratischen Kirche komplementären Exklusiv-Bewußtsein längst abhanden gekommen. Wie sollte man sonst die Überbetonung gerade des christlichen Leidensweges im Staatssozialismus verstehen?
In der weinerlichen Selbstgerechtigkeit, die das «real existierende Christentum» heutzutage auszeichnet, schlägt aber unüberhörbar schlechtes Gewissen mit. Es ist das alte Gewissen des Christentums, das sich gegen die massive Inanspruchnahme von Privilegien durch kirchliche Würdenträger und die Teilnahme an der Lüge wehrt. Wer davon weiß, welche Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit die Kirche — und zwar seit dem 13. August! — für ihre Kader beansprucht, währenddessen die Gemeinde die allergrößten Beschränkungen hinnehmen muß, dem dämmert die Ahnung, daß diese Leute zum überwiegenden Teil wohl auch sonst nicht zu denen zu rechnen sind, die um ihrer Gerechtigkeit willen verfolgt werden. Wenn dem so ist, muß jede aufklärerische Bewegung natürlich erst recht fragen, welches Interesse die Partei- und Staatsführung an eben dieser Form von «Kirche im Sozialismus» hat?
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Vorläufig wäre diese Frage mit dem Hinweis zu beantworten, daß die evangelische Landeskirche im deutschen Staatssozialismus das sicherste Bollwerk gegen jede wirklich religiös motivierte Erneuerungsbewegung mit radikalhumanistischem Anspruch ist. Schon aus diesem Grunde ist es verständlich, daß die Staatspartei ihren intellektuellen Studienkadern verbietet, den Klerus öffentlich bloßzustellen. Der Klerus revanchiert sich dafür, indem er Sorge trägt, daß die geistige Windstille nicht durch fundamentale theologische Entwürfe gestört wird, wie sie westlich der Elbe Küng, Moltmann, Sölle und Zähmt vorgelegt haben. Kurzum: es ist naturgemäß keine andere bürokratische Organisation besser geeignet, den radikalen Humanismus der Bergpredigt als Orientierungsgröße praktischen Handelns zu relativieren als die Kirche selbst. Und genau das macht die «Kirche im Sozialismus» als Bündnispartner für die Partei- und Staatsmacht unersetzlich.
Damit die Kirche aber in dieser Aufgabe glaubwürdig bestehen kann, müssen notgedrungen die Funktionsbereiche für Politik und Religion immer wieder neu voneinander getrennt werden, sie müssen geradezu gegeneinander verselbständigt werden. Seit der Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen Staat und Kirche ist klargestellt, daß die Staatspartei im Interesse der erfolgreichen Bearbeitung innenpolitischer Konflikte bereit ist, der bürokratischen Kirche langfristig eine herausragende Stellung unter den Organisationen einzuräumen. Hier, im Raum der Kirche, sollten sich nach den Vorstellungen des Staates die politisch opponierenden Kräfte in bestehende Strukturen eingliedern, die den Staat als solchen nicht in Frage stellen.
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Rückblickend kann man ohne Übertreibung die von Staat und Kirche damals ausgehandelten Kompromisse als neue Strukturbildung innerhalb des politischen Systems des Sozialismus verstehen, die es in der Folgezeit ermöglichte, die wechselwirkend mit dem Helsinkiprozeß und den Moskauer Reformen im deutschen Staatssozialismus aufbrechenden Konflikte zu beherrschen. In ihrem Kern besteht die Funktion dieser Strukturänderung darin, die Komplexität der an sich möglich gewordenen politischen Verhaltensweisen der Menschen einzugrenzen.
Am Beispiel der DDR-Friedensbewegung kann man sich klarmachen, was das bedeutet. Die Gründung vieler Friedensgruppen war zunächst Ausdruck der begründeten Angst vor den in Ost und West erschreckend anwachsenden Rüstungskapazitäten. Diese Realangst war verbunden mit einem verstärkten Mißtrauen in die langfristige Wirksamkeit des weltweit dominierenden Konzepts gegenseitiger Abschreckung (Der Friede muß bewaffnet sein!), wie es auch die Staatspartei verkündete.
Die in den Friedensgruppen sich allgemein durchsetzende Erkenntnis, daß es eben nicht die am Klassenkampfschema abgelesene Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und Sozialismus ist, die alle bedroht, sondern hier wie dort das entfesselte System der Politökonomie als solches, ist insoweit mehr dem genannten Mißtrauen als der konkreten Analyse geschuldet. Sollte diese Einschätzung stimmen, dann hat sich von Anbeginn der Bewegung an in den Friedensgruppen ein Widerstandspotential versammelt, dessen eigentliche Stoßrichtung berechtigt gegen die «Verselbständigung» des politökonomischen Systems gerichtet ist. Wundern konnten sich über diese Stoßrichtung nur die Vertreter der bürokratischen Kirche.
So heißt es z.B. in der Stellungnahme eines Kirchenvertreters zu einem in Schwerin veranstalteten Seminar:
«Was mich am tiefsten betroffen machte, ist die für mich neue Erfahrung, wie wenig auf einer Tagung <Konkret für den Frieden> über den Weltfrieden geredet werden kann. Aber ist nicht der Friede, um den es heute geht, primär Weltfriede!? Statt dessen diskutierten wir lange über negative Erfahrungen, die manche in unserer Gesellschaft und dem, was sie als deren Friedenspolitik sehen, gemacht haben ...»66)
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Die Tatsache, daß die Religiosität der kirchlichen Friedensgruppen in den Augen der Oberen durchaus zu wünschen übrigläßt, ist ein deutliches Indiz für die tatsächliche Motivation der darin versammelten Menschen. Hinter dem Aufgreifen ökologischer Probleme angesichts des strukturell bedingten Vorrangs der Produktion materieller Güter, der Problematisierung des Leistungszwangs und der Menschenrechte im Sozialismus steckt wenigstens im Ansatz ebenso die Suche nach praktischen Möglichkeiten, das System der Politökonomie wieder unter menschliche Kontrolle zu bringen.
Dem hier versammelten Protestpotential hätte die Partei- und Staatsbürokratie von vornherein auf die Dauer nicht mit polizeistaatlichen Mitteln beikommen können. Das zeigen die gescheiterten Versuche, einzelne Mitglieder von Friedensgruppen in den Augen der breiten Öffentlichkeit als Klassen- oder Staatsfeinde abzustempeln. Das stillschweigende Angebot einer konfessionellen Integrationsbasis inklusive des weitgehend gesicherten Anspruchs auf Straffreiheit an alle diejenigen, die nicht länger an den verordneten Massenaufmärschen für den Frieden teilnehmen mochten, die aber dennoch nicht auf eigene Friedensarbeit verzichten wollten, war eine politisch weit gelungenere Lösung. Der rüde Schematismus, wonach ein jeder, der nicht mehr den offiziellen Reim nachplappern wollte, strafrechtlich als «Staatsfeind» behandelt wurde, konnte auf diese Weise modifiziert werden. Wer den parteibürokratisch gesteuerten Politrummel nicht mitmachen will, der hat damit die Gelegenheit, «alternativ» zu sein — im genau vorgegebenen Rahmen der evangelischen Landeskirche. Wo dieser Rahmen nicht eingehalten wird, da kommt es nach wie vor zum Konflikt mit der Staatsmacht.
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Bilanzieren wir heute das Ergebnis der unterschiedlichen Protestformen, die unter «dem Dach der Kirche» angesiedelt sind, ein Ergebnis, das ohne westliche Medienverstärkung gar nicht zu hören gewesen wäre, so erweist sich die geringe gesellschaftliche Wirksamkeit dieses Protestes — jedenfalls wenn man seine Ergebnisse mit den Erfolgen der in den sozialistischen Nachbarländern entstandenen Bewegungen vergleicht — als der gemeinsame Nenner aller dieser Formen.
Beide Seiten, der Staat und die Kirchen, haben aus dieser ordnungspolitischen Arbeitsteilung nicht unerheblichen Gewinn gezogen. Was die evangelischen Landeskirchen betrifft, so wurde deren fortgesetzter natürlicher Mitgliederschwund und die Vergreisung der Kirchengemeinden dadurch optisch entdramatisiert, daß wieder Teile der Jugend die Kirchenbänke bevölkerten. Das In-die-Kirche-Gehen war nun nicht mehr allein die Sache der Alten, wenn nicht gar der ältesten Generation. Durch die Jugendlichen, die in die Kirche kamen, entwickelte sich nun wieder so etwas wie ein Gefühl der Perspektive, das beinahe schon verlorengegangen war. Getrübt wurde dieses Gefühl lediglich durch die ernüchternde Erkenntnis, daß die Schüler, Lehrlinge, Studenten und jungen Arbeiter, die den Gemeindebestand vergrößerten, in der Mehrzahl gar nicht aus religiösen Gründen in die Kirche kamen. Viele der Jugendlichen versuchten auf diese Weise, der Schematisierung ihres Freizeitverhaltens zu entgehen. Für sie war die Kirche mit ihrer tradierten Symbolik und Architektur und der überlieferten Redeweise ihrer Amtsträger die Anti-Institution schlechthin zum System des Sozialismus.
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Das Ergebnis ist: Unter dem «Dach der Kirche» wird pausenlos politisiert, währenddessen im Gegenzug dazu der Staat in allen möglichen säkularisierten Formen die Religiosität der Menschen bedient. Im Hinblick auf die erkennbar wachsende innere Not vieler Menschen in einer spirituell verödeten Welt des Sozialismus ist das durchaus ein zwiespältiges Ergebnis. Denn die stille Sehnsucht der Jugend nach Erwachen in einem höheren Zustand will ja befriedigt werden. Noch in der Besessenheit der alle Rekorde brechenden sozialistischen Athleten zeigt sich diese Sehnsucht. Hier, in den großen Sportarenen, sucht die Jugend mit einer geradezu selbstzerstörerischen Konsequenz im Bereich des Körperlichen nach dem, was ihr heute aus keiner geistigen Welt mehr zuströmt.
Daß die Kirche bereit ist, die ihr übertragenen ordnungspolitischen Aufgaben konsequent zu erfüllen, ist spätestens seit dem 13.2.1982 klargeworden. Damals hatten junge Menschen einen Friedensmarsch anläßlich des Jahrestages der Zerstörung von Dresden vorbereitet, ohne zuvor die Genehmigung der Staats- oder Kirchenbürokratie hierfür einzuholen. Die innenpolitische Bedeutung dieser Aktion lag zweifellos weniger in der Kundgebung jugendlichen Friedenswillens als mehr in der Tatsache begründet, daß die jungen Menschen damals ihren Auszug aus dem Kirchenghetto proben wollten. Tausende Menschen waren angereist und willens, diese für das gesamtgesellschaftliche Bewußtsein in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzende Aktion mitzutragen. Alles war vorbereitet. Die Flugblätter waren längst verteilt. Nur eines hatten die überwiegend christlichen Organisatoren der geplanten Aktion übersehen — die ordnungspolitische Arbeitsteilung zwischen Staat und Kirche.
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Kirchenmänner waren es dann auch, die die Jugendlichen in die Kreuzkirche führten, um sie dort einem bischöflichen Palaver auszusetzen, welches nur den einen Sinn hatte, den Jugendlichen ihren Mut zu nehmen. Der eigentliche Zweck der geplanten alternativen Aktion, die einen Lernprozeß hätte auslösen können, wie ihn die DDR bis dahin nicht erlebt hatte, wurde durch die bischöfliche Intervention verballhornt. Darüber können auch die Erklärungen nicht hinwegtäuschen, mit denen die beamteten Kirchensprecher bis heute das beschwichtigende Palaver ihrer Bischöfe rechtfertigen wollen. Wie es heißt, wollte man in bester Absicht und verantwortungsbewußt einer Konfrontation zwischen Sicherheitsapparat und Jugendlichen vorbeugen.
An der von Kirchenvertretern immer wieder vorgetragenen Rechtfertigung des bischöflichen Handelns sind nur die Teile der Erklärung annehmbar, in denen direkt die ordnungspolitische Funktion der Kirche eingestanden wird. In Wahrheit konnte es sich nämlich die Staatspartei Anfang der achtziger Jahre schon gar nicht mehr leisten, Tausende junger Menschen allein deshalb zu verhaften, weil diese an einem Schweigemarsch für den Frieden teilnehmen wollten. Es dürfte in diesem Zusammenhang kein Zufall gewesen sein, daß zur selben Zeit, als in der Dresdner Kreuzkirche die von den Bischöfen genarrten Jugendlichen ihrer Enttäuschung lautstark Ausdruck verliehen, die Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg «nachdrücklich von einer Beteiligung an der Sammlung von Unterschriften» für den «Berliner Appell» abriet. Die Berlin-Brandenburger Kirche war in der Folgezeit dann auch die Kirche, die in der rigidesten Art und Weise die ihr übertragene ordnungspolitische Aufgabe erfüllte.
Sie instruierte schriftlich noch die letzte Gemeindeleitung in ihrem Sprengel, den entstandenen Gruppen dann ihre Unterstützung zu entziehen, sobald diese sich nicht mehr an den vorgegebenen Handlungsrahmen halten wollten (nachzulesen in der kirchenamtlichen «Orientierung für die Arbeit mit Gruppen, die die Kirche durch ihre besondere Thematik herausfordern»).
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In den letzten Jahren beginnt sich die Situation jedoch zu ändern: Entstanden sind erste autonome Gruppen, die sich bewußt der kirchlichen Vormundschaft entziehen und auf das «Dach der Kirche» in ihrer politischen Arbeit verzichten. Über eine größere Basis innerhalb der evangelischen Landeskirchen verfügen sie kaum, doch ihre Bedeutung kann auch gar nicht in der großen Zahl liegen; sie liegt in der sozialen und geistigen Offenheit, für die sie einstehen. Sie, die aus dem Kirchenghetto herausgekommenen Gruppen, sind die zukünftigen Keimzellen für eine politische Reformation des Sozialismus. Diese selbstbestimmten Gruppen sind, wenn ich recht sehe, neben der bevorstehenden Reform der Staatspartei an Haupt und Gliedern, die eigentliche Hoffnung für eine kulturelle Erneuerung des Sozialismus.
Die Entstehung und Entwicklung autonomer Gruppen zeigt seit Mitte der achtziger Jahre Rückwirkungen bis in die «Kirche im Sozialismus» hinein. Schon die Vorstellung, daß Menschen der Kirche mit der mehr oder weniger offen erklärten Begründung, sie fühlten sich unter dem «Dach Kirche» politisch bevormundet, den Rücken kehrten, mußte das sich gerade erst wieder festigende Selbstbewußtsein der klerikalen Bürokratie verunsichern. Es zeigte sich damit schließlich, wie zweifelhaft der von vielen kirchlichen Amtsträgern unverhohlen zur Schau getragene Stolz darauf war, daß die «Kirche im Sozialismus» als einzige gesellschaftliche Großorganisation einen halbwegs öffentlichen Raum für die freie Diskussion der anstehenden Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensfragen gewährte.
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Und, was unter diesen Umständen viel wichtiger war: Es blitzte erstmals die Erkenntnis auf, es komme vielleicht der Staatspartei und ihrem Geheimdienst gar nicht ungelegen, wenn sich die anwachsenden Kräfte des Widerstands in die kirchlichen Strukturen eingliedern würden.
Seit dieser Zeit ist ein besonders von Laien vorangetriebener Erkenntnisprozeß in Gang gekommen, der sich nicht nur in den mutigen Verlautbarungen großer synodaler Versammlungen, sondern ebenso in mancher örtlichen Gemeinde artikulierte und der die Kirchenoberen unter einen nicht unerheblichen Erwartungsdruck stellte. Auch die erkennbare Sympathie der meisten Gemeindemitglieder für die in Moskau begonnenen Reformen sowie die Entstehung der «Kirche von unten» trugen dazu bei, den Konservativismus der Kirchenführer zu lockern.
Angesichts dieser Entwicklungen im kirchlichen Innenraum weigerten sich im Zusammenhang mit den nach der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1988 stattfindenden Auseinandersetzungen prominente Kirchenführer erstmalig demonstrativ, ihre ordnungspolitischen Aufgaben zu erfüllen — während allerdings andere zur selben Zeit den bedrängten Staatsorganen mit Rat und Tat zu Hilfe eilten, um den sozialen Protest in Grenzen zu halten. In einem Fürbittgottesdienst für inhaftierte Bürgerrechtler ließ der Berliner Bischof seiner Empörung über die polizeistaatlichen Methoden der Konfliktlösung ungehemmt freien Lauf. Annähernd zeitgleich beteuerte sein Superindentent vor westlichen Fernsehkameras das «Grundvertrauen» der «Kirche im Sozialismus» zum Staat. Ungebrochen setzte er seine Hoffnungen darein, daß weiterhin Übereinkünfte mit der Politbürokratie möglich seien. Die wurden dann ja auch bald getroffen.
Wohlgemerkt, es geht an dieser Stelle nicht um die Kommentierung des politischen «Kuhhandels», der mit Hilfe der evangelischen Kirche damals abgeschlossen wurde. Der Rückblick auf die Januarereignisse soll zeigen, wie gespalten die bürokratische Fraktion innerhalb der Kirche inzwischen ist. Einem solchen Spaltungsprozeß kommt größte Bedeutung zu, weil er die Instrumentalisierung der «Kirche im Sozialismus» zugunsten der Staatspartei relativiert.
Hat damit bereits die Erneuerung unserer Kirche aus dem Geiste begonnen? Das darf trotz der anwachsenden Laienaktivitäten immer noch bezweifelt werden. Ob es zukünftig dazu kommt, ist gewiß davon abhängig, wie es den Laien gelingt, ihr eigenes vormundschaftliches Bewußtsein zu wandeln, das selbst noch nach den erlittenen Enttäuschungen weiter daran glauben will, die Erneuerung der Kirche hinge in erster Linie davon ab, daß die bestellten Vormünder ihren Sinn ändern.
In Wahrheit bedarf es ebensosehr des Bewußtseinswandels seitens der Bevormundeten, die mündig werden sollen. Denn nur auf diese Weise kann «Basis für Mündigkeit» in der Kirche wachsen. Aufs Ganze gesehen heißt das, im kirchlichen und persönlichen Bereich muß die in einer Jahrhunderte währenden staatskirchlichen Vergangenheit entstandene unbiblische Servilität gegenüber der Macht überwunden werden. Sobald das geschieht, wird es auch mit der weitgehend unbemerkten ideologischen Arbeitsteilung zwischen der Staatspartei und der evangelischen Landeskirche ein Ende haben.
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Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real-existierenden Sozialismus.