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   Staat und Religion   

12   Marxismus und Christentum       Marxismus und Metaphysik

«... wo Hoffnung ist, ist auch Religion»   Ernst Bloch

«Meiner Meinung nach ist die Religion aus sich heraus vom politischen Standpunkt kein Opium und keine Wundermedizin. Sie kann in dem Maße Opium oder Wundermedizin sein, wie sie, in Abhängigkeit von der Form, in der sich der Mensch... den politischen, sozialen oder materiellen Problemen stellt, die Unterdrücker und Ausbeuter oder die Unterdrückten und Ausgebeuteten verteidigt.»   Fidel Castro

 

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Nicht ganz so klar umrissen wie die ordnungspolitische Funktion der Kirche im Sozialismus ist der ihr übertragene ideologische Auftrag. Staatspartei und Landeskirchen versichern sich gegenseitig ihre Rechtgläubigkeit, indem sie immer wieder von den «nicht überbrückbaren weltanschaulichen Gegensätzen zwischen Christen und Marxisten» reden. «Auf diesem Hintergrund», so lautet die in der Kirche festgelegte Generallinie, die wörtlich in jedes Programm der Staatspartei übernommen werden könnte, «ist das Gespräch zwischen Christen und Marxisten zu führen. Dabei gilt, daß eine Vermischung von christlichen und marxistischen Positionen weder denkbar noch wünschenswert ist. Es gibt Grundunterschiede, über die zu diskutieren wenig Sinn hat, die vielmehr als gegeben bei jedem Gespräch vorausgesetzt werden müssen.»(67)

Mit dieser sehr simplifizierenden ideologischen Frontbegradigung werden die seit jeher vorhandenen unterirdischen Beziehungen zwischen Christentum und Marxismus gewiß nicht abgebrochen. Es werden aber mit ideologischen Manöverübungen dieser Art die Borniertheiten der jeweiligen Kirchen- oder Staatspartei zynisch verstärkt: Marxismus ist dann das, was die Staatspartei sagt, und Lehre Gottes, was die staatsfrommen Landeskirchen verkünden. Auf diese Weise verhindert man mit vereinten Kräften den für den Staatssozialismus lebenswichtigen Dialog zwischen Christen und Marxisten. Keiner führt die Schäfchen des anderen in Versuchung. Angesichts einer derartigen Befestigung des Bestehenden kommt eine Meinungsäußerung wie die Fidel Castros, der im Gespräch mit dem Dominikaner­priester und namhaften Befreiungstheologen Alberto Libanio gesagt hat, «daß man ein Marxist sein kann, ohne aufzuhören, ein Christ zu sein», ebenso ungelegen wie die ganze Theologie der Befreiung.

Man könnte den letzten Zweck der ideologischen Arbeitsteilung zwischen Staatspartei und «Kirche im Sozialismus» auch in folgendem sehen: Mit ihr soll die unter Christen wie Marxisten gleichermaßen verbreitete Sehnsucht nach dem geheimen, bisher nirgendwo öffentlich verkörperten «ganzen» Menschen, der zugleich der gerechte und zukünftige ist, ein für allemal unterdrückt werden. Der «ganzheitliche» Mensch! In unterschiedlichsten Formen wird er herbeigebetet; über ihn wird endlos spekuliert; in Wahrheit aber ist er für den Klerus genauso wie für die Parteibürokratie die schlechthin unerwünschte Person. Denn der ganzheitliche Mensch wird die überkommenen monströsen Organisationen nicht mehr benötigen, da er zugleich der mündige Mensch sein wird. Für ihn gilt die «imitatio» Christi und nicht stupide Linientreue, gleichgültig ob die sich auf die Bibel oder das kommunistische Manifest beruft.

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Wer das einmal begriffen hat, kann nicht mehr den Ehrgeiz entwickeln, die Menschen jemals wieder für ein bürokratisches Kirchentum — das gegenwärtig durch den allgemeinen Kreditverlust der Partei seine Konjunktur erlebt — zu gewinnen. Für den Marxisten heißt das aber ebenfalls, daß er nicht mehr nur die alten Schlachten gegen» die Religion als ideologisches Opium für das Volk wiederholt, sondern mit seinen Mitteln daran teilhat, auf dem Boden einer erneuerten Metaphysik den intellektuellen Klassenkampf mit einem geistigen Friedensbund zu überwinden. Politischer Rahmen für einen derartigen Friedensbund kann der «atheistische Staat, der demokratische Staat» sein. Für Marx ist allein dieser Staat, wie er sagt, «der vollendete christliche Staat»68. Im Gegensatz dazu ist ein Staat, der sich auf eine Ersatzreligion beruft und der zugleich die bürokratische Kirche benutzt, um mit ihrer Hilfe die geistige Erneuerung seiner menschlichen Grundlage zu unterbinden, seinem Wesen nach ganz sicher weder atheistisch noch christlich.

Was wir benötigen, das ist ein Atheismus, der nichts weiter ist als «die politische Weise, sich von der Religion zu emanzipieren», denn ein solcher Atheismus ist die beste Voraussetzung für die kommende Erneuerung des Glaubens in Freiheit. Ein solcher Atheismus wurde seit Marx in der deutschen Linken als die zeitgemäße äußere Form begriffen, in welcher die Religion leben Soll. Insoweit ist es durchaus keine dialektische Spitzfindigkeit, wenn Marx gerade den atheistischen Staat als die politische Rähmen­bedingung hervorhebt, in der allein die geistige Welt der Religion sich entfalten kann, ohne mit dem Sinnlichen und Realen eine unheilige Allianz eingehen zu müssen.

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Der Durchbruch zu einem Christentum mit wahrhaft universalreligiöser Bedeutung, zu einem Christentum also, das im Bewußtsein «des religiösen Gegensatzes und der religiösen Mannigfaltigkeit» schwelgt, führt nach Marx unweigerlich durch das Stadium der Zersetzung des Menschen «in den religiösen Menschen und in den Staatsbürger» hindurch. Nicht die politische Entmachtung der Kirchenbürokratie ist deshalb problematisch, bedenklich ist die weitere Beteiligung der «Kirche im Sozialismus» an der Machtausübung. Denn überall dort, wo die Macht des Klerus in der alten Form erhalten bleibt, wird die natürliche Religiosität der Menschen verwaltet und zur Konfession kodifiziert. Damit aber wird die Entwicklung persönlicher Gottesbeziehungen und die direkte Auseinandersetzung der Menschen mit einem extramundanen Prinzip aufgeschoben. Nur auf diesem Wege könnte aber der einseitige Determinismus der materiellen Verhältnisse überwunden werden.

Nicht daß die «Kirche im Sozialismus» die unmittelbare Zwiesprache der Seele mit dem ewigen Worte unterbinden könnte. Das kann sie gewiß nicht. Aber sie kann wie keine andere Institution in der sozialistischen Gesellschaft Religionsersatz bereitstellen. Und genau das passiert in dem Umfang, wie die Kirchen weiterhin geistlos kollektive Gottesvorstellungen überliefern, die durch keinerlei innere Erfahrungen mehr gestützt sind. Religion wird so zum Bestandteil eines billig zu habenden kulturellen Sortiments. Was die Entwicklung des Protestantismus angeht, so hat dieser gewiß nicht nur im deutschen Staatssozialismus zu Verhältnissen beigetragen, in denen der Mensch sich von seiner natürlichen Religiosität entfremdet hat und sich gedrängt sieht, seine tiefsten Wahrheiten losgelöst von sich selbst zu suchen. Aber auch für den Staatssozialismus und seine protestantische «Kirche im Sozialismus» gilt, was G.G. Jung 1952 gesagt hat.

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Der «protestantische Standpunkt», meinte dieser, «...hat offenbar die Fühlung mit den gewaltigen archetypischen Entwicklungen in der Seele des einzelnen wie der Masse und mit jenen Symbolen ... verloren. Er scheint einem rationalistischen Historizismus verfallen zu sein und das Verständnis für den Heiligen Geist, der im Verborgenen der Seele wirkt, eingebüßt zu haben. Er kann daher eine weitere Offenbarung des göttlichen Dramas weder begreifen noch zugeben.»69)

Anstatt mit sich und aus sich selbst heraus ihre Religiosität zu leben, stopfen nicht wenige Menschen weiterhin das in sich hinein, was ihnen protestantische Pastoren in ihrer «Kirche im Sozialismus» als Religion verkaufen. Sicher, ohne eine solche Abwehr ihrer eigenen Religiosität wären diese Menschen gezwungen, sich selber Rechenschaft über die Begründung ihres Glaubens abzulegen. Nicht der Glaube als solcher ist ja die eigentliche religiöse Erfahrung. Machen wir uns nicht oftmals genau das aber vor? Wirklicher Glaube beruht jedoch letztlich stets darauf, daß dem Gläubigen zuvor etwas widerfahren ist, was später seinen Glauben rechtfertigt. Wie sonst sollte sich der Glaube von jedem anderen Fürwahrhalten unterscheiden? «Die Forcierung des Herzens», hat Rilke einmal gesagt, «das oder jenes für wahr zu halten, die man gewöhnlich Glauben nennt, hat keinen Sinn. Erst muß man Gott irgendwo finden, ihn erfahren als so unendlich, so überaus, so ungeheuer vorhanden — dann sei's Furcht, sei's Staunen, sei's Atemlosigkeit, sei's am Ende — Liebe, was man dann zu ihm faßt, darauf kommt es kaum noch an ...»70)

Alle großen Lebemeister wußten das! Augustinus gar wollte gleich den ganzen Erkenntnisfortschritt darauf gründen, daß wir allmählich erkennen, woran wir glauben. Und Meister Eckehart lehrte, ernstlicher Glaube sei weit mehr als ein dumpfes Wähnen der Menschen.

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Für ihn stand die Erkenntnis des gemeinhin Unsichtbaren in demselben Verhältnis zum Glauben, wie die Vorbereitung und der Versuch einer Tat zueinander stehen. Hat der Glaube nichts mehr vom Schauen an sich, geht er nicht mehr ernsthaft auf die Erkenntnis höherer Welten.

Solange der reine Wissenschaftsglaube vorherrscht, sind es wenige, die ihre übersinnlichen Erkenntniskräfte ebenso gründlich wie ihre Verstandesfähigkeiten praktisch ausbilden. Auf diesen wenigen lastet die ganze Verantwortung dafür, daß die Botschaft von einer höheren Welt unmittelbar durch übersinnliches Wissen empfangen werden kann. Diese Nachfolger der alten Eingeweihten sind die berufenen Seelenführer aller schöpferischen Kräfte. Mit ihrer Hilfe wird es möglich sein, den Grundstein für ein wirklich universalistisches Bewußtsein zu legen, welches von den Borniertheiten der gegebenen Bewußtseins­formen frei ist. Für ein solches neues Bewußtsein wird die Identität von Liebe und Erkennen konstitutiv sein.

Ebenso bedarf es einer Neuordnung des Systems kultureller Meinungen, die das metaphysische Heilswissen in ein anderes Verhältnis versetzt zum positivistischen Fachwissen und traditionellen Bildungswissen. Längerfristig müßte sich der Schwerpunkt des menschlichen Verhaltens vom aktivischen Aspekt im Sichverhalten zum eigenen Sein hin zum passivischen Aspekt verlagern. Denn das «Schauen im göttlichen Licht» und das «Hören des Unbewußten» setzen, wie wir wissen, Stille und die für jede metaphysische Erkenntnis notwendige Grundeinstellung der Gelassenheit im Äußeren voraus. Wenigstens zeitweilig muß der Mensch, wie es Meister Eckehart ausdrückt, «gar tot sein und nicht mehr bei sich selber», damit er das erfährt, was wir die Erkenntnis höherer Welten nennen.

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Mystisches Erleben für sich genommen ist allerdings noch keine Erkenntnis. Zwar sieht sich der Myste mit jedem Erleben vor die Frage gestellt, wie er das, was ihm. widerfahren ist, für sich bewertet. Damit ist aber noch kein Wandel des menschlichen Wesens und Handelns zum Besseren garantiert. Man kann mystisches Erleben wie jede andere Erfahrung auch bedeutungsmäßig abwerten, falsch einschätzen usw. Gewöhnlich geschieht das dadurch, daß man von Sinnestäuschungen spricht oder das eigene Erleben als Phantasterei herabsetzt (ohne sich allerdings Rechenschaft darüber abzulegen, was man damit überhaupt sagt!). Wer die Hervorbringung des kollektiven Unbewußten für sich aber in dieser Form nicht abwehrt, der wird sich meist auf geheimnisvolle Weise dessen bewußt, daß er auf dem Wege zu jenem Deus inferior ist, von dem die Mystiker aller Zeiten, Kulturen und Kontinente berichten: jener göttlichen Wesenheit, die tiefinnerlich in uns ruht, beruhigender und liebender als alles, was wir sonst erleben.

Das überzeugendste Beispiel dafür, wie solcherlei Erleben auch politisch zu Buche schlagen kann, ist und bleibt wohl die Bekehrung des Christenverfolgers Saulus, der zu Paulus wird. Unterwegs nach Damaskus, um von dort, wie geschrieben steht, Anhänger der neuen Lehre, wenn er sie dort fände, gebunden nach Jerusalem zu führen, ist es um Saulus geschehen. Zu Boden gefallen, und zwar nicht etwa weil ihm Christus Jesus erschienen ist, wie manchmal behauptet wird, sondern da «ihn plötzlich ein Licht umleuchtete», bekam er die göttlichen Worte zu hören: «Saul, Saul, was verfolgst du mich?» In dieser Situation ist Saulus zu einer inneren Weiterung bereit, die der ganzen Wucht dieses Erlebnisses entspricht. Und er «kehrt um»!

Über die Zeiten und die politischen Systemgrenzen hinweg hat das Beispiel des Paulus Menschen zur Umkehr ermutigt. Und es hat daran erinnert, daß Jesu Mahnung «Wandelt euch!» nicht allein bei den Geschlagenen und Entrechteten Gehör findet.

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   Marxismus und Metaphysik 

 

«Die Fantasie setzet die künftige Welt entweder in die Höhe oder in die Tiefe oder in der Metempsychose w uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. - Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz, anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbei und der Schattenkörper hinweggerückt ist. Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.»   Novalis: Blütenstaub

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Mit seinem Aufsatz <Über das Programm der kommenden Philosophie> hat Walter Benjamin die erste fundamentale Wegweisung für eine zukünftige Aussöhnung des Marxismus mit der Religion gegeben. «Die Philosophie beruht darauf», so lautet im Kern die Botschaft Benjamins, 

«daß in der Struktur der Erkenntnis die der Erfahrung liegt und aus ihr zu entfalten ist. Diese Erfahrung umfaßt denn auch die Religion, nämlich als die wahre, wobei weder Gott noch Mensch Objekt oder Subjekt der Erfahrung ist, wohl aber diese Erfahrung auf der reinen Erkenntnis beruht, als deren Inbegriff allein die Philosophie Gott denken kann und muß. Es ist die Aufgabe der kommenden Erkenntnistheorie, für die Erkenntnis die Sphäre totaler Neutralität in bezug auf die Begriffe Objekt und Subjekt zu finden, mit anderen Worten, die autonome ureigene Sphäre der Erkenntnis auszumitteln...»71

Der von Benjamin verwandte Begriff der Erkenntnis ist, kantisch gesprochen, transzendental! Das Prinzip wirklichen Wissens ist danach der Geist, der in ewiger Gegenwart webend sich seiner selbst bewußt wird. Es ist dies der Geist, der nicht mehr in den Gegensatz des Subjekts zum Objekt verwickelt ist und von dem es in den «Upanishaden» heißt:

Was eben zweifach hier erscheint 
Als wahrnehmbar und Wahrnehmer, 
Ist doch des Geistes Zucken nur, 
Der Geist hat keinen Gegenstand, 
Und er ist wahrlich ewiglich. 
<Nichts haftet an ihm>, lehrt die Schrift.

Mit der beabsichtigten Reinigung der Erkenntnislehre will Benjamin aber nicht nur einen bestimmten Begriff der Erkenntnis hervorheben und, darauf wiederum bauend, das ableiten, was Erfahrung ist, ohne daß Erfahrung und Erkenntnis weiterhin allein auf das empirische Bewußtsein bezogen werden müßten. Zugleich soll damit der «logische Ort und die logische Möglichkeit der Metaphysik» abgesteckt werden. Philosophisch ist das die grundlegende Weichenstellung im Zentrum des Marxismus, die diesen aus seiner Abwehr der Spiritualität erlösen könnte. Und, was mindestens ebenso bemerkenswert wäre, damit würde sich der Marxismus im Verein mit der Avantgarde der modernen Physiker, und zwar durchaus in Fortführung abendländischer Denkweisen, auf eigene Art dem östlichen Denken nähern.

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In ein Weltbild der politischen Agitation und Propaganda gehört freilich eine solche Einstellung nicht hinein. Denn mit der vulgären Vorstellung, wonach der letzte Grund aller Erfahrung und damit auch des Wissens die «objektive Realität» sei, welche die Menschen in ihrer gegenständlichen Tätigkeit täglich erleben, geht der Begriff der Erkenntnis, den Walter Benjamin meint, nicht mehr zusammen. Immerhin wird ohne Umschweife gesagt: Wir sehen das, was wir wissen. Streng genommen war es ja ohnehin niemals die Verallgemeinerung von Erfahrungs­tatsachen, die weitergeführt hat. Zwar kann solcherlei Tun schon einmal in die Formulierung von Prinzipien und Gesetzen einmünden; das Wesen der Dinge braucht es deshalb nicht zu berühren. Wesentlich weiter führen Schöpfungsakte, in die der Mensch sich selbst als Person mit einbringt. Die Erkenntnis, die dabei aufblitzt, ist Ergebnis des Durchbrechens verwirrender Selbsttäuschungen, Ergebnis eines Niederbrennens aller Verworrenheit, die den Menschen am Enthüllen des erweckten Geistes hindert, kurz, sie ist das, was man Erleuchtung nennt.

Geist ist das, was weiß. Es gibt nicht «Wissende», sondern alles ist «selbst wissend». Planiert man so die gewohnte Unterscheidung zwischen dem Wissenden (Subjekt) und dem Gewußten (Objekt), dann ist es natürlich falsch, wenn der Mensch weiterhin von sich allein behauptet, er sei es, der denkt! Richtiger ist es da schon zu sagen: «Es denkt», so wie man sagt: «Es friert», «Es ist hell», oder, wie der Physiker feststellt: «Es ist ein elektrisches Feld im Raum.»! Gedächtnis und Erinnerungs­vermögen sind zufolge dieses Erkenntnisbegriffs in allem, was ist, in der sogenannten unbelebten Materie ebenso wie im Pflanzen- und Tierreich oder in der Welt des Menschen, wenngleich in unterschiedlichsten Formbestimmungen.

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Mit einer solchen erkenntnismäßigen Einstellung befinden wir uns durchaus in bester Gesellschaft. Innerhalb der abendländischen Philosophie war es die Gnosis, die als mystische Geistesrichtung im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. den Gedanken einer Beseelung aller Materie mit aller wünschenswerten Klarheit durchdachte. Etwa 1970 haben Physiker in Princeton und Pasadena wieder den Gedanken einer unteilbaren Einheit zwischen dem Geist und den Phänomenen aufgegriffen. Und vor kurzem hat nun Jean E. Charon seine komplexe Relativitätstheorie vorgestellt, die in Weiterführung des gnostischen Denkens und der Einsteirischen Allgemeinen Relativitätstheorie ein neues Strukturmodell der Teilchen gebraucht. Danach besitzt jedes einzelne Teilchen, aus denen die Materie, aber auch das ganze Universum besteht, sein eigenes Erinnerungsvermögen. «Im Klartext heißt das nichts anderes», schreibt Charon, «als daß jedes einzelne Materieteilchen zu einem Verhalten befähigt ist, das sehr wohl vergleichbar ist mit dem Verhalten der Lebewesen — uns Menschen Inbegriffen —, die ja ebenfalls ein <Gedächtnis> besitzen und dieses einsetzen, um in jedem Augenblick ihr Verhalten zu steuern.»72)

Mit einer solchen Haltung gegenüber dem, was man «Psychomaterie» nennt, sind zwangsläufig Konsequenzen verbunden. Sobald wir nämlich Bewußtsein und Materie nicht mehr als voneinander getrennte Größen ansehen, sondern prinzipiell wie eine Zweieinheit (etwa wie Welle und Korpuskel), fällt der für das dogmatische Weltbild konstitutive Bewußtsein-Materie-Gegensatz ganz automatisch in sich zusammen.

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Wenn die Materie-Bewußtsein-Beziehung in dieser Weise gesehen wird, ist es natürlich unsinnig, weiterhin die «Grundfrage» der Philosophie in der bekannten Form zu stellen. Es gibt dann kein «Primat der Materie» mehr, keinen Materialismus, keinen Idealismus oder wie die Parteiungen, Fronten und Dualitäten noch heißen mögen, die sich um die Beantwortung der «Grundfrage» ranken.

Die Erkenntnis, die ein an Benjamin orientierter Marxismus gewinnen will, maßt sich zwar nicht an, Gott in die Welt zu setzen, wohl aber will sie Erfahrung und Lehre von ihm wieder möglich machen. Sicher, wie wir von Gott sprechen, ist stets abhängig von unserer besonderen Verständnisweise. Deshalb erinnert ja auch Meister Eckehart daran, daß da immer noch ein allerletzter Unterschied zwischen Gottes Sein in sich und unserem Verstehen bleiben wird. Wir müssen uns schon damit abfinden: Der Gott in der Moderne ist weiterhin namenlos, er ist weder in Raum und Zeit, noch ist er in dem, was Zahl, Teil und Menge einschließt.

Soll alles das, was die Religion einmal gewesen ist, in einer geistigen Erneuerung noch einmal wahr werden, dann bedarf es ganz sicher von den unterschiedlichsten Seiten her einer Annäherung an die Quellen, aus denen sich die «wirkliche Religiosität des Menschen» speist. Zu einer der üblichen Formen konfessioneller Religiosität können wir dagegen niemals mehr mit reinem Gewissen zurückkehren. Nachdem wir das «religionslose» Zeitalter fast durchschritten haben, verlangt es den spirituell empfindsamen Menschen nach einem tiefergehenden religiösen Erkenntnisleben, das mit der allerorten anzutreffenden Art des Glaubens, die über ein stupides Für-wahr-Halten bewußt nicht hinausgehen will, kaum mehr etwas zu tun hat.

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Worauf wahre Religion in zeitgemäßer Form deshalb abzielt, kann gar nichts anderes sein als die Erweckung des «inneren Menschen» in uns, des Menschen also, für den Gott allein das Licht ist. Dieser Mensch wird aber nicht aus Fleisch geboren, wie es schon bei Johannes heißt, sondern aus dem Geist heraus — also ganz allein «von oben her». Was auf diese Weise in uns wirkt, wirkt sich Ähnliches. Darum sagt Meister Eckehart: Gott wird in der lauteren Seele geboren.

Ohne das heilsame Wirken des «inneren Menschen» in den sozialen Beziehungen wäre allein eine rein äußerliche Leitung durch Macht, Geld oder ähnliche Mittel denkbar. In den Jahrhunderten seit der industriellen Revolution ist der Handlungs­zusammen­schluß der Menschen untereinander ja auch immer mehr auf dieser Grundlage hergestellt worden. Ein Zeitalter der Verirdischung des Menschen war sicherlich erforderlich, denn allein in dieser Weise konnten die menschlichen Verstandeskräfte in ihrer ganzen Fülle entwickelt werden, nachdem sie zuvor in der Religiosität des Mittelalters befangen blieben. Berechtigt war die Verirdischung, die wir erlebt haben, aber immer nur als Stufe innerhalb einer Stufenleiter des Fortschritts, niemals jedoch als eigentliches Ziel des menschlichen Handelns. Inzwischen ist die Zeit reif geworden, die Welt des Geistes ebenso konsequent zu entdecken, wie wir in der. Neuzeit die äußerliche Welt der Dinge entdeckt haben.

Was bedeutet nun in einer derartigen Situation die Redewendung von der «Erweckung des Menschen von oben her»? 

Die Beantwortung dieser Frage muß unterschiedlich ausfallen, je nachdem wie prinzipiell sie gegeben wird. Es ist ja gewissermaßen jeder Mensch, der sein Handeln am kategorischen Imperativ orientiert, bereits «von oben» inspiriert, ob dieser Mensch nun meint, «nur aus Gründen der Vernunft» zu handeln oder nicht.

Denn wer in diesem Sinne nach verantwortungs­bewußter Abwägung guter Gründe etwas tut, der fragt eben nicht zuerst nach dem, was für ihn von Vorteil ist, Geld bringt, die eigene Macht erhöht. Wer so geleitet handelt, dem steht der Sinn nach Gerechtigkeit, die einfach sein sollte und leider nicht ist, dem geht es um die Befreiung aus der Verwerflichkeit.

Man muß sich von vornherein im klaren darüber sein, welche grundsätzlichen Vorurteile im heutigen Bewußtsein jeder Leitung «von oben» her entgegenstehen, ganz gleich in welcher konkreten Form diese Leitung sich auch empfehlen mag. Schließlich gilt der größte Teil dessen, was nicht mit Vorteilserlangung, der Durchsetzung materieller Interessen oder Eigensucht erklärt werden kann, dem heutigen Menschen oftmals als Spleen oder unreal.

Aber so wie die Wirkungen der materiellen Verhältnisse wie «von unten» her an den Menschen herantreten, in vergleichbarer Weise ragt in unsere Seelen- und Geisteswelt der Bereich hinein, der über uns Menschen ist. Und genauso wie man durch das «Tor der Sinne» von dem erfährt, was die eigene Sinnlichkeit reizt und das materielle Interesse weckt, kann man durch «innere Organe» die Wegweisung hören, nach der wir uns richten sollen. Wirkungsvoller aber als jede äußere Form der Religionsausübung es jemals bewirken könnte, geschieht die Erweckung des «inneren Menschen» in der individuellen mystischen Praxis. Die Erkenntnis, die hier aufblitzt, ist nicht sinnliches oder verstandes­mäßiges Erkennen, sondern ist Teilhabe am Geist. Das bedeutet: es kommt vor allen Dingen auf die Eigenschau an, zu der alle Lehre hinführen will.

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Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real-existierenden Sozialismus.