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8.   Heinrich von Kleist und das Drama des totalen Krieges

Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose,
das von uns Hilfe will.  
Rainer Maria Rilke 

 

   Körper-Einsatz   

187-210

In seiner Boxer-Anekdote schildert Kleist [1803] zwei berühmte englische Boxer, die beide beschließen, öffentlich im Garten einer Londoner Kneipe gegeneinander zu kämpfen. Kleistleser wissen, wie ihr Kampf endet.

Es sind lediglich zwei Treffer, die nach "wenig Augenblicken" scheinbar über Sieg und Niederlage entscheiden: Der Kämpfer aus Plymouth schlägt den Portsmouther so wuchtig gegen die Brust, daß dieser Blut spuckt. Der wischt sich das Blut vom Mund und kontert mit einem Körperhaken, welcher seinen Gegner gleich tödlich niederstreckt («an den Gedärmen verletzt»).  

Wer ist hier Sieger? Wer Verlierer? Der Portsmouther soll, heißt es bei Kleist, «tags darauf am Blutsturz gestorben sein.»

Wodurch unterscheidet sich das Gefecht, welches Kleist in seiner Anekdote schildert, von einer sportlichen Auseinandersetzung? Was macht den Kampf der Boxer so mörderisch, um nicht zu sagen unkultiviert?

Die Antwort ist klar: In allen seinen Spielarten setzt das Boxen als Körperkultur jederzeit beschränkende Regeln voraus! In Kleists «Boxer»-Anekdote fehlt jedoch von vornherein der Schiedsrichter. Es gibt keinen Ringarzt, der im Interesse der Gesundheit der Kämpfer den Abbruch des Aufeinandereinschlagens verfügen könnte. Kein Sekundant wirft das Handtuch. 

Weil es dem Zweikampf der Boxer an jeder Reglementierung, der Förmlichkeit des Duells mangelt, bestimmt allein die Roheit der Kontrahenten das Geschehen.

Auf mikro-physikalischem Niveau schildert so die Erzählung Kleists den von der Staatsphilosophie des siebzehnten Jahrhunderts (Hobbes, Spinoza, Pufendorf) jederzeit befürchteten Einbruch des «Naturzustands» in die Gesellschaft. Auch Boxer lassen die «Natur» eben nur in dem Maße hinter sich, wie sie sich bei ihrem Kampf der Herrschaft des Rechts unterstellen.

detopia-2024: Zwei berühmte englische Boxer, der eine aus Portsmouth gebürtig, der andere aus Plymouth, die seit vielen Jahren voneinander gehört hatten, ohne sich zu sehen, beschlossen, da sie in London zusammentrafen, zur Entscheidung der Frage, wem von ihnen der Siegerruhm gebühre, einen öffentlichen Wettkampf zu halten. Demnach stellten sich beide, im Angesicht des Volks, mit geballten Fäusten, im Garten einer Kneipe, gegeneinander; und als der Plymouther den Portsmouther, in wenig Augenblicken, dergestalt auf die Brust traf, daß er Blut spie, rief dieser, indem er sich den Mund abwischte: brav! – Als aber bald darauf, da sie sich wieder gestellt hatten, der Portsmouther den Plymouther, mit der Faust der geballten Rechten, dergestalt auf den Leib traf, daß dieser, indem er die Augen verkehrte, umfiel, rief der letztere: das ist auch nicht übel –! Worauf das Volk, das im Kreise herumstand, laut aufjauchzte, und, während der Plymouther, der an den Gedärmen verletzt worden war, tot weggetragen ward, dem Portsmouther den Siegsruhm zuerkannte. – Der Portsmouther soll aber auch tags darauf am Blutsturz gestorben sein.

wikipe  Heinrich_von_Kleist  (1777-1811)     Werke und Briefe in vier Bänden. Band 3, Berlin und Weimar 1978, S. 353-354

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   Krieg als Kulturfunktion und absolute Feindschaft   

Kleists Boxer-Chiffre kann als Ausgangspunkt für ein Nachdenken über die Metamorphosen des Krieges dienlich sein. Denn der Krieg, jedenfalls der Krieg der Weißen, ist zumeist auch nichts anderes als ein «erweiterter Zweikampf». Wie Clausewitz geschrieben hat, soll man sich ja die Unzahl einzelner Zweikämpfe, aus denen der Krieg besteht, dadurch «als Einheit denken», daß man sich «zwei Ringende» vorstellt. 

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Setzen wir als kleinste Bausteine der Historie des Krieges aber erst einmal rohe Tatsachen, gewissermaßen physisch-biologische Tatbestände, leuchtet sofort ein, wie wichtig jedes menschliche Bemühen um die Hegung des Krieges ist und wohin wir kommen, sobald Kriege außerhalb jeglicher Rechtsform geführt werden. Allein durch die völkerrechtliche Begrenzung und Hegung des Krieges kann Feindschaft relativiert werden, halten sich die Exzesse bei der gewaltsamen Niederwerfung eines Gegners in Grenzen. Und: Anders ist gar nicht auszuschließen, daß Menschen sich durch ihre Kämpfe untereinander in immer neue Feindschaften steigern. Soweit steigern, daß schließlich der Krieg nicht mehr nur aus der Feindschaft, sondern ein Surplus an Feindschaft aus dem Krieg resultiert.

«Vom Kriege kann man solange als Kulturfunktion reden,» schreibt der große Kulturhistoriker Johan Huizinga, 

«als er innerhalb eines Kreises geführt wird, in dem die einzelnen Glieder einander als gleich­berechtigt anerkennen. Führt man Krieg gegen Gruppen, die man im Grunde nicht als Menschen anerkennt oder denen man wenigstens keine Menschenrechte zubilligt, ob man sie nun <Barbaren>, <Teufel>, <Heiden> oder <Ketzer> nennt, dann kann er nur insoweit innerhalb der Grenzen der Kultur bleiben, wie sich die Gruppe um ihrer eigenen Ehre willen selbst gewisse Beschränkungen auferlegt. Bis in jüngste Zeit konnte der Krieg unter dem Aspekt einer Kulturfunktion betrachtet werden, solange eine Gemeinschaft die andere als <Menschheit> mit Rechten und Ansprüchen auf Behandlung als <Menschen> anerkannte und den Kriegszustand deutlich und ausdrücklich — durch eine Kriegserklärung — vom Friedenszustand einerseits und von verbrecherischer Gewalt andererseits schied.»

Erst die absolute Feindschaft, die den Krieg zum totalen und terroristischen Krieg erklärt, verzichtet auf jede Hegung und damit zugleich auf Kultur, Recht und Menschlichkeit überhaupt. Und sie übersteigert die feindseligen Gefühle bis zur Raserei. Feindselige Gefühle und feindselige Absichten bestimmen das kulturelle Niveau eines jeden Krieges.

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Noch für Clausewitz konnte nur das letztere Element - also die feindliche Absicht - Merkmal einer Definition des Krieges sein («weil es das allgemeine ist»). Ziel des kriegerischen Aktes war für ihn, den Feind wehrlos zu machen, um das ursprüngliche Motiv, nämlich den politischen Zweck durchsetzen zu können. Die politische Absicht war also für Clausewitz der Zweck und der Krieg nur Mittel zum Zweck. Seine weltberühmte Definition des Krieges sagt nichts anderes: «Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.» Die Vorstellung, es könne einhundertfünfzig Jahre nach ihm wieder Kriege geben, die gänzlich ohne vernünftige politische Ziele auskommen, wäre für den Sohn der Aufklärung Clausewitz vermutlich eine üble Verirrung gewesen.

Freilich fällt es Soldaten bis in unsere Gegenwart ersichtlich schwer, in Kriegszeiten Normen und Befehle einzuhalten, durch welche die Kriegsführung, die angewandten Mittel und Methoden der Gewalt, eingeschränkt werden. Gleichwohl finden wir den Versuch dazu in beinahe allen Kulturen und zu allen Zeiten. Im <Bushido>, dem mittelalterlichen Ehrenkodex der Kriegerkaste Japans, hat das Gebot, Menschlichkeit im Krieg und gegenüber Gefangenen zu praktizieren, dieselbe Gültigkeit wie im abendländischen Kodex der Ritterlichkeit. Und bereits Abu Bakr, der erste Kalif, erteilte in dem Jahre 632 seinen Soldaten den strikten Befehl: «Das Blut der Frauen, Kinder und Greise beflecke nicht euren Sieg. Vernichtet nicht die Palmen, brennt nicht die Behausungen und Kornfelder nieder, fällt niemals Obstbäume und tötet das Vieh nur dann, wenn ihr seiner zur Nahrung bedürft.»

Kaum anders als die Kriegsführung der Christen war auch die islamische oder die japanische trotz derartiger Befehle oft genug in der Geschichte zügellos und barbarisch. Dennoch ist ein Befehl wie der des Kalifen, der die Leiden des Krieges für die Zivilbevölkerung, für Wehrlose und Schutzbedürftige ein Stück weit mindern will, indem er die Kämpfer diszipliniert, praktizierte Humanität und im Ergebnis mehr wert als jede verbale Ächtung des Krieges.

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Humanität hier allerdings immer nur verstanden als etwas Zerbrechliches und Oberflächliches, als ein Feld ständiger Auflösung in Mechanismen der Gewalt, der Macht, der Grausamkeit. Und zugleich als eine Form der Rationalität, die im Verlaufe ihrer Geschichte immer parteiischer wird und listiger im Interesse derer, die ihren einmal errungenen Sieg um jeden Preis gesichert wissen wollen.

Denn jede Verrechtlichung des Krieges bleibt ja, so wie die Humanität selbst, eine doppelbödige Angelegen­heit. Recht, das gilt auch für die Normen des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten, ist nicht zuletzt Ausdruck der Macht. Und: «Auf das Kriegszeremoniell folgend, bedeutet das Friedenszeremoniell, daß der Sieg ein neues Recht einsetzt. Der Krieg, der für eine ursprüngliche und urbildliche Gewalt zu Naturzwecken gehalten wird, ist tatsächlich eine rechtssetzende Gewalt» (Jacques Derrida). 

Wenn Politik selbst die Fortsetzung eines vorangegangenen Krieges mit anderen Mitteln ist, dann ist das «Recht auf das Recht» Beute der siegreichen Waffen. Aus der Niederlage des Besiegten geht das Gesetz hervor, das dem Besiegten auferlegt wird. Und das Gesetz als dauerhaft gedacht, das ist der «Friede».46) 

46)  Deshalb heißt es seit Heraklit: «Krieg ist von allem der Vater, von allem der König, denn die einen hat er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien gemacht.»

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<Penthesilea>: 
Hilflose Politiker angesichts des Raubtier-Werdens der Kämpfer  

wikipedia  Penthesilea_(Kleist) 

Damit ist ungefähr die polemosophische Kulisse beschrieben, vor der Heinrich von Kleist sein immer noch schockierendes Kriegstheater inszeniert hat. Schockierend deshalb, weil in seinem dramatischen Werk die Werteskala des Ästhetischen so provokant mit der des Moralischen im Streit liegt. Die wilde Schönheit seiner tödlich ineinander verkeilten Leiber, die rohe und nackte Irrationalität des Tötens zeigt uns aber nur an, wie abgründig die Zerklüftung ist, in der das menschliche Dasein im Krieg zur Entzweiung kommt und ins Streiten gerät. Kleists Ästhetik des Tötens überbietet keinesfalls die Tödlichkeit des Daseins selbst. Sie dramatisiert nur die Metamorphosen des Krieges und der Feindschaft, wie diese sich entfalten, seit der Nomos des Jus Publicum Europaeum schwindet.

In <Penthesilea> und <Die Hermannsschlacht> antizipiert Kleist in künstlerischer Form die Rebarbarisierung des Krieges in der Moderne. Kleists <Penthesilea> wirkte schockierend, als sie erschien, und sie berührt uns heute noch, weil das Drama der totalen Kriegsführung, welches mit ihr erstmals auf die Bühne gebracht wird, inzwischen Realgeschichte geworden ist. Richtig verstanden haben wir wohl bisher weder die Realgeschichte noch das Kleistsche Drama. Und wir werden so lange nicht mit unserem Verständnis weiterkommen, so lange es nicht gelingt, das Geschehen auf der Bühne des Theaters und der Weltgeschichte moralfrei zu sehen. Anders gesagt: Der ästhetische Blick ist diesbezüglich zukunftsträchtiger und erkenntnisfördernder als der moralische!

Man hat das Besondere an Kleists <Penthesilea> darin sehen wollen, daß der Dichter es hier nicht für nötig gehalten hat, «auch nur vorwandshalber eine besondere Verwicklung, geschweige einen echten dramatischen Konflikt einzubauen» (JOACHIM MAAS), um den Kampf zwischen den Griechen und den Amazonen in Gang zu bringen. 

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Dem Dichter sei der Kampf als solcher, das mörderische Stechen, Aufeinandereinschlagen, Reißen und Schleifen Stoff genug gewesen. Aus einer solchen Sicht heraus erscheint der orgiastische Kampf der Penthesilea mit Achill schnell als ambivalenter Ausdruck einer «ungezähmten Triebhaftigkeit» des Dichters selbst, gewissermaßen als sein veräußerlichtes «Innen-Porträt», welches durch den Widerstreit eines aggressiven Lebenshungers und eines morbiden Todestriebes, durch Liebe und Haß ebenso wie durch die Lust am Verdämmern gekennzeichnet ist.

Man kann den Dichter und sein Werk so sehen! Schließlich sind wir alle, wie FREUD sagt, die Nachfahren von Mördern, und die Mordlust steckt uns noch immer im Blute. Richten wir jedoch unser Augenmerk direkt auf das dramatische Geschehen, also auf das, was man für das antike Drama als Hypothesis bezeichnete, was in der Schulästhetik die Fabel heißt und was wir heutzutage meist die «story» nennen, enthält die Penthesilea darüber hinaus durchaus einen kapitalen Ausgangs-Konflikt für ein modernes Kriegsdrama. Denn der kriegslüsternde «Frauenstaat» der Penthesilea ist nicht nur Ergebnis und Basis biederer Mordlust, sondern das Resultat einer absoluten Feindschaft!

Wie konnte es zu dieser absoluten Feindschaft kommen? Von Achilles nach dem unweiblichen «Gesetz», nach dem konstituierenden Vorgang befragt, worauf sich ihr «Staat» eigentlich gründet, antwortet bekanntlich Penthesilea:

Wo jetzt das Volk der Amazonen herrschet,
Da lebte sonst, den Göttern Untertan,
Ein Stamm der Scythen, frei und kriegerisch,
Jedwedem andern Volk der Erde gleich.

Durch Reihn schon nannt er von Jahrhunderten
Den Kaukasus, den fruchtumblühten, sein:
Au Vexoris, der Äthioper König,
An seinem Fuss erschien, die Männer rasch,
Die kampfvekbundnen, vor sich niederwarf,
Sich durch die Täler goss, und Greis und Knaben,
wo sein gezückter stahl sie traf, erschlug:

Das ganze Prachtgeschlecht der Welt ging aus. 
Die Sieger bürgerten, barbarenartig, 
In unsere Hütten frech sich ein, ernährten 
Von unsrer reichen Felder Früchte sich, 
Und, voll der Schande Mass uns zuzumessen, 
Ertrotzten sie der Liebe Gruss sich noch.
Sie rissen von den Gräbern ihrer Männer 
Die Fraun zu ihren schnöden Betten hin

Der Take-off für das große Morden hat also seinen Ursprung in einem nicht formgerechten, einem totalen Krieg der Athioper gegen Penthesileas Scythenstamm. Genauer: Nach dessen militärischer Niederlage wird der Krieg nicht durch einen ordentlichen Friedens-Schluß beendet. Ganz im Gegenteil! In dem noch die Greise und Knaben erschlagen und Massenvergewaltigungen an den Scythenfrauen veranstaltet werden, entsteht ein Fortsetzungs­zusammenhang über den eigentlichen Waffengang hinaus. 

Krieg und Frieden werden ununterscheidbar. Oder mit anderen Worten: Weil die Äthioper die überlebenden Frauen in einen Abgrund totaler Entwertung stürzen, sind sie es selbst, die im Gegenzug deren absolute Feindschaft heraufbeschwören. Durch ihren barbarischen Fortsetzungskrieg verbauen sie sich jede Chance, in ihnen lediglich den iustus hostis zu sehen, mit dem man irgendwann wieder Frieden schließt. Gründe zuhauf also für die gedemütigten Scythenfrauen, aus ihren Senkeln, Ringen und Spangen heimlich Waffen zu schmieden und die Athioper als wildgewordene Verbrecherbande zu betrachten, die man «ausmerzen» muß. Wobei «Kriegsbrauch» und «Kriegsrecht» in ihrem Fall mit ruhigen Gewissen außer Kraft gesetzt werden dürfen. Praktisch triumphiert damit der Vernichtungsgedanke:

Und das gesamte Mordgeschlecht, mit Dolchen, 
In einer Nacht, ward es zu Tod gekitzelt.

Wäre Kleists <Penthesilea> nun aber nichts weiter als ein schlichtes Rache-Drama, müßte das Morden an dieser Stelle eigentlich enden oder aber in einen durch die Ermordung der Athioper programmierten Rachezirkel münden. 

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Es findet jedoch keine Rache an den Scythenfrauen statt! Dennoch beruhigt sich deren Drang nach weiterer Gewalt eben nicht damit, am Äthioperkönig Vexoris und seiner Mannschaft Rache für deren Taten genommen zu haben. Das Töten geht erst richtig los.

Was Kleist mit seinem Drama in künstlerischer Form hier ins Rampenlicht stellt, ist zuallerletzt irgendeine nach der Befreiung von äthiopischer Fremdherrschaft veranstaltete Gründung eines «Frauenstaates». Penthesileas Worte:

Und dies jetzt ward im Rat des Volks beschlossen:
Frei, wie der Wind auf offnem Blachfeld, sind
Die Fraun, die solche Heldentat vollbracht,
Und dem Geschlecht der Männer nicht mehr dienstbar.

Ein Staat, ein mündiger, sei aufgestellt,
Ein Frauenstaat, den fürder keine andre
Herrschsüchtge Männerstimme mehr durchtrotzt,
Der das Gesetz sich würdig selber gebe,
Sich selbst gehorche, selber auch beschütze:
Und Tanais sei seine Königin

sind von vornherein nichts weiter als die aufklärerisch verbrämte Basis-Ideologie ihres «Frauenstaates», gewissermaßen dessen konstituierende Lebenslüge. Worum es bei dieser ominösen «Staatsgründung» in Wahrheit geht, kommt schließlich ungeschminkt bereits im nächsten Satz zum Ausdruck, den Kleist seine Penthesilea sagen läßt:

Der Mann, des Auge diesen Staat erschaut, 
Der soll das Auge gleich auf ewig schliessen, 
Und wo ein Knabe noch geboren wird, 
Von der Tyrannen Kuss, da folg er gleich 
Zum Orkus noch den wilden Vätern nach.

Angesichts eines derart überzogenen Feindbildes stellt sich der «Frauenstaat» Kleists als ein besonderes Gehäuse dar, um sich in der seit der kriegerischen Begegnung mit den Äthiopern unter den Scythen-Witwen ausgebrochenen absoluten Männerfeindschaft dauerhaft einzurichten und genau diese Form der Feindschaft zu institutionalisieren. Wo die vaterrechtlichen Bindungen gekappt sind, kann es ohnehin keinen realen Staat mehr geben. 

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Was danach übrig bleibt, ist die mit dem Meuchelmord an den Äthiopern in Schwung gebrachte Kriegs­maschine der Amazonen. Eine Kriegsmaschine, die wie andere «Staats»-Kriegsmaschinen ebenfalls, originär gar nicht zum Staat gehört, sondern speziellen Ursprungs ist.

Der Staat als solcher ist in seinem Ursprung keine Kriegsmaschine. Gefängniswärter und Polizisten mögen immer schon Fleisch vom Fleische des Staates gewesen sein. Der Krieger ist es nicht. Ihn und seine Kriegsmaschine kann der Organismus Staat nur wie eine Prothese für sich handhaben, gewissermaßen als künstliches Glied. Daher das ständige Mißtrauen des modernen Staates gegenüber seinen militärischen Institutionen, denen man ja selbst in der Demokratie weiterhin zutraut, daß sie sich in der Stunde der Not den Staat putschistisch aneignen und ihr eigenes Süppchen kochen werden.

Penthesilea, von absoluter Männer-Feindschaft durch-seelt, kehrt sich also von vornherein von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges ab, um sich auf das Feld des gerechten Krieges und einer absoluten Feindschaft zu begeben, die sich durch Terror und Gegenterror bis zur Vernichtung der Kämpfenden steigern muß. Mit ihrer entfesselten Kriegsmaschine will sie, daran kann gar kein Zweifel bestehen, gegen die Griechen weder einen zivilisierten Staatenkrieg und erst recht keinen «Kabinettskrieg» mehr führen. Sie will, bezogen auf die Welt der Antike, den totalen Welt-Bürger-Krieg! Denn wie man einen Geschlechterkrieg, der nicht einmal mehr die eigenen Söhne schont, anders definieren sollte, ist schwer zu sagen.

Kein anderer Künstler hat das Wesen und das Rasen einer gegenüber dem Staat verselbständigten Kriegsmaschine jemals besser dramatisiert. Alle anderen sind hiergegen genauso unwissend und ratlos wie die Griechen­könige Odysseus,

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Diomedes und Antilochus, die sich aus ihrer staatsmännischen Sicht heraus ja auch keinen Reim auf das Verhalten Penthesileas und ihrer Kriegsmaschine machen können. Penthesilea, so schlußfolgert ihr an Diplomatie und Bündnisfragen geschultes Staatsdenken, kann natürlich nur deshalb in den scythischen Wäldern aufgestanden sein, weil sie Priamus in Troja gegen die belagernden Griechen helfen will. Um dieses heillose Bündnis zu verhindern, wollen die Griechenkönige ihr Heer dazwischenwerfen. Aber sie können Freund und Feind nicht auseinanderhalten, wie sie voller Erstaunen zur Kenntnis nehmen müssen, denn die Amazonen Penthesileas treiben der Trojaner Reihen wie «zerrissenes Gewölk» vor sich auf dem Schlachtfeld her. Woraus Odysseus gleich den nächsten Fehlschluß ziehen will:

Die wie vom Himmel plötzlich, kampfgerüstet, 
In unsern Streit fällt, sich darin zu mischen, 
Sie muss zu einer der Parteien sich schlagen...

Der erste moderne Staatsmann unter den Griechen kann und will nicht sehen und verstehen, daß ihm in Gestalt der Penthesilea ein anderer, abstrakterer Typus des Krieges begegnet, als er ihn bis dahin gewöhnt ist. Für ihn können nur Staaten Krieg gegeneinander führen. Und der Krieg ist für ihn bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.47) Was Odysseus sich nicht vorstellen kann, ist, daß es auch eine Art von Krieg gibt, bei der «die natürliche Richtung des kriegerischen Elementes, nämlich die Gewalt», durch keinerlei Staatsvernunft gebremst zum Ausbruch kommt.

 

47)  Staaten als «Hauptkriegstreiber» - eine Sichtweise, die Politologen wie Ekkehart Krippendorf, der ein umfangreiches Buch über Staat und Krieg geschrieben hat, ja bis heute kolportieren.

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Jedenfalls bleiben die «Kriegsziele» der Kentaurin Penthesilea dem Staatsmann und Politiker Odysseus ein Buch mit sieben Siegeln, denn die Amazonen verbünden sich mitnichten den Erwartungen der Griechen gemäß mit einer der vor Troja kämpfenden Parteien. Sie bekämpfen die domestizierte Militärmaschine des Griechen- und des Trojastaates gleichermaßen:

Mir eines Waldstroms wütendem Erguss 
Die einen wie die andern niederbrausend.

Wodurch die Staats-Männer und Schlachten-Lenker Antilochus und Odysseus gezwungen sind, über ihren Schlachtplan in diesem «sinnentblößten Kampf» neu zu beratschlagen: Soll man sich nun besser zurück­ziehen? Oder wäre es vielleicht klüger, «die Hyäne, die blind-wütende» mit ihrer Kriegsmeute in einen Hinterhalt zu locken? Kurz: Man weiß partout nicht, wie man der Raserei Penthesileas Herr werden soll. Griechische Staatsvernunft und Kriegswissenschaft sind durch die totale Kriegsführung Penthesileas sichtlich überfordert.

In dieser Lage zeigt sich nun am Handeln des Achilles, daß Krieger und Kriegsmaschine in ihrer Exzentrizität von ihrer Herkunft her einer eigenen Spezies zuzurechnen sind, die sich der Staat nur mühsam subordinieren kann. Achilles stürzt sich in ein völlig überflüssiges Scharmützel mit Penthesilea. Staatsvernunft und nomadische Rationalität können schlecht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, wie man sehen kann. Odysseus haut ihn heraus. Man will Achilles auf den Beschluß des griechischen «Feldherrnrats» vergattern.

Der Kriegsplan ist, die Amazonenkönigin 
Herab nach der Dardanerburg zu locken, 
wo sie, in beider Heere Mitte nun, 
von treibenden Verhältnissen gedrängt, 
Sich muss, wem sie die Freundin sei, erklären; 
Und wir dann, sie erwähle, was sie wolle, 
Wir werden wissen mindestens, was zu tun.

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Noch einmal zeigt sich hier, daß der Staatsmann Odysseus in der Penthesilea nur einen konventionellen Feind sehen will, mit dem man jederzeit ein Bündnis eingehen, Frieden machen kann. Für ihn ist der Kampf mit Penthesilea sonst «Wahnsinn». Vernünftig nur der Krieg gegen Troja! Ganz anders Achilles. Dieser findet Geschmack an der ungezügelten Auseinandersetzung mit Penthesilea. Währenddessen der vom Feldherrnrat beschlossene Schlachtplan für ihn von vornherein nur einen Krieg zuläßt, wie ihn «die Verschnittnen» (das heißt die der Vernunft des Staates unterstellten Soldaten) führen. Weshalb er dann ja auch entgegen der eindeutigen Befehlslage, und bevor man ihn mit Gewalt zurückhalten kann, bei der nächsten passenden Gelegenheit aus der griechischen Schlachtordnung ausbricht, um sich mit Penthesilea, und zwar jenseits jeder «Rittersitte», wie es bei Kleist heißt, vernichtend zu bekriegen.

Was nun die eigentliche Vernichtungsorgie angeht, welche Penthesilea und Achilles feiern, so können wir diese kurzerhand als eine Art schwarze «Chymische Hochzeit» ansehen, dargestellt im Medium des Krieges. Achilles als der «Rasende» steht für das Prinzip des Schwefels (Sulphur), und Penthesilea, die «schweifende Megäre», verkörpert das Prinzip des Quecksilbers (Mercurius). Wobei das Resultat ihrer Bluthochzeit, die Quintessenz derselben, ein anderer körperlicher Zustand ist: das Raub-Tier-Werden der Kämpfer!

Penthesilea und Achilles stellen sich kämpfend wechselseitig in Frage, wobei sie sich als Gegensatz-Paar in einem sie verschlingenden Dritten auflösen. Im Tier-Werden der Kämpfer wird der Geschlechtergegensatz getilgt. So, wie erst in ihrer Selbst-Vernichtung die absolute Feindschaft der Penthesilea verglühen kann.

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  'Die Hermannsschlacht' (Kleist): 
   totale Mobilmachung und personale Regression 

 wikipedia  Die_Hermannsschlacht_(Kleist)    Audio1983/2019

In der <Penthesilea> kämpfen noch reine Kriegsmaschinen gegeneinander. Vor den Toren Trojas bekriegen sich Kombattanten in einem von der Zivil­bevölkerung geräumten Raum. Sehen wir einmal vom Überfall der Äthioper auf die Skythenfrauen und -kinder ab, wovon uns ohnehin nur erzählt wird, greifen die Kriegshandlungen jedenfalls nicht auf Unbewaffnete und Zivilisten über.

Mit der <Hermannsschlacht> komplettiert Kleist sein bis dahin gezeichnetes Bild des Krieges. Der aktuelle Bezug des Dramas zur politischen Lage Preußens in der zweiten Hälfte des Jahres 1808 ist im Stenogramm gesprochen dieser: 

Nachdem Napoleon 1799 als erster Konsul Regierungschef geworden war, setzte er ein permanentes Programm des nationalen Aufstiegs seines Landes durch. Was im Ergebnis dazu führte, daß unter der Fahne Frankreichs 1812 — von Spanien bis Rußland verteilt — eine Million Soldaten seiner imperialen Befehlsgewalt unterstellt waren. 1806 richtet sich Napoleon gegen Preußen, dessen Heer in wenigen Wochen niedergeworfen wird.

Ausschlaggebend für den napoleonischen Sieg war in dieser konkret-historischen Situation: Die ganz überwiegende Zahl der Soldaten in den französischen Revolutionsarmeen rekrutierte sich nicht mehr länger aus Berufssoldaten oder Söldnern. Im Gegensatz zu den Armeen des 18. Jahrhunderts fochten hier bereits Freiwillige oder Gezogene, die ideologisch darauf getrimmt waren, den Krieg nicht mehr als «Gewerbe» oder «Kunst» anzusehen, sondern als Kreuzzug im Dienste der «großen Ideen von 1789». 

Der durch die Revolution entbundene moderne Staat Frankreichs konnte deshalb mit seinen Bürgern den Krieg mit einer Energie führen, an welche zuvor nicht zu denken war. Woraus CARL VON CLAUSEWLTZ dann ja auch zu Recht schlußfolgerte, nunmehr sei «das kriegerische Element, von allen konventionellen Schranken befreit, mit seiner ganzen natürlichen Kraft losgebrochen».

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Von nun an wurden die Heere nicht mehr von lokalen Fürsten, Clanchefs und Kriegsherren finanziert, sondern vom modernen Nationalstaat, der sich ihrer als Instrument bediente. Die Wehrpflicht als solche war insofern an sich nicht Neues, aber die Idee, ein ganzes Volk total zu mobilisieren — «Aux armes, citoyens!» —, war erst ein Resultat der Französischen Revolution. Diese revolutionierte nicht nur die politischen Verhältnisse im Inneren, sondern auch den Krieg.

 

Vor diesem historischen Horizont ist die Stoßrichtung der Dichtung Kleists nicht zu übersehen. Mit seiner <Hermannsschlacht> versucht der Dichter gewissermaßen im Gegenzug, mit einer Literatur des Krieges «das wilde Fleisch von Tirol» (Adam Müller) in den bis dahin passiven deutschen Volkskörper «hineinzukurieren». 

Kleist zeigt, wie man unter den Augen fremder Besatzer einen Partisanen- und Volkskrieg entfesselt. Wie man Besatzer täuscht und das Volk gegen sie aufputscht. 

Damit theatralisiert Kleist erstmalig eine vor ihm noch «nicht anerkannte Figur des Weltgeistes» (Carl Schmitt), welche in unterschiedlichsten Maskierungen und politischen Kräfteverhältnissen bis zu den Terroristen unserer Tage durch ihr bewaffnetes Eingreifen, polemologis'ch gesprochen, immer mehr Zwischenlagen — zwischen Krieg und Frieden — herbeiführen wird.48)

48)  Weshalb die klassische Rechts-Formel des Cicero «Inter pacem et bellum nihil est medium» inzwischen beinahe jeden Erklärungsgehalt verloren hat.

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Wenn aber Krieg und Frieden tendenziell seither immer ununterscheidbarer werden, Kriege keinen richtigen Anfang und kein Ende mehr haben, wenn Aufständische jeglicher Couleur, Freibeuter, Warlords und Banditen auf eine Stufe mit legitimen Waffenträgern gestellt werden, scheint die Zeit wirklich, wie Kleist an seinen Freund Rühle von Lilienstern geschrieben hat, «eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen». Und ob wir diesbezüglich seit den Tagen Kleists schon mehr als bloß den Umsturz der alten Völkerrechtsordnung erlebt haben, muß im Hinblick auf die Kultur des Krieges jedenfalls bezweifelt werden. Sehen wir heute nicht beinahe täglich, wie die letzten Grundmauern des ehemals so imposanten Gebäudes des klassischen Völkerrechts auseinanderbrechen? Wie Soldaten zu Mördern werden und Mörder zu Soldaten? Und wie der Krieg als Rechtsbeziehung zwischen Gruppen, Staaten und Nationen durch das Wiedererstehen absoluter Feindschaften an immer mehr Orten auf dieser Welt zur ungebremsten Entfesselung roher und unauslöschlicher Gewalt verkommt?

Mag sein, daß Kleist mit der Hermannsschlacht und der Penthesilea eine brutale «Gegenrechnung zum Diskurs der Aufklärung» in Szene gesetzt hat. Die veränderte Art der Kriegsführung seit der Französischen Revolution gehört aber nun einmal zur Schattenseite und in die historische Bilanz dessen, was wir der Aufklärung konkret verdanken. Menschenrechte und allgemeine Wehrpflicht haben ein und denselben Ursprung.  

Mit Ausnahme einer historisch kurzen Zeitspanne, in der der Begriff des Feindes im sachlichen Sinne von Gegner in der westlichen Geschichte die zwischenstaatliche Politik beherrschte, scheinen seit Napoleons Auftritt auf der politischen Bühne die Verhältnisse im Kriege zu Zeiten zurückzukehren, die der augenblicklich im Niedergang begriffenen Epoche vorangingen.

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Was Kleist uns in seiner <Hermannsschlacht> vorführt, ist zuallererst die Ästhetik einer antirömischen Front. Rom, das ist Napoleon, Hermann und Marbod stehen für Preußen und Österreich, die Mißvergnügten für die neutralen deutschen Staaten, Roms Verbündete sind die Rheinbund­fürsten. Hermann ist in dieser Runde Partisan, weil der von ihm im Untergrund angezettelte Widerstand sich eben nicht nur auf die militärische Mobilmachung seiner Cherusker zur Vaterlands­verteidigung beschränken will. Nicht das gehegte Staaten-Duell mit den Römern ist sein Ziel, wie er von vornherein Wolf, Thuiskomar, Dagobert und Seigar zu verstehen gibt:

Einen Krieg, bei Mana!
Will ich entflammen, der in Deutschland rasselnd, 
Gleich einem dürren Walde, um sich greifen 
Und auf zum Himmel lodernd schlagen soll!

Hermann kämpft in einer politischen Front. Als Parteigänger repräsentiert er gewollt das kommende Ganze, die politische Einheit Deutschlands, obwohl er mit seinem Cherusker-Stamm nur ein Teil derselben ist. Ist es nun aber nur die Einheit in Freiheit, die Hermann will? Will er wirklich nur den Volkskrieg innerhalb der Grenzen und auf dem Boden Deutschlands? Oder ist seine Fundierung auf den «tellurischen Charakter» nicht doch von vornherein zu oberflächlich, um, aus dieser Fundierung heraus, die raumhafte Begrenzung seiner Feindschaft gegen die Römer ableiten zu können?

Hermann-Kleists weitreichender Wunsch, das «Raubnest» Rom in einen «öden Trümmerhaufen» zu verwandeln, dürfte in letzter Instanz als Motivation wohl über das politische Kriegs-Ziel hinausschießen, den Eroberern und Unterdrückern Germaniens ein für allemal das Handwerk zu legen. Rom, das ist eben mehr als nur ein Symbol für das napoleonische Frankreich des Jahres 1808. Realpolitisch gesehen ist Frankreich seinerzeit für Kleist ebenso das Symbol für Rom.49

Die politische Front, die Kleists Hermann schmieden will, ist eine Front zwischen unterschiedlichen Zivilisationen. Um dieser Front die nötige Schlagkraft zu verschaffen, will Kleist-Hermann Deutschlands barbarische Vergangenheit — den furor teutonicus, der einst die Zivilisation der Antike überrannt hatte — aktivieren.

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Kleist dramatisiert in der <Hermannsschlacht> also die Form des Konflikts, die wir heutzutage mit SAMUEL P. HUNTINGTON wohl als «Clash of Civilizations» bezeichnen würden. Denn daß Hermann in den Römern nicht nur schlechthin Besatzer sieht, sagt er ja selbst. Auf die Frage Wolfs,, ob Hermann das römische Volk vielleicht für «ein Geschlecht von höhrer Art» halte, welches die rohen «Kauze» Germaniens zu Recht kolonisiere, antwortet der Cherusker bekanntlich:

Hm. In gewissem Sinne sag ich: Ja.
Ich glaub, der Deutsche erfreut sich einer grössern
Anlage, der Italier doch hat seine mindre
In diesem Augenblicke mehr entwickelt.

Hermann beläßt es jedoch nicht bei seinem zivilisatorischen Werturteil. Er schließt seine Rede sogleich an die germanische Mythologie an, indem er daran erinnert:

Wenn sich der Barden Lied erfüllt,
Und, unter einem Königszepter,
Jemals die ganze Menschheit sich vereint,
so lässt, dass es ein deutscher führt, sich denken,
Em Brtt, ein Gallier, oder wer ihr wollt-,
Doch nimmer jener Latier, beim Himmel*.
Der keine andre Volksnatur
Verstehen kann und ehren, als nur seine.

49)  Weshalb das Stück eben nicht allein «für den Augenblick berechnet war». Zwar hat Kleist genau das in seinem Begleitschreiben an Collin am 22. Februar 1809 geschrieben, und nicht wenige verstörte Interpreten haben es ihm dankbar nachgesprochen. Seinem Brief aber eher zu entnehmen ist, daß er auf die Nötigung des «Augenblicks» deshalb verweist, weil er den zögerlichen Collin in Wien aus seiner verlegerischen Reserve locken will.

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Barden-Gesänge handeln natürlich allemal von den großen Ahnen mit ihrer Körperkraft, ihren glänzenden Siegen, die vergessen wurden, seitdem listige Eindringlinge (die «römische Tarantel») das eigene Volk bedrängen. Und sie handeln von der erhofften Schlacht morgen früh, welche die Kräfte wieder erneuern und aus den Besiegten Sieger machen wird. Es ist dies der Diskurs des immerwährenden Krieges mit der Hoffnung auf den Tag der Rache, mit der Erwartung des Kaisers der letzten Tage, des dux novus, an dessen Anfang die Barden mit ihren Schlachtgesängen stehen.50)

An diesen Kampfdiskurs, welcher nach MICHEL FOUCAULT ein exklusiv historisch-politischer Diskurs im Gegensatz zum philosophisch-juridischen Diskurs ist, erinnert Hermann die mit ihm vor der Jagdhütte auf einer Rasenbank sitzenden Fürsten der Katten, Sicambrier, Marsen und Brukterer. Dabei führt er gegen den abstrakten Universalismus Roms deren angestammte «Volksnatur» ins Feld.

Mit anderen Worten:

Hermann trichtert seinen Mitstreitern ein, daß die Geschichte der einen nicht die Geschichte der anderen ist. Und es Neutralität nicht gibt! «Wir sind die unterjochten Völker der Römer», hatte Kleist schon am 24. Oktober 1806 aus Königsberg an die Schwester ULRIKE geschrieben und sich bitterlich beklagt, weil nur ein «sehr kleiner Teil der Menschen» die weitreichenden Analogien seines, des napoleonischen, Zeitalters zur imperialen Eroberungs­politik des Alten Rom begreifen wolle.

50) Weshalb die Barden nicht zufällig dem römischen Papsttum zum Opfer fallen.

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Was gilt es also in diesem Kriege — heute, damals? 

Das ist die Frage, die Hermann vor der Jagdhütte im ersten Akt seinen Streitgenossen stellt. Genau dieselbe Frage stellt Kleist bekanntlich immer wieder in unterschiedlichsten Wendungen seinen Zeitgenossen. Kleists ganzes Leiden an der politischen Nichtigkeit Deutschlands, an dessen Unfähigkeit zur Selbstbehauptung, kommt in dieser einen Frage zum Ausdruck. «Gilt es», fragt er in der Zeitschrift <Germania>, «eine Provinz abzutreten, einen Anspruch auszufechten, oder eine Schuldforderung geltend zu machen, oder gilt es sonst irgend etwas, das nach dem Wert des Geldes auszumessen ist, heut besessen, morgen aufgegeben, und übermorgen wieder erworben werden kann?» 

Seine Antwort: «Eine Gemeinschaft gilt es, deren Wurzeln tausendästig, einer Eiche gleich, in den Boden der Zeit eingreifen; deren Wipfel, Tugend und Sittlichkeit überschattend, an den silbernen Saum der Wolken rührt; deren Dasein durch das Dritteil eines Erdalters geheiligt worden ist.» Romantischer kann man es nicht formulieren. Unter dem seit dem «Sturm und Drang» proklamierten Willen stehend, sich von jeglicher imitatio «lateinischen» Stils zu befreien, kann ein solches «organisches» Deutschland aber immer nur als Widerstandskraft gegen Rom und alle seine Platzhalter gedacht und exekutiert werden, ob sie nun Italien, Frankreich oder der «Westen» heißen.

Rom, das ist in der <Hermannsschlacht> also die gegenüber dem geschichtlichen Lebensverband wie dem natürlichen Seinsverband von Landschaft und Stamm mit seinem ursprünglichen Brauchtum entrückte einheitliche Rechtsordnung, der zentralistische Staat mit seiner abstrakten Verwaltung. Dagegen will Hermann den Protestbegriff «Volksnatur» mobilisieren, um damit das Römische in allen seinen Abwandlungen als volksfremd und schädlich zu denunzieren. Was Hermann in seiner Rage nicht mehr sehen kann, ist, daß das Römische seit jeher «der innere Gegenspieler» jener von ihm beschworenen «völkischen Urkraft» ist, «weil es selber zu Deutschlands Geschichte gehört» (HELMUTH PLESSNER). 

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Dementsprechend eingeschränkt sieht sich Hermann selber im Wechselspiel kultureller Erwartungen «in den Augen der Römer» ja auch als «Eine Bestie, die auf vier Füßen in den Wäldern läuft!» Nicht mehr wert als «einen Pfeilschuß», um sie hiernach auszuweiden und zu pelzen. Womit er ziemlich genau die Erwartungen des römischen Kaisers und Senats erfüllt, die sich solange nicht vor den «Horden» Germaniens sicher fühlen wollen, wie man «ihrer kecken Fürsten Hand» nicht die Insignien der Macht entwunden hat.

Angesichts dieser kulturellen Dimension der Feindschaft ist die Art der Kriegsführung vorprogrammiert. Wer so wie Hermann im Feind den Vernichter der eigenen Lebensart fürchtet, wird brutaler zurückschlagen als derjenige, der nur wegen einer Provinz oder wegen eines Hafens Krieg anzettelt.

Erst mit dem Ausbruch aktiver Feindseligkeiten wird jedoch mit letzter Klarheit deutlich, daß schon in Friedenszeiten die politische Gegnerschaft Hermanns und seiner Leute gegenüber Rom nicht nur auf die Vorstellung einer konventionellen Feindschaft gegründet ist. Rom ist von vornherein der absolute Feind, selbst wenn Hermann den Legaten Ventidius anfangs noch scheinheilig als «Freund» anredet oder Thusnelda zwischen den Guten und den Schlechten unter den Römern unterscheiden will. Und es bedarf lediglich einiger Provokationen, um den Römerhaß der «Wodanskinder» so zu entflammen, daß diese unisono «Empörung! Rache! Freiheit» brüllen.

Im Krieg zeigen die Feinde dann einander ihr wahres Gesicht! Es bestätigt sich jetzt, daß jede Art von Frieden ihre besondere Art von Krieg sich gegenüber hat. Während Varus die durch seine Kohorten in Helakon und Herthakon verschuldeten Schändungen der Wodanseichen kriegsgerichtlich ahnden will, bricht Hermann geradezu mit Genuß geltendes Kriegsrecht. Sein Wortwechsel mit dem in germanische Gefangenschaft geratenen Septimius zeigt mit brutaler Offenheit, wie Hermann diesbezüglich denkt. 

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Während Septimius gutgläubig meint, Hermann dürfe ihn in dieser Situation nicht töten, belehrt der ihn drastisch eines Besseren:

Hermann: Warum nicht?
Septimius: - Weil ich dein Gefangener bin; 
An deine Siegerpflicht erinnere ich Dich!
Hermann: An Pflicht und Recht! sieh da, so wahr ich lebe!
Er hat das Buch vom Cicero gelesen.
was müsst ich tun, sag an, nach diesem Werk?
Septimius: Nach diesem Werk? Armseliger Spotter. du!
Mein Haupt, das wehrlos vor dir steht,
Soll deiner Rache heiug sein;
Also gebeut dir das Gefühl des Rechts,
In deines Busens Blättern aufgeschrieben!
Hermann: du weisst was recht ist, du verfluchter bube,
Und kamst nach Deutschland, unbeleidigt,
Um uns zu unterdrücken?
Nehmt eine Keule doppelten Gewichts,
Und schlagt ihn tot:»

Man darf Hermann wohl unterstellen, daß er genau weiß, wie sehr sich die Barbarei in einem Krieg steigert, wenn vor aller Augen der Grundsatz gebrochen wird, wonach Gefangene schonend zu behandeln sind. Wozu absolute Feindschaft aber selbst einfältige Naturen treiben kann, symbolisiert mit letzter Konsequenz erst die «Bärenszene». Bekanntlich lädt Thusnelda den Legaten Ventidius zu einem Schäferstündchen im Park ein, und als der Betörte kommt, gibt sie ihn tückisch den tödlichen Umarmungen der Bärin preis, die man aus ihrem Zwinger in den Park gelassen hat.

Die «Bärin von Cheruska» verweist natürlich auf Wodan, der neben anderen auch den Namen «Hrammi» trägt — Bärentatze, und zwar in seiner Funktion als Berserker! Für die Germanen bedeutete, wie wir wissen, das Tragen eines Bärenfells, daß der Träger ein Berserker war.

51)  «Zum Berserker werden» war eine Fähigkeit, über die bestimmte germanische Kriegerfamilien von Natur aus verfügten. Es handelte sich dabei um eine göttliche Ekstase, um eine Art «heiligen Zorn». Von Berserkerwut Befallene sollen ohne Helm und Panzer in die Schlacht gegangen sein, um dort im Kampf — heulend wie Wölfe — ihre Wut auszutoben, wobei von ihnen in ihrer Raserei nicht selten eigene Genossen getötet wurden. Arngrim gilt als Ahnherr der Berserker, ein Enkel des achthändigen Starkaders und Alfhildens, der Allerschönsten.

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Der Berserkerschatten repräsentiert die in Friedenszeiten abgespaltene und ruhiggestellte Kriegerpersönlich­keit der Cheruskerfürstin, die in der Bärenszene, alle Biederkeit hinwegwischend, ungehemmt durchschlägt. «Er hat zur Bärin mich gemacht!» Mit diesen Worten weist Thusnelda Gertruds Bitte «Die Rache der Barbaren sei dir fern!» barsch zurück. Was danach kommt, ist allerdings mehr als schlichte Rache. Mit untermenschlicher Wildheit und in einem Seelenzustand, der von Schlafwandelei nicht weit entfernt ist, schlachtet Thusnelda mit Hilfe der Bärin den Ventidius. Als alles vorbei ist, bricht sie, ähnlich wie die Penthesilea, in sich zusammen.

In dieser Szene ist ebenso wie in der «Hundeszene», in der die Penthesilea sich schließlich selber den Hunden beigesellt, der «Stoß ins Un-Geheure» (HEIDEGGER), den die beiden Stücke Kleists bewirken können, wohl am deutlichsten spürbar.

Daß Kleist hier das Chaos riskiert und uns mit seinen Bildern und Worten ins Ungeheure hineinreißt, ist die Voraussetzung dafür, daß wir unsere gewohnte Sicht der Dinge in Frage stellen. Die Fragwürdigkeit absoluter Feindschaft wird hier nicht geschlichtet, nicht im Geläufigen abgefangen, sondern ins Unerträgliche gesteigert. Das Ungeheure bleibt unversöhnlich! Es wird in seiner ästhetischen Gestalt festgestellt!

Anhand der ästhetischen Gestalt können wir allerdings immer noch ablesen, daß der Grundstoff alles Schrecklichen im Kriege nicht die Gewalt und der wirkliche Feind ist. 

Kriege kann man ehrenvoll beenden, Feindschaft kann zur Freundschaft werden. Schrecklich ist nur die Kriminalisierung und moralische Diffamierung des Anderen, die Erklärung des Fremden zum absoluten Feind. Denn in einer Welt, in der sich politische Gegner auf diese Weise in den Orkus totaler Entwertung befördern, bleibt kein Platz mehr für die Anerkennung des Feindes als feindlichen Menschen, mit dem auch in der vordergründigen Feindschaft und im bewaffneten Konflikt eine hintergründige Gemeinsamkeit des Menschlichen bestehen bleibt.

Der Krieg ist eben der Punkt, an dem der verdrängte Schlagetot im Menschen wieder ans Tageslicht kommen kann, sobald der Krieg aus dem Gefühl und der Ideologie einer absoluten Feindschaft heraus geführt wird. Daß der Mensch insofern seit Kains Zeiten immer wieder rückfällig geworden ist, war für Kleist der anthropologische Skandal, der jedes Gutmenschentum praktisch dementierte.

Anders als zu Kleists Zeiten wird sich heutzutage kaum noch jemand finden lassen, der auf die «natürliche Güte» des Rousseaumenschen ernsthaft Hoffnungen setzen würde. Kleists Kriegstheater, das ja auch als Angriff auf die moralische Eitelkeit des aufgeklärten Subjekts, welches sich der erreichten Stufe seiner Zivilisation in stolzer Selbstgewißheit sicher wähnt, gelesen werden muß, hat diesem Selbstbetrug der Moderne jedenfalls von vornherein einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht.

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Ende

 

 

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Rolf Henrich  Gewalt und Form in einer vulkanischen Welt Aufsätze 1991-1996