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Für jeden Menschen kommt der Augenblick,
in dem der Lenker seines Sterns ihm selbst die Zügel übergibt.
Nur das ist schlimm, dass er den Augenblick nicht kennt,
dass jeder es sein kann, der vorüberrollt.

Friedrich Hebbel (1813-63)  wikipe  Friedrich_Hebbel

Vorwort

11-13

Dieses Buch erzählt die Geschichte einer politischen Desillusionierung. Wie ich mich in den Sechzigern als Student für eine Sache eingesetzt habe, die schon damals mausetot gewesen ist, was diejenigen wussten, die Arthur Koestlers »Sonnenfinsternis« gelesen hatten. Ich gehörte zu denen, die bis zu einem gewissen Zeitpunkt dennoch alles geben wollten und nichts dafür verlangten. Später änderte sich das, als ich sah, was auch mit meiner Hilfe angerichtet wurde. Die damit einhergehende »Selbstpeinigung des reuigen Sünders« hat mir dunkle Stunden beschert, obwohl ich mir immer wieder eingeredet habe, dass es darauf nicht ankomme, sondern nur um den »festen Vorsatz« gehe, »es künftig besser zu machen«, wie Kant sagt. Aber das war selbst bei gutem Willen gar nicht so einfach. Welche Hemmnisse sich hierbei auf meinem Weg in den Widerstand gegen ein unerträgliches Regime aufgetürmt haben, darüber zu berichten halte ich heute noch für lehrreich.

Zugegeben, Erich Mielkes Tschekisten mussten ihre Zersetzungsarbeit einstellen und die Normannenstraße räumen. Und dank der Gauck-Behörde haben wir viel gelernt. Aber können wir deshalb darauf bauen, dass der deutsche Michel die DDR-Lektion verstanden hat? Können wir wirklich davon überzeugt sein, dass mit der Zerschlagung des MfS die Parallelgeschichte der geheimdienstlichen Machenschaften mit ihren Berichterstattungen und perfiden Täuschungsmanövern vorbei ist? Nein, es ist immer so gewesen, zumindest seit der Alte vom Berge seine Operativniks in die Welt hinausgeschickt hat, und es wird auch so weitergehen, denn die Zeit hat sich diesbezüglich - abgesehen von den technischen Fähigkeiten der Dienste - nicht vom Fleck bewegt.   wikipe  Der_Alte_vom_Berge 

Der Leser findet in den vorliegenden Erinnerungen nur wenige verstreute Hinweise auf meine Familienbande. Das hat sachliche Gründe, weil ich mich auf die regional begrenzte, drei Jahrzehnte bestehende Zwangslage meiner Generation in der DDR (1963-1993) konzentriere. Weder will ich einen vollständigen Lebenslauf aus einem Guss vorlegen, noch habe ich vor, eine komplette DDR-Geschichte aus der Froschperspektive zu erzählen. Zugegebenermaßen geht es mir bei meinem familiären Hintergrund ohnehin ein bisschen so wie einem Zeugen, der die an ihn gestellten Fragen zwar wahrheitsgemäß beantworten möchte, jedoch über den Gegenstand seiner Einvernahme nur unzureichend informiert ist. Der entscheidende Grund für meine lückenhaften Kenntnisse ist eine für mich heute noch unbegreifliche Scham, welche meine Mutter ihr Leben lang daran hinderte, offen mit mir über wichtige Dinge zu sprechen. Da gab es zwar meinen Großvater Artur Schnabel, einen ehemaligen Schuldirektor, den sie vergötterte. Als junger Leutnant hatte der im Feldzug gegen Frankreich mit seinen Leuten 1914 eine Festungsanlage gestürmt. Dafür war er mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet worden. Angeblich das früheste Eiserne Kreuz, welches ein Magdeburger bekommen hat.

Im Vergleich zu diesem Heldenepos stand mein Vater Ernst Henrich, der es geschafft hatte, sich dem Dienst in Hitlers Wehrmacht zu entziehen, 30 Jahre später zum Zeitpunkt meiner Geburt (24. Februar 1944) am Ende des nächsten Krieges wie ein Drückeberger da. Anders jedenfalls als die Brüder meiner Mutter, Rüdiger und Dietrich. Rüdiger war in Russland gefallen. Und Dietrich Schnabel, dessen Schicksal in meiner Kindheit alles überschattete, musste sich als Offizier der 12. SS-Panzerdivision zusammen mit seinem Bataillonskommandeur Bernhard Siebken im Curiohaus in Hamburg vor einem britischen Militärgericht verantworten. Beide wurden im letzten dort geführten Kriegsverbrecherprozess wegen der von ihnen im Juni 1944 befohlenen Exekution der kanadischen Soldaten Harold Angel, Frederick Holness und Ernest Baskerville in Le Mesnil-Patry zum Tode durch den Strang verurteilt. Der Einwand ihrer Verteidiger, dass in diesem Abschnitt der Invasionsfront kanadische Befehle gefunden worden waren, keine Gefangenen zu machen, weshalb die Erschießung der drei Männer als dagegen gerichtete kriegsrechtliche Repressalie anzusehen sei, blieb unbeachtet.

Als der Henker Albert Pierrepoint Dietrich Schnabel am 20. Januar 1949 in Hameln die Schlinge um den Hals legte, war ich fast fünf Jahre alt. Mein in den Augen der Familie Schnabel peinlicher Vater verstarb im selben Jahr, kurz nachdem meine Eltern sich hatten scheiden lassen.

Was ich bis dahin von dem ganzen Drama mitbekommen hatte, war vor allem die ständige Abwesenheit meiner Mutter, die hin- und herreiste, um Unterstützer für ein Gnadengesuch ausfindig zu machen, oder ihren Bruder in der Haftanstalt besuchte. Kam sie von ihren Reisen zurück, weinte sie nächtelang. Auch als ich dann schon zur Schule ging und erste, kindliche Fragen zu »Onkel Dietrich« stellte, wollte sie mit mir über ihren Bruder nicht sprechen. Über meinen Vater verlor sie sowieso kein Wort. Während bei meinen Freunden die gefallenen Angehörigen oder Verstorbenen durch das Erzählen von Anekdoten oder die Beschreibung ihrer Charakterzüge zum Leben erweckt wurden, deckte meine Mutter einen Mantel des Schweigens über alles. Im Haus des Gehenkten spricht man nicht vom Strick!

An dieser Maxime hielt sie ihr Leben lang eisern fest. Erst zwei Wochen vor ihrem überraschenden Tod 1988 gab sie mir wortlos ein Bündel Briefe Dietrich Schnabels, die dieser in der Haftanstalt geschrieben hatte, und das von dessen Verteidiger verfasste halbseitige Gnadengesuch.

Was ich mit diesen paar Zeilen sagen möchte, liegt auf der Hand: Falls es wirklich so ist, dass sich vieles in unserem Dasein schon in frühesten Kindheitstagen entscheidet, dann war meine persönliche Ausgangslage nicht unbedingt rosig. Zwischen einer völlig überforderten, heillos in das Schicksal ihres Bruders verstrickten Mutter und einem nichtexistierenden Vater gab es für mich keine Möglichkeit, mich an einem hauseigenen Vorbild zu orientieren oder gar abzuarbeiten. Anstatt jetzt aber weiter von einer unverstandenen Jugend oder gar meiner nur mittelmäßigen Schullaufbahn und allerhand Jugendstreichen zu berichten, ist es wohl besser, wenn ich erst einmal erkläre, wie es dazu kam, dass ich mich ausgerechnet für den Beruf des Juristen entschieden habe. Eine Wahl, die hinsichtlich meiner politischen Biografie folgenreich sein sollte. Dass der Anstoß dazu nicht von meiner Mutter ausging, dürfte nach dem, was ich vorstehend dargelegt habe, keine Überraschung sein.

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