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Kafkaeske Politprozesse

 

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Einen Einblick in die Spezifik politischer Strafverfahren bekam ich im Herbst des ersten Jahres meiner anwaltlichen Tätigkeit. Die Kenntnis der Prozessordnung nützte einem in diesen Fällen, wo grundsätzlich die Staatssicherheit ermittelte, nicht im Geringsten. Hier wurde nach Erich Mielkes hauseigenen Regeln gespielt. Im September beauftragte mich ein alter Bauer aus Kobbeln mit der Verteidigung des einen seiner beiden Söhne. Rechtsanwalt Werner Reimers sollte den anderen vertreten. Hagen K. und sein Bruder Dieter saßen in der Untersuchungshaftanstalt des MfS in Frankfurt ein. Von einer Polizeistreife waren sie nachts auf dem Leipziger Hauptbahnhof in der Mitropa-Gaststätte aufgegriffen worden. Ihre Bahnfahrkarten ins Erzgebirge hatten den Verdacht erregt, dass sie »das Hoheitsgebiet der DDR ohne die dazu erforderliche staatliche Genehmigung« verlassen wollten (so lief es in der weit überwiegenden Zahl aller Fälle ab, denn die mehr als 30 000 zwischen 1962 und 1989 verhafteten und später freigekauften »Republikflüchtlinge« sind meistens gar nicht bis ins Grenzgebiet gekommen). Da das »widerrechtliche Passieren der Staatsgrenze« in dem mir angetragenen Fall zu zweit - also »zusammen mit anderen«, wie es im Tatbestand heißt -versucht werden sollte, stand der »schwere Fall« des § 213 mit einer Strafandrohung von einem Jahr bis zu acht Jahren zur Debatte, wie ich Herrn K. senior erklärte. Der alte Herr schnaufte. »Ungeheuerlich«, das war alles, was er dazu sagte.

Ich schrieb an die Staatsanwaltschaft in Frankfurt, sprach dort auch vor, und telefonierte ergebnislos mit den Haftanstalten. Der zuständige Staatsanwalt für la-Sachen verfügte über keinerlei Informationen. Was er aber nicht zugeben wollte. Ich solle in zwei Wochen wieder anrufen. Zwar hieß es in der Strafprozessordnung, das Ermittlungsverfahren leite der Staatsanwalt, aber in la-Sachen lief es eben anders. Die im Gesetz verankerte »Aufsicht des Staatsanwalts über die Untersuchungsorgane« war nur ein schlechter Witz. Herr des Verfahrens war das MfS und niemand anders. Dem Staatsanwalt fiel die Funktion des untersten Türhüters zu, der die auflaufenden Bitten um Eintritt in das Gesetz möglichst lange ins Leere laufen lassen sollte.

Ich spiele an dieser Stelle bewusst auf Franz Kafkas Erzählung »Vor dem Gesetz« an, weil ich dankbar darauf hinweisen möchte, wie sehr mir der Prager bei meinem Bemühen, die geschilderte Situation mit der größtmöglichen Genauigkeit zu verstehen, die Augen geöffnet hat. Amtliche Lehrkommentare redeten irreführend nur um den heißen Brei herum. Und die Offiziellen wollten mit der Sprache nicht herausrücken. Der sachbearbeitende Staatsanwalt bekam in der ersten Hälfte der siebziger Jahre immer nur den komplett abgeschlossenen Vorgang zu Gesicht, eine Verfahrensweise, welche ab dem Ende der Siebziger modifiziert wurde. Von da an erhielten die Staatsanwälte der Abteilung la wenigstens Hausausweise des MfS (Dienstausweise der Staatsanwaltschaft akzeptierten die Tschekisten nicht als Einlassdokument zu ihren Haftanstalten), um in der Untersuchungshaftanstalt zumindest pro forma die vom Gesetz vorgeschriebenen prozessualen Handlungen durchzuführen.

Im Fall der Gebrüder K. dauerte es ewig, bevor ich eine auf »die Aussprache über die persönlichen Belange des Beschuldigten« beschränkte Sprecherlaubnis ausgestellt bekam. Wie ein müder Buddha hockte ein Ermittler des MfS in der Ecke des Besprechungszimmers, wenn ich nun zur Rücksprache mit dem Mandanten in der Otto-Grotewohl-Straße aufkreuzte, denn die Sprecherlaubnis durfte nur »im Beisein« eines Ermittlungsführers ausgeübt werden. Was wir besprochen haben, ich durfte mich ja anfangs nur über seine Person mit meinem Mandanten unterhalten, kannte der Vernehmer natürlich alles längst auswendig. Und man sah es seinem Gesicht an, wie ihn meine Fragerei nach der Herkunft und dem beruflichen Werdegang des Beschuldigten zu Tode langweilte.

Die Untersuchungshaftanstalt befand sich direkt hinter dem in der Otto-Grotewohl-Straße über hundert Meter langgestreckten Bürokomplex der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit. Was mir hier gleich bei meinem ersten Besuch auffiel, ein Eindruck, der sich in den Folgejahren verstärkte, war nicht nur die technische Ausstattung (Ka-

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meras gab es nur dort), sondern, im krassen Gegensatz zur Haftanstalt des Ministeriums des Innern in der Gartenstraße, der sachbezogene Umgang zwischen dem Anstaltspersonal und den Inhaftierten. Es ging erkennbar zivilisierter zu. Das herrische Herumgeschnauze der Vorführer, wie es in der Gartenstraße üblich war, habe ich in der Grotewohl-straße weder bei meinem ersten Besuch noch später jemals gehört. Und bestialischen Gerüchen nach Schweiß, Bohnerwachs, Urin und Kalk, wie sie für die Verwahrlosung in den Untersuchungshaftanstalten des Ministeriums des Innern in Frankfurt, Cottbus und auch in Rummelsburg typisch gewesen sind, war man hier ebenfalls nicht ausgesetzt. Nur der Vollständigkeit halber: Über Handgreiflichkeiten der Bediensteten in der Grotewohlstraße hat kein Mandant mir gegenüber jemals geklagt. Was die Gartenstraße anbelangt, halfen meine Proteste gegen Prügelorgien, die dort vornehmlich während der Weihnachtsfeiertage stattfanden, leider überhaupt nicht. Untersuchungshäftlinge, die beim Ministerium des Innern einsaßen, fragten mich gar nicht so selten, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, in die Untersuchungshaftanstalt des

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MfS überstellt zu werden. Erschienen mir die äußeren Umstände der Unterbringung in der Grotewohlstraße für den Mandanten vergleichsweise manierlich, war die mithilfe der Staatsanwaltschaft organisierte Behinderung der Verteidigerrechte umso skandalöser. Akteneinsicht und Sprecherlaubnis ohne Auflagen bekam ich erst zusammen mit der Ladung zwei Wochen vor der Hauptverhandlung. Eine Anklageschrift erhielt ich nicht zugestellt.

Nachdem die Beschränkungen aufgehoben worden waren, nahm ich sofort Akteneinsicht in der Geschäftsstelle des Bezirksgerichts. Laut Gerichtsakte hatten die Gebrüder K. in ihren Vernehmungen ohne Herumreden übereinstimmend ausgesagt, sie hätten Bahnfahrkarten ins Erzgebirge gekauft, weil sie dort über den Grenzzaun klettern wollten. Auf den spöttischen Vorhalt ihres Vernehmers, wie das denn gehen sollte angesichts der bekanntermaßen durch bewaffnete Posten, Wachhunde, Stacheldrahtzäune und Minen gesicherten Grenze, erklärten beide Brüder, darüber hätten sie vor ihrer Abreise nicht nachgedacht. Sie hätten sich spontan zur Flucht entschlossen, nachdem ein jahrelanger Streit zwischen ihrem Vater und dem örtlichen LPG-Vorsitzenden um die private Apfelplantage der Familie Ende des Sommers eskaliert sei. Um ihren Vater zur Herausgabe der landwirtschaftlichen Nutzfläche zu zwingen, hatte die Genossenschaft an einem Vormittag alle Apfelbäume mit schweren Traktoren herausgerissen. Wo solche Zustände herrschten, wollten sie nicht länger leben.

Natürlich fragte ich mich nach der Akteneinsicht, warum es bei der erkennbaren Geständnisfreudigkeit der Gebrüder K. eigentlich einer über vier Monate sich hinschleppenden Ermittlungstätigkeit des MfS bedurft hatte. Die zwei in den Unterlagen befindlichen inhaltsarmen Vernehmungen hätte jeder mittelmäßig begabte Untersuchungsführer an einem Vormittag protokollieren können. Es gab in der Akte aber zwei Punkte, die mich gleich beim ersten Lesen stutzig machten. Einmal war da ein handschriftlicher Vermerk, wonach eine vor Ort in Kob-beln ursprünglich vorgesehene Vernehmung einer 92-jährigen Rentnerin nicht durchgeführt werden konnte, da die alte Dame die Mitarbeiter des Untersuchungsorgans wüst beschimpft und jedes Gespräch mit ihnen kategorisch abgelehnt hatte. Zudem schienen mir die protokol-

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Herten Einlassungen meines Mandanten nicht unbedingt plausibel zu sein. Hagen K. war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Angesichts dessen fand ich die behauptete Spontaneität bei allem Verständnis für sein Tun irgendwie doch verantwortungslos. Es passte einfach nicht zu der Persönlichkeit, wie sie mir sein Vater geschildert hatte.

Als ich meinen Mandanten danach fragte, was denn wohl die Ermittler durch die Vernehmung der alten Dame herausfinden wollten, merkte ich sofort, dass ihn meine Frage peinlich berührte. »In unserem Dorf gehen alle zu der Alten«, sagte K. nach kurzem Zögern, »nicht nur, wenn sie 'ne Warze von ihr besprechen lassen.« - »Aber was wollten Sie denn?«, unterbrach ich ihn. Mehr noch als die Einzelheiten, die Hagen K. mir auftischte, die Alte heilte wohl sogar Impotenzen und Gürtelrosen, wunderte ich mich über seinen Glauben an die schier unbegrenzten Fähigkeiten dieser Frau. Er und sein Bruder hatten nämlich, wie er mir erläuterte, die Alte aufgesucht, damit sie ihnen bei ihrer Flucht in den Westen helfe. »Wir vertrauten auf ihre Kräfte.« Mein Staunen wurde nicht geringer, als ich erfuhr, womit ihnen die Alte geholfen hatte. »Sie hat mir als Talisman einen Fetzen Seide gegeben. Darauf waren mit Tintenschrift geheimnisvolle Zeichen gekritzelt.« Angeblich wäre das ein Brief gewesen, der 1674 in Holstein vom Himmel gefallen sei. Hagen K. führte den Brief in seiner Unterwäsche versteckt mit sich, und er hatte über den obskuren Hintergrund des Ganzen seinem Vernehmer treuherzig Auskunft gegeben. Die Spezialisten der Staatssicherheit misstrauten ihm jedoch. Immer wieder habe der Vernehmer ihn aufgefordert, die geheimnisvollen Hieroglyphen zu entziffern. Sonst würde man auf seine Kosten teure Wissenschaftler in Berlin einschalten. Was die Untersuchungsführer letztlich dazu gebracht hat, den Hokuspokus der in Holstein vom Himmel gefallenen Briefe ad acta zu legen, habe ich nie in Erfahrung gebracht.

Nachdem die Rolle der Alten leidlich geklärt war und ich mit meinem Mandanten dessen weitere Aussagen erörterte, meinte Hagen K. plötzlich, es sei zwar richtig, dass er ursprünglich zusammen mit seinem Bruder habe abhauen wollen. Auf der Bahnfahrt seien ihm jedoch Gewissensbisse wegen seiner zwei Kinder gekommen. Und in der Mitropa-Gaststätte auf dem Leipziger Hauptbahnhof habe er seinem Bru-

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der schweren Herzens klargemacht, er für seinen Teil werde mit dem Zug am nächsten Morgen wieder nach Eisenhüttenstadt zurückfahren. Davon stand nun allerdings kein Wort in der Akte! Es gab für mich keinen Grund, an der Glaubwürdigkeit meines Mandanten zu zweifeln. Hagen K. war kein Trickser. Nach der herrschenden Lehre erfüllte das von ihm geschilderte Verhalten eindeutig die Tatbestandsmerkmale des Rücktritts vom Versuch. Ich erläuterte ihm also den § 21 Abs. 5 StGB, der besagte: Von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist abzusehen, wenn der Täter freiwillig und endgültig von der Vollendung der Tat Abstand nimmt. Und ich bat ihn, noch einmal den seine Sache bearbeitenden Untersuchungsführer zu kontaktieren, damit in diesem Punkt eine ergänzende Richtigstellung zur Akte genommen werden konnte. Hagen K. befolgte meinen anwaltlichen Rat noch am selben Tag. Und der für ihn zuständige Vernehmer informierte sofort Rau, den la-Staatsanwalt, der die Sache zur Anklage gebracht hatte.

Staatsanwalt Rau, ein mickriges Männlein, spielte im Gerichtsbezirk Frankfurt (Oder) in politischen Verfahren jahrzehntelang den Großinquisitor. Wer auch nur einen Gedanken daran verschwendete, das Arbeiterparadies ungenehmigt zu verlassen, war in Raus Augen nicht bloß ein Verbrecher. Menschen, die derlei Absichten hegten, stellten eine Gefahr für den Weltfrieden dar, da sie die friedenssichernde Wirkung des »antifaschistischen Schutzwalls« unterminierten.

Wie sehr mich dieser bis in die späten achtziger Jahre sein Unwesen treibende Hüter der sozialistischen Gesetzlichkeit zur Weißglut reizte, daran mag ich am liebsten gar nicht mehr denken. Der Mann hasste mich seit unserer ersten Begegnung. In der letzten Sache, die ich mit ihm 1988 vor dem Bezirksgericht Frankfurt verhandelte, klagte er fünf Motorradfreaks aus Eisenhüttenstadt an, die in Brno anlässlich eines Meisterschaftslaufes mit westdeutschen Freunden das Deutschlandlied gesungen hatten. Die »Bonner Hymne« bei einem Motorradrennen in einem sozialistischen Bruderland zu singen, war in Raus Augen eine unverzeihliche Provokation des Bruderbundes mit der CSSR, da muss-ten noch einmal langjährige Freiheitsstrafen her. Was Rau nicht wusste, war, dass der DDR-eigene Akademie Verlag die Noten des Hoffmann-Haydn'schen Liedes druckte und ungeniert in alle Welt verkaufte, um

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Devisen für den Not leidenden Staat zu erwirtschaften. Darauf hatte mich mein Freund Paul-Gerhard Schumann hingewiesen. Als ich Rau die Heuchelei in seiner Anklageschrift vorhielt und in meinem Plädoyer mit den Notenblättern, die mir Schumann ausgeliehen hatte, herumwedelte, platzte der Mann vor Wut aus allen Nähten: »Wir wissen ja, was wir von Ihnen zu halten haben, Herr Henrich!« Das war unser letzter Zusammenstoß. Da wirkte er schon wie ein Gespenst aus einer fernen Vergangenheit. Ein Jahr später konnte ich mich dann aber vor Lachen kaum mehr halten, als ich sein Bild in der Bezirkszeitung »Neuer Tag« sah; Rau mit Prinz-Heinrich-Mütze und zerknirschter Miene, wie er missmutig das Gebäude der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in Frankfurt (Oder) auf Anordnung der ihn umringenden Montags-Demonstranten versiegeln musste. Was er in diesem Moment gedacht hat, in dem all die düsteren Befürchtungen, die ihn vier Jahrzehnte lang geplagt hatten, zur bitteren Wahrheit geworden waren, hätte ich allzu gern wissen wollen.

Am Tag der Hauptverhandlung gegen die Gebrüder K. zeigte Staatsanwalt Rau sich mir exakt so, wie ihn die Kollegen - mich warnend - beschrieben hatten. Ich hatte mich um eine Viertelstunde verspätet, da mein Trabant morgens nicht gleich angesprungen war. Heidi und ein Nachbar mussten mich im Schnee anschieben. Keuchend hetzte ich die Treppe zum Verhandlungssaal im zweiten Stockwerk des Gerichtsgebäudes hinauf. Oben angelangt, giftete der auf den Verhandlungsbeginn wartende Rau mich sofort vor meinem Mandanten und dem Vorführkommando überfallartig mit der Bemerkung an, wir würden uns noch »an anderer Stelle« wiedersehen. Was er damit meinte? Anschwärzen! Bei der Bezirksleitung der SED. Was anderes konnte das nicht heißen. Rau ließ niemals zu, dass ein Verteidiger - und sei es auch nur in einem Detail - ihm gegenüber recht haben könnte und er selbst vielleicht mit seinem Sachverhaltsvortrag in der Anklageschrift schiefliegen würde. Schroff und grobschlächtig qualifizierte er in der Hauptverhandlung bereits im Anklagevortrag die zur Akte nachgereichte, ihn verärgernde Aussage meines Mandanten als »billige Schutzbehauptung« ab, mit der man das Gericht »nicht hinters Licht« führen könne. Über einen Rücktritt vom Versuch solle das Gericht besser gar nicht nachdenken.

Hagen K. sei ein »bestechlicher Mensch«, der auf die »Verlockungen des Klassenfeindes« hereingefallen sei. Rau mühte sich ab, meinen Mandanten lächerlich zu machen. Und da es keine Öffentlichkeit gab, denn die war, wie in allen politischen Verfahren, zu Beginn der Verhandlung ausgeschlossen worden, brauchte er bei seinen Tiraden keinerlei Rücksicht auf den gesunden Menschenverstand zu nehmen. Dass ein Vater zweier minderjähriger Kinder Abstand nimmt von einem ursprünglich mal gefassten Entschluss, mit dem Bruder in den Westen zu flüchten, hielt Rau jedenfalls für »völlig abwegig«. Das Gericht unter dem Vorsitz des Oberrichters Peter Schmitt sah in dem drei Stunden später mündlich verkündeten Urteil (eine Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe gab es nicht) Raus Sach- und Rechtsvortrag für bewiesen an und verdonnerte meinen Mandanten antragsgemäß zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten.

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Kopfgeldjägerei oder salonfähiger Menschenhandel?

Verteidigung im Kriminalprozess bedeutete anfangs für mich: Als Anwalt musste ich dafür sorgen, dass die Strafe, wenn ein Freispruch nicht zu erreichen war, möglichst gering ausfiel. Eine klare Sache. Warum allerdings, wenn jemand wegen versuchter Republikflucht - offiziell hieß das »Ungesetzlicher Grenzübertritt gem. § 213 StGB« - angeklagt wurde, eine solche Zielstellung in der Regel nicht taugte und es oft sogar darauf ankam, auf keinen Fall eine Freiheitsstrafe unter einem Jahr zu erhalten, musste ich erst begreifen. Denn wer mit einer Freiheitsstrafe von unter einem Jahr in so einem Verfahren davonkam, riskierte, in die DDR entlassen zu werden. Für viele das Schlimmste, was ihnen passieren konnte. Bis ein Gefangener auf die zwischen Rechtsanwalt Jürgen Stange und Wolfgang Vogel ausgehandelte Liste des Häftlingsfreikaufs gesetzt wurde, dauerte es nämlich meist etwas mehr als ein Jahr. Schließlich musste erst um das »Kopfgeld« gefeilscht werden. Neben dem »einfachen Satz« von durchschnittlich 40 000 D-Mark für einen einfachen Gefangenen gab es für »gravierende Fälle« - das konnten Ärzte oder Inhaftierte mit besonderen technischen Qualifikationen sein - durchaus schon mal ein Preisgeld von bis zu 200 000 D-Mark aus Bonn. Erst in den frühen Achtzigern vereinbarten die sogenannten Beauftragten in humanitären Angelegenheiten eine Pauschale von 95847 D-Mark pro Person. Damit sei endlich, so kommentierte Herbert Wehner den Kuhhandel, das Ganze »salonfähiger« geworden.

Mit den Jahren wurden die Fallzahlen der 213er-Sachen, welche ich in meiner anwaltlichen Tätigkeit bearbeitet habe, zunehmend weniger. Rechtsanwalt Wolfgang Vogels quasiamtliche Zuständigkeit in humanitären Angelegenheiten sprach sich von Jahr zu Jahr mehr herum. Nach dem Fall Hagen K. habe ich bis in die achtziger Jahre insgesamt nur noch in 17 solcher Verfahren verteidigt, wie sich aus meinem Prozessregister ablesen lässt. Haften geblieben sind bei mir natürlich vor allem spektakuläre Fluchtversuche. Da war zum Beispiel Rochus L., der

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unter tätiger Mithilfe eines Ingenieurs aus dem Eisenhüttenkombinat einen Fesselballon gebastelt hatte. Oder ein Mandant aus Rüdersdorf. Er hatte bereits einen funktionsfähigen Unterwasserscooter erfolgreich in einer Kiesgrube getestet, aber nicht damit gerechnet, dass seine Frau unter der Wasseroberfläche unkontrollierbare phobische Reaktionen zeigen würde; sie musste sich während des Schnorchelns dauernd übergeben. Eine körperliche Reaktion, die sich in der Verhandlung jedes Mal wiederholte, wenn der Richter sie näher nach dem Fluchtapparat befragen wollte (vorsorglich hatten die Herren des Vorführkommandos auf Hinweis des Vernehmers einen Stapel Einkaufstüten mitgebracht, in denen das Erbrochene Aufnahme fand).

Ich kann im Rückblick nicht behaupten, dass mich das unter Mithilfe der Bediensteten des MfS, die jedem Inhaftierten gezielt Ratschläge im Hinblick auf den auszuwählenden Verteidiger erteilten, von Jahr zu Jahr perfekter organisierte anwaltliche Vertretungsmonopol Wolfgang Vogels neidisch gemacht hätte. Vogel war nun mal des Teufels General in Angelegenheiten des Häftlingsfreikaufs, er hatte Verbindungen, über die unsereiner nicht verfügte. Man tat deshalb den Angehörigen der Mandanten, die einen mit der Bitte um Vertretung ihrer inhaftierten Söhne aufsuchten, Töchter bildeten die Ausnahme, keinen Gefallen, wenn man in dieses Geschäft drängte. Lukrativ waren die 213-er Sachen ohnehin nicht. Hagen K. zu verteidigen, brachte mir 732,95 DDR-Mark in die Kasse. Rechtsanwalt Vogel wurde mit Westmark vergütet. Ein weiteres kam hinzu. Sosehr ich mich mit jedem einzelnen Mandanten auch gefühlsmäßig verbunden fühlte, führte doch jedes Verfahren unausweichlich in eine moralische Niederlage. Als beauftragter Anwalt konnte man dem nicht ausweichen. Die Entwürdigung der Angeklagten, die zur Ware eines deutsch-deutschen Kuhhandels degradiert wurden, das ganze Als-ob-Getue der Richter und Staatsanwälte, die lächerliche Geheimhaltung und Wichtigtuerei waren nur schwer auszuhalten. Mit strafrechtlicher Verteidigung hatte das alles wenig zu tun. Ich konnte mich auch nicht damit beruhigen, dass in den Folgejahren die meisten Klienten ihre Fluchtchancen bereits selber unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten kühl durchkalkuliert hatten. Nach dem Motto: Stelle ich einen Ausreiseantrag, warte ich drei Jahre.

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Werde ich bei der Flucht erwischt, bin ich in gut einem Jahr in der Bundesrepublik. Die Berechnung, die hinter einer solchen Kalkulation steckte, bewies mir ja nur die Verkommenheit der DDR-Justiz und die Aussichtslosigkeit der politischen Verhältnisse, in denen jemand wie ich als Alibi herhalten sollte.

Woran ich hier erinnern will, ist, dass alle Prozessbeteiligten in den 213er-Sachen, das gilt selbstverständlich ebenfalls für die Angehörigen der Angeklagten, ihre Freunde und Arbeitskollegen, in diesem Zusammenhang das hautnah erlebten, was ich in Umkehrung des bekannten Buchtitels von Niklas Luhmann eine »Delegitimation der DDR durch Verfahren« genannt habe! Selbst die treuesten MfS-Ermittler muss-ten ja schlucken, dass die freigekauften Inhaftierten den angeblichen Sinn und Zweck ihres Kampfauftrages, nämlich Flucht und Ausreise zu verhindern, auf groteske Weise ad absurdum führten. So dumm und hörig, wie Erich Mielke die Männer und Frauen in den Ämtern der Staatssicherheit augenscheinlich einstufte, konnten sie gar nicht sein. Jedenfalls mag ich nicht glauben, dass der Armeegeneral die nagenden Zweifel unter seinen Tschekisten mit seiner direktiv ausgegebenen Vulgärargumentation jemals hätte ausräumen können. Wen wollte Mielke mit seiner Hetzerei denn überzeugen? Glaubte der Mann wirklich, was er sagte? »Ja, wir lassen sie sitzen, wenn es notwendig ist. Aber andererseits sind wir natürlich keine Dummköpfe und lassen unsere Gefängnisse voll mit irgendwelchen Schmarotzern, die wir sowieso nicht brauchen. Warum sollten wir den nicht wegjagen? Was soll der denn bei uns hier sitzen und frisst hier bei uns? Das kann ich euch sagen: Weil ich ökonomisch denke für unsere Republik, Mensch!« Was der Armeegeneral, der offenbar einzig das berühmte Generalsekretärs-Konto 0628 der Staatsbank im Blick hatte, worauf die Einnahmen aus dem Häftlingsfreikauf flössen, bei seiner Sprachregelung völlig übersah, war, dass selbst seine eigenen Leute niemals nur seelenlose Automaten gewesen sind. Die Untersuchungsführer der Staatssicherheit wussten schließlich besser als jeder andere, wer da bei den Befragungen in den Haftanstalten vor ihnen saß. Ehrbare Leute, die man weiß Gott nicht guten Gewissens als nutzlose Fresser und Schmarotzer verunglimpfen durfte.

Es bleibt für mich in der rückschauenden Betrachtung eines der

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unangenehmsten Kapitel der deutschen Teilung, wie es den Politikern in Ost und West, Namen will ich hier nicht nennen, denn jeder kennt sie, so viele Jahre gelingen konnte, weite Teile der Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass das Unrecht und Würgend-Ekelhafte ihres ausge-kungelten Menschenhandels eine humanitäre Praxis gewährleiste, die in erster Linie darauf abziele, den Inhaftierten aus ihrer existenziellen Notlage herauszuhelfen. Eine solche Augenwischerei mag zeitweilig unvermeidbar gewesen sein. Unmittelbar nach dem Mauerbau waren die Interventionsmöglichkeiten eingeengt. In der Gorbatschow-Ära zeugte eine solche Politik aber nur mehr davon, wie konfliktscheu und feige die Entscheidungsträger im Westen Deutschlands agierten. Nicht ein mutiger Vorstoß ist überliefert, die Entwürdigung der Gefangenen durch die beschriebene Praxis zu skandalisieren. Die Verantwortlichen im Osten, und mit ihnen an vorderster Stelle alle führenden Juristen, stehen selbstverständlich keinen Deut besser da! Wie gespenstisch die Debatte darüber heute anmutet, wie dreist die Rechtfertigungen und Schutzbehauptungen erscheinen, dafür steht in meiner persönlichen DDR-Rechtsgeschichte beispielhaft ein Justizfunktionär wie Günther Sarge, 1. Vizepräsident des Obersten Gerichts seit 1978, Präsident ab 1986. Als Zeuge vor der Großen Strafkammer beim Landgericht Schwerin im April 1993 wird er, nach den hohen Freiheitsstrafen gegen Flüchtlinge und dem nachfolgenden Häftlingshandel befragt, folgende Aussage zu Protokoll geben:

»Wie war Ihre Haltung zu diesen Geschäften?«

»Mir waren sie zutiefst zuwider, und ich habe nie verstanden, dass die DDR-Führung in diese Falle gelaufen ist. Da die DDR-Justiz damit nichts zu tun hatte, war es allerdings nicht meine Aufgabe, dagegen anzugehen.«

Was soll man dazu sagen? Ausreden wie diese folgen dem immer gleichen Muster. Entscheidungs- und Tatenlosigkeit aufgrund mangelnder Zuständigkeit! So war das mit der Binde vor den Augen der Justitia sicher nicht gemeint. Schön nur, dass in der juristischen DDR-Erinnerungsliteratur, dieser meist übel riechenden Schwindelmaterie (Günther Sarges Autobiografie trägt den großkotzigen Titel »Im Dienste des Rechts«), solche Bekenntniskapseln auffindbar sind.

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Aber was ist mit mir? Nun, was die von mir geführten Strafverteidigungen in den 213er-Sachen angeht, habe ich nie einen vorzeigbaren Ausweg aus dem Dilemma gefunden. Ich wüsste auch heute nicht, wie ich meinem Auftrag als Strafverteidiger in der konkreten historischen Lage hätte besser gerecht werden können. Mein Bemühen war ehrlich. Aber meine Bilanz ist ernüchternd. Es gibt nur einen kleinen Pluspunkt, den ich mir in meiner Lebensbuchhaltung anrechne. Von jeder Kumpanei habe ich mich freigehalten. Es ist schwer zu sagen, welches die praktischen, sichtbaren Konsequenzen meiner Haltung bei diesem Sturz in den Dreck gewesen sind.

Während ich an diesem Kapitel schrieb, stieß Heidelore zufällig im Internet auf ein Opfer-Diskussionsforum, in dem ein Mandant sich über mich als Verteidiger geäußert hat. Er hatte mich im August 2001 bei Sabine Christiansen im Fernsehen gesehen und sich erinnert:

»Rolf Henrich war mein Anwalt, als ich wegen § 213 verurteilt wurde. Ausgesprochen mutig hat er sich damals mit dem Staatsanwalt angelegt, ich dachte, sie führen ihn später ab. Er konnte zwar meine Verurteilung nicht verhindern, gab mir aber das Gefühl, nicht alleine vor diesem Pack zu sitzen.«

Mehr war nicht drin.

Heute denke ich immer noch, dass in einer 213er-Sache die subversive Gleichgestimmtheit mit dem eigenen Schutzbefohlenen sowie die illusionsfreie Erörterung der Verfahrens­mechanismen mit ihm das Einzige gewesen ist, worauf es wirklich ankam.

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Das Ministerium wollte nicht gestört werden

Zwar stand mein berufliches Dasein nach meinen ersten 213er-Sachen unter keinem guten Stern mehr, aber das Leben ging weiter. Meine anfängliche Euphorie, was die anwaltliche Rolle betraf, wich zunehmender Ernüchterung. Das Anwaltsleben bescherte mir weitere Desillusionierungen, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Während ich mir als Strafverteidiger in politischen Prozessen die Hörner schnell abgestoßen hatte, blieb ich in den von mir geführten Zivilverfahren ziemlich blauäugig. Hier erwartete ich immer noch, dass sich die Richter selbst in den für die Partei- und Staatsmacht unbequemen Fällen an das geltende Recht halten würden.

Alltägliche Konflikte des Gemeinschaftslebens wurden durch die Kreisgerichte in der überwiegenden Zahl der Fälle ja auch in einer Weise entschieden, die sich rein äußerlich von einer formal-rechtsstaatlichen Urteilspraxis nicht unterschied. Es gab jedoch zu jeder Zeit auch im Zivilrecht ein ungeschriebenes, diktatorisches Durchgriffsrecht der zentralen Staatsorgane, mit dem jede rechtskräftig gewordene Entscheidung über den Haufen geworfen werden konnte. So sicher und beschirmt von den Paragrafen des Gesetzes, wie es mir nach meinem Einstieg in das Berufsleben zunächst schien, konnte ich mich jedenfalls auch auf diesem Gebiet schon bald nicht mehr fühlen.

Im Februar 1975 suchte mich Fritz F. aus Bad Saarow-Pieskow in meiner Sprechstunde auf. Er hatte die Fahrt nach Eisenhüttenstadt auf sich genommen, weil er von mir manches Gute gehört hatte. Fritz F. war, wie er mir berichtete, vor Jahren wegen seiner angeschlagenen Gesundheit aus der LPG »Ernst Thälmann« in Jacobsdorf ausgeschieden und berentet worden. Die Mitgliederversammlung seiner Genossenschaft hatte daraufhin beschlossen, dass ihm, da er eine im Zuchtbuch eingetragene wertvolle Rinderherde als zusätzlichen Inventarbeitrag in die LPG eingebracht hatte, ratenweise jährlich 4000 Mark gezahlt werden sollten. Jahrelang beglich die LPG die geschuldeten Raten. Vor zwei Jahren hatte sie jedoch ihre Zahlungen überraschend eingestellt

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und dies damit begründet, ihr seien weitere Überweisungen durch den Rat des Kreises - Abteilung Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft - strikt verboten worden.

Reine Formsache, sagte ich zu F. Ich versprach ihm, kurzfristig beim Kreisgericht in Fürstenwalde zu klagen. Da ich dort schon in der folgenden Woche Termine hatte, gab ich meine Klageschrift persönlich in der Geschäftsstelle ab und vereinbarte gleich noch einen Termin mit dem Richter. Alles lief perfekt. In der kurz darauf stattfindenden mündlichen Verhandlung fragte Richter Zühlsdorf den Justiziar der Genossenschaft unter Hinweis auf den vorliegenden Beschluss der Mitgliederversammlung lediglich, ob er sich angesichts der unstreitigen Anspruchsgrundlage nicht doch lieber vergleichen wolle. Da er dies ablehnte, verkündete Zühlsdorf im Anschluss an die Sitzung ein meiner Klage stattgebendes Urteil.

Ein paar Tage später ging bei mir überraschend die dagegen gerichtete Berufungsschrift der LPG ein. Inhaltlich enthielt sie nichts Neues. Und das Bezirksgericht wies, so wie von mir meinem Mandanten beruhigend vorausgesagt, das eingelegte Rechtsmittel zurück. Was anderes wäre mir auch nicht in den Sinn gekommen. Trotzdem freute ich mich über den Erfolg in dieser Sache. F. war mir im Laufe des Verfahrens sympathisch geworden. Von ihm erfuhr ich, dass es - durch ihn tatkräftig unterstützt - auf der Marienhöhe bei Bad Saarow ein Dutzend Idealisten gab, die im Verborgenen Widerstand gegen die forcierte Chemisierung der DDR-Landwirtschaft leisteten, indem sie auf ihrem anthroposophisch geführten Gut biologisch-dynamischen Ackerbau betrieben.

Bedeutsam war das erstrittene Urteil in der Sache F. vor allem deshalb, weil es die Behördenwillkür, wie sie sich in der Weisung der Abteilung Landwirtschaft widerspiegelte, in die Schranken wies. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Urteilsspruch unter den Genossenschaftsbauern in Ostbrandenburg. Ihre Ansprüche aus der Einbringung zusätzlicher Inventarbeiträge waren durch das Gericht in dem verhandelten Fall ernst genommen worden. Ihr herkömmliches Vertrauen auf Recht und Gesetz war damit bestätigt worden.

In Brandenburg kannte schließlich jeder Bauer die Geschichte von Friedrich dem Großen,

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die den kaum zu ruinierenden guten Ruf der Zivilgerichtsbarkeit mit begründete: Wie Fridericus Rex beim Bau Sanssoucis die klappernde Windmühle in seiner Nachbarschaft weghaben wollte und dem Müller ein Kaufangebot unterbreitete. Welches der Müller ablehnte, weil er seine Mühle nicht hergeben wollte. Und wie Friedrich drohte, er werde den Müller enteignen lassen. Wie der, sich seiner Sache sicher, nur erwiderte: Ja, Majestät - wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre!

Meine Zufriedenheit über das erstrittene Urteil währte keine zwei Monate. 1975 brauchte nicht einmal der Generalsekretär der SED sich darum zu bemühen, den knieweichen Seelchen der Richter am Obersten Gericht ordentlich einzuheizen und sie gegen den rechtskräftig gewordenen »skandalösen Urteilsspruch aus Fürstenwalde« in Marsch zu setzen. Ein Telefonat zwischen dem Justiziar des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft und dem Vizepräsidenten des Gerichts, Dr. Werner Strasberg, reichte völlig aus, wie ich heute weiß. Als ich damals den Kassationsantrag des Präsidenten des Obersten Gerichts las, mit dem die Sache F. nicht nur neu aufgerollt, sondern der ausgeurteilte Zahlungsanspruch meines Mandanten offenbar vom Tisch gewischt werden sollte, war mir zumute, als ob der Teppich, auf dem mein Stuhl stand, von einer Sekunde zur nächsten ruckartig zur Seite gerissen wurde. Gab es denn nichts mehr, worauf man vertrauen durfte?

Fritz F. war verständlicherweise enttäuscht. Er blieb aber auch in dieser unerfreulichen Lage der vornehme alte Herr, den ich kennengelernt hatte. Den Ausgang der Kassationsverhandlung nahm er mir nicht übel. Er hatte Schlimmeres erlebt. Während wir beide in Berlin aus dem Gerichtsgebäude auf die Littenstraße heraustraten, um unsere erlittene Schlappe in der schräg gegenüberliegenden Gaststätte Zur letzten Instanz vor unserer Rückfahrt kurz zu beraten, flüsterte er nur kaum hörbar vor sich hin, dass das Oberste Gericht für ihn soeben zum verlängerten Arm des Unrechts in diesem Staat geworden sei. Wahrscheinlich sah man mir nicht an, welche nicht wiedergutzumachende Kränkung ich erlitten hatte. Ich hielt nach freien Plätzen Ausschau und bestellte zwei Kognaks, dazu Kaffee mit Milch und Zucker.

Wie ungeniert hinter den Kulissen gekungelt worden ist, hätte ich niemals erfahren, wenn nicht einer meiner Kontrahenten im Kassationsverfahren 35 Jahre später brieflichen Kontakt mit mir aufgenommen hätte. Gerd Janke, dem seinerzeit in der Verhandlung die undankbare Aufgabe zugefallen war, den Präsidenten des Obersten Gerichts zu vertreten, schrieb mir, was er in der geschilderten Angelegenheit erlebt hatte:

»Als ich den Auftrag zur Terminswahrnehmung bekommen hatte, nahm ich Verbindung zu den Richtern am OG Dr. Thoms und Latka auf und erklärte ihnen, dass das Urteil des Kreisgerichts meines Erachtens richtig und dessen Kassation gesetzwidrig wäre. Beide Richter erklärten, dass >die Sache zwischen dem zuständigen Vizepräsidenten des OG, Dr. Strasberg, und der Rechtsabteilung des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft abgesprochen wäre. Das genannte Ministerium wollte bei der weiteren Umgestaltung der Landwirtschaft, der Schaffung von >Groß-LPGs< nicht durch die Tätigkeit der Gerichte >gestört werden<.«

Gerd Janke hat seine Mitwirkung an der Rechtsbeugung im Fall F. eingeräumt und mich gebeten, meinem »Mandanten bzw. dessen Angehörigen« sein Bedauern mitzuteilen. Und er hat den geschilderten Fall sowie weitere Kassationssachen unter Berücksichtigung seiner beruflichen Erfahrungen am Obersten Gericht beispielhaft in einer Zeitschrift für Rechtsgeschichte dargestellt.

Mit seiner selbstkritischen Rückschau auf die Rolle des Obersten Gerichts der DDR steht Janke ziemlich allein auf weiter Flur. Denn andere Juristen, wie zum Beispiel der bereits erwähnte Präsident des Obersten Gerichts Günter Sarge, versuchen bis heute, ihre angebliche richterliche Unabhängigkeit zu verteidigen. Während der drei Jahrzehnte seiner Tätigkeit beim OG, behauptet Sarge, habe »nicht ein einziges Mal« die Führung der SED oder ein zentrales Staatsorgan von ihm »oder den Richtern des Obersten Gerichts verlangt, gegen die Verfassung oder das geschriebene Gesetz zu handeln, weil man es für politisch opportun gehalten hätte«.

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 wikipedia  Günter_Sarge  1930-2019

 

 

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