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Tätigkeitsverbot und Parteiverfahren

 

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Bei meiner Ankunft in Eisenhüttenstadt sagte Heidi mir, Hans Hörath habe bereits viermal angerufen. »Du sollst unbedingt zurückrufen!« Ich sah dafür keinen Grund. Worum es Hörath ging, war ja klar. Am Karfreitag standen dann Hans Hörath und Klaus Klasen früh bei mir in Hammerfort vor der Gartenpforte. Devot baten sie um Einlass. Nach kurzem Herumgerede, Heidi stellte jedem einen Becher Kaffee hin, wurde deutlich: Die Genossen mochten zu gern herausfinden, mit wem ich alles in Verbindung stand. Wer mir geholfen hat. Was seien das für Kräfte?

Die Genossen führten einen Auftrag aus. Den nahmen sie ernst. Hans Hörath bereitete das keinerlei Probleme. Klasen hingegen war völlig durcheinander. Er fürchtete sichtlich um seinen Ruf als linientreuer Nomenklaturkader, weshalb er, mehr an Hörath als an mich gewandt, mit belegter Stimme wiederholt beteuerte, dass er mir »das niemals zugetraut« hätte. Und wie enttäuscht er sei. Mir ginge es da nicht anders, hielt ich ihm entgegen. Wenn Hans ein Mitglied des Kollegiums aushorche, deutete ich an, sei das ja mehr oder weniger normal. Wenn aber ausgerechnet er als Vorsitzender dazu Beihilfe leiste, sei das mit seinem Amt für mich nur schwer zu vereinbaren. Meine Antworten befriedigten die Genossen ganz und gar nicht. Höraths Aufforderung an mich, kurzfristig »Ursachen und Gründe« meines »gegen die Partei gerichteten Verhaltens in straffer Form schriftlich niederzulegen und der Bezirksleitung zu übergeben«, setzte den Schlusspunkt unter das peinliche Theater. Da staunte ich nun wieder. Die glaubten ernsthaft noch daran, die alte Masche der Parteidisziplin würde bei mir ziehen und ich würde ihnen frei Haus ein Geständnis liefern. Bevor sie unverrichteter Dinge abzogen, forderte Klasen mich noch auf, an der für Ostermontag um 10 Uhr einberufenen Vorstandssitzung teilzunehmen.

Montag fuhr ich pünktlich nach Frankfurt. Ich stellte mich am Carthausplatz hin. Woher die Herren und Damen des Vorstands an diesem Vormittag kommen würden, das wollte ich mir genauer ansehen. Meine Vermutung wurde bestätigt: Klaus Klasen, Christa Seidler, Rolf Stam-minger und Michael Dreydorf bogen - alle schön hintereinander mit dem vorgeschriebenen Abstand fahrend - aus Richtung der SED-Bezirksleitung kommend kurz vor zehn in die Oderallee ein. Hörath hatte seinen Pappenheimern also noch einmal den Rücken gestärkt, sie auf die Parteilinie eingeschworen.

Pünktlich um 10.30 Uhr betrat ich die Geschäftsstelle des Vorstands. Kaum hatte ich mich gesetzt, verkündete Klasen mir mit puterrotem Kopf die Einleitung eines Disziplinarverfahrens. Nach einer kurzen Pause, während der ich das Sitzungszimmer verlassen musste, verlas Klasen den Beschluss des Vorstands, mit dem mir »wegen staatsfeindlicher Handlungen« ein sofortiges Tätigkeitsverbot auferlegt wurde. Sie funktionierten perfekt, meine lieben Kollegen, als Hüter und Wahrer des sozialistischen Rechts waren sie jederzeit bereit, sich zu verbiegen, um bloß nicht politisch schiefzuliegen.

Den von mir erhobenen Einwand, sie hätten das entscheidende Beweismittel für ihre Urteilsfindung - das inkriminierte Buch - doch gar nicht gelesen, würgte Dreydorf ab: »Vormundschaftlicher Staat - der Titel sagt doch alles, oder?« Auf diesen Ton war seine Argumentation gestimmt, mit der er begründete, warum er kein Bedürfnis verspüre, das von mir »zu-sammengeschmierte Machwerk in die Hand zu nehmen«. Meine Kanzlei durfte ich nun nicht mehr betreten. Zur Abwicklung der von mir übernommenen Mandate wurde ein Vertreter bestellt. Er sollte auch auf Heidelore achten, die ja weiterhin in der Friedrich-Engels-Straße praktizierte, und natürlich melden, wie meine Klienten auf meinen Raus-schmiss reagierten. Als Spitzel überzeugte der von den Sicherheitsorganen ausgewählte Kollege nicht. Ihn plagten bald schon moralische Skrupel. Wie sein Führungsoffizier in einer Aktennotiz vermerkt hat, weigerte er sich bereits im Spätsommer, die angeordnete Überwachung fortzuführen.

Unter Hans Höraths Vorsitz und dem strengen Blick eines angereisten Aufpassers namens Rodig, seines Zeichens Leiter der Abteilung 7 des Ministeriums der Justiz, versammelte sich am nächsten Tag meine Parteigruppe im Sitzungssaal der SED-Bezirksleitung. Wie bei solchen Abrechnungen üblich, gaben alle Genossen ohne mich dabei anzuschauen einzeln zu Protokoll,

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Cover des Rowohlt-Buches, März 1989

 wie sehr sie mein staatsfeindliches Handeln verabscheuten. Sie urteilten über mich in der ihnen vorgeschriebenen Art und Weise: »Henrich betreibt das Geschäft des Klassenfeindes!« Oder in der milderen Variante: »Henrich hat das Vertrauen der Grundorganisation missbraucht!« Nur Rechtsanwalt Alexander Ullmann tanzte aus der Reihe. Er weigerte sich, über meinen Partei-ausschluss mit abzustimmen, weil er mein Buch noch nicht gelesen hätte. Ein gegen den Stachel lockender Couragierter mitten in einem Häuflein Angsthasen! - Wie sich an diesem Tag miserable Schauspieler in vorgeschriebenen Rollen übten und ausgerechnet jene Genossen hämisch wurden, die nicht einmal selbst für die Rentabilität ihrer Praxen sorgen konnten, das war sehenswert. Ob meine braven Kollegen aus dieser Posse etwas gelernt haben? Fast alle traten zwar ein Dreivierteljahr später aus der SED aus. Ob damit aber garantiert war, dass sie sich nicht bei passender Gelegenheit wieder an einer Hetzmeute beteiligen würden, vielleicht mit weniger Eifer, aber auf die eine oder andere zeitgenössische Weise, dürfte fraglich sein.

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Hinter den Kulissen

Überraschend war: Die Geheimen schlugen nicht zurück. Sie holten mich nicht einmal zur Vernehmung ab. Einen halben Kilometer von unserer Schleusenmeisterei entfernt stellten sie am Waldrand einen alten Schäferkarren hin. Da lümmelten sie herum, tranken ihren in Thermoskannen mitgeführten Kaffee, aßen ihre Stullen und qualmten eine Zigarette nach der anderen. Durch einen Feldstecher sahen wir ihnen dabei zu. Wenn ihre als »Angler« kostümierten Streifen morgens unauffällig an unserem Anwesen vorbeischlurften, kam ich mir manchmal vor, als sei ich über Nacht zum Hauptdarsteller in einer Komödie avanciert. Petrijünger kamen an unserem Wohnhaus zwar hin und wieder mal vorbei. Aber die trugen Ruten und Kescher nicht wie Gewehre über ihren Schultern. Was sollte dieses Kasperletheater?

In einer Kiefernschonung neben dem Dammweg zu unserem Grundstück lag fortan ein Aufklärer, der die Zufahrt zu uns beobachtete und jeden Besucher fotografierte. Einmal stürmte ich wütend auf sein Versteck los, lauthals schreiend, ich würde mir den Affenzirkus nicht mehr länger mit ansehen. Als ich dann aber einen jungen Mann im Tarnanzug unter Kiefernzweigen hervorkrabbeln sah, mit drei (!) Fotoapparaten vor seiner Brust, der irgendetwas von »Rehe knipsen« stammelte, ärgerte ich mich doch sehr über mein Toben. Mein hysterisches Gehabe zeigte mir, wie wenig ich verinnerlicht hatte, dass es völlig unnütz und zudem gemein war, Zorn oder Hass in Worten blicken zu lassen.

Das Gebaren der Operativniks wunderte mich. Blieben sie absichtlich untätig? Um das Interesse der Öffentlichkeit an meinem Fall nicht anzuheizen? Wollten Honecker und die Granden seines Sicherheitsapparats dem Westen demonstrieren, wie souverän sie sein konnten? Ausschlaggebend für die mich überraschende Zurückhaltung war - die Akten belegen es - eine zwischen Mielkes Stellvertreter, Generaloberst Rudi Mittig, und Egon Krenz sofort nach der Konfiskation meines Buches abgesprochene Weisung an die Bezirksverwaltung in Frankfurt.

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Das Kollegium der Rechtsanwälte interessierte die beiden Experten für Sicherheit und Ordnung dabei herzlich wenig. Die an Mittig herangetragene Bitte des Vorstands und der Parteileitung des Kollegiums der Rechtsanwälte, mich »durch Aktivitäten« des Staatssicherheitsdienstes »von der Teilnahme an der Mitgliederversammlung der Parteigrundorganisation abzuhalten«, fand jedenfalls kein Gehör (offenbar fürchteten die Genossen Rechtsanwälte einen Eklat in der geschilderten Parteiversammlung, weshalb sie mich mal so ganz nebenbei »zuführen« lassen wollten). Unter Hinweis auf die getroffene Absprache mit Egon Krenz, wonach »politischer- und staatlicherseits Maßnahmen durchzuführen sind«, man jedoch »strafprozessuale Maßnahmen« zu unterlassen habe, erteilte der Generaloberst eine Absage und verfügte zeitgleich gegenüber seinen eigenen Mannen: »Wenn Maßnahmen von unserem Organ durchzuführen sind, erfolgen entsprechende Weisungen nach zentraler Abstimmung und Entscheidung.«

Egon Krenz ließ sich die mit Generaloberst Mittig ausbaldowerte Verfahrensweise absegnen. Das SED-Politbüro, die Altherrenriege, welche sich als eine Art Überregierung verstand, versammelte sich immer dienstags ab zehn, um über anstehende politische Fragen zu entscheiden. In Hausmitteilungen an diejenigen, denen eine Teilnahme an der Sitzung aus Termin- oder Krankheitsgründen nicht möglich war, wurde zu deren Information die aktuelle Beschlusslage referiert. In der Hausmitteilung vom 28. März informierte Egon Krenz Erich Honecker, wobei er »noch einmal auf das Machwerk von Henrich« zurückkommt, dass er Generaloberst Mittig gebeten habe, »eine Einschätzung vorzunehmen«. Und er schlug mit der Bitte um Bestätigung vor: »Gegenwärtig sollte von strafrechtlicher Verfolgung Abstand genommen werden.« Honecker war einverstanden. Er autorisierte die empfohlene Vorgehensweise durch eine handschriftliche Randbemerkung (»richtig«) und setzte seine Paraphe (»EH«) auf die Hausmitteilung, bevor er verfügte: »Zurück an Gen. Krenz«. Fünf Tage später lag ein von Mittig bestelltes »Gutachten« in siebenfacher Ausfertigung vor. Ob Honecker es gelesen hat? Jedenfalls hat er sein Exemplar mit einer handschriftlichen Notiz »EH 10.4.89« versehen. Pedantisch, wie der Mann gewesen ist, wird er das Pamphlet wohl wenigstens überflogen haben.

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(Seitenlang sind darin die von mir verschuldeten Angriffe auf »die verfassungsmäßig verankerten politischen und ökonomischen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR« aufgelistet und unter strafrechtlichen Gesichtspunkten gewürdigt. Hier ein kurzer Auszug: »Ausgehend vom Inhalt der vorliegenden Schrift können folgende strafrechtliche Einschätzungen getroffen werden: Die durch den BRD-Verlag herausgegebene Schrift des HENRICH >Der vormundschaftliche Staat - Vom Versagen des real existierenden Sozialismus greift durch die in ihr enthaltenen Diskriminierungen der gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung an und erfüllt damit objektiv die Tatbestandsanforderungen einer Schrift im Sinne der staatsfeindlichen Hetze gemäß § 106 Absatz 1 Ziffer 2 StGB. Da sich HENRICH entsprechend den Darlegungen in dem Nachwort des Buches der strafrechtlichen Konsequenzen einer Veröffentlichung dieser Schrift bewusst war, liegen somit die objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens auf dieser Rechtsgrundlage vor. Sollte aus rechtspolitischen Gründen eine Verfolgung dieser Straftat als Staatsverbrechen nicht zweckmäßig sein, so wäre eine rechtliche Bewertung dieses Buches auch als Schrift im Sinne der öffentlichen Herabwürdigung gemäß § 220 Absatz 2 StGB möglich. In beiden Fällen hat eine strafrechtliche Verfolgung HENRICHS allerdings zur Konsequenz, dass eine Weitergabe dieser Schrift durch andere Personen ebenfalls objektiv die Tatbestände der staatsfeindlichen Hetze bzw. der öffentlichen Herabwürdigung in der Alternative der Verbreitung von Schriften begründet und zur Prüfung dessen sich in derartigen Fällen strafprozessuale Maßnahmen erforderlich machen.«)

Es wäre falsch zu sagen, Krenz und Mittig hätten in dieser letzten Phase der DDR, belehrt durch eine sich verändernde Wirklichkeit, ernsthaft auf das Recht und nicht mehr auf die Fallen, Ränke und Täuschungsmanöver der Staatssicherheit gesetzt. Selbst ein so liebenswerter Zeitgenosse wie Günter de Bruyn trägt ja heute zu einer daraufhinauslaufenden Legendenbildung bei, wenn er in seiner Biografie hervorhebt, die DDR der achtziger Jahre könne im Vergleich mit den Fünfzigern

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»fast als Rechtsstaat gelten«. Richtig ist daran lediglich, dass auch die DDR in den Achtzigern nicht mehr daran vorbeikam, alltägliche Fragen des Gemeinschaftslebens über weite Strecken in einer Weise zu regeln, die sich äußerlich von einer formal rechtsstaatlichen Lösung kaum mehr unterschied. Dennoch: Das Haus des Rechts haben die politbü-rokratischen Gerichtsherren bis zur letzten Minute beschädigt, wofür ihr Umgang mit mir ein anschauliches Beispiel bietet. Das Wesen des Rechts besteht nun einmal in der Förmlichkeit, in seiner Sichtbarkeit und Öffentlichkeit. Empörend an den Geheimbefehlen, welche Honecker, Mielke, Krenz und Mittig verschickten, war ja gerade der Mangel an jeder Förmlichkeit. In Hinterzimmern zwischen diesen geborenen Verfolgern ausgekungelte Taktiken galten als Verfügungen einer Strafgerechtigkeit. Mag eine solche Durchgriffsmöglichkeit im Einzelfall aus Zweckmäßigkeitserwägungen auch einmal zugunsten eines Betroffenen genutzt worden sein, wird daraus trotzdem kein rechtsstaatliches Handeln. Vor dem Runden Tisch - leider war ich in der betreffenden Sitzung nicht anwesend - und in seinem Buch »Wenn Mauern fallen« hat sich Krenz damit gebrüstet, dass er im Hinblick auf meine Person, nachdem es »große Verstimmungen« gegeben hätte, verhindern konnte, »dass eine strafrechtliche Verfolgung stattfand«.

Was Krenz bei seinem Auftritt am Runden Tisch nicht erwähnte, war, dass statt einer Anklage laut der von ihm und General Mittig getroffenen Absprache »politischer- und staatlicherseits Maßnahmen« durchgeführt werden sollten. Die waren zwar weniger auffällig, aber dafür umso hinterhältiger. Ein Schwerpunkt in dem daraus resultierenden Maßnahmenkatalog bestand darin, meinen Ruf als Autor und Anwalt zu ruinieren. Gegen die von den Tschekisten lancierten Rezensionen in Samisdat-Blättern konnte ich mich dank Erika Drees verteidigen. Bei anderen Interventionen dauerte es aber, bevor ich davon überhaupt hörte. So wunderte ich mich natürlich, warum der einflussreiche westdeutsche Anwaltsverein nach dem Bekanntwerden des mir auferlegten Berufsverbotes keinerlei Reaktion zeigte, obwohl er sonst gegen jede politische Verfolgung von Kollegen überall auf der Welt protestierte. Christian Boos hat in seinem Buch über die DDR-Anwaltschaft »Im goldenen Käfig« die Gründe für das Schweigen dargelegt. Im Mai 1989

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fuhren Gregor Gysi, Friedrich Wolff und Wolfgang Vogel zum Deutschen Anwaltstag nach München. Laut einem MfS-Protokoll wurde im Vorfeld dieser Reise eine »Argumentationsdisposition« zu meinem Fall in einem Gespräch zwischen dem Minister der Justiz, einer Vertreterin des Zentralkomitees und Gysi ausgetüftelt, in der als Grund für das mir auferlegte Berufsverbot festgelegt wurde: »Mandanten getäuscht -das ist unmöglich.« Nach der Rückkehr in die DDR schrieb Friedrich Wolff einen Reisebericht für den Justizminister, in dem er das Treffen mit den Granden des westdeutschen Anwaltsvereins schildert. Zum Fall Henrich, heißt es da, »sprachen wir alle und erklärten, dass er mit einem Buch und den darin vertretenen Auffassungen über die Justiz in der DDR sich selbst die Möglichkeit genommen hätte, seine Funktion als Organ der Rechtspflege zu erfüllen«. Stolz verweist Wolff auf die mit dem DAV ausgekungelte deutsch-deutsche Argumentation gegenüber der Presse. Die DAV-Spitze unterbreitete den ostdeutschen Kollegen verschiedene Versionen, um neugierige Journalisten abzuwimmeln. »Wir entschieden uns für die kürzeste ... Sie lautete in etwa: Wir haben uns mit dem Fall beschäftigt und haben nichts weiter dazu zu sagen.«

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Ächtung und Zuspruch

Man kannte jetzt meinen Namen. Dafür hatten die westlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten gesorgt. Bereits in den ersten zwei Wochen nach dem Erscheinen meines Buches berichteten in vier Fernsehsendungen und im Deutschlandfunk sowie im RIAS Kommentatoren ausführlich über mich und mein politisches Anliegen. 15 Tageszeitungen brachten Buchbesprechungen. Automatisch waren natürlich auch die DDR-Lobbyisten zur Stelle, die ihre Visionen von einem sozialistischen Deutschland östlich der Elbe durch mich gefährdet sahen. Sie attackierten mich, wo sie nur konnten. Selber nutzte ich jedes Angebot, mich in Interviews zu äußern. Das gab mir Schutz. Die Begeisterung, mit der mein öffentlich zelebriertes Aufbegehren gegen den vormundschaftlichen Staat vom Publikum aufgegriffen wurde, bescherte mir bei allem um meine Person veranstalteten Rummel frühzeitig die Einsicht, dass keinesfalls das mediale Spektakel bedeutungsvoll war, sondern etwas weit weniger Ins-Auge-Stechendes - nämlich das, was in den »Köpfen« der Leute passierte. Zweifellos war das von größerem geschichtlichen Gewicht als das persönliche Risiko, welches ich eingegangen war und das ich mir zugutehalten konnte.

Wo immer ich mich in den folgenden Wochen blicken ließ, ob in der Kaufhalle, beim Bäcker, Fleischer oder im Postamt, überall traten wildfremde Menschen auf mich zu, die mir freudestrahlend und händeschüttelnd ihr »volles Einverständnis« mit dem versicherten, was sie bei Kennzeichen D gesehen oder in einem Interview mit mir am Vorabend gerade gehört hatten. Sie wiederholten meistens zwei Stichworte, die sie sich gemerkt hatten: Vormundschaftlicher Staat, Wohnhaft in der DDR! Keine Frage, das waren Losungsworte! Sie wirkten wie Brandbeschleuniger. Die Wirksamkeit solcher Worte, ihre aufrührerische Tiefe und Sprengkraft, die alles beiseitefegte, was mir Ideologen aus Ost und West entgegneten - das bleibt eines meiner schönsten Erlebnisse am Vorabend der anstehenden Revolte.

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Was mich besonders rührte? Am Rand des Treidelpfades zwischen Schlaubehammer und Hammerfort montierten mir Unbekannte ein weiß gestrichenes Blechschild an einen Zaun, auf das sie in schwarzer Normschrift fein säuberlich Rolf-Henrich-Damm gepinselt hatten. Als ich das las, wusste ich, dass ich auf aktionsbereite Unterstützer bauen konnte. Es gab unter ihnen Helden, die Kopf und Kragen riskiert haben, um sich mit mir zu solidarisieren.

Meine Rechtsanwaltskanzlei, die ich ja nicht mehr betreten durfte, befand sich in der Friedrich-Engels-Straße 1. Neben dem Hauseingang hing das übliche großformatige, emaillierte Namensschild. Nur einen Steinwurf davon entfernt, direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hatte die Kreisverwaltung der Staatssicherheit ihren Sitz. Im Vorgarten ihres Dienstgebäudes schüchterte eine schwenkbare Überwachungskamera an einem Stahlmast jeden ein, der dort vorbeikam. Wie in einer Sofortmeldung vom 9. April an die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in Frankfurt vermerkt ist, trug sich ausgerechnet hier, unter den Augen der Geheimpolizei, Folgendes zu: »Schmiererei im Stadtgebiet von Eisenhüttenstadt - Am 9.4.89 wurde um 6.55 Uhr durch den Mitarbeiter der SED-Kreisleitung, Gen. Grondke, bekannt, dass am Gebäude der Staatlichen Versicherung Friedrich-Engels-Str. 1, Ecke Fritz-Heckert-Str. 5, eine Schmiererei festgestellt wurde. Dabei handelt es sich um ein kariertes Blatt Papier, Format A 4, das auf das Namensschild des Rechtsanwaltes Henrich geklebt wurde. Auf dem Blatt Papier steht: Wer die Wahrheit sagt, wird von Euch >gesperrt<! Alle Hochachtung vor dem, der die Wahrheit sagt! Ihr verurteilt jeden, der seine offene Meinung äußert! Es sind viele, die zu ihm stehn! Denkt Ihr, dass alle Eure >beschissene< Meinung teilen?«

Die in einer solchen Aktion steckende Couragiertheit ist für mich heute noch bewundernswert. Hier hatte sich ein echter Jünger'scher Waldgänger zu Wort gemeldet, um unseren Tschekisten in einer Sprache zuzusprechen, die ihnen verständlich war. Leider weiß ich bis heute nicht, wer damals den Mumm aufbrachte, den Geheimen diese hübsche Notiz ins Stammbuch zu schreiben.

Verständlicherweise war den Großkopfeten in der Partei die breite Zustimmung ein Dorn im Auge. Hastig wurden in der ganzen Region Versammlungen einberufen, in denen nach den Funktionären nun auch

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die Werktätigen darüber aufgeklärt wurden, wie man den »Fall Henrich« politisch korrekt einordnen müsse. Die dabei aufgebotenen Argumente für meine Ächtung fruchteten jedoch kaum mehr. Die Menschen wollten die ihnen eingebläute Sichtweise nicht hinnehmen. Man ließ sich nicht mehr vorschreiben, wie man mich, den »Verräter«, zu sehen hatte. Etliche Mandanten von mir verwiesen auf die Hilfe, die sie durch mich als Anwalt erfahren hatten, und erklärten unumwunden, dass sie meinen Rausschmiss aus der Partei und das mir auferlegte Tätigkeitsverbot für einen unverzeihlichen Fehler hielten. In Frankfurt empörte sich sogar eine Gerichtsangestellte darüber, dass, wie sie sagte, »dieser fähige Jurist, der mit seinen Standpunkten eine Verbesserung der Rechtsprechung anstrebte, ohne gründliche, sachliche Diskussion von der juristischen Arbeit ausgeschlossen wurde, so dass er nunmehr durch Wäschesortieren im Dienstleistungskombinat seinen Lebensunterhalt verdienen muss«. Auch wenn es sich nur um ein Gerücht handelte, war dies eine unverzeihliche Meinungsäußerung, welche die damalige Direktorin postwendend an die Abt. VIII des MfS meldete.

Es war mir klar, dass sich immer mehr Genossen aus der Parteidisziplin lösten. Aber die SED-Führung glaubte weiterhin daran, die öffentliche Meinung noch anhand ihrer veralteten Vorstellungen bestimmen zu können. Wie weit sie sich tatsächlich von der gesellschaftlichen Realität entfernt hatte, wurde auf ihrem April-Plenum deutlich. Christa Zellmer, Mitglied des ZK und 1. Sekretär der Parteiorganisation im Bezirk, verkündete hier noch einmal vollmundig:

»Nicht unbekannt, liebe Genossen, ist die Taktik des Feindes, Dissidenten aufzubauen, die sich dann zum Sprachrohr angeblich vieler Gleichgesinnter aufschwingen möchten. Dazu hat sich auch der ehemalige Genosse und Rechtsanwalt Rolf Henrich aus Eisenhüttenstadt hergegeben. Mit seinem die sozialistische Staats- und Rechtsordnung verunglimpfenden Machwerk, das vom Rowohlt-Verlag der BRD unter dem Titel >Der vormundschaftliche Staat - Vom Versagen des real existierenden Sozialismus< herausgebracht wurde, entlarvte sich Henrich als Erfüllungsgehilfe antisozialistischer Kräfte gegen die DDR. Auch seine staatsfeindlichen Äußerungen in BRD-Medien offenbaren seinen politischen Standort. Es ist kein Wunder, dass die imperialistische BRD-Journaille Henrich als Kronzeugen für eine neue Verleumdungskampagne gegen die DDR und die Politik unserer Partei nutzt. In der Mitgliederversammlung der Grundorganisation des Kollegiums der Rechtsanwälte des Bezirkes Frankfurt (Oder), die Henrich aus der Partei ausschloss, wurde sichtbar, dass er sich des partei- und staatsfeindlichen Charakters seiner Handlungen bewusst war. Das Buch wurde von ihm von Anbeginn zur Veröffentlichung in der BRD geschrieben. Dementsprechend tarnte er sich und handelte er konspirativ. Henrich verstand es, seine Parteiorganisation über seine wirklichen ideologischen Auffassungen und Haltungen zu täuschen, obwohl er bereits seit vielen Jahren feindlichen Ideologien erlegen war. Sein Vorgehen kann nur als Versuch gewertet werden, mit Hilfe des Gegners die Partei zu zersetzen, die marxistisch-leninistische Theorie zu entstellen und die Errungenschaften der 40-jährigen Entwicklung der DDR zu verleumden. Die Geschichte wird über den Verräter Henrich wie über seinesgleichen vor ihm hinweggehen. Die DDR jedoch setzt unter Führung unserer marxistisch-leninistischen Partei ihren Weg als sozialistischer Rechtsstaat mit entfalteter sozialistischer Demokratie, gesicherten Menschenrechten, innerer Stabilität und volkswirtschaftlicher Dynamik zum Wohl des ganzen Volkes unaufhaltsam fort.«

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Unterwegs als Wanderprediger

Mein Plan für die nächsten Monate stand fest. Mit Bärbel Bohley und Katja Havemann hatte ich Ostern verabredet, mit ihnen im Herbst eine landesweite demokratische Vereinigung zu gründen. Jeder von uns sollte neun Persönlichkeiten aus seinem Freundeskreis in das, was wir vorhatten, einweihen und einladen. Die Zahl der Pastoren wollten wir gering halten. Und nicht vorrangig Berliner oder gar Helden aus dem Untergrundbezirk Prenzlauer Berg sollten das Erscheinungsbild der neuen Gruppierung prägen, sondern Menschen, die in einem normalen Berufsleben standen. Bereits die ausgewählten Gründungsmitglieder sollten die von uns angestrebte Offenheit und Breite der verabredeten Sammlungsbewegung signalisieren.

Da ich arbeitslos war, verfügte ich über genügend Zeit. In aller Ruhe führte ich Gespräche mit den Menschen, auf deren Mitarbeit bei einem politischen Aufbruch es mir ankam. Und ich rührte auf einer Grand Tour durch Städte und Gemeinden die Trommel für den kommenden Aufstand. Sollten Krenz und Mittig darauf spekuliert haben, dass mich das verhängte Tätigkeitsverbot einschüchtern und davon abhalten würde, mich in die republikweit aufbrechende Auseinandersetzung einzumischen, hatten sie sich verrechnet. Was als Abstrafung gedacht war, verschaffte mir überhaupt erst die Zeit, mich mit Tausenden auszutauschen, die auf einen Umsturz der Verhältnisse setzen wollten. Als Nebentätigkeit zu meiner anwaltlichen Berufsausübung wäre das niemals möglich gewesen. Aus allen Ecken hagelte es Einladungen zu Vorträgen. Meistens waren es Gemeindepfarrer oder Mitglieder der Kirchenräte, die mir ein Podium anboten, damit ich in ihrem Sprengel die von mir im »Vormundschaftlichen Staat« entwickelte Alternative vortragen konnte. Solche Einladungen lösten jedes Mal hektische Aktivitäten der staatlichen Organe aus. Aber die Verantwortlichen auf der Gemeindeebene ließen sich weder von den vorgetragenen Bedenken ihrer Konsistorialräte noch von den Drohungen der Tschekisten einschüchtern.

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Im Ergebnis bedeutete das für mich, dass ich die von mir im »Vormundschaftlichen Staat« ausgearbeitete Lagebeschreibung und Perspektive von nun an in überfüllten Kirchen mit den Menschen besprach. Jeder bei meinen Auftritten Anwesende konnte sich dabei an allen fünf Fingern abzählen: Allein seine Präsenz setzte bereits ein Zeichen der Solidarität mit einem parteioffiziell Geächteten, der ich nun mal war. Zum Entsetzen der Sicherheitsorgane schwoll mit jeder Veranstaltung die Zahl meiner Zuhörer weiter an. Im Herbst waren es in Frankfurt an der Oder schließlich über 1500 Teilnehmer, mit denen ich debattierte. Auch die gegen mich eingesetzten Agitatoren konnten nichts mehr ausrichten. Ein interner Bericht über das letztgenannte Geschehen in der Georgenkirche zeigt, wie es um die weiterhin beanspruchte führende Rolle der SED in Wahrheit bestellt war. »Bei der Veranstaltung am 18.10.89«, heißt es da, »ist es den gesellschaftlichen Kräften, darunter zwei Sektorenleiter der SED-BL, nicht gelungen, gegen den H. in wirksamer Weise aufzutreten. Alle jetzt unter der Leitung der BL der SED durchzuführenden gesellschaftlichen Aktivitäten sind dem Ziel untergeordnet, den H. in seiner Wirksamkeit einzugrenzen und zu isolieren.«

Meine Ansprachen nutzte ich, um meine Zuhörer aus ihrer Resignation und Indifferenz zu locken. Im Mai '89 rührte ich unter anderem die Trommel in der Berliner Gethsemanekirche, der Kirche von Unten und in der Auferstehungsgemeinde; im Juni boten mir die Kirchgemeinde Alt-Friedrichsfelde und das Gemeindezentrum »Heinrich Gruber« die Gelegenheit, mich den Menschen vorzustellen. So ging es weiter. Wie der Typus eines Volksredners alter Schule hielt ich, nachdem ich die Hauptstadt abgegrast hatte, in Halle, Leipzig, Merseburg, Dresden, Frankfurt, Stendal und Petersdorf aufrührerische Reden. Jedes Mal wies ich alle Anwesenden darauf hin, ihre Begegnung und Diskussion mit mir erfülle aus der juristischen Sicht des erfahrenen Rechtsanwalts bereits den Straftatbestand des verfassungsfeindlichen Zusammenschlusses. Das stärkte die Widerstandskraft der Menschen ungemein. Sie verließen solche Treffen in dem Bewusstsein, mit ihrem Kommen etwas riskiert zu haben, woran sie bis dahin häufig nicht mal zu denken gewagt hatten.

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Mit meinen Reden deckte ich das Spektrum der Inhalte ab, die ich im »Vormundschaftlichen Staat« behandelt hatte. Unvermeidlich schloss das Vereinfachungen ein. Wie die Machtstrukturen praktisch funktionierten, wie sie jeden zu einem Rädchen im Getriebe des Staatssozialismus degradierten und was dagegen getan werden musste - das mit den Menschen lebensnah zu besprechen, darauf richtete sich mein ganzer Ehrgeiz.

Die milieuspezifischen Debatten, mit denen die Oppositionellen ihre Untergrundblätter füllten, waren mir hingegen weniger wichtig. In meinen Augen hatte das, was in ihren Zirkeln verhandelt wurde, ohnehin kaum etwas mit der aktuellen politischen Situation zu tun. Eine bei mir eingegangene Einladung der in Stuer-Winkel für die Zeit vom 23. bis 29. Juli geplanten Sommerakademie des Arbeitskreises Solidarische Kirche bestätigte mir das noch einmal. Was hatte man da auf die Tagesordnung gesetzt? Den Hitler-Stalin-Pakt, russische Lyrik, Kunst im Faschismus und Identitätsprobleme der Kirche von 1914-1933!

Jens Reich berichtet in seinem »Tagebuch der Wende« aus eigenem Erleben darüber, weshalb mein Auftreten von prominenten Bürgerrechtlern als Provokation empfunden wurde. »Henrichs Vorträge«, so beobachtete es Reich, »brachten ein neues Moment in die Protestbewegung ein, das von den Bürgerrechtlern mit langen Widerstandserfahrungen eher als Rückschritt gewertet wurde. Henrich betonte, dass der politische Protest sich aus der Schutzzone der Kirche befreien müsste, und dass er sich an den Normalbürger in mittlerem Alter und mit anerkanntem Beruf wenden wolle. Er opponierte gegen das betont Alternative, Protestkulturelle, Anarchische und Subversive der bisherigen Bürgerbewegung. Er argumentierte, dass ein solches Verhalten der Stasi Zugriffsmöglichkeiten einräume, den Spießbürger verängstige und in ein Scheinbündnis mit den Bürokraten treibe. Richtig wäre es, eine politische Bewegung streng im formalen Rahmen der DDR-Gesetzlichkeit zu gründen, sie ordnungsgemäß anzumelden und ganz verfassungsgemäß die Teilhabe an der politischen Entscheidung einzufordern.«

So bin ich vorgegangen, wenngleich ich von »Spießbürgern« nie gesprochen habe. Weshalb es zwischen mir und den altgedienten Bürgerrechtlern knirschte, war jedoch nicht nur einer anderen Taktik ge-

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schuldet, die ich zur Voraussetzung einer erfolgreichen Demokratiebewegung erklärte. Vor allem bemühte ich mich bei meinen Auftritten, dem alltäglichen Lebensvollzug der vor mir auf den harten Kirchenbänken sitzenden Männern und Frauen, der sich meistens durch eine indifferente und durchschnittliche Alltäglichkeit auszeichnete, in jeder Hinsicht verständnisvoll und wohlwollend zu begegnen. Das allein führte schon zu einer Schwerpunktverlagerung des Widerstands. Aus ihrer exklusiven Lebensführung heraus diffamierten, wie mir längst bewusst geworden war, leider viel zu viele Widerständler das Leben der anderen als Verlogenheit. Besonders in der Berliner Szene blickte man hochnäsig auf »ein Volk von Sachsen« herab, wie der Dichter Bert Papenfuß höhnte.

Nährboden für die mich unangenehm berührende Arroganz vieler Dissidenten war deren besondere Lebensweise, die in mancher Hinsicht Ähnlichkeiten mit den künstlerischen Existenzen der bekannten »Prenzlauer-Berg-Connection« aufwies. So wie diese hob sich die dissidentische Existenzform von den nicht betonten, alltäglichen Lebensmöglichkeiten der meisten Menschen ab. Häufig konnte man das schon an den Tätigkeiten erkennen, mit denen die Leute ihren Lebensunterhalt fristeten. Wer als Friedhofswärter, Postbote, Kirchendiener, Heizer, Telegrammzusteller, Hausmeister, Hilfspfleger oder Schmuckhersteller sein Geld verdiente, entzog sich damit einer Einflussnahme der Partei- und Staatsmacht, die in den volkseigenen Betrieben und Verwaltungen ideologischen Druck ausübte. Der Heroismus, der in so einer Lebensführung auch steckte, war in mancherlei Hinsicht zwar durchaus bewunderungswürdig, aber in meinen Augen noch lange kein Grund, sich selber ein Leben in der Wahrheit anzumaßen und den anderen ein Leben in der Lüge zu bescheinigen. Mein Gegensatz zu den »Alten«, wie Jens Reich ihn als Hörer meiner Vorträge konstatierte, hatte also weniger mit politischen Gründen als mit den Konsequenzen zu tun, welche unsereiner aus den Erfahrungen der Anwaltstätigkeit gezogen hatte.

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Halle an der Saale

Würde ich alle Erlebnisse ausbreiten, die ich auf meiner Tour durch Mitteldeutschland gehabt habe, müsste ich etliche Seiten füllen, fände aber vermutlich kein Ende. Ich beschränke mich darauf, über einen in Halle von Katrin und Frank Eigenfeld vorbereiteten Auftritt ausführlicher zu berichten. Ähnlich wie hier lief es überall ab. Katrin hatte mit mir den Termin abgestimmt. Sie hängte Plakate aus, auf denen sie mein Kommen am 21. Juni unter Hinweis auf den »Vormundschaftlichen Staat« ankündigte. Von Erika Drees wusste ich, dass Katrin in der kirchlichen Jugendarbeit für Halle-Neustadt tätig war und jahrelange Kämpfe mit ihrem Konsistorium auf der einen und der Staatssicherheit auf der anderen Seite durchgestanden hatte. Anfang der Achtziger im berüchtigten Roten Ochsen inhaftiert, gehörte sie zu den Frauen, die den gordischen Knoten des bodenlosen Geredes in den Untergrundzirkeln zerhauen und zur befreienden Tat schreiten wollten. Da Katja und Bärbel sie im Neuen Forum unbedingt dabeihaben wollten, ergab sich durch ihre Einladung eine gute Gelegenheit, sie persönlich kennenzulernen.

Meinen Besuch in der Saalestadt wollte ich auch nutzen, um Achim Maaz und Ludwig Ehrler zu treffen, den späteren Rektor der Kunsthochschule Burg Giebichenstein. Ich fuhr deshalb bereits Dienstagmittag los. Den Abend verbrachte ich bei Maaz in der Fuchsbergstraße. Am nächsten Vormittag pilgerte ich zu Ludwig. Er wohnte nahe am Markt in der Großen Steinstraße, nicht weitab vom Dom, den Feinin-ger gemalt hat. Das Haus war um 1900 herum erbaut worden. In den Achtzigern konnte man nur mehr erahnen, welche Pracht die Fassade -mit ihren herausgebrochenen Stuckverzierungen, den bröckelnden Konsolen und Fensterrahmungen - in der Wahrnehmung der Passanten einst entfaltet hatte. Trostlosester Verfall, wohin man blickte. Die Parterrewohnung und das erste Stockwerk in Erlers Haus waren bereits leer geräumt. Bretterverschalungen vor den Türen sollten Unbe-

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fugte davon abhalten, sich hier unerlaubt einzunisten. Ludwig wohnte in der zweiten Etage. Im Erker seines Wohnzimmers hatte er liebevoll eingedeckt. Bevor wir uns setzten, zeigte er mir seine neuesten Bilder. Pop-Art, Riesenschinken. Eine kaum zu fassende Schönheit inmitten des Verfalls. Nebenan stand eine Zinkbadewanne, in die es von der Decke tröpfelte. Ludwigs großformatige Gemälde verliehen dem Ganzen einen morbiden Charme. Ihre rhythmisch bewegte Linienkraft heiterte mich auf. Ohne die Bilder hätte ich Antidepressiva gebraucht.

Ich fragte Ludwig, wie der Eindruck der Gemälde auf mein Gemüt zu erklären sei. »Unmittelbare Anschauung bleibt das Wesentliche«, grummelte er nur. »Man kommentiert sich nicht selbst.« Über Kunst mochte Ludwig nicht reden. Aus dem, was er über seine Arbeit preisgab, konnte ich lediglich entnehmen, dass er gerade einen Auftrag seiner Stadtoberen ausführte, für die er ein öffentliches Gebäude durch Kunst am Bau verschönern sollte. Neuerdings schätzte man seine Kunst, nachdem man ihn wegen seiner abstrakten Malweise jahrzehntelang geschnitten hatte. Mit dem sozialistischen Realismus war ja auch kein Blumentopf mehr zu gewinnen, seit die meisten Künstler sich bemüßigt fühlten, mit jedem Werk aufdringlich nachzuweisen, wie weit sie inzwischen von der kulturpolitischen Linie der Partei abwichen. Ein künstlerischer Weg, auf den ein Maler wie Ludwig Ehrler nie verfallen ist.

Am Abend begab ich mich zur Georgengemeinde. Als ich kurz vor 19 Uhr dort eintraf, war der Saal bereits überfüllt. Mehr als 300 Leute waren gekommen. Die meisten zwischen 25 und 30 Jahre alt. Vor den ersten Stuhlreihen und um das Predigerpult herum hockten Jugendliche eng gedrängt im Schneidersitz auf dem Fußboden. Sie empfingen mich mit stürmischem Beifall. Als das Klatschen verebbte, stellte Pfarrer Hans-Joachim Hanewinckel mich vor und gab bekannt, dass ich zugunsten der Georgengemeinde »auf das Honorar in Form der Kollekte« verzichten würde (tatsächlich habe ich nie ein Honorar verlangt und auch keins bekommen). Wie bei allen meinen Auftritten legte ich mir auch vor den Hallensern keinerlei Zurückhaltung auf.

Praktische Aufklärung, wie ich sie verstand, musste sich in erster Linie bemühen, durch das persönliche Beispiel den Mythos einer allmächtigen Geheim-

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Einladungsplakat zur Buchvorstellung in Halle juni 1989

polizei provokant auf die Probe zu stellen und so zu entzaubern. Dass die Tschekisten nicht länger auf die Angst und das Duckmäusertum bauen konnten, musste man den Anwesenden durch eigene Unerschrockenheit vorführen (also den »Couragepunkt« anpiken, wie es Fontane genannt hat).

Ich war an diesem Abend bestens gelaunt. Der Funke sprang auch gleich über. »Henrich ist rhetorisch ungewöhnlich gut«, notierte einer der bestellten Lauscher anerkennend. Meine Worte fanden in der Georgengemeinde ein hörbares Echo. »Generell kann eingeschätzt werden«, heißt es dazu in der Operativen Information Nr. 141/89, »dass die Darlegungen bei den Anwesenden Zustimmung fanden, was durch Zwischenbeifall und die Art der Fragestellungen deutlich wurde.« Wie der Leiter der Kreisdienststelle, Oberstleutnant Thomas, am nächsten Tag nach Berlin kabelte, stellte ich »im Wesentlichen« ein Problem in den Mittelpunkt:

»Nicht die Arbeiterklasse herrscht, sondern die Partei durch den Staatssicherheitsdienst. Bis 1952 fand Herrschaft durch die Innenministerien der Länder statt, seitdem durch das Ministerium für Staatssicherheit. Durch diese Entwicklung sei ein System der ständigen Angst entstanden, auf dessen Basis der Staat (MfS) in alle Bereiche eindringt.«

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Tatsächlich war das die zentrale Aussage, die ich in der Georgengemeinde schonungslos begründete. Und ich bestand darauf, dass man das nicht mehr reparieren könne.

In allen denkenden Kreisen, wozu ich meine Zuhörer rechnete, wurde zwar die Staatssicherheit weiterhin gefürchtet, der übrige Staatsapparat jedoch meist nur noch belächelt. Die einander widersprechenden Anordnungen einer hilflosen Regierung - die keinen Ausweg aus der verfahrenen Lage fand - nahm niemand mehr ernst. Darüber spottete ich vergnüglich. Sich mit der in Wandlitz eingebunkerten Führungsclique auseinanderzusetzen, lohnte nicht. Ironisch beklagte ich, die aus ehemaligen FDJ-Kadern bestehende Seilschaft Honecker-Krenz-Schumann-Jahn hätte es darauf abgesehen, den Arbeiter-und-Bauern-Staat bis in die Grundmauern zu ruinieren, weshalb diese Nullen allein dem »Klassenfeind« dienten.

Tiefer greifend betrachtet ging es mir natürlich nicht vorrangig um die »Versorgungsmängel, den Zustand der Stadt Halle (Murmelbeifall), den Raubbau an der Natur oder die negative ökologische Entwicklung«, wie Oberstleutnant Thomas an die Zentrale meldete. Auch der »Rückzug des Staates aus dem Kultur- und Geistesleben sowie aus der Volksbildung« und aus »der Versorgungswirtschaft (Betriebe unter 2000 Belegschaft) und Landwirtschaft«, den ich in Halle nachdrücklich forderte, war nicht mein Hauptanliegen. Entscheidend für mich waren in erster Linie die Aufbegehrenden, die ihrem Lebensvollzug endlich eine freiere Wendung geben wollten. Während noch im Jahr zuvor kaum eine Kundgebung der Opposition, keine illegale Broschüre, kein Aufsatz im Samisdat die Leute aufrütteln oder in ihrem Verhalten erkennbar beeinflussen konnte, vermochte jetzt eine Protestveranstaltung wie die in der Georgengemeinde zum Ereignis zu werden. Die Aufmüpfigkeit und das moralische Gewissen der Menschen waren nicht so übermüdet und ausgelaugt, wie ich manchmal befürchtete.

Es gab keinerlei Fremdheit, keine ideologische Kluft zwischen mir und den Hallensern. Wir teilten das gleiche Schicksal. Was uns an jenem Abend einte, war ein spürbares Verlangen nach Klärung und Er-

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kenntnis, welches tiefer ging und keine Schwarz-Weiß-Malerei ertragen mochte. Die Menschen wollten keineswegs, dass man ihnen nach dem Munde sprach. Nur so kann ich mir die Zustimmung erklären, die ich immer wieder bekam, wenn ich meine Hörer direkt darauf hinwies, dass jeder von ihnen - und ich auch - an der Misere unseres Gemeinwesens seine Aktie hätte. Gefragt, »wie der Unmündige sich aus seiner Lage lösen« könne, antwortete ich laut Protokoll: »Es gehören immer zwei dazu, einer, der bevormundet und einer, der sich bevormunden lässt.« Das hört sich banal an, wenn man es heute liest. Für mich war aber das selbstkritische Einvernehmen, welches ich damals erlebte, ein hoffnungsvolles Anzeichen dafür, dass die Menschen Verantwortung für den Zustand ihres Landes übernehmen wollten. Mit Händen und Füßen wehrte ich mich gegenüber jedem, der mich als Kronzeugen dafür vereinnahmen wollte, dass alles Unrecht und Böse von den Tsche-kisten verursacht sei, während jedwede Gerechtigkeit und Wahrheit auf das Konto der Unterdrückten und Bürgerrechtler verbucht werden sollte. Nein, eine so einseitige Bilanz habe ich nie erstellt. (»Man stuft sich ein durch das, was man als Feindschaft anerkennt und wie man mit dem >Feind< umgeht.« Heute wie damals ist Jacob Taubes' Maxime brauchbar für die Sicht auf jede Gegnerschaft.)

Die Stimmung in der Georgengemeinde war erkennbar beeinflusst durch das zwei Wochen zuvor von der KP Chinas angerichtete Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Wie jeder wusste, waren dort Panzer über friedliche Demonstranten hinweggerollt. Und Krenz entblödete sich nach einem Staatsbesuch im Reich der Mitte nicht, dieses schreckliche Drama mit seinem Gerede noch politisch zu rechtfertigen. Da ich an eine solche Barbarei in der DDR nicht wirklich glaubte - dazu waren unsere Kümmerlinge viel zu hasenfüßig -, bemühte ich mich darum, kein Öl in das Feuer der überreizten Atmosphäre zu gießen.

Auf die Frage, »ob China-Ereignisse« in der DDR zu befürchten seien, wies ich ausweislich des Protokolls darauf hin, dass nach meiner Einschätzung ein »Staat in Mitteleuropa aus vielerlei Gründen, vornehmlich ökonomischer Art, nicht in der Lage sei, seine Macht so unverhüllt zu demonstrieren«. Dass es konkrete Pläne zur Niederwerfung von Aufständen gäbe, verstünde sich hingegen von selbst.

Ob die bewaffneten Kräfte sie aber exekutieren würden, hänge davon ab, wie sich unser aller Protest in der Öffentlichkeit entfalten würde. Die Operative Information Nr. 141/89 dokumentiert nicht nur zu diesem Punkt meine Antworten, sie vermerkt auch den Wortwechsel in der Georgengemeinde über die Art und Weise, wie man sich gegen die Politik der SED wehren müsste. Als Ausweg nannte ich »das Beispiel Polen, wo sich die Arbeiterklasse in der Solidarnosc eine unabhängige Vertretung geschaffen hat«, und verwies auf die »Leipziger Demonstrationen«.

Als ich in Halle dazu aufrief, sich in der genannten Art zu organisieren, ging ich natürlich von der naheliegenden Kalkulation aus, dass unsere Politbürokraten sich nicht mehr trauen durften, als ihnen die Kremlherren erlaubten. Dass der Warschauer Pakt und damit der ganze Sozialismus sowjetischer Prägung bereits ein Jahr später auf dem Müllhaufen der Geschichte landen würde, damit rechnete ich freilich nicht. Entsprechend kleinmütig fielen meine Anmerkungen zum Verhältnis der beiden deutschen Staaten an diesem Abend aus. Wie nachzulesen ist, habe ich aber immerhin zur Freude meiner Zuhörer, anknüpfend an meine Überlegungen im »Vormundschaftlichen Staat«, die »Möglichkeit föderalistischer Strukturen mit dem Ziel der Annäherung« als Antwort auf die deutsche Frage hervorgehoben.

Ich erwähne dies deshalb ausdrücklich, weil bis heute behauptet wird, eine Vereinigung beider deutscher Staaten habe für unsereinen jenseits des Vorstellungshorizonts gelegen. Gewiss hielten viele Aktivisten der ersten Stunde die Zweistaatlichkeit für ebenso unveränderlich wie die Eigenstaatlichkeit Österreichs. Sie waren etwa so wie Jochen Tschiche davon überzeugt, »die deutsche Teilung sei eine Folge der deutschen Schuldgeschichte«. Und wer daran rüttele, der störe »die empfindliche Balance der Mächte in Europa«. Anfangs schien dieser Glaube geradezu in Stein gemeißelt. Das änderte sich aber schon auf dem ersten Delegiertentreffen des Neuen Forums, wo die Verteidiger der Zweistaatlichkeit zur Kenntnis nehmen mussten, dass sich 80 Prozent der Stimmberechtigten klar zur Einheit Deutschlands bekannten. Infrage gestellt wurde die getroffene Abstimmung später leider immer wieder durch die von der Presse dem Neuen Forum zugerechneten Nörgeleien Bärbel Bohleys, die sich damit nicht abfinden wollte.

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Gründertreffen des Neuen Forums in Grünheide

»Und David tat seine Hand in die Tasche und nahm einen Stein daraus

und schleuderte ihn und traf den Philister an der Stirn, dass der Stein

in seine Stirn fuhr und er zur Erde fiel auf sein Angesicht. «

1. Buch Samuel 17,49

Ein Signal zur landesweiten Erhebung war überfällig. Aber wie machte man Revolution im sozialistischen Deutschland? Alles hing jetzt davon ab, ob wir auf die angespannte Erwartungshaltung am 9. September, dem Tag unseres Treffens, eine passende Antwort finden würden. Doch was konnten wir unseren Mitbürgern sagen? Dass der sich über Ungarn vollziehende Exodus unersetzbarer Spezialisten und junger Fachkräfte der volkseigenen Wirtschaft ihre letzte Substanz raubte? Dass die Greise in Wandlitz keine Spur von Einsicht erkennen ließen, so als existierte die täglich anschwellende Fluchtbewegung überhaupt nicht? Wir mussten die Lage beurteilen und einen Ausweg zeigen.

Bevor sich die späteren Erstunterzeichner an jenem Sonnabend in Grünheide trafen, überzeugte ich einige von ihnen, dass es aus taktischen Gründen wichtig sei, wenn wir uns in dem geplanten Aufruf ausdrücklich auf eine Verordnung vom 6. November 1975 über die Gründung und Tätigkeit von Vereinigungen berufen würden. Beim Erlass dieser weitgehend unbekannten Vorschrift hatten die Ministerialen nur daran gedacht, Kaninchenzüchtern oder Briefmarkensammlern eine rechtliche Grundlage für die Ausübung ihrer Hobbys bereitzustellen. Die Gründung eines politischen Vereins lag hingegen gänzlich jenseits ihres Vorstellungsvermögens, war deshalb auch nicht ausgeschlossen worden. Durch die Bezugnahme auf diese im Gesetzblatt veröffentlichte Norm hoffte ich den legalitätshörigen DDR-Bürgern ihr gutes Gewissen zu bestätigen. Sie könnten sich darauf berufen, wenn sie bei uns mitmachten, sich nicht außerhalb der sozialistischen Gesetzlichkeit

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zu bewegen. Um den eisernen Reifen der Legalität zu sprengen, welcher vielen Menschen jede Luft zum Atmen nahm, wollte ich sie unbedingt als mutige Verteidiger des Rechts ansprechen.

»Man muss legal arbeiten« - diese Empfehlung des Mac Heath, des Führers der Gaunertruppe in Brechts »Dreigroschenroman«, an seine Leute hielt ich für die geeignete Taktik, um mit dem geringsten Risiko den größtmöglichen Aufruhr anzuzetteln. Dabei war ich mir völlig klar darüber, dass Honecker und Mielke, für die ja die Frage der Macht nicht verhandelbar war, in diesem Punkt, nämlich angesichts einer gegen sie praktizierten Legalität, keinen Spaß verstehen würden. Johannes R. Bechers Mahnung Seid euch bewusst erinnerte sie ja ständig daran: Die Macht ist euch gegeben,/Dass ihr sie nie, nie mehr/Aus euren Händen gebt! - Aber gerade weil sie nur gelernt hatten, die Richtlinien ihrer Politik mit dem Knüppel des Strafrechts und unter Einsatz ihrer Geheimpolizei zu exekutieren, musste man sie listig weiter in jenen Widerspruch hineinlocken, der inzwischen für jedermann sichtbar durch das Auseinanderfallen von Legalität und Legitimität in der DDR aufgebrochen war. Dazu konstatierte Jens Reich in seinem Wendetagebuch: »Es hat sich später herausgestellt, dass die genaue Befolgung dieses Konzeptes den großen Erfolg des Neuen Forums - vor dem 9. November - ermöglichte.«

Grünheide war in jenen aufregenden Septembertagen sicher der geeignetste Ort, um eine basisdemokratische Front zu proklamieren. Wir tagten dort außerhalb der aus bezirklicher Sicht stets misstrauisch beäugten Hauptstadt. Und der Genius loci, der das am Möllensee gelegene Havemann-Grundstück auszeichnete, verlieh der Wahl dieser Lokalität von vornherein den Anstrich einer Kampfansage. Hier hatte ja der Nestor des DDR-Widerstands trotz Hausarrest und jahrzehntelanger Überwachung unterstützt von Katja unverdrossen seine die Potentaten im Olymp des Politbüros erschreckenden Böller krachen lassen. Ich fuhr am frühen Samstagvormittag in der Burgwallstraße bei schönstem Wetter vor. Meinen Lada parkte ich demonstrativ vor Ha-vemanns Grundstück. Sommerliche Temperaturen und ein strahlend blauer Himmel luden die kurz nacheinander pünktlich eintreffenden Gründungswilligen dazu ein, sich unter den von hohen Brennnesseln

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gesäumten Erlen oder auf dem hauseigenen Bootssteg bekannt zu machen. Wie ich schnell herausfand, bildeten Ärzte die größte Berufsgruppe unter denen, die unserer Einladung gefolgt waren. Das war schon mal gut, denn Ärzte genossen ein hohes Ansehen. Zusammen mit den anderen, darunter Physiker, Bauingenieure, Betonfacharbeiter, Pfarrer, Musikerzieher, Studenten, Fotolaboranten, Heimerzieher, war die soziale Zusammensetzung jedenfalls so, dass es den Parteipropagandisten schwerfallen dürfte, uns als Außenseiter oder gar Spinner zu verunglimpfen. Es kamen überwiegend Leute, die das für sie Mögliche eines bürgerlichen Lebens in der DDR erreicht hatten.

Punkt zehn versammelten wir uns im hinteren Gartenhaus, wo Bohleys Töpferwerkstatt untergebracht war. Nicht alle saßen auf ihren Stühlen, einige standen noch mit der Kaffeetasse in der Hand, zeigten Ungeduld. Es war wie beim christlichen Pfingsttreffen: ein Verschwörerzirkel in Erwartung des Außerordentlichen. Bärbel mahnte gleich zur Eile. Sie wartete gar nicht erst ab, bis jeder seine Lageeinschätzung vorgetragen hatte, sondern meinte erregt, wir dürften keine Zeit verlieren und sollten gefälligst den verabredeten Aufruf formulieren. Nachdem wir uns zu diesem Zweck in zwei Arbeitsgruppen geteilt hatten, ging der Hickhack aber gleich los. Die Debatte über den Inhalt unseres Appells zerfaserte nach wenigen Minuten in eine vielstimmige Kontroverse.

Rudolf Tschäpe und Reinhard Meinel glühten für den wahren Sozialismus. Sprachen über die Unfähigkeit, Verbohrtheit und den Amtsmissbrauch der Bonzen. Sie wollten vor allem den Einfluss der SED auf die Wirtschaft beschneiden. »Nicht das Parteibuch - der Sachverstand muss ausschlaggebend sein, ob einer im Betrieb Leiter ist«, betonte Tschäpe mehrfach. Reinhard Schult gab den rätedemokratischen Proletarier; er fragte, ob wir nicht auf die einmalige Chance einer Arbeiterselbstverwaltung hinweisen sollten. Unerwartet nahm Lutz Stropahl, ein Gesangslehrer, das Wort. Er trat bescheiden auf, verfocht aber konsequent die Dreigliederungsidee Rudolf Steiners. Ich selbst und die anderen beharrten darauf, dass die Arbeiter und Angestellten erst einmal befragt werden müssten. Wir verteidigten den basisdemokratischen Gedanken, man dürfe die Menschen angesichts des katastrophalen Zustands der DDR im Interesse ihrer eigenen Mündigkeit jetzt nicht entlasten, sondern müsse ihnen Verantwortung und Selbstbestimmung zumuten, damit sie erst einmal freie Sicht auf das verstellte und verbaute Feld des Politischen bekämen.

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Tschiche hielt unsere ganze Debatte für überflüssig. »Die haben uns doch sowieso nichts mehr entgegenzusetzen! Sie werden knurren und jammern und schimpfen, was weiß ich. Aber die sind so am Ende -politisch und ökonomisch und moralisch!« Jochen wollte möglichst schnell einen landesweiten Aufstand entfachen, der das Land von der SED-Herrschaft ebenso befreien sollte, wie die Französische Revolution Frankreich vom Königtum erlöst hatte. Und verdammt noch mal, er hatte recht! Es ging an diesem Tag in Grünheide ja wirklich einzig und allein um die Initialzündung der Revolte. Tschiche stand da, schaute spöttisch lächelnd durch seine dicken Brillengläser, den linken Arm angewinkelt, mit einer Zigarette in der Hand. Ungeduldig beobachtete er, wie die Streithähne sich abrackerten, eine vorläufige Linie gemeinsamen öffentlichen Handelns festzuschreiben - aber die ließ sich so leicht nicht finden.

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Es war nicht dem Zufall geschuldet, dass just im ersten Moment physischer Erschlaffung Jens Reich und ich uns meldeten. Ohne dass wir uns abgestimmt hätten, waren wir beide mit einem ausformulierten Aufruf angereist. Hätten wir unsere Entwürfe eher vorgelegt, sie wären vermutlich in Grund und Boden gestampft worden. Als sich nach einer ersten Pause der klassenkämpferische Reinhard Schult und der anthroposophisch argumentierende Lutz Stropahl sehr gegeneinander versteiften, war der geeignete Zeitpunkt gekommen, unsere Texte vorzulesen. Jens las seinen zuerst vor: Von der hohen Warte seiner Sicht aus gesehen war die gestörte Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft die Ursache allen Übels. Das war zwar nicht sehr konkret, aber auch nicht falsch. Was dann kam, klang jedoch etwas weltfremd: »Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmtem Wachstum.«

Ich hatte wirklich Mühe nicht loszuprusten, denn ein ungehemmtes Wachstum gab es ja in der DDR gar nicht. Die Produktivität der volkseigenen Wirtschaft war erbärmlich. Je weiter Jens vortrug, desto wolkiger wurde sein vorgeschlagener Weg der Erneuerung. Aber es klang toll. »Wir wollen freie, selbstbewusste Menschen, die doch gemeinschaftsbewusst handeln.« Wer hätte da widersprechen können? Bärbel Bohley strahlte bei dieser Hymne übers ganze Gesicht. Das war genau die Tonart, die sie liebte. »Ich finde, Professor Reich hat so einen schönen Text vorgelesen, wir brauchen das nicht weiter zu besprechen, der ist gut«, juchzte sie. »Viel zu sagen haben wir ja nicht, wenn wir nur an das Gewissen der Leute appellieren«, stichelte Tschiche, der mir ein bisschen unzufrieden schien mit dem mageren Ergebnis.

Im Rückblick ist mir Jens Reichs moralisierender Appell etwas peinlich. Er eignete sich jedoch perfekt als Präludium für das, was ich in unserem Aufruf unterbringen wollte. Und das gerade deshalb, weil seine Schwarm­geistereien keinerlei parteipolitische Bindung erkennen ließen. Das Wort Sozialismus kam darin nicht mehr vor! So konnte ich problemlos eine von mir vorgefertigte Textpassage an das anschließen, was er formuliert hatte.

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Jens Reichs Beitrag zu dem veröffentlichten berühmten Appell »Aufbruch 89 - NEUES FORUM« sind also die ersten drei Absätze (bis: »Wir wollen an Export und Welthandel teilhaben ...«), während ich den darauffolgenden Abschnitt beigesteuert habe. Darin geht es um die Dringlichkeit eines basisdemokratischen Aufbruchs, einer landesweiten, sich permanent infrage stellenden und selbstverantworteten Praxis, mit der die verstreuten Untergrundaktivitäten überwunden und mit den Unzufriedenheiten aller Veränderungswilligen zusammengeführt werden sollten.

»Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen.«

Wieder nur harmlose Sprüche, könnte man meinen. Ausgedacht von einem Weltverbesserer, der das Klima entgiften und eine demokratische Bewegung auf der Basis einer Volksaussprache ins Leben rufen wollte. Aber ich hatte durchaus mehr im Sinn. Die Sprengkraft, welche in meiner Wortwahl steckte, ist vermutlich den meisten Unterzeichnern unseres Appells erst nachträglich aufgefallen, als das Schriftstück bereits in der Öffentlichkeit kursierte. Jens Reich hat die darin enthaltene Pointe im Rückblick kommentiert:

»Das Wort >Plattform< will mir gar nicht mehr gefallen. Rein stilistisch. Rolf Henrich hat es eingebracht, und es zeigt, dass er einst SED-Mitglied war und die Vergangenheit der kommunistischen Bewegung gut kannte. >Plattformbildung< wurde schon unter Lenin verdammt und war das schlimmste Vergehen. Es war der Bannstrahl, mit dem man Freiheit und Leben verwirkt hatte.«

Tatsächlich war das für mich ein wichtiger Punkt! Durch die von mir gewählten Worte bekam unser Aufruf bei aller Harmlosigkeit eine umstürzlerische Zuspitzung, die sich weniger durch ein überlegenes Argument als durch einen entschlossenen Willen auszeichnete. Plattformbildung signalisierte für Leninisten schließlich unübersehbar, dass hier jemand die Machtfrage stellte! Als Sünder gegen den Heiligen Geist der sozialistischen Glaubensgemeinschaft musste die SED uns angesichts einer solchen Kampfansage, ob sie es wollte oder nicht, ernst nehmen. Tat sie es nicht, hatte sie keine Macht mehr.

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Gründungsaufruf des Neuen Forums, September 1989

Parteipolitiker wie Ibrahim Böhme, Martin Gutzeit und Markus Meckel haben sich später damit gebrüstet, sie hätten mit ihrer Gründung der SDP erstmalig die Machtfrage gestellt. Sie waren aber nur Nachzügler. Denn die Bresche in das konformistische Schweigen schlug das Neue Forum. Es wurde nicht nur zum Magneten, sondern auch zum Motor und Rammbock des Umbruchs, unermüdlich drängend, zu Aktionen treibend, und es war diese bis zum Jahreswechsel von keinem Rückschlag je beeinträchtigte Entschlossenheit, die es gegenüber anderen anfangs oft mutlosen Neugründungen auszeichnete.

Die für die Bekämpfung des politischen Untergrunds Verantwortlichen konnten sich die durch unseren Appell »Aufbruch 89 - NEUES FORUM« in kürzester Frist ausgelöste Mobilisierung Hunderttausender wahrscheinlich genau so wenig vorstellen wie wir Erstunterzeichner. Sie haben jedenfalls keinerlei Vorkehrungen getroffen, um unser Treffen am 9./10. September zu unterbinden. Und das, obwohl ihnen bereits im August, wie die archivierte »Information über die beabsichtigte Bildung einer Vereinigung Demokratisches Forum« beweist, Ort und Zweck der verabredeten Zusammenkunft bekannt gewesen sind. Lese ich heute diese Information, dann war ich seinerzeit in den Augen des MfS offenbar so eine Art Spiritus Rector des geplanten Unternehmens:

»In wesentlichen Teilen sind die Vorbereitungshandlungen und die beabsichtigten Ziele eine konspirative Fortsetzung von Henrichs strategischer Linie, welche er in mehreren Veranstaltungen in der Hauptstadt der DDR, Berlin, und in weiteren Städten der DDR offen zum Ausdruck gebracht hat. Vielfach betonte er die Notwendigkeit und die durch das Vereinigungsgesetz gegebene legale Möglichkeit des Zusammenschlusses oppositioneller Personen und Gruppen, um die Auseinandersetzung mit dem Staat zu führen.«

Heute kann ich nur den Kopf schütteln, wenn ich die in diesem Bericht aufgelisteten Maßnahmen lese, mit denen die Strategen des MfS das politische Wirken der sich auf Havemanns Grundstück Versammelnden beeinflussen wollten. Durch einen »gezielten IM-Einsatz« sollte unser Treffen »unter Kontrolle« gehalten werden. Tatsächlich gab es in Grünheide an beiden Tagen unter uns den IM »Paule«, den Martin Böttger mitgebracht hatte, obwohl an den gar keine Einladung ergangen war. Weiterhin sollte unser geplantes »Konsenspapier« dokumentiert und rechtlich eingeschätzt werden, »um eine Parteiinformation zu fertigen, mit dem Ziel der Sicherung einer einheitlichen Argumentation und Haltung bei Versuchen, entsprechende Vereinigungen anzumelden.« Das war alles.

Glaubten die Tschekisten wirklich, uns so stoppen zu können? Alles, was recht ist, zum Fürchten war ein solcher Dienst nach Vorschrift nun wirklich nicht mehr. Leider hatten wir Anfang September aber überhaupt nicht begriffen, dass selbst die Staatssicherheit schon morsch in allen ihren Gliedern war! Heute mag alles ganz harmlos klingen. Der Rückblick auf den Weg des durch das Neue Forum eingeläuteten breiten Widerstands täuscht aber allzu leicht darüber hinweg, dass in ihm -objektiv gesehen - vieles als gefahrlos und durchsichtig erscheint, was unterwegs durchaus ängstigend und dunkel gewesen ist.

Am Sonntag besprachen wir noch organisatorische Einzelheiten. Bärbel und Katja sollten dafür sorgen, dass unser Aufruf an die DDR-Nachrichtenagentur ADN und erst danach an möglichst viele Westkorrespondenten weitergeleitet wurde. Wir tauschten unsere Adressen und Telefonnummern aus. Während meiner Heimfahrt von Grünheide nach Hammerfort malte ich mir, beflügelt vom Narrenspiel der Hoffnung, all die landesweiten Reaktionen aus, die der von uns soeben verfasste Aufruf vermutlich zeitigen würde.

Es ergriff mich auf der Autobahn (heute ist dieser Streckenabschnitt ausgeschildert als »Autobahn der Freiheit«) zum ersten Mal das Gefühl, in der Gemeinschaft der Gründer des Neuen Forums wirklich etwas politisch Nützliches für die Menschen in der DDR vollbringen zu können. Alle meine neuen Mitstreiter hatten schließlich, dokumentiert durch ihre Unterschrift und die Angabe ihrer Adresse, den Schutz eines geordneten, karrierefördernden, gesetzestreuen Daseins spätestens an diesem Wochenende endgültig aufgegeben, weil sie nicht das Leben von Duckmäusern führen wollten.

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