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Tollereien am Rande des Staatsbankrotts

 

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Mit ihrer lächerlichen Behauptung, wir hätten genügend Foren und zugelassene Organisationen, in denen jederzeit ein Dialog geführt werden könne, stachelten die SED-Propagandisten Ende Oktober noch einmal die Gemüter aller Unzufriedenen an. Die aufdringlichen Beteuerungen über ihre neuerdings entdeckte Liebe zu einem Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften erschienen auch mir nach all den Jahren, in denen die Meinungs- und Pressefreiheit keinen Pfifferling wert war, als reine Heuchelei.

Nicht anders sahen es die meisten Leute um mich herum. Sie hatten die Wahlbetrügereien im Frühjahr nicht vergessen und spürten, dass man sie erneut an der Nase herumführen wollte. Auf die erhobene Anschuldigung, doch nur unter Ausschluss des Neuen Forums eine Scheindebatte anzetteln zu wollen, reagierte die SED diesmal aber taktisch geschickt, indem sie zum Gespräch einlud. Ich selbst nahm am 3. November zusammen mit Renate Schubert und weiteren Aktivisten an einer Besprechung mit jener Christa Zellmer teil, die als Mitglied des Zentralkomitees noch im April prophezeit hatte, die Geschichte werde über den Verräter Henrich wie über seinesgleichen hinweggehen.

Um jeden Anschein einer Anbiederung an den Parteiapparat zu vermeiden, hatte ich unsere kleine Abordnung auf einen kurzen Forderungskatalog eingeschworen: Wir würden ein eigenes Papierkontingent mitsamt Druckkapazität oder ausreichend Platz in der Bezirkszeitung »Neuer Tag« verlangen. Um böswillige Zungen davon abzuhalten, uns der Kungelei zu bezichtigen, reiche das aber nicht aus, sagte ich, weshalb wir als Erstes das Sekretariat der SED-Bezirksleitung auffordern müssten, sich umgehend bei der Regierung für die Einrichtung eines kleinen Grenzverkehrs mit Westberlin einzusetzen. Als ich dies am 3. November unter Hinweis auf die bürgerlichen Freiheitsrechte begründete, starrten Christa Zellmer und ihre Genossen mich ungläubig an. Es seien ja Reiseerleichterungen geplant, deshalb sei eine solche Initiative überflüssig, entgegneten sie mir pikiert.

Kaum eine Woche später gab es die Berliner Mauer, die wir soeben noch durchlöchern wollten, nur mehr auf dem Stadtplan. »28 Jahre Wohnhaft sind heute zu Ende gegangen durch eine unbedachte Äußerung des übermüdeten Schabowski«, schrieb ich in mein Tagebuch. Heidelore weinte Freudentränen. »Jetzt braucht Falk nicht mehr abzuhauen«, schluchzte sie.

Man musste kein Stratege sein, um nach dem Mauerfall zu merken, dass der aus anfänglichen Meinungen und Motiven geschmiedete politische Konsens, an dem sich die landesweit operierenden Gliederungen des Neuen Forums mal orientiert hatten, inzwischen von Woche zu Woche stärker zerfaserte. So etwas wie eine Generallinie gab es nicht mehr. Jeder machte jetzt Politik auf eigene Faust. Zwar schweißte die Wut auf den Staats­sicher­heitsdienst alle Aktiven noch immer zusammen. Was man aber außer der Zerschlagung dieser Behörde sonst anstrebte, hing von den Vorlieben und Launen konkurrierender Wortführer ab.

Die bei mir täglich den Briefkasten verstopfenden Aufrufe, Petitionen, Presseerklärungen und Flugblätter bildeten das Durcheinander gut ab. Die Freunde in Dresden wollten eine Volksabstimmung über den Führungsanspruch der SED veranstalten. Weimarer Menschenrechtler verbreiteten eine an Amnesty International und die westdeutsche Presse gerichtete Erklärung, um unserer Parteispitze nach deren Stellungnahme zu den Vorkommnissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens »ihre eigenen Lügen und Vertuschungen vor Augen« zu führen. In der Chemnitzer Johanniskirche riefen Vorwärtsdrängende für den 6. Dezember zum landesweiten Generalstreik auf. Und Waren (Müritz) wendete sich mit einem »Aufruf in eigener Sache« an die Koordinierungsausschüsse in Berlin und den Bezirken. »Entscheidet mit über die Profilierung des NF zur Partei«, hieß es darin.

Wie die Verfasser solcher Botschaften dachten, kam sehr drastisch in einem an »alle ehrlichen Parteimitglieder der SED« gerichteten Schreiben aus Berlin-Hönow zum Ausdruck, das mit den Worten endete: »Der Aufruf ist nicht mit dem Sprecherrat des Neuen Forums abgestimmt worden. Auch das verstehen wir unter Demokratie.«

Die Hönower hätten genauso gut sagen können, weil ihr euch im Sprecherrat selber nicht abstimmt, sehen wir dafür ebenfalls keine Veranlassung.

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Denn so war es leider. Meine Parteigänger in diesem Gremium verhielten sich ja nicht einen Deut klüger als sie. Was ihnen gerade im Kopf herumspukte, trompeteten sie postwendend in die Welt.

Schlagzeilen für die Presse, den Rundfunk oder das Fernsehen zu produzieren, hielten sie für Politik. Unter der Überschrift »Atomteststopp jetzt!« verlangte Sebastian Pflugbeil in einer unabgestimmten, aber natürlich namens des Neuen Forums großspurig an diplomatische Vertretungen gerichteten Erklärung, dass »alle Staaten, die Atomwaffen besitzen oder sie besitzen wollen«, sofort auf ihre Waffentests verzichten. Oh je! Sicher war das gut gemeint. Nur, wer unter den Atommächten interessierte sich für Pflugbeils Forderung?

Traumtänzer wie ihn gab es allerorten. Ihre Anliegen waren mir gar nicht unsympathisch. Aber sie lenkten ab von den akuten Problemen. Wen die Sorge um die Rettung der Welt umtrieb, der brauchte sich natürlich keine Gedanken über den Verfall unserer Städte oder die ramponierte Wirtschaft zu machen. Von den seelischen Verwüstungen ganz zu schweigen.

In der ohrenbetäubenden Kakofonie jener Tage war Bärbel Bohleys Stimme die schrillste. Wie sie ihre Herzensanliegen öffentlichkeitswirksam zelebrierte, da konnte ich nicht mehr mithalten. Selbstherrlich und ohne jede Rücksicht darauf, wie die sächsischen oder thüringischen Mitglieder des Neuen Forums darüber dachten, forderte sie alle in Hamburg von Abschiebung bedrohten Sinti und Roma auf, schnellstmöglich in die DDR zu kommen. Ob sie diesen armen Menschen überhaupt Unterkünfte und den Schutz bieten konnte, den sie wünschten, kümmerte Bärbel nicht weiter. Wie andere Gesinnungsathleten erwartete sie, dass die Zustände sich zwangsläufig bessern würden, wenn man nur laut genug für das »Gute« eintreten würde.

Alles spielte sich auf der Ebene irgendwelcher Verlautbarungen ab. Ich hatte größtes Verständnis dafür, dass die Wortführer der neu entstandenen Basisgruppen nach Jahrzehnten erzwungenen Schweigens erpicht darauf waren, das Recht der freien Rede wahrzunehmen. Nur leider untermauerte kaum jemand das Gesprochene durch Taten. Aber wie stellte sich die Lage nun für mich dar?

Als ich in Grünheide über die Taktik des Neuen Forums und legalistische Formen des Widerstands gesprochen hatte, schien es mir überflüssig, allzu viel darüber zu orakeln,

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wie wir uns entscheiden müssten, wenn die Partei- und Staatsmacht ins Straucheln kommen würde.

In meinen kühnsten Träumen hatte ich ja nie, so wie keiner der Erstunterzeichner unseres Gründungsaufrufs, mit einer Blitzpartie gerechnet. Auch ich habe die Partei- und Staatsmacht überschätzt. Jetzt aber lag, nach wochenlanger Kritik der Regierung und der Anheizung des Massenprotests im ganzen Land, die Krone auf der Straße! Und die Demonstranten übersetzten den Volkswillen immer lauter in die Losung »Neue Männer/Frauen braucht das Land!« Womit sie zweifellos die Neuen Kräfte meinten. Sie warteten auf das Wunder einer Führungsmannschaft, die sie endlich aus der Umklammerung durch die verhasste Funktionärsschicht befreien würde.

Es gab in dieser historisch einmaligen Situation eigentlich nur eine Antwort. Wir hätten eine landesweite Akklamation des Volkswillens organisieren müssen! Hans Modrow, der am 18. November scheinheilig ankündigte, er wolle von nun an demokratisch regieren, und mit ihm all den Bonzen im Ministerrat, in den Ministerien und im Staatsrat, die sich an ihre Posten klammerten und das Staatsruder nicht aus der Hand geben wollten, hätten wir dreist ins Gesicht sagen sollen: »Verschwinden Sie, Sie haben abgewirtschaftet!« Es wäre ein Leichtes gewesen. Wer hätte uns denn nach der Leipziger Montagsdemonstration im Oktober und dem Fall der Mauer daran hindern können, vor die Mikrofone und Kameras zu treten und den korrupten Partei-, Staatsund Sicherheitsklüngel für abgesetzt zu erklären? Modrow hatte doch nichts weiter zu bieten als eine den drohenden ökonomischen Kollaps aufschiebende, konzeptionslose Politik. Er warf nur einen Schatten von Freudlosigkeit über die ganze DDR. Der Staatsapparat wäre nach einer Entmachtung der Spitze hundertprozentig weiter funktionsfähig geblieben. Politisch Verantwortliche in die Wüste zu schicken, bedeutete ja nicht automatisch, alle Ämter auszufegen oder auf die Fachleute in der Verwaltung zu verzichten.

Ich war zwar noch davon entfernt, von einem Sieg auf ganzer Linie zu reden, aber ich hatte durchaus das Gefühl, dass sich die Machtverhältnisse gravierend verschoben hatten. Es war an der Zeit, das Chaos zu klären. Ich versuchte, mich mit den Delegierten der Bezirke und der Initiativgruppe darüber auszusprechen. Gemessen an den historischen

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Möglichkeiten, erinnerten mich leider die meisten Debatten an das Witzbild der drei Chirurgen widerstreitender Schulen, die sich für den vor ihnen liegenden todkranken Patienten nur nebenbei interessieren, während sie sich gegenseitig die Wichtigkeit ihrer ärztlicherseits favorisierten Behandlungsmethoden um die Ohren hauen. Jens Reich hat meine wiederholten Einsprüche wie folgt zusammengefasst: »Wir müssen zu Verhaftungen schreiten, meine Herrschaften! Verfassungsdiskussion, Rechtsstaat, Medien und Pädagogik, das ist jetzt alles zweitrangig. Wenn ihr etwas erreichen wollt, dann müsst ihr den Generalstaatsanwalt und den Innenminister übernehmen. Alles andere ist Geschwätz!« Mit diesem - ungenau wiedergegebenen - Vorhalt, mit dem ich die Machtfrage thematisieren wollte, bäumte ich mich gegen die Unfruchtbarkeit der wankelmütigen und sich gern auf Nebenschauplätzen tummelnden Redner im Sprecherrat und der Initiativgruppe auf. Wenn wir schon die Regierungsverantwortung scheuten, so mein Kalkül, sollten wir wenigstens den Kampf mit der Staatssicherheit konsequent ausfechten.

Worauf ich abzielte, war Folgendes: Anklagen und einsperren müss-ten wir nur die Generale des Ministeriums, da sie den Machtapparat ungesetzlich weiterhin operativ gegen die Neuen Kräfte einsetzten. Sie konspirierten inzwischen ja jenseits der neuen DDR-Legalität. Ihre angebliche Abkehr von der »verfehlten Sicherheitsdoktrin« Mielkes, die sie am 21. November vollmundig postulierten, betrachteten die Herrschaften schließlich immer noch als Scheinmanöver, denn die »Inspiratoren, Organisatoren sowie die anderen Führungskräfte« des Widerstands wollten sie, hinter ihren Akten und Registern verschanzt, wie ihre heute zugänglichen Planungen beweisen, nach wie vor kaltstellen. Niemand gab sich diesbezüglich Illusionen hin. In diesem Punkt herrschte Klarheit. Obwohl wir die Dokumente nicht kannten. Alle Mitarbeiter des MfS zu »internieren«, wie Wolfgang Schwanitz uns am 7. Dezember unterstellte, daran dachte jedoch kein Mensch. Und ich schon gar nicht. Mir lag daran, die Geheimen zum Überlaufen zu ermutigen.

Für mich war jene von Jens Reich ungenau zitierte Ansprache an meine Freunde nur eine dem neuen Parallelogramm der Kräfte entsprechende Minimalforderung. Seit dem 13. November skandierten ja die Demonstranten »Macht dem MfS endlich den Prozess«.

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Und die Erwartungen der Leipziger an die Führung des Neuen Forums waren diesbezüglich keine leere Rhetorik. Mir persönlich wurde »mit der Bitte um Rechtsbearbeitung« eine Anklageschrift aus Leipzig überbracht, in der unter dem Titel »Wir sind das Volk und klagen an« die Bestrafung des Amts- und Machtmissbrauchs gefordert wurde. Illusorisch war das keineswegs. Bei den Staatsanwaltschaften häuften sich mittlerweile Anzeigen gegen die MfS-Generale. In den Amtsstuben der Bezirksverwaltung Frankfurt kursierte gar ein an die Leitung des Ministeriums adressiertes Papier, welches die Verhaftung Generalleutnant Neibers wegen Korruption forderte. Ich selber führte Gespräche mit dem Kommandeur der VP-Bereitschaft »John Schehr«. Und in Bärbel Bohleys Wohnung traf ich mich mit aus Dresden angereisten Stabsoffizieren der Nationalen Volksarmee und Dozenten der Militärpolitischen Hochschule »Wilhelm Pieck« in Berlin-Grünau, die für das NF eine zeitgemäße Sicherheits- und Militärdoktrin ausarbeiten wollten.

Bei diesen Treffen war mir eins klar geworden: Große Teile des Kaders der Volkspolizei und der NVA weigerten sich, die von ihnen befehligten Bataillone als Knüppelgarden gegen friedliche Demonstranten ins Feld zu führen! Das war in jedem Gespräch klar herauszuhören. Mit dem MfS wollten sie nicht mehr in einen Topf geworfen werden. Die daraus erwachsenden handfesten Möglichkeiten haben wir verschlafen! Als das Wachregiment des MfS in den ersten Dezembertagen meuterte und sich in den Kasernen ein Soldatenrat konstituierte, sprachen wir nicht einmal mit den Meuterern. Die geheimdienstliche Repressionsmaschinerie durch die Inhaftierung der Generalität schlagartig matt zu setzen, um so die durch Gerüchte und Verdächtigungen vergiftete Atmosphäre zu bereinigen und eine politische Linie in das Geschehen hineinzutragen, stieß bei den ewig Zögernden im Sprecherrat und der Initiativgruppe auf Ablehnung.

Mit solch einer Politik hätten wir den bequemen Pfad der Gewaltlosigkeit verlassen. Das gefiel den Stars unter den Neuen Kräften schon deshalb nicht, weil die Heldenrolle ihnen nur so lange behagte, wie sich die staatserschütternden Begebenheiten im Stile eines moralisch erbaulichen David-gegen-Goliath-Stücks entwickelten. Jetzt aber, da aus dem moralischen Lehrstück immer krasser die Umrisse eines über die Grenzen der DDR ausgreifenden gerissenen Machtspiels hervorzutreten begannen, in dem wir als Führungsriege des Neuen Forums eine höchst unsichere, vermutlich sogar undankbare Rolle hätten übernehmen müssen, erschien es den vormaligen Protagonisten des Aufbruchs besser, die Dinge treiben zu lassen. Es begann die Zeit für die Abwartenden und die Klugen. So nur kann ich mir die Tatsache unseres Zurückweichens vor der Größe des geschichtlichen Augenblicks erklären. Allein die Vertreter aus den Südbezirken - wie etwa Matthias Büchner aus Erfurt - unterstützten den durch mich unterbreiteten Vorschlag.

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Verlegenheitslösung Runder Tisch

In der am 2. Dezember im Französischen Dom durchgeführten Sitzung des Zentralen Sprecherrats versäumten wir die wohl letzte Gelegenheit, durch einen Appell an alle Basisgruppen in den Städten und Gemeinden - sie führten ja fast überall den Protest auf der Straße an - die mächtige Maschine der Volksrevolte auf den Sturz der Regierung zu lenken. Mit Corinna Münster, der späteren Direktorin des Arbeitsgerichts in Frankfurt, vertrat ich an diesem Tag den Bezirk Frankfurt (Oder). Elf weitere gewählte Bevollmächtigte waren angereist. Karl-Marx-Stadt, Cottbus und Magdeburg fehlten. Dafür saßen gleich neun Berliner Initiativgruppenmitglieder mit am Tisch. Bärbel Bohleys komplette Entourage.

Jens Reich kritisierte anfangs »den merkwürdigen Status der Initiativgruppe«. Die Sprecher aus den Bezirken seien gewählt. Im Gegensatz zu ihnen wären die Mitglieder der Initiativgruppe ohne jede demokratische Legitimation. Trotzdem hatte Bärbel - das ärgerte nicht nur mich - die Existenz dieses Gremiums immer wieder genutzt, um das, was sie gerade als politisch opportun empfand, ausdrücklich im Namen des Neuen Forums zu verbreiten. Das hatte zu einer schwierigen Lage für diejenigen geführt, die sich in ihren Bezirken deshalb ständig rechtfertigen mussten. Mit ihren täglichen Verlautbarungen und eigenwilligen Anbiederungen bei dem vom obersten Agentenführer zum Wendekopf der SED mutierten Markus Wolf und bei Gregor Gysi brachte sie alles durcheinander. Ja, sie spaltete mit ihren Kapricen das Neue Forum! Gegen den Mauerfall hatte sie mit den Worten gestänkert: »Die Menschen sind verrückt, und die Regierung hat den Verstand verloren.« Etliche Mitglieder des NF, die sich angesprochen fühlten, verabscheuten sie seither. »Von dieser Frau würde ich mich nicht mal malen lassen!« Wie oft musste ich mir das anhören. Vermutlich ging es, wie man im ND nachlesen konnte, innerhalb der SED inzwischen demokratischer zu als bei uns.

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Endgültig unterbunden wurde das selbstherrliche Gehabe Bohleys leider erst, als die gewählten Sprecher der Bezirke Karl-Marx-Stadt, Leipzig und Dresden in einer gemeinsamen Presseerklärung klarstellten, »dass die Bürgerinitiative Neues Forum keine ausschließlich linke Vereinigung darstellt« und Bärbel Bohley nicht berechtigt sei, Erklärungen im Namen des Neuen Forums abzugeben. Den Presseleuten gefiel das überhaupt nicht. Sie verbuchten weiterhin jeden Einfall, den Bärbel Bohley absonderte, auf das Konto des Neuen Forums.

Um die Mittagszeit herum, nachdem wir die organisatorischen Fragen des ersten Landestreffens in Leipzig, welches am 5. Januar 1990 stattfinden sollte, beraten hatten, begann die prinzipielle Debatte. Bernd Haupt, der Delegierte aus Suhl, wollte wissen, ob sich das Neue Forum zukünftig zu einer Partei entwickeln werde oder ob der Sprecherrat weiterhin den Status einer Bürgerbewegung empfehlen würde. Mehrheitlich hielten wir den Umbau des NF zur Partei für unangebracht.

Zwar wollten die meisten an der kommenden Wahl »als Vereinigung« teilnehmen, vor der Gründung einer Forums-Partei scheuten

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sie jedoch zurück. Schlagende Argumente dagegen trug eigentlich niemand vor.

Eher war es eine Art Aversion gegen den damit zwangsläufig verbundenen Parteibetrieb, die den Ausschlag gab. Ich selbst dachte dabei aber auch an die vielen basisdemokratisch gestimmten Aktiven, die sich uneigennützig für das Gemeinwohl aufopferten - und zwar ohne irgendein politisches Amt innezuhaben, ja, ohne an eine »Partei« auch nur zu denken.

In Erregung gerieten die Gemüter noch einmal am frühen Nachmittag, als Heiko Lietz den Streikaufruf der Karl-Marx-Städter auf die Tagesordnung setzte. Man dürfe im Kampf gegen die SED und die Regierung den Bogen jetzt nicht überspannen, hieß es da auf einmal. Wir als Neues Forum trügen die allergrößte Verantwortung dafür, wenn es zur Anarchie komme. Also gäbe es nur eins: abwiegeln, »Verantwortungs-bewusstsein« zeigen! Was mich betrifft, so strengte ich mich wirklich an, die in meinen Augen überzogenen Ängste zurückzuweisen. Hüter der bestehenden Ordnung zu sein, darin sah ich nicht meine Aufgabe. Wir sollten uns nicht, sagte ich, den Kopf Modrows zerbrechen und die Rolle von Agents pacificateurs übernehmen. Das brachte Bärbel in Rage. Ob ich denn für eine Versorgungskrise in der DDR verantwortlich sein möchte, hielt sie mir erregt entgegen. Sie könne jedenfalls eine so große Last nicht tragen. Auch Jens Reich argumentierte in Bärbels Sinne. Man dürfe den Herrschenden keinen Vorwand zur gewaltsamen Verteidigung ihrer Interessen liefern. Jens hielt vorsichtige Diplomatie immer noch für ein Gebot der Stunde.

Nach »längerer Diskussion«, wie es im Protokoll heißt, verabschiedeten wir eine Stellungnahme für die Medien, aus der das Zaudern des Sprecherrats und der Initiativgruppe ablesbar ist: »Der Landessprecherrat des NF beriet über den Karl-Marx-Städter Aufruf zum Generalstreik. Streik ist ein mögliches Mittel, um Forderungen gewaltfrei durchzusetzen. Der Landessprecherrat hält einen Generalstreik für das schärfste Mittel, das erst nach einer landesweiten Diskussion an der Basis angewendet werden sollte. Bisher hat die landesweite Diskussion nicht stattgefunden. Daher können wir den Aufruf der Karl-Marx-Städter nicht unterstützen.« - Haben wir die angesprochene Debatte geführt? Leider nicht.

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Es war grotesk! Bohleys Schreckensvision bevorstehender Gewaltausbrüche, für die es nirgends ein Anzeichen gab, die sie aber als Menetekel leidenschaftlich an die Wand malte, schüchterte die um mich herumsitzenden ehemals Mutigen ein, so dass nur noch über eins beratschlagt wurde. Um die öffentliche Ordnung nicht zu gefährden, müsse man jetzt schleunigst landesweite »Sicherheitspartnerschaften« organisieren! Das ging mir gegen den Strich. Revolution, empörte ich mich, sei das Außer-Kraft-Setzen einer verhassten Ordnung, ihr Sturz! Und damit stünden wir in einem direkten Gegensatz zur SED, die jetzt nach Verantwortung schreie, ohne sie zu übernehmen.

Einen Ausweg aus unserer festgefahrenen Debatte lieferte an diesem Nachmittag, an dem sich für mich die Kette erstrittener Siege in ein bräsiges Palaver aufzulösen drohte, das seit Wochen hinter den Kulissen mit den Kirchen und der neu gegründeten SDP (die sich ab Januar 1990 SPD nennen sollte), der DJ und der IFM ausgekungelte Konzept eines Zentralen Runden Tisches. Christian Tietze hatte für uns an den vorbereitenden Gesprächen teilgenommen. Stolz berichtete er, für das Neue Forum seien drei Plätze reserviert worden, die anderen Gruppen sollten nur zwei bekommen. Seiner Einschätzung nach böte der Runde Tisch eine Gelegenheit, die SED und die »Blockflöten«, also die mit ihr verbündeten Blockparteien CDU, DBP, LDPD und NDPD, in der Öffentlichkeit vorzuführen und aller Welt zu zeigen, dass sie unfähig seien, die Probleme des Landes zu lösen.

Wer es ausgesprochen hat, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich war es Reinhard Schult, der fragte, warum wir an so einem Polit-Kaffeekränzchen in der für uns komfortablen politischen Lage jetzt überhaupt noch teilnehmen sollten. Keiner sah im Runden Tisch eine befriedigende organisatorische Form für die zwischenzeitliche Verschiebung der Machtverhältnisse. Abseits stehen wollten wir angesichts der voraussehbaren Wirkung auf die fernsehguckende Öffentlichkeit aber auch nicht. Wegen seiner »Neigung zur kompromissbereiten Abwägung auch des gegnerischen Standpunktes« lehnte Jens Reich es ab, das Neue Forum am Runden Tisch zu vertreten. Wenn überhaupt, meinte Reich, dann sei er für »energische Kämpfer, wie Ingrid Koppe, Rolf Henrich und Reinhard Schult«.

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Mein Leipzig lob' ich mir!

Mich vor dem Runden Tisch noch einmal mit Leipzigern zu treffen, um mir eine persönliche Meinung darüber zu bilden, wie sie - als das Rückgrat des demokratischen Aufbruchs - mittlerweile dachten, schien mir angesichts des gewachsenen Misstrauens »der Provinz« gegenüber »den Berlinern« angebracht. Reinhart Zarneckow begleitete mich. Ansehen wollten wir uns an jenem Montag, dem 4. Dezember, natürlich auch, wie nach den Turbulenzen der letzten Tage die Demonstranten reagierten. Es gab ja kein besseres Lexikon für das, was die Menschen wirklich wollten, als den bei ihren Aufmärschen mitgeführten, auf Spruchbändern aufgelisteten, wöchentlich erweiterten Forderungskatalog. Da konnte man dem Volk direkt aufs Maul schauen.

Mit Susanne Rummel hatte ich verabredet, dass sie uns abends begleiten sollte. Susanne gehörte zu den aktivsten Mitgliedern des Neuen Forums in Sachsen. Nach Abschluss ihres Journalistikstudiums hatte sie darauf verzichtet, die ihr von der Lenkungskommission der Abteilung Agitation und Propaganda des ZK der SED zugewiesene Arbeit aufzunehmen, und stattdessen lieber in der Musikalienhandlung Oelsner -»eine der schönsten Nischen Leipzigs«, wie sie betonte - Noten verkauft. Jetzt arbeitete sie für das Neue Forum. Am frühen Nachmittag kamen wir bei ihr in der Mottelerstraße an.

Susanne machte uns mit Grit Hartmann und Ilona Weber bekannt, die vor dem Fernseher saßen und die Berichterstattung über die jüngsten Ereignisse verfolgten. »40 Jahre - und jetzt das!«, sagte Grit und informierte uns über die in den vergangenen Stunden geschehene erfolgreiche Erstürmung der Stasi-Zentrale in Erfurt. »Hier in Leipzig wird es heute Abend genauso laufen«, meinte sie. Ilona Weber berichtete, Bärbel Bohley sei darüber in heller Aufregung. Es habe mehrere Telefonanrufe von ihr gegeben. Und Michael Arnold sei in ihrem Auftrag in der Bezirksverwaltung, um über die einvernehmliche Besetzung des Objekts zu verhandeln.

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Erste Publikation des Forum-Verlages mit einem Vorwort Rolf Henrichs

Warum Bärbel Bohley sich an diesem Tage als Schutzheilige des Ministeriums für Staatssicherheit aufspielte, konnte ich den Frauen auch nicht erklären.

(Wie der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk 2012 aufgedeckt hat, beschwor Gregor Gysi Bärbel Bohley an jenem 4. Dezember, alles zu tun, um die Erstürmung der Bezirksverwaltung in Leipzig einzuhegen. Bohley telefonierte deshalb mit Vertretern des Neuen Forums und sagte: »Das Haus der Staatssicherheit wird besichtigt werden. Und da können ein paar Leute mit dran teilnehmen ... Jetzt hat Gysi nochmals gesagt, es ist eine furchtbare Verantwortung, die da auf euch augenblicklich lastet, aber wenn es heute in Leipzig zu Gewalt kommt, dann haben wir morgen in der DDR eine ganz andere Regierung ... Und vielleicht, wenn man dann vorher sagt: Dort ist heute gefilmt worden. Der Reißwolfist versiegelt. Es wird nichts vernichtet. Das müsstet ihr mit diesen Leuten da mit durchsetzen. Ich könnte mir vorstellen, dass das erst mal beruhigt ... Das Problem ist, dass natürlich die Staatssicherheitsleute in

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dem Haus sitzen, Angst haben, identifiziert zu werden und dann hinterher gelyncht zu werden. Das müssen also Leute sein, die wirklich vertrauenswürdig sind ... Ja, das habe ich jetzt mit Gysi für Leipzig ... Ja, verstehst du, ... damit ihr das am Anfang der Demo sagen könnt, also so und so, auch die Staatssicherheit gehört jetzt uns. Wir haben das und das gesichert, der Reißwolf, also ihr müsst da dann natürlich auch irgendwelche Forderungen anbringen. Vielleicht, dass ihr da noch mal Kontakt aufnehmt überhaupt mit Inneres oder der Stasi, irgendwelchen Leuten. Ich denke, so ein Satz wie >Der Reißwolf ist gesicherte und >Es gehen keine Daten verloren und keine Akten«. Das wäre wahrscheinlich jetzt wichtig.« So hat Bärbel Bohley am 4. Dezember tatsächlich gesprochen. Und sich dabei filmen lassen. Offen gestanden, das konnte ich mir damals nicht vorstellen.)

Aber nicht nur das alles überlagernde Stasi-Thema beschäftigte uns an diesem Nachmittag. Susanne, Grit und Ilona diskutierten mit mir nicht weniger engagiert ein von ihnen geplantes Projekt einer Tageszeitung. Den Namen dafür hatten sie schon - DAZ (Die Leipziger andere Zeitung) sollte ihr Baby heißen. Sie liebäugelten mit der Gründung eines Verlags. Ihr Optimismus steckte mich an. Ohne zu zögern versprach ich ihnen, mich an ihrer ersten Publikation zu beteiligen (»Jetzt oder nie - Demokratie! Leipziger Herbst '89« erschien in einer 1. Auflage noch im selben Jahr).

Gut gelaunt spazierten wir abends zum Karl-Marx-Platz. Susanne und Reinhart schafften es, die Ordner des Neuen Forums, die den Einlass zum Opernhaus kontrollierten, unter Hinweis auf meine Person zu überzeugen, uns den Zutritt zur Empore zu gestatten. Von da aus hatte man eine gute Sicht auf die den Platz füllenden, dicht gedrängt stehenden Demonstranten mit ihren schwarz-rot-goldenen Fahnen, mal mit und mal ohne das Staatswappen der DDR, und ihre meterbreiten Transparente. Der Eindruck der vor mir stehenden Menschen, von denen man nur die Köpfe und Schulterpartien sah, so eng standen sie beieinander, verschlug mir die Sprache. Was ich inbrünstig herbeigesehnt hatte, solidarische Einzelne, die sich nicht wie eine Schafsherde von ihren Vormündern scheuchen und scheren lassen, das wurde in diesem Augenblick zehntausendfach vor meinen Augen zum Ereignis.

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Es lag in ihrem Aufmarsch etwas Gewaltiges, Mitreißendes und Verführerisches, dem ich mich nicht entziehen konnte. In diesem einzigartigen Moment empfand ich auf sonderbare Weise trunken von dieser Gemeinschaft mit allen, dass ich gerade ein niemals wiederkehrendes Erlebnis in meinem Leben feiern durfte - und dass all mein Einsatz nicht vergeblich gewesen ist.

Neun mit unterschiedlichen rhetorischen Fähigkeiten begabte Redner traten ans Mikrofon. Unisono geißelten sie die in den letzten Stunden ans Licht gekommenen Schweinereien. In der Grassistraße hatte das Neue Forum eine Schatzkammer der Import-Export GmbH (IMES) des sozialistischen Paten aufgespürt und sie von der Staatsanwaltschaft versiegeln lassen. Maik Dietze schilderte das Katz-und-Maus-Spiel mit Alexander Schalck-Golodkowski, der am Tag zuvor in den Westen geflüchtet war. Die Menschen quittierten seinen Bericht mit bösartigen Zwischenrufen. Ein Plakat mit der Forderung »Kopfgeld + Steckbrief für den Verbrecher Golodkowski. Holt ihn und die geraubten DM-Milliarden zurück!«, welches ein junger Mann triumphierend schwenkte, umgeben von jubelnden Altersgenossen, zeigte mir, dass die Menschen sich nicht mehr mit der bloßen Aufdeckung derartiger Machenschaften zufriedengeben wollten. Sie verlangten inzwischen ein beherztes Durchgreifen! Alle Redner gestanden ihre hochgespannten Erwartungen und vielfach erlittenen Enttäuschungen freimütig ein. Was jetzt zu geschehen hätte? Die Menschen müssten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, statt es der sich neu formierenden SED zu überlassen, die schon dabei sei, ihre Pfründen zu sichern.

Erstaunlicherweise setzte sich kein Redner mit den auf der Empore gut lesbaren meterbreiten Spruchbändern auseinander. Einheit oder Zweistaatlichkeit - das waren an diesem Abend ersichtlich die miteinander streitenden Teilmengen! Um die deutsche Frage herum gruppierten sich die auf dem Karl-Marx-Platz versammelten Menschen. »Deutschland einig Vaterland« lautete die auf das Ganze gesehen bestimmende Losung auf den Transparenten. »Wiedervereinigung Deutschlands. Wir das Volk sind bereit für den Volksentscheid. Ja«; »Einigkeit und Recht und Freiheit - wir sind ein Deutschland!«; »Sachsen und Niedersachsen muss als eins zusammenwachsen!«; »Entweder

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Not oder Einheit und Brot«; »Im vereinten Deutschland leben wir so wie einst das Politbüro!«; »40 Jahre Gemeinheit, jetzt wollen wir die Einheit« oder »Über Konföderation zur Einheit!«. Was die Mehrheit anstrebte, war unübersehbar! Die Einheitsunwilligen kamen dagegen nicht an: »Jetzt keine Wiedervereinigung, sondern neuen Sozialismus!«; »DDR als Bundesland. Wer das will, hat keinen Verstand!«; »Kein 4. Reich!«; »Bei uns gibt's jetzt Arbeit, packt alle mit an! Wiedervereinigung ist noch nicht dran!«; »Mit Deutschland einig Vaterland< fängt es an. Habt Ihr vergessen, wo es aufhört? Bedenkt die braune Gefahr!« »U-Haft für die Wandlitz-Bande!«, »Höchststrafen für alle Staatsverbrecher!«, »Entmachtung der Staatssicherheit!«, »Sofortige Ablösung des Generalstaatsanwalts!« - solches verlangten hingegen alle diejenigen, die sich um die deutsche Frage weniger scherten. Wie sich zeigte, entfaltete ihre plakatierte Parole »Besetzt das Stasi-Gebäude - sofort!« an diesem Tag die größte Sprengkraft.

Ilona Weber hatte mich darüber informiert, dass seit der Nacht vom 2. zum 3. September, organisiert durch das Neue Forum, etwa ein Dutzend Männer und Frauen

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die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit rund um die Uhr beobachteten. Unter den Fahrzeugen, denen die Stahltore der Bezirksverwaltung am Dittrichring (die Runde Ecke) geöffnet wurden, befanden sich, wie sie bemerkt hatten, verdächtig viele Müllfahrzeuge, was nur bedeuten konnte, dass die Aktenvernichtung längst auf Hochtouren lief.

Als wir aus dem Seiteneingang des Opernhauses heraustraten, lief uns Wolfgang Schnur über den Weg. »Was will der denn hier?«, fragte Susanne misstrauisch. Schnur verbreitete einen üblen Geruch. Wo er auftauchte - dessen konnte man sicher sein -, fand eine Kabale statt. Dass wir an diesem Abend in der Person Wolfgang Schnurs den von den Tschekisten in den Brennpunkt des Geschehens beorderten Agent pacificateur begrüßten, ahnten wir bei allem Misstrauen gegenüber dem »Kirchenanwalt« nicht. Stutzig machte mich kurze Zeit später jedoch, wie sehr Schnur - bewaffnet mit einem Megafon - sich darum mühte, eine aufgebrachte Menge vor der Runden Ecke davon abzuhalten, unkontrolliert in die MfS-Tabuzone einzudringen. Durch sein Eingreifen wurde das Bezirksamt nicht wirklich besetzt. Stattdessen veranstaltete man nur eine Begehung mit Versiegelungen und anschließender Aussprache über die Einstellung der Aktenvernichtung. Heute ärgert es mich, dass ich mich damals nicht als Verhandlungsführer eingeschaltet habe. Aber mich belastete mein nächster Termin, und ich wollte unbedingt noch am selben Abend nach Hause fahren. Denn Mittwoch musste ich vor einem in Westberlin tagenden DGB-Kongress über den Umbau der volkseigenen Wirtschaft referieren. Darauf wollte ich mich anderntags vorbereiten.

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Christliche Tischgemeinschaft oder Insolvenzausschuss?

Die Gemeinsame Erklärung der oppositionellen Kräfte, mit der ein Zentraler Runder Tisch »unter Beteiligung der Organisationen der Nationalen Front« gefordert wurde, hatte niemand aus dem Neuen Forum unterzeichnet. Wir hielten die Aktion für eine Verlegenheitslösung. Was sollte dabei herauskommen? Eine Quasselbude, halb Ratgeber, halb Kontrolleur Modrows? Leider hatten wir nichts Besseres beschlossen. Was mich persönlich betrifft, so bedrängten mich meine Frankfurter Spezis Renate Bauer, Karl-Ludwig von Klitzing und Reinhart Zarneckow. Sie beharrten darauf, ich sei mit meiner anwaltlichen Professionalität verpflichtet, unsere Gesinnungsgenossen bei ihrem Tun zu unterstützen. Zarneckow erinnerte mich an deren staatsrechtliche Kenntnisse. Ich wüsste doch, wie mangelhaft die uns bekannten Oppositionellen über das Funktionieren der Institutionen in der DDR informiert seien. Seinen Überredungskünsten konnte ich mich schlecht entziehen. Mit ihm hatte ich in der ersten Jahreshälfte bei mir in Hammerfort ein Seminar zum Verwaltungsrecht durchgeführt. An dem hatten die beiden Poppes, Weißhuhn und Bohley teilgenommen. Was den Staat und das Recht betraf, hielten wir die von uns geschätzten Widerständler seither für wenig unterrichtet.

Um mich abzustimmen, suchte ich am 7. Dezember vormittags Reinhard Schult in seiner Wohnung im Prenzlauer Berg auf. Durch unser Auftreten, darin stimmten wir gleich überein, durften wir keineswegs den Eindruck erwecken, Modrows Regierung sei, nur weil sie einen Runden Tisch duldete und vielleicht die eine oder andere Anregung desselben öffentlichkeitswirksam aufgreifen würde, nun auf einmal demokratisch legitimiert. Der drohenden Gefahr, Modrows Amtsanmaßung durch unsere Anwesenheit ungewollt schönzufärben, wollten wir mit einem starken Signal begegnen. Es schien uns das Beste zu sein, auch am Runden Tisch einen konsequenten Kampf gegen die seine Macht sichernde Stasi-Krake zu führen, ohne dabei in die Falle einer manichäischen Selbstgerechtigkeit zu tappsen.

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Wir befanden uns ja in einer Phase, wo der weltanschauliche Streit um dieses alles beherrschende Symbol in eine heuchlerische Spiegelfechterei und den Verfolgungswahn von selbsternannten Rächern auszuufern begann. In der kompromisslosen Abwicklung des Ministeriums für Staatssicherheit, die wir nachmittags gleich im Dietrich-Bonhoeffer-Haus verlangen wollten, sahen wir die Nagelprobe, die, je nachdem, wie sich Hans Modrow als neuer Ministerpräsident dazu stellen würde, den wahren Charakter seiner angeblichen Reformbemühungen zeigen würde.

Von der Panik vor einem bevorstehenden Zusammenbruch jeglicher staatlichen Ordnung, wie sie Ibrahim Böhme und Wolfgang Schnur mitsamt ihrem Gefolge seit Tagen unter den neu entstandenen Gruppierungen verbreiteten, wollten wir uns jedenfalls nicht anstecken lassen.

Schult war kein Kaffeehauskomplotteur! Ich mochte ihn sehr, obwohl es kaum eine politische Idee gab, über die wir beide uns jemals würden verständigen können. Er hatte aber »die Herbe im Blut, mit der man Schlachten gewinnt«. Und sein Organisationstalent war beeindruckend. So wie ich glaubte er keine Sekunde an Modrows Versprechen, zukünftig strikt demokratisch zu regieren unter Einbeziehung der Neuen Kräfte. Ich hatte einen Entwurf dabei, in dem ich eine Art Selbstverständnis zu dem Unternehmen Runder Tisch formuliert hatte. Reinhard fand ihn geeignet. Ingrid Koppe sollte ihn verlesen. Absprechen mussten wir nur noch, dass sie meinen Text auch namens der anderen Neuen Kräfte vortragen durfte. Mit dieser Einstellung zogen wir los.

Vor dem Eingangsportal des Bonhoeffer-Hauses empfing uns ein ohrenbetäubendes Geschrei. Funktionäre der Gewerkschaft, der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, des Frauenbundes und anderer Massenorganisationen, an die keine Einladungen verschickt worden waren, drängelten mit einem Dutzend Westkorrespondenten, die meist Kameraleute im Schlepptau mit sich führten, und ebenso vielen Abgesandten der DDR-Medien in den Kirchsaal der Herrnhuter Brüdergemeine. Im Saal, wo die Gastgeber den mit weißen Tischtüchern eingedeckten sogenannten Runden Tisch in einem Geviert aufgestellt hatten, konnte ich erst nach einer lautstarken Einrede Martin Zieglers den für mich reservierten Platz zwischen Ingrid Koppe und Reinhard

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Schult besetzen. 15 Sitze belegten die Neuen Kräfte (Neues Forum davon 3, Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Initiative Frieden und Menschenrechte, Sozialdemokratische Partei, Grüne Partei und Vereinigte Linke jeweils 2). Dieselbe Anzahl stand für die SED und die Blockparteien bereit. Namhafte Funktionäre saßen uns nun gegenüber: unter ihnen der Chef der Liberaldemokraten Manfred Gerlach. Er hatte zwei Tage zuvor Egon Krenz als Staatsratsvorsitzender abgelöst. Vblkskammerpräsident Günther Maleuda vertrat die Bauernpartei, Lothar de Maiziere die CDU; Gregor Gysi und Wolfgang Berghofer besetzten die für die SED-PDS reservierten Stühle. Als Präsiden fungierten Oberkirchenrat Martin Ziegler (Evangelische Kirche), Monsignore Karl-Heinz Ducke (Katholische Kirche) und Pastor Martin Lange (für die Freikirchen).

Zwischen den Kronleuchtern baumelte vor meiner Nase ein roter Adventsstern. Eine süßliche Gedichtzeile, einst vom Meister des politischen Edelkitschs Kurt Bartel ersonnen, ging mir durch den Kopf: »Die Zeit trägt einen roten Stern im Haar«. Darüber spottete ich.

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Ingrid Koppe verstand mich nicht gleich — ihr Jahrgang war augenscheinlich in der Schulzeit von derlei lyrischen Ergüssen verschont geblieben. Martin Ziegler eröffnete das Rundtischgespräch mit einer kleinen Ansprache. Er erinnerte uns an die gemeinsame Sorge »für unser Land«. »Nehmen Sie es bitte nicht als den Versuch weltanschaulicher Vereinnahmung«, sagte er amüsiert, »wenn ich daraufhinweise, in diesem Raum hängt der Herrnhuter Adventsstern, eine weit über die Kirchen hinaus verbreitete Sache. Und es ist unser Wunsch: Möge dieser Stern uns auch in diesem Gespräch leiten, wie er einst die Weisen aus dem Morgenland zum Ziel geleitet hat.«

Die zum letzten Gefecht angetretenen SED-Granden und Blockflöten mit den Heiligen Drei Königen zu vergleichen, die dem Stern von Bethlehem folgten, hielt ich angesichts der 40 Jahre währenden Religionsfeindlichkeit der mir gegenübersitzenden Wendehälse für einen schlechten Scherz. War die Religion jetzt auf einmal nicht mehr Opium fürs Volk? Seltsamerweise mokierte sich niemand über Zieglers Vergleich. Kein Lächeln huschte über die Mienen der Genossen und Blockfreunde. Stattdessen entbrannte sofort ein verbissener Streit darüber, ob auch Vertreter des Gewerkschaftsbundes und des Unabhängigen Frauenverbands an unserer Runde teilnehmen durften. Als der endlich ausgestanden war und sie zugelassen waren, erteilte Monsignore Ducke Ingrid Koppe das Wort. Ingrid trug das vormittags eilig zwischen den Neuen Kräften abgestimmte »Selbstverständnis der oppositionellen Gruppierungen und Parteien« vor. Sie pochte darauf, dass keine politische Kraft am Runden Tisch, »auch nicht die Volkskammer, und auch nicht die Regierung, eine hinreichende Legitimation durch freie und demokratische Wahlen hat«. Und wir - die Neuen Kräfte - nicht »daran mitschuldig« werden wollten, »dass dieser Tatbestand vor dem Volk verschleiert wird«. Modrows Regierung, so lautete Ingrids Botschaft, möge gefälligst die weiße Fahne hissen und »sich zur geschäftsführenden Übergangsregierung erklären, die nur unaufschiebbare Maßnahmen beschließt«.

Ob unsere politischen Widersacher überhaupt kapierten, warum wir das Legitimationsdefizit des politischen Systems so nachdrücklich betonten und was das staatsrechtlich bedeutete, bezweifle ich sehr.

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Günther Maleuda - er hätte es als Präsident der Volkskammer eigentlich besser wissen müssen - warf mir jedenfalls erst mit Verspätung in der zweiten Sitzung empört vor, das sei »eine recht anmaßende Feststellung«. Am selben 18. Dezember fiel der Groschen auch bei dem LDPD-Mann Witho Holland, der verdattert feststellte: »Aber das, was hier von Herrn Henrich vorgetragen wird über die Legitimation, bedeutet ja, wenn man dann alles durchdenkt, dass wir 40 Jahre lang keine legitime Regierung hatten ...« Die höhnischen Zwischenrufe »Richtig! Richtig! Stimmt ja, richtig!«, die sein an mich adressierter Vorhalt provozierte, brachten ihn völlig durcheinander.

Nachdem Ingrid Koppe unser Selbstverständnis vorgetragen hatte, verkündete sie unsere Prioritätenliste, darunter die zwei Hauptforderungen der Opposition: »Das Amt für Nationale Sicherheit als eine verfassungsfeindliche Organisation muss unter ziviler Leitung aufgelöst werden.« Und kurzfristig müsse ein »Wahlgesetzentwurf« vorgelegt werden. Halb in der oppositionellen Fahrspur und halb schon daneben, versuchten de Maiziere, Gysi, Maleuda, Gerlach und die anderen Vertreter der Blockparteien, erst einmal Zeit zu schinden und die Veränderungen, welche auch sie kommen sahen, möglichst in den Bahnen der eingefahrenen Ordnung zu halten. An einem schnellen Sturz Modrows war ihnen nicht gelegen; sie mussten seine Entmachtung entsprechend ihrer neuerdings lauthals verkündeten volksnahen Position zwar wünschen, aber wünschten sie praktisch dann doch wieder nicht. Sie verhandelten unter Druck, mussten jeden Anschein vermeiden, mit den Tschekisten zu paktieren.

Gregor Gysi bemühte sich ganz in diesem Sinne. Er hatte es eilig, den Sturm auf die Bezirksämter zu domestizieren - am liebsten hätte er den Runden Tisch auf »einen bestimmten Sicherheitskonsens« eingeschworen. Kollegial wurde er dabei durch de Maiziere von der CDU unterstützt, der mit dramatischen Worten vor »Anarchie« warnte. Wolfgang Schnur vom DA stelzte leicht verwirrt um den heißen Brei der Stasi-Auflösung herum. »Wie wird gewährleistet«, fragte er in die Runde, »dass es eine Sicherheitspartnerschaft gibt in unserem Land unter der Frage, dass wir mindestens solange wir, ja sagen wir, bestimmte Einrichtungen noch haben, wie sie sich zu unserem Volk stellen, wie wir

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erreichen, dass nicht Blutvergießen in unserem Land entsteht?«

Und Manfred Gerlach wies auf »viele Informationen« hin, die ihm am Vortag als frisch gekürtem Staatsratsvorsitzenden »von amtlichen Stellen« zugetragen worden seien: »Wie ernst die Lage ist und wie schnell manches umkippen kann in Anarchie und auch in Blutvergießen.«

Die Eilmeldung des Regierungssprechers Wolfgang Meyer vom 7. Dezember haute in dieselbe Kerbe. Meyer übermittelte darin »den Dank der Regierung an jene Kräfte, unabhängig von ihrer Weltanschauung, die mitgeholfen haben, Schaden zu begrenzen, und zur Sicherheitspartnerschaft bereit sind«. Sicherheitspartnerschaft - dieses Lieblingswort aller Baissespieler sollte ich jetzt ständig zu hören bekommen. Oft unterlegt - wie an jenem Donnerstag - mit dem Gejammer des amtierenden Obertschekisten: Wolfgang Schwanitz wandte sich nun auf einmal schutzsuchend an die Öffentlichkeit. Leben und Gesundheit von Mitarbeitern des Amtes und ihrer Familienangehörigen in den Bezirken und Kreisen seien in höchster Gefahr, behauptete er. Einige Dienststellen seien bereits nicht mehr arbeitsfähig. »Die gesamte Entwicklung kann zu unabsehbaren Folgen für das Land und seine Bürger führen.«

Die Sonderrolle von Horch und Guck - wie der Volksmund die Stasi auch bezeichnete - war nicht mehr zu retten. Selbst die Alten Kräfte ahnten es. Soweit sie nicht wie Hans Modrow an die Neuformierung des MfS unter dem Etikettenschwindel Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) glaubten, wollten sie den Bezirksverwaltungen und dem Berliner Ministerium in der Normannenstraße aber wenigstens einen geordneten Rückzug gewährleisten. Den Geheimen also Gelegenheit geben, ihre geschichtliche Spur zu verwischen, die sie in ihren streng bewachten Archiven selber dokumentiert hatten. Darum ging es! Solange Ingrid Köp-pes Qualifizierung des MfS als »verfassungsfeindliche Organisation« und dessen Auflösung unter ziviler Kontrolle nicht tatkräftig zu Ende geführt wurde, blieb der eingeläutete Wandel zwielichtig und gefährdet.

Im Oktober glaubte ich zwar selbst noch daran, es würde ausreichen, den Sicherheitsapparat zahlenmäßig der »tatsächlichen Bedrohung durch Kriminalität« anzupassen und das Ministerium für Staatssicherheit mithilfe ziviler Kontrollorgane aus der »innenpolitischen Auseinandersetzung« fernzuhalten.

Menso Heyl, der mich für die »Bild am

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Sonntag« interviewte, hatte ich da noch erklärt, integre Persönlichkeiten wie Stefan Heym oder Kurt Masur müssten vorübergehend an die Spitze eines mächtigen Kontrollorgans gestellt werden. Mittlerweile hatte ich aber eingesehen, dass die Geheimen sich partout nicht auf die Abwehr von Terror, Spionage oder Sabotageakten beschränken wollten, sondern weiter sehr effizient gegen die Neuen Kräfte wühlten und gezielt Gerüchte streuten. Damals spürte ich es mehr, als dass ich es genauer wusste (von der nach dem Mauerfall letztmalig aktualisierten Konzeption der Tschekisten, mich, wie es darin heißt, zur »Kapitulation« zu zwingen, erfuhr ich erst später). Als letztes Meisterstück lieferten die Geheimen Nazischmierereien am Treptower Ehrenmal. Womit sie erfolgreich eine Hysterie entfachten, welche der SED-PDS, angeführt von Gregor Gysi, die willkommene Gelegenheit bot, in bewährter Manier einen wiedererstarkten Faschismus und dazu passend eine antifaschistische Front zu zelebrieren.

Sich das MfS in dieser Situation als Hüter des Rechts vorzustellen, war so abwegig wie der Glaube, notorische Pyromanen könnten Aufgaben der Feuerwehr übernehmen. Erfolg versprach allein die kompromisslose Zerschlagung des Dienstes. Unklar blieben die erforderlichen Maßnahmen, und vage blieb ebenfalls, wie man Modrows Regierung nötigen konnte, die Schlapphüte in den Ruhestand zu schicken. Auf praktische Erfahrungen bei der Abwicklung einer Geheimpolizei konnte ja niemand von uns zurückgreifen. Da sie die den eigenen und den Machtmissbrauch der SED belegenden »Beweismaterialien beiseitegeschafft« hatte - so plädierte ich am Runden Tisch -, kämen wir wohl erst einmal nicht um die Feststellung herum, dass die im Kollegium des Ministeriums organisierte Generalität »eine verfassungsfeindliche Organisation« sei. Prüfen müsse man deshalb, ob sich die Goldfasane strafbar gemacht hätten. »Notfalls müssen, wenn der hinreichende Verdacht einer Straftat vorliegt, Haftbefehle ausgestellt werden.«

Für die über die Zukunft des Landes schwafelnden Blockfreunde stellte eine solche Forderung immer noch ein Sakrileg dar. Und selbst Monsignore Ducke, er moderierte in dieser Phase, glich plötzlich einem aufgeschreckten Hasen. Ducke hielt mir empört vor, »wie ungeheuer schwierig eine globale Äußerung ist, die zum Beispiel die notwendigen

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Differenzierungen auslässt und womöglich Leute trifft, denen wir das nicht zumuten wollen«.

Ducke verstand mich nicht. Schließlich beabsichtigte ich ja keineswegs, zehntausende Tschekisten hinter Gitter zu bringen. Es ging mir einzig und allein um das Kollegium der führenden Generale. Begriff der Monsignore wirklich nicht, dass man in einer revolutionären Zeit niemals sämtliche Seiten einer Frage beleuchten kann, sondern immer nur die herausfischt, welche den Forderungen der revoltierenden Massen entgegenkommt? Oder wollte Ducke gar der angelaufenen Auseinandersetzung die klärende Schärfe entziehen? Ich hatte noch nicht zu Ende überlegt, als Wolfgang Ullmann von Demokratie Jetzt ihn geschickt parierte. Er »stimme voll inhaltlich« mit mir überein, replizierte Ullmann Ducke zugewandt. Aber »um die Besorgnisse aufzunehmen«, könne er sich auch »zu der Formulierung entscheiden: Das Kollegium der AfNS-Generäle hat in dem genannten Fall verfassungsfeindlich gehandelt«. Dieses auszusprechen wäre kein »summarisches Vorurteil«. Ducke verstummte.

Die mir sympathischen Präsiden fürchteten sich davor, dass durch

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Zänkereien zwischen den Neuen und den Alten Kräften ein landesweites Handgemenge angestachelt würde. Das wollten sie nicht verantworten. Um die Gewaltfreiheit und Friedlichkeit des Umbruchs fernsehwirksam zu beglaubigen, musste also jedem revolutionären Hitzkopf, wann immer sich ein solcher in der vor ihnen raufenden Runde zu erkennen gab, mit heiliger Hand sanft auf die Finger geklopft werden. Mit ihrer Hasenfüßigkeit unterstützten sie so nicht nur die alten Systemparteien. Ibrahim Böhme, ihren Liebling, oft mit einem weißen Stecktüchlein in der Brusttasche seines Jacketts, der sich namens der Sozialdemokraten ungeheuer staatstragend gebärdete, hätschelten sie ebenso wie Wolfgang Schnur. Aber die konnten nur halbseidene Überlegungen anstellen. Ingrid Koppe, Reinhard Schult und ich, zusammen mit Ulimann, Ulrike Poppe und Thomas Klein von der Vereinigten Linken, wir spielten in den Augen der Kirchenmänner mit dem Feuer, weil wir die sofortige und bedingungslose Auflösung des Staatssicherheitsdienstes verlangten. Wie de Maiziere mahnend hervorhob, verkörperte der doch »ein bewaffnetes Potenzial«. Zweifellos stellte das eine nicht zu vernachlässigende Größe dar. Aber hatten die gefürchteten Waffenträger nicht spätestens seit der letzten Montagsdemonstration in Leipzig die Zeichen der Zeit verstanden? Ein einziger Toter - musste den Geheimen oder uns davor bange sein? In Wahrheit sahen die meisten Tschekisten längst selbst ein, dass ihre Zeit vorbei war. Mein Gott, es gab nirgendwo ernsthafte Anzeichen für blutige Gewaltausbrüche. Schwadroniert wurde darüber jedoch ständig.

Peter-Michael Diestel, der letzte DDR-Innenminister, versuchte sogar noch im Frühsommer 1990 Wolfgang Schäuble »bei jeder sich bietenden Gelegenheit« mit einem Horrorszenario zu beeindrucken, weil angeblich bewaffnete »Abteilungen ehemaliger Stasi-Leute« einen »Bürgerkrieg« vorbereiteten. Wie Schäuble vermerkt, gingen Diestel und Eppelmann »nur noch bewaffnet an die Öffentlichkeit«, und sie »verlangten zudem einen verstärkten Personenschutz«. Solche Eitelkeiten hielt ich eher für peinlich. Mich beeindruckten die Bombendrohungen, die auf den Runden Tisch abzielten, nicht besonders. Man verließ den Sitzungssaal. Ein Polizeihund schnüffelte nach Sprengstoff. Danach ging es weiter.

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Einmal wurde ich allerdings selbst ungefragt unter Polizeischutz gestellt. Am 12. Januar 1990 warnte die Westberliner Polizei ihre Kollegen im östlichen Teil der Hauptstadt, es lägen Erkenntnisse über ein bevorstehendes Attentat auf mich vor. Dahinter steckte natürlich auch nur ein Bluff. An diesem Tag sollte erstmalig eine westdeutsche Talkshow im Osten und dazu noch im geschichtsträchtigen Cäcilienhof aufgezeichnet werden. Mit Egon Bahr, Otto Wolff von Ameron-gen, Gysi, Berghofer und anderen Prominenten. Lea Rosh hatte mich als Counterpart für Gregor Gysi eingeladen. Augenscheinlich wollten mich irgendwelche Kämpfer an der unsichtbaren Front, die davon Wind bekommen hatten, verunsichern. Es war aber nur komisch. Als ich mich gesetzt hatte, stand plötzlich ein junger Leutnant der Kriminalpolizei hinter mir in der Kulisse, der mir flüsternd mitteilte, ich sei in »akuter Lebensgefahr«. Daran konnte ich nicht glauben. Der Mann meinte es jedoch ernst.

Am Runden Tisch wurde klar: Staatskonformer als unsere Kirchenmänner gewesen sind, konnte man kaum sein. Sie haben uns zwar nicht den Satz aus Matthäus - »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist« - um die Ohren gehauen, aber so wie sie moderierten lief es genau in diese Richtung. Aus Martin Zieglers Sicht führte die Sturheit, mit der Ingrid Koppe, Reinhard Schult, Wolfgang Ulimann, Ulrike Poppe und ich um die Auflösung der Staatssicherheit gerungen haben, den Runden Tisch angeblich »in eine Krise«. Das hätte, wie Ziegler in seiner Schlussansprache im März 1990 noch einmal rügte, da hatte ich mich schon aus dieser Veranstaltung zurückgezogen, »das vorzeitige Ende des Zentralen Runden Tisches bringen können«.

Gysi, de Maiziere und Schnur spielten mit ihrer juristisch verbrämten Hinhaltetaktik frech auf Zeit! Das durchschaute ein Pfarrer wie Ziegler bedauerlicherweise nicht. Wer die von Uwe Thaysen penibel dokumentierten Wortprotokolle des Zentralen Runden Tisches liest, wird mir in diesem Punkt zustimmen. Warum meine Anwaltskollegen so verbissen um eine Fristverlängerung kämpften, lag auf der Hand. Das Verwischen der in vier Jahrzehnten hinterlassenen Spuren in den Archiven war nun mal keine schnell zu erledigende Aufgabe. Gysi und seine Blockfreunde mussten also schon aus ureigenstem Interesse den

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Geheimen so etwas wie ein Zeitfenster verschaffen. Damit stützten sie zugleich die sicherheitspolitische Linie Hans Modrows, der lange Zeit um keinen Preis vom Amt für Nationale Sicherheit und der Nachfolgeidee, einem Verfassungsschutz für die DDR, lassen wollte. Erst war es die Terrorbekämpfung, dann die Unterbindung von Wirtschaftsspionage und schließlich die Suche nach bis dahin nicht aufgespürten Kriegsverbrechern, die Gysi mir unter die Nase rieb. Wer solle diese Aufgaben nach einer Zerschlagung des MfS/AfNS wahrnehmen, fragte er besorgt. (Was die Nazi- und Kriegsverbrecher betrifft, ging ich seit dem Strafprozess gegen den KZ-Arzt Horst Fischer 1966 davon aus, dass die Staatssicherheit die auf dem Territorium der DDR lebenden Täter längst registriert hatte. Sie ließ sie aber immer nur dann auffliegen, wenn es ihr wegen der im Westen periodisch aufflammenden Verjährungsdebatte opportun erschien.)

Meine Replik auf Gysis Eiertanz lief stets auf dieselbe Beschlussvorlage hinaus: »Die Regierung der DDR wird aufgefordert, das Amt

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für Nationale Sicherheit unter ziviler Leitung aufzulösen. Soweit Sicherheitsaufgaben (zum Beispiel Kriegsverbrecherbekämpfung usw.), welche dem Amt übertragen waren, weiterhin gelöst werden müssen, werden diese zukünftig von Abteilungen des Mdl wahrgenommen.« Erfreulicherweise scheiterte die von Generalleutnant Wolfgang Schwa-nitz generalstabsmäßig geplante Selbstabwicklung des geheimpolizeilichen Erbes, wie er selber eingestehen musste, »unter dem permanenten öffentlichen Druck - insbesondere des Runden Tisches, der Bürgerrechtsgruppen und der Medien«. Er und seine Helfer konnten die »Vernichtung des Archivgutes« nicht mehr durchsetzen. Auch seine landesverräterischen Hilferufe »an die Vertretung des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR (KfS), Schutzmaßnahmen zu unterstützen und mit eigenen speziellen Kräften Archivgut zu sichern, blieben ohne Ergebnis«, wie man heute in dem von MfS-Generälen veröffentlichten Kompendium »Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS« nachlesen kann.

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Lockende Angebote

Aus meiner Sicht war die vom Neuen Forum angeführte Kampagne gegen das MfS/AfNS eine Zeit lang notwendig. Allzu lange haben wir uns dann aber darauf kapriziert. Es erschien ja schon um den Jahreswechsel 1989/90 herum höchst ungerecht, immer wieder nur die Tschekisten anzuprangern und alle anderen politisch Verantwortlichen ihrem Gewissen zu überlassen. Warum sollten ein für die Zersetzung des oppositionellen Untergrunds zuständiger Operativnik oder sein informeller Helfer eine größere Schuld auf sich geladen haben als ein später dieselbe Sache verhandelnder Staatsanwalt oder Richter? Unbestreitbar war doch, dass die Justiz prozessrechtlich gesehen viel größere Anstrengungen hätte unternehmen müssen, um der Geheimpolizei auf die Finger zu klopfen.

In der zweiten Dezembersitzung des Runden Tisches habe ich diese Ignoranz meines Berufsstandes thematisiert: »Während sich in allen gesellschaftlichen Bereichen der DDR schmerzhafte Prozesse der Selbstreinigung vollziehen«, lautete da bereits mein Verdikt, »erweckt der Justizbereich weitgehend den Eindruck, als seien ausgerechnet hier personelle und andere Änderungen nur in geringstem Umfang erforderlich. Das Gegenteil ist jedoch der Fall.« Heusinger und weitere - besonders belastete - Spitzenfunktionäre wollte ich unbedingt aus der Justiz entfernt sehen. Mein Anliegen spitzte ich deshalb bewusst zu: »Für ein verbreitetes Verhalten des Nicht-Verantwortung-übernehmen-Wollens steht besonders die Person des Justizministers Dr. Heusinger ein, welcher unbestreitbar die grundlegend verfehlte, oftmals menschenverachtende Rechtspolitik der letzten 15 Jahre zu vertreten hat. Es ist eine Zumutung für unser Volk, wenn dieser Minister auch nach dem Rücktritt des alten Ministerrates wieder auftaucht und im Kabinett Modrow weiter amtiert, als sei nichts geschehen. Justizminister Dr. Heusinger hat ebenso wie die Vorsitzenden der Senate des OG, der Präsident des OG, der Generalstaatsanwalt, die Bezirksstaatsanwälte und Direktoren

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der Bezirksgerichte sowie die BG-Richter der 1. Strafsenate und die Staatsanwälte der Abteilung la Verantwortung zu übernehmen. Dieser Personenkreis ist aus der Justiz zu entfernen.«

Aus ihrer Schlafmützigkeit aufgeschreckt, griffen Volkskammerabgeordnete diese von mir erhobenen Forderungen auf und verlangten, über die landesweite »Willkürjustiz« informiert zu werden. Was die Herrschaften jahrzehntelang nicht gestört hatte, brachte sie auf einmal um ihren Schlaf. Günter Sarge, Präsident des Obersten Gerichts, und Hans-Joachim Heusinger räumten freiwillig ihre Posten. Was hätten sie auch sagen sollen? Modrow bestellte daraufhin Kurt Wünsche zum neuen Justizminister. Das Amt des Präsidenten des Obersten Gerichts blieb vakant.

Es mag vielleicht nur eine Randnotiz sein, aber die Tatsache, dass mich der am 11. Januar gekürte neue Justizminister gleich um ein Gespräch bat, zeigte mir, wie taktisch wichtig meine Einbindung in das neue Machtgefüge für ihn offenbar war. Kurt Wünsche rechnete augenscheinlich mit meiner Reserviertheit, denn im Telefonat bat er lediglich um »einen kleinen Gedankenaustausch« über das neue Wahlgesetz. Dagegen konnte ich schlecht etwas einwenden. Außerdem hatte der Mann bei mir einen Stein im Brett. In den Sechzigern amtierte Wünsche schon einmal in der Nachfolge Hilde Benjamins als Justizminister. Er war dann jedoch wegen der unsinnigen Verstaatlichung der letzten halbstaatlichen und privaten Betriebe zurückgetreten. Ich war von Wunsches Integrität als Funktionär der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands nicht überzeugt, aber ich muss zugeben, dass mir sein Ausscheren aus dem Amt seinerzeit imponiert hatte.

Am 19. Januar sprach ich morgens im Sekretariat des Ministers in der Clara-Zetkin-Straße vor. Wie sich zeigte, ging es Wünsche nicht um Fachsimpeleien mit mir, sondern einzig und allein darum, mich schnellstmöglich als Staatssekretär zu verpflichten. Nachdem er mir das angeboten hatte, wartete er einen Augenblick - beobachtete, ob seine Offerte mich entzücken würde. Es war jedoch keineswegs so. Wünsche wollte sich ja nur mit mir schmücken. Meine Rolle hätte schließlich vor allem darin bestanden, Modrows Regierungsmannschaft den für das System der Justiz dringend benötigten Anschein einer Erneuerung zu

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verschaffen. Wir hatten es im November versäumt, als unsere Zeit und Stunde war, entschlossen nach der Macht zu greifen. Ängstlich waren wir davor zurückgeschreckt, uns mit dem profanen Odium der Realpolitik zu beschmutzen. Jetzt war es angesichts der bevorstehenden Wahlen zu spät. Ich lehnte Wunsches Angebot ab und gab auch Manfred Gerlach, der mich kurz darauf anrief, weil er mich als vorschlagsberechtigter Staatsratsvorsitzender unbedingt auf den frei gewordenen Stuhl des Präsidenten des Obersten Gerichts hieven wollte, freundlich einen Korb.

Nach unseren Absprachen, so wie wir sie im Sprecherrat des Neuen Forums getroffen hatten, glaubte ich, wir seien uns hinsichtlich Mo-drows Regierung einig. Das Legitimationsdefizit dieser SED- und Blockflötenclique durfte um keinen Preis übertüncht werden. Als sich nun in der Nacht vom 28. zum 29. Januar zwei meiner Streitgenossen auf Modrows Schachbrett haben hin- und herschieben ließen, war dies für mich der Sündenfall. Weshalb Reinhard Schult und Heiko Lietz, die ich bis dahin für harte Knochen gehalten hatte, sich für ein paar Statussymbole in die Schmusewindel einer Regierung der Nationalen Verantwortung haben einwickeln lassen, wird mir für immer rätselhaft bleiben. Acht neue Minister aus den Reihen des Widerstands mit Dienstwagen und Chauffeuren, aber ohne Portefeuille - was sollte dieses Affentheater? Tatjana Böhm (Unabhängiger Frauenverband), Rainer Eppelmann (Demokratischer Aufbruch), Sebastian Pflugbeil (Neues Forum), Matthias Platzeck (Grüne Partei), Gerd Poppe (Initiative Frieden und Menschenrechte), Walter Romberg (Ost-SPD), Klaus Schlüter (Grüne Liga) und Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt) - alles Leute, die ich bis dahin sehr geschätzt hatte - bekamen zwar Büros zugewiesen, sie blieben aber im Ministerrat und seinen Apparaten ohne jede Entscheidungsbefugnis.

Dass zum Begriff der Politik das Moment der Macht gehört, hatten die gelernten Widerständler offenbar vergessen. Modrows Pressesprecher Karl-Heinz Arnold jubelte mit Fug und Recht: »Die Opposition ist mit dem klaren Konzept angetreten, die Regierung zu demontieren. Sie verlangt viele Ressorts - vom Stellvertreter des Ministerpräsidenten für Wirtschaftspolitik über den Finanzminister bis zum Innenminis-

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ter, den Generalstaatsanwalt und einiges andere noch dazu.

Am Ende bekommt sie Minister ohne Geschäftsbereich, aber die Mitverantwortung.«

Ich konnte dem Kerl nur beipflichten, wenn er triumphierte: »Auf Deutsch: Der gesamte Runde Tisch kommt in die Verantwortung, und damit ist er eigentlich schon überflüssig, merkt es aber wohl noch nicht ganz.« Es war einfach nur peinlich!

Überflüssig geworden war damit nicht nur der Zentrale Runde Tisch. Auch das Neue Forum hatte sich überlebt. Am letzten Januarwochenende sahen es viele Delegierte einer in der Akademie der Künste veranstalteten Statutenkonferenz so wie ich. Sie berichteten darüber, dass viele Aktivisten ihrer Gruppierungen in die SPD eingetreten waren. Die Potsdamer beantragten, die Vereinigung aufzulösen. Das wäre sicher das Beste gewesen! Es hätte uns einen würdigen Abgang verschafft. Der stürmerische Geist der Revolution war erloschen, die

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heldische Phase vorbei. Die Adler wurden müde, um es mit Kafka zu sagen. Was sich damals aber im Konrad-Wolf-Saal abspielte — für mich hatte es die Züge einer Erbauseinandersetzung um die ein halbes Jahr zuvor in Grünheide aus der Taufe gehobene Bewegung. Erwartungsgemäß brachen alle durch Kompromissformeln gekitteten ideologischen Gegensätze wieder auf.

Unser aller Oberkommunist Klaus Wolfram, der sich inzwischen als Programmdirektor aufführte, legte unbeeindruckt von der bekannten Mehrheitsmeinung im Neuen Forum ein gegen die deutsche Einheit gerichtetes Papier vor. Womit er postwendend einen Proteststurm unter den Delegierten entfesselte. Als schließlich selbst sein wichtigster Programmpunkt, wonach die Betriebsräte volkseigener Unternehmen »ein Vetorecht bei Übernahme durch Großinvestoren« bekommen sollten, mit lauten Zwischenrufen und einer klaren Vier-Fünftel-Mehrheit niedergestimmt wurde, kam es zum Eklat. Reinhard Schult empörte sich lautstark über »die Spießer« im Saal und verschwand mit Bärbel Bohley und ihrer Tischgesellschaft in einen Nebenraum. Und ich Heini rannte harmoniebedürftig hinterher, um sie in den Saal zurückzukomplimentieren. Was Bärbel und Reinhard nicht einsehen mochten: Der Zug in die parlamentarische Parteiendemokratie und kapitalistische Marktwirtschaft war längst unterwegs, und die blumige Ermutigung Petra Kellys, die uns in dem in ihren Augen liebenswerten Anliegen bestärken wollte, »nicht zur Partei zu erstarren - sondern aufmüpfige, kreative Bewegung zu bleiben«, wirkte nur komisch an diesem Tag, denn in Karl-Marx-Stadt wurde zur selben Stunde aus unseren eigenen Reihen heraus die Deutsche Forumpartei gegründet.

Zehn Jahre später tröstete Richard Schröder die Erstunterzeichner in der Gethsemanekirche anlässlich der Verleihung des Nationalpreises. Hegel zitierend merkte er in seiner Laudatio augenzwinkernd an, eine Bewegung erweise sich als siegreich, wenn sie zerfalle. Sein abgeklärtes Resümee halte ich für bedenkenswert: »Offenbar gibt es auch bei einer Revolution so etwas wie eine Arbeitsteilung. Diejenigen, die das Eis brechen - der Weg ist das Ziel -, und diejenigen, die die geschaffene Fahrrinne für zielstrebigen politischen Schiffsverkehr benutzen, mit Programm und Statut.«

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Spurwechsel

Mich vom Zentralen Runden Tisch und aus der Gremienarbeit im Neuen Forum zurückzuziehen, fiel mir leicht. Die Musik spielte jetzt ohnehin anderswo. Außerdem musste ich wieder Geld verdienen. Ewig konnte ich ja nicht auf Heidelores Kosten leben. Zudem war mir klar geworden, dass ich nicht über das für einen Berufspolitiker erforderliche Sitzfleisch und die nötige Kompromissbereitschaft verfügte. Mir fehlte es an Biegsamkeit. Und ich konnte mich nicht über die Lächerlichkeit hinwegsetzen, die darin lag, dass etliche meiner politischen Weggefährten, welche im alltäglichen Leben keine Würstchenbude hätten gewinnbringend führen können, nun auf einmal glaubten, sie hätten ein Rezept in der Tasche, um die ramponierte DDR-Wirtschaft zu sanieren. Fragte man, wie das denn aussehen sollte, erschöpften sich ihre Antworten in der allseits anerkannten Forderung nach Mitspracherechten für Betriebsräte. Oder sie redeten über »ökologische und soziale Rahmenbedingungen« für die Industrie. Mehr war da selten. Über Sonderwirtschaftszonen, Steuerfreiheit für Investoren, moderate Lohnkosten oder die Entwicklungschancen für einen anvisierten Mittelstand zu diskutieren, dafür fand niemand Zeit.

Im Unterschied zu ihnen wussten die Leiter der volkseigenen Betriebe und der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sehr genau, welche Produktionsstätten weiterhin nutzbar waren, was wirklich kaputt und was erneuerungsfähig war. Und dies ungeachtet dessen, ob die deutsche Einheit morgen schon oder erst in einem Jahr kommen würde. Wer am Aufbau im Osten teilnehmen wollte, musste mit solchen Erfahrungsträgern zusammengehen. Als eine der wichtigsten Dienstklassen des politischen Systems hatte die SED deren fachliche Kompetenz nie ausgeschöpft, den Leitern auch niemals die Befugnisse zugebilligt, die sie benötigt hätten, um effizient wirtschaften zu können. Jetzt mochten diese Frauen und Männer sich nicht mehr par ordre du mufti gängeln lassen. Auch nicht von einem Ministerrat, der ihnen

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nun als Planvorgabe (am 1. Februar 1990) »einen radikalen, schnellen Übergang von der Kommandowirtschaft einer zentralistischen Direktivplanung zu einer sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft« befahl.

Mein durch die jahrzehntelange anwaltliche Betriebsbetreuung erlangter Ruf bei den VEB-Direktoren und LPG-Vorsitzenden hatte durch das mir im März '89 auferlegte und Ende des Jahres wieder aufgehobene Tätigkeitsverbot nicht gelitten. Eher war daraus so etwas wie ein Gütesiegel geworden. Anfang Januar 1990 suchten mich jedenfalls fast alle Chefs der von mir früher vertretenen Unternehmen auf und bekundeten mir, dass sie jetzt mehr denn je meine juristische Beratung und Hilfe brauchten.

Aber nicht nur meine alten Klienten nahmen wieder die juristischen Dienstleistungen der von mir und Heidelore geführten Kanzlei in Anspruch. Schon im November hatte ich mich ein erstes Mal mit Professor Karl Döring zusammengesetzt, um mit ihm über die wirtschaftlichen Aussichten der volkseigenen Kombinate zu beraten. Diesbezüglich fehlte es mir an Kenntnissen. Karl Döring war von 1979 bis 1985 stellvertretender Minister für Erzbergbau, Metallurgie und Kali gewesen. Seit 1986 leitete er als Generaldirektor das Bandstahlkombinat »Hermann Matern« (EKO) in Eisenhüttenstadt, welches mit sechs weiteren Kombinatsbetrieben und rund 20000 Beschäftigten zu den größten schwarzmetallurgischen Unternehmen der DDR gehörte. In unseren Gesprächen bestätigte er mir, was ich bis dahin zwar geahnt, aber niemals so deutlich bezeugt bekommen hatte. Er und seine Kollegen waren als Techniker und Betriebsorganisatoren der Konkurrenz aus dem Westen durchaus ebenbürtig. Am Markt jedoch agierten sie wie Hilfsschüler. »Wir brauchen vor allen Dingen Mitarbeiter, die sich zu Kaufleuten, zu Verkäufern entwickeln, die im freien Markt wirklich ihren Mann stehen«, klagte Döring mir gegenüber. Genau hier läge, wie er sich ausdrückte, »unser Hauptproblem im Überlebenskampf«. Erfindungsreiche Ingenieure, Meister und Arbeiter gab es, aber keine Vertriebsexperten.

Was ich an Karl Döring schätzen lernte, war sein Ehrgeiz, die Umsetzung der bevorstehenden wirtschaftlichen Transformation nicht al-

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Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen in Ostberlin, um zukünftige Kooperationen und Übernahmen zu vereinbaren.

Wir hasteten von einer Besprechung zur nächsten. Gehetzte in einem Wettlauf um die günstigste Startposition im östlichen Verlagsgeschäft. Es war verrückt! Wo wir auch auftauchten, entweder waren die Springer-Leute schon da gewesen oder sie kamen, wenn wir im jeweiligen Büro die Tür schlossen. Die Marktanteile, denen wir nachjagten, das waren - in der Verlegersprache gesprochen - die millionenschweren Abonnentenstämme der DDR-Zeitungen und -Zeitschriften. Jedem westlichen Verlagsmanager tropfte der Zahn, sobald er einen Blick auf die astronomischen Zahlen warf.

Das Verrückte an unserer Mission war, dass wir in einem nahezu rechtsfreien Raum handelten. Zwar beschloss die Modrow-Regierung am 1. März 1990 die Gründung einer Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums. Was sie aber vergessen oder vermutlich bei ihrer gesetzlichen Regelung absichtlich ausgespart hatte, war das ungeheure Vermögen der DDR-Parteien und -Massenorganisationen, wozu die Verlagshäuser, Grundstücke und Druckereien zählten. Keiner wusste so richtig, wie man damit verfahren sollte. Das waren aber nun mal neben den Abos der Zeitungen jene Filetstücke, um die es sich zu schlagen lohnte. Und viele der soeben neu ernannten Chefredakteure und Geschäftsführer, denen wir in ihren Büros gegenübersaßen, mit denen wir literweise Kaffee schlürften, glaubten angesichts der undurchsichtigen Rechtslage ernsthaft, sie könnten, weil ihre Unternehmen nicht volkseigen, sondern organisationseigen waren, worunter sich niemand Genaueres vorstellen konnte, pekuniäre Vorteile für sich herausschlagen. Notabene: Gregor Gysi argumentierte ganz auf dieser Linie gegen eine Selbstauflösung der Partei. Er fürchtete, in dem Fall würde das riesige SED-PDS-Vermögen zum »herrenlosen Gut«. Es brauchte Monate, bis die neu gewählte Volkskammer auf Antrag der DSU durch ihren Beschluss zur Einsetzung einer Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens von Parteien und Massenorganisationen der DDR das akut gefährdete Organisationseigentum unter Schutz stellte. Daraufhin protestierten die von Gysi am 2. Juni zusammengetrommelten SED-Veteranen im Berliner Lustgarten gegen eine angebliche »Lex PDS«, wie sie es nannten.

Ich erinnere mich an meine Wut, als wir das erste halbseidene Angebot unterbreitet bekamen, und wie ich mich seinerzeit gegenüber Klaus Mertens echauffierte, nachdem ein Direktor der Vereinigung organisationseigener Betriebe uns grinsend den Kauf einer in der Johannes-Dieckmann-Straße gelegenen Immobilie offeriert hatte, für eine »Vermittlungsgebühr« von 300 000 D-Mark, selbstverständlich »cash«. Ein Bürogebäude in exklusivster hauptstädtischer Lage, nicht weit entfernt vom Brandenburger Tor. Zug um Zug wollte uns dieser Blockfreund dafür garantieren, dass wir die millionenschwere Immobilie »für ein Butterbrot« bekommen würden. Mich derartigen Schiebereien entgegenzustellen und Figuren wie ihn auflaufen zu lassen, bereitete mir viel Vergnügen. Ich erwähne dieses beispielhafte Erlebnis aus vielerlei Gründen. Die Geschichte des ökonomischen Umbruchs anfangs der Neunziger wird ja immer noch ziemlich einseitig erzählt - die westdeutschen Brüder und Schwestern finden sich in der Rolle raubeiniger Kolonisatoren wieder, welche die ach so gutgläubigen Ostschafe mitleidslos geschoren haben. Über die krummen Geschäfte der Ostpi-ranhas in dieser zeitlich kurzen, heute nicht mehr vorstellbaren Wildwestperiode deutscher Geschichte wird hingegen kein Wort verloren. Eigentlich müsste man dieser Epoche ein eigenes Strafregister widmen. Wer da besser abschneiden würde, westdeutsche Glücksritter und Beutemacher oder DDR-deutsche Leichenfledderer, wüsste ich nicht zu entscheiden.

Meine hochfliegenden Ambitionen, eine verlegerische Tätigkeit betreffend, waren unrealistisch. Wie sich schnell zeigte, war der Zeitungsmarkt total übersättigt und kein Millimeter Platz mehr vorhanden für die Neugründung eines seriösen überregionalen ostdeutschen Blattes. Diese Einsicht vor Augen, entschied ich mich wieder für die anwaltliche Praxis. Schulte-Hillen, dem ich meinen Entschluss mitteilte, reagierte souverän. Er verübelte mir meine Kündigung nicht, sondern schlug mir sogar noch eine vertragsabändernde Übergangszeit vor, während der ich für eine herabgesetzte Bezahlung Grüner + Jahr vertreten sollte.

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