Der
Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur
als
kulturelle und politische Gestaltungsaufgabe
Vorwort des Autors 1992
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Klimakatastrophe, Gewässerverschmutzung, Müllproblem oder Dioxinverseuchung sind Stichworte, die verschiedene Seiten eines Problems beschreiben: des nachhaltig gestörten Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur. Es ist eine zentrale Aufgabe der Umweltpolitik, Ursachen der globalen Stoffwechselstörungen zu untersuchen und Wege aus der Krise zu weisen.
Zur Sicherung der Lebensgrundlagen auf der Erde ist eine umfassende Neubesinnung des Verhältnisses von Mensch und Natur notwendig, die von einer grundsätzlichen Analyse der Fehlentwicklung dieses Verhältnisses ausgeht. Dabei kommt der Chemiepolitik als einem zentralen Bereich der Umweltpolitik neben anderen Bereichen wie der Energie- oder der Landwirtschaftspolitik eine entscheidende Rolle zu.
Im Verlauf einer für unser modernes Zeitempfinden unvorstellbar langsamen und lang andauernden Entwicklung haben sich auf der Erde immer komplexere Lebensformen herausgebildet. In ständiger Anpassung an die stofflichen und physikalischen Bedingungen unterschiedlicher Lebensräume wurde schließlich die Stufe erreicht, die die Entstehung des Menschen ermöglichte. Ineinandergreifende biologische und geologische Stoffkreisläufe haben zu weitgehend stabilen Gleichgewichten in der stofflichen Zusammensetzung der Biosphäre geführt.
Bis zur industriellen Revolution war die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen noch weitgehend in die natürlichen, die Lebensbedingungen auf der Erde bestimmenden Energieströme und bio-geo-chemischen Stoffkreisläufe eingebunden. Es wurden überwiegend regenerative Rohstoffe und Energien genutzt. Die Eingriffe des Menschen in die Biosphäre waren bis dahin begrenzt und hielten sich trotz massiver regionaler Umweltzerstörungen global gesehen in der Größenordnung natürlicher Veränderungen, wie sie durch Eiszeiten, Vulkanausbrüche oder Flutkatastrophen in relativ kurzen geologischen Zeiträumen immer wieder stattgefunden haben. Derartigen Veränderungen hat sich das Leben auf der Erde mit den Mechanismen der biologischen Evolution jeweils anpassen können.
In zwei Jahrhunderten industrieller Entwicklung hat der Mensch in einem weitaus größeren Maß in seine natürliche Umwelt eingegriffen als in den davorliegenden Jahrtausenden kultureller Entwicklung. Mit der industriellen Revolution wurde der Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur einem revolutionären Wandel unterzogen. Durch die unbeschränkte Ausbeutung fossiler Energieträger griff der Mensch mit weitreichenden Folgen in geologische Stoffkreisläufe ein, deren Genese Zeiträume umfaßt, die ein Vielfaches der Dauer der bisherigen Menschheitsentwicklung ausmachen. Stoffe, die aus tieferen Erdschichten in die wirtschaftlichen Stoffströme gebracht wurden, gelangen in Konzentrationen in die biologischen Stoffkreisläufe, die die natürlichen Toleranzgrenzen überschreiten.
Die lebende Natur wurde durch die Mechanisierung und Chemisierung von Land- und Forstwirtschaft und die Entwicklung von Verarbeitungsindustrien einer neuartigen und intensiveren Nutzung unterworfen und verstärkten Belastungen ausgesetzt. Die natürlichen Nährstoffkreisläufe wurden dadurch unterbrochen.
Mit der chemischen Industrie entstand eine Schlüsselindustrie, die eine Vielzahl neuartiger Stoffe in den Wirtschaftsprozeß und die Umwelt einbrachte. Eine Vielzahl von Stoffen, die in der Biosphäre nicht oder nur in geringsten Mengen natürlich vorkommen, ist heute im Gewebe von Lebewesen zu finden, deren Stoffwechselsysteme sich diesen Substanzen im Verlauf der Evolution nicht anpassen konnten. Auch der menschliche Organismus selbst wird völlig neuen Einflüssen und Belastungen ausgesetzt.
Wissenschaft und Technik sind seit Beginn der Industrialisierung in besonderem Maß darauf ausgerichtet, die Natur im einzelnen zu erkennen und durch wirtschaftliche Nutzung zu beherrschen. Aus der Fülle der Möglichkeiten, mit den Erscheinungsformen der Natur umzugehen, wurden jeweils diejenigen herausgegriffen, die den schnellsten Weg zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, technischen Fortschritten und wirtschaftlichen Gewinnen versprachen. Die Naturwissenschaften gliederten sich in weitgehend unabhängige Einzeldisziplinen und diese wieder in Spezialgebiete auf. Die Natur wurde in eine Vielzahl isolierter Forschungsgegenstände aufgeteilt. Gesamtheitliche Naturbetrachtungen hatten demgegenüber einen geringeren Stellenwert. Erkenntnisse über komplexe Wirkungen menschlicher Eingriffe in die Natur ergaben sich bisher in der Regel erst aus dem globalen «Experiment» der industriellen Anwendung.
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Parallel zu den überwiegend auf isolierte Naturaspekte orientierten und in diesem Sinne atomistischen Naturwissenschaften hat sich eine hinsichtlich der Naturnutzung ähnlich atomistische Wirtschaftsweise herausgebildet. Mit der Befreiung aus den Fesseln des Feudalismus hat sich die bürgerliche Wirtschaft auch der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung weitgehend entziehen können. Die Einführung der Gewerbefreiheit beinhaltete — und das gilt im Grundsatz bis heute — implizit die Freiheit, die natürlichen Existenzgrundlagen — Pflanzen und Tiere, mineralische Rohstoffe, Boden, Luft und Wasser — unbeschränkt der wirtschaftlichen Ausbeutung zu unterwerfen.
Für die Entwicklung von Konzepten für einen langfristig ausgewogenen Stoffwechsel des Menschen mit der Natur war unter diesen Voraussetzungen kein Platz. Dabei waren die katastrophalen Folgen einer schrankenlosen Naturausbeutung schon bald nach der Entstehung der ersten Industrien deutlich zu erkennen. Verpestete Luft und verseuchtes Wasser waren auch im vorigen Jahrhundert drängende Umweltprobleme. Und um die Jahrhundertwende waren diese Probleme in Deutschland Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen. Die sozialen Katastrophen zweier Weltkriege und des durch Inflation und Weltwirtschaftskrise verschärften Massenelends haben das Bewußtsein für die damals bereits akuten Umweltprobleme dann für ein halbes Jahrhundert verschüttet.
Heute haben die Eingriffe des Menschen die Beschaffenheit der drei elementaren Umweltmedien Wasser, Luft und Boden und damit die Lebensbedingungen auf der Erde nachhaltig verändert. Lebensräume, in denen sich in den langen Zeiträumen der biologischen Evolution die heutigen Formen des Lebens entwickelt haben, sind durch die Folgen der umfassenden industriellen Nutzung existentiell bedroht. Damit ist auch das Weiterbestehen der Menschheit gefährdet.
Die Erhaltung der Lebensbedingungen auf der Erde ist zu einer zentralen politischen Aufgabe geworden. Diese Aufgabe kann nicht durch die derzeit übliche Umweltpolitik gelöst werden, die nur den jeweils brennendsten Problemen mit administrativen oder technischen Mitteln nachzuhinken versucht.
Um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur so weiterzuentwickeln, daß eine Fortsetzung der kulturellen Evolution des Menschen möglich ist und die Biosphäre in annähernd dem Zustand erhalten werden kann, der sich in dem langen Zeitraum der biologischen Evolution herausgebildet hat, ist es unabweisbar nötig, die gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Praktiken prinzipiell zu überdenken.
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Naturwissenschaften und Technik haben nicht nur eine erhebliche Mitverantwortung für die Fehlentwicklung des Stoffwechsels mit der Natur, sie haben gleichzeitig Bausteine für eine Veränderung zum Positiven entwickelt. Durch neue analytische Verfahren können die Ursachen von Umweltveränderungen immer genauer erforscht werden. Neue Techniken und neue Werkstoffe können auch zu einer umweltverträglicheren Art der Produktion und Konsumption genutzt werden.
Die notwendigen Veränderungen werden neben einem anderen Umgang mit Rohstoffen, Energiequellen und Abfallstoffen weitere gesellschaftliche Bereiche einbeziehen müssen.
Das betrifft Fragen der Wirtschaftsordnung und der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ebenso wie juristische oder ethische Grundfragen.
Die Chemiepolitik hat hierbei eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.
In diesem Buch wird versucht, die Entstehungshintergründe und die wichtigsten Entwicklungslinien des industriellen Stoffwechsels mit der Natur zu skizzieren. Im ersten Teil wird analysiert, auf welcher Basis und mit welchem Natur- und Gesellschaftsverständnis sich neue industrielle Formen der Naturnutzung durchsetzen konnten. Der Schwerpunkt dieses Teils liegt beim Übergang von regenerierbaren zu nicht regenerierbaren Rohstoffen und Energiequellen und bei der Entwicklung industrieller Methoden in Land- und Forstwirtschaft. In einer Zwischenbilanz werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beleuchtet, unter denen sich der industrielle Stoffwechsel mit der Natur entwickelt hat.
Der zweite Teil des Buches beschreibt die Entstehung und Durchsetzung wichtiger Produktionslinien der chemischen Industrie in ihrer Verbindung mit anderen Wirtschaftsbereichen wie Verkehr oder Landwirtschaft. Damit wird versucht, einige umweltpolitisch besonders bedeutsame Pfade im Dschungel der stoffwirtschaftlichen Verflechtungen moderner Industriegesellschaften zu erhellen.
Den Abschluß bilden Reflektionen über Wege zu einem zukunftsverträglichen Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur. Diese Wege werden nur dann erfolgreich gefunden und beschritten werden können, wenn die Suche danach von Menschen aus allen betroffenen Bereichen der Gesellschaft engagiert vorangetrieben wird.
Die vielfältige Unterstützung, die der Autor von Vertreterinnen und Vertretern von Umweltverbänden, Umweltbehörden, Wissenschaft, Gewerkschaften, Unternehmen, politischen Parteien und anderen gesellschaftlichen Gruppen erhalten hat, hat gezeigt, daß dieses Engagement bereits an vielen Stellen vorhanden ist. Dieses Buch hätte ohne ihre aktive Mithilfe und die verständnisvolle Unterstützung meiner Frau, für die hier herzlich gedankt sei, nicht geschrieben werden können.
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