1. Umwelt und Leben zu Beginn der industriellen Revolution
Henseling-1992
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Um auch nur annähernd zu ermessen, welcher Art die qualitativen und quantitativen Sprünge im Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur sind, die mit der industriellen und agrarischen Revolution verbunden waren und am Beginn der Geschichte der chemischen Industrie standen, empfiehlt sich ein Rückblick auf vorindustrielle Verhältnisse.
Bei aller Spannbreite unterschiedlicher Lebensweisen, die vom Luxus des Adels bis zum Elend der leibeigenen Tagelöhner reichten, war unseren vorindustriellen Vorfahren eines gemeinsam: Das Irdendasein war durch die drei Geißeln der Menschheit Pest, Hunger und Krieg sehr unsicher.
Einem stets gefährdeten individuellen Mikrokosmos stand aber im Bewußtsein der Menschen ein durch göttliche Fügung und Weisheit gesicherter Makrokosmos gegenüber, in dessen paradiesischen Gefilden die auf Erden so schwachen Menschen ihre sichere Aufnahme finden konnten.
Heute halten wir in den reichen westlichen Industrieländern die Geißeln der Menschheit nicht zuletzt mit Hilfe der Chemie so weit in Schach, daß für die etablierten Mitglieder der Zweidrittelgesellschaften mit einiger Wahrscheinlichkeit eine etwa siebzigjährige Lebensperspektive planbar ist.
Damit hat die Konzentration auf die individuelle Entfaltung und Lebensplanung eine rationelle Basis. Der Gewinn irdischer Lebenserwartung und freierer individueller Entfaltung geht in den reichen Industrieländern einher mit dem Verlust des Makrokosmos sowohl im weltanschaulich religiösen Sinn als auch im ganz konkreten Sinn der Um- und Mitwelt.1
Die Art, wie die Menschen sich zu Beginn der Industrialisierung, also etwa um 1800, ernährten und kleideten, wie sie wohnten und welchen gesundheitlichen Risiken sie ausgesetzt waren, hing nicht nur von den vorfindbaren natürlichen Voraussetzungen und dem Stand der technischen Möglichkeiten ab, sondern ebensosehr von den gesellschaftlichen Bedingungen.
Die spätfeudale Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts war durch krasse gesellschaftliche Gegensätze gekennzeichnet. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts war vor allem die Schicht der unterbäuerlichen Landbesitzer und der Familien ohne Landnutzung stark angewachsen.
Schätzungen zufolge konnten zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung Ende des 18. Jahrhunderts keine ausreichende Absicherung der Nahrungsmittelversorgung aus den selbstbewirtschafteten Flächen erzielen, sondern waren auf zusätzliche Einkommen durch Arbeit für gewerbliche Betriebe oder Verlage* angewiesen.
* detopia-2021: Verlage? Im Buch nachgucken, ob richtig gescannt.
Die Entwicklung der Landwirtschaft, stagnierte unter dem Joch feudaler Ausbeutung und Unterdrückung. Auch die Möglichkeiten, das Einkommen durch eine zusätzliche Tätigkeit zu verbessern, waren beschränkt. Die meisten dieser Familien konnten sich daher aus dem Zustand der Armut nicht befreien. Auch in den Städten war die Situation nicht erfreulicher. Dem überwiegend durch Zuwanderung vom Land bedingten Bevölkerungszuwachs konnte nicht durch die Einrichtung entsprechender zusätzlicher Einkommensmöglichkeiten begegnet werden. Bis zu einem Viertel der Einwohner war in den Städten in irgendeiner Weise auf Unterstützung angewiesen. Die Basis der sozialen Pyramide wurde breiter, und gleichzeitig zog sich die Pyramide vertikal auseinander. Der Masse landarmer oder landloser Menschen stand eine schmale, wohlhabende Feudalschicht gegenüber.2
Die alltäglichen materiellen Bedürfnisse der einfachen Leute zu Beginn des Industriezeitalters mußten sich auf die Grundbedürfnisse Essen, Trinken, Wohnung und Kleidung beschränken. Für die notdürftige Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse mußten die meisten Menschen so viel Kraft und Zeit aufbringen, daß für «gehobene Ansprüche» nichts mehr übrigblieb. Allein um das tägliche Brot zu kaufen, mußte eine Maurerfamilie (fünf Personen) in Berlin um 1800 nahezu die Hälfte des Einkommens aufwenden. Für Nahrung insgesamt einschließlich der Getränke wurden fast drei Viertel des Einkommens ausgegeben. Der Rest reichte für Miete, Heizung, Beleuchtung und Kleidung kaum aus.3)
Ganz anders sah es in den Häusern der reichen Bürger und den Palästen des Adels aus. Zur Befriedigung der gehobenen Bedürfnisse dieser Schichten hatte sich eine umfangreiche Luxusindustrie etabliert.
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Die Sorge um das tägliche Brot
An erster Stelle auf dem Speisezettel der meisten Menschen stand Getreidenahrung in Form von Brei, Grütze, Graupen, Klößen und Brot. Nach den Getreideprodukten waren vor allem Hülsenfrüchte (Erbsen und Linsen) und Kohl Bestandteile der täglichen Nahrung. Die pflanzliche Nahrung wurde vor allem durch Milchprodukte ergänzt. Der Fleischverbrauch war sehr gering. Die meisten Familien mußten sich mit ein bis zwei Fleischtagen pro Woche begnügen, viele konnten sich überhaupt kein Fleisch leisten.
Die geringen Einkommen vieler Handwerker, niedriger Beamter und der meisten Landbewohner reichten schon in normalen Zeiten kaum aus, die Grundnahrungsmittel in der Menge zu erwerben, die zur Sättigung der meist kinderreichen Familien nötig war. Die Zeiten waren aber durchaus nicht immer normal. Im 18. Jahrhundert war jedes vierte Jahr ein Hungerjahr. Klimaschwankungen, Schädlingsbefall und Kriege verursachten Mißernten und damit steigende Getreidepreise.
Die Hungerkatastrophe der Jahre 1770/72 hat der Arzt und Physikus des Kurfürstlich-Mainzischen Rates für das Ober-Eichsfeld, J.F. Arand, so beschrieben :
«Ich werde nie anders als mit Schauer an das Elend unserer Lande, an den kummervollen, kläglichen, grausamen Zustand unserer Einwohner denken können. Die Patienten lagen ohne Hoffnung; Heu, Grummet, Gartenfrüchte, Gemüse, Obst waren verdorben; jämmerlich sah der Landmann seinen sauren Schweiß bei der Ernte vereitelt; Ströme des Unglücks und das schrecklichste unter ihnen, der Hunger, wüteten über den Unglücklichen.
Man sah die Früchte auf dem Halme auswachsen: Unzeitig und bei dem Ofenfeuer halb getrocknet mußten sie schon der verhungerten Armut zur stillenden Nahrung dienen. Der andere wenige Vorrat wurde naß in die Scheune gebracht, das Geströtze konnte fast zu keinem Futter gebrauchet und die ausgedroschenen Körner von der Vermoderung nicht gerettet werden. Ersteres war dem Vieh und letzteres dem Menschen gefährlich... Aus einem solchen drei Jahre dauernden Mißwachs folgte eine auch den ältesten Leuten undenkbare, ja auch den Nachkommen unglaubliche Teuerung, die fürchterlichste Not, kurz der äußerste Hunger drückte die Armut.»
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In solchen Jahren stieg die Sterblichkeit stark an. Neben den Verhungerten zählten die durch Mangelernährung geschwächten und an Infektionskrankheiten gestorbenen Menschen zu den Opfern, darunter viele Kinder.
Bei der Analyse der Ursachen vorindustrieller Hungerkrisen werden von Sozialhistorikern unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Die «klassische» Interpretation, die in Deutschland vor allem von Wilhelm Abel5) vertreten wird, macht im wesentlichen den wetterbedingten Ernteausfall und seine unmittelbare Folge, die kurzfristige Schwankung der Versorgung einer Bevölkerung mit den wichtigsten Nahrungsmitteln, als Ursache der Hungersnöte aus.
Bei dieser Interpretation erscheint der wissenschaftlich-technische Fortschritt, hier die «agrarische Revolution», als einziger Ausweg aus den Versorgungskrisen, da vor allem ungenügende Produktionsweisen als deren Grund angesehen werden. Neuere Interpretationen, die auf regionalgeschichtlichen Studien beruhen, betonen daneben die soziale Ursachenkomponente von Hungersnöten. Die feudale Ausbeutung ließ im 18. Jahrhundert der ärmeren ländlichen Bevölkerungsschicht so wenig ökonomischen Spielraum, daß jede Verschärfung der allgemeinen Lage und vor allem jeder Anstieg der Getreidepreise zur völligen Verarmung führen mußte.
Herrschaftliche Abschöpfung und Reglementierung werden in den regionalen Fallstudien regelmäßig als hunger- und krisenverursachende, zumindest aber krisenverschärfende Faktoren erkannt. Die beträchtliche Bedeutung der sozialen Faktoren als Ursache von Hungerkrisen ist beispielsweise an der Tatsache zu erkennen, daß vielfach Getreideexporte aus Ländern bekannt sind, in denen gleichzeitig Hungersnot herrschte. Hier wurde offensichtlich vor allem deswegen gehungert, weil die hohen Brotpreise nicht bezahlt werden konnten, und nicht, weil kein Brotgetreide vorhanden war. Auch die Tatsache, daß vielfach ausgerechnet die — in feudaler Abhängigkeit besonders unterdrückte — Landbevölkerung und nicht die Stadtbevölkerung am stärksten von der Krise betroffen war, weist auf die sozialen Bedingungen der Hungerkrisen hin.6)
Dieser Interpretationsansatz führt zu der — angesichts der ökonomischen und ökologischen Krise der modernen industrialisierten Landwirtschaft und der Situation in den Ländern der dritten Welt wieder aktuellen — Frage, welchen Beitrag soziale Veränderungen zur Vermeidung oder zumindest Entschärfung der vorindustriellen Hungerkrisen hätten leisten können.
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Bei der Ernährung der wohlhabenderen Oberschicht spielten neben den erleseneren einheimischen Nahrungsmitteln in zunehmendem Maß Nahrungs- und Genußmittel eine Rolle, die aus den Kolonien eingeführt wurden. An erster Stelle ist der Zucker zu nennen. Zucker war noch im 17. Jahrhundert so kostbar, daß er nur in kleinsten Mengen eher als eine Art Gewürz denn als Nahrungsmittel benutzt und in verschließbaren Zuckerdosen aufbewahrt wurde. Durch den Ausbau der Zuckerrohrplantagen im 18. Jahrhundert stiegen die Importmengen bei sinkenden Preisen beträchtlich an. In Hamburg, dem damals wichtigsten deutschen Einfuhrhafen, wurden 1790 bereits zirka 30.000 Tonnen Rohzucker eingeführt. Die Zuckersiederei wurde zu einem wichtigen Gewerbe.7)
In engem Zusammenhang mit dem steigenden Zuckerverbrauch stand der ebenfalls stark zunehmende Verbrauch von Tee, Kaffee und Kakao sowie der von Rum, der aus der Zuckermelasse gewonnen wurde. Auch diese Produkte waren wichtige Artikel im Kolonialhandel.
Kleider machen Leute: Leinenlumpen und Seidenroben
Der niedrige Lebensstandard der armen Bevölkerungsmehrheit zwang auch im Hinblick auf Kleidung und Wohnung zur Beschränkung auf das Allernotwendigste. Auf der Basis lokal verfügbarer Rohstoffe wie Flachs oder Wolle, die entweder aus der eigenen Wirtschaft stammten oder in wenig bearbeiteter Form eingekauft wurden, wurde die Kleidung zu einem großen Teil in häuslicher Arbeit für den Eigenbedarf hergestellt. Der größte Teil dieser Arbeit war Angelegenheit der Frauen. Nur das Weben war Männersache.
Feinere Gewebe aus Baumwolle oder gar Seide waren für die breite Mehrheit unerschwinglich. Auch farbige Textilien, vor allem rot- oder blaugefärbte, waren nicht für jedermann erhältlich. Außerdem verboten am Ende des 18. Jahrhunderts noch strenge Kleiderordnungen dem «einfachen Volk» das Tragen «vornehmer Kleidung oder die Verwendung luxuriöser Stoffe. Auf diese Weise wurde einerseits die Einfuhr teurer Faser- und Farbstoffe im Sinne merkantilistischer Wirtschaftspolitik begrenzt. Das einfache Volk hatte sich mit einheimischen Rohstoffen zu begnügen. Andererseits war die Kleidung wichtigstes Mittel, die Standesunterschiede deutlich zu machen. Die Kleiderordnungen hatten also auch den Sinn, zu verhindern, daß sich jemand einen höheren gesellschaftlichen Status anmaßte, als ihm von Geburt oder durch herrschaftliche Gnade zukam.8)
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Wohnung: Hütten und Paläste
Die Art der Wohnung war ebenso stark von den extremen sozialen Gegensätzen geprägt wie die der Kleidung. Ärmlichsten Lehmhütten standen die prachtvollsten Paläste gegenüber. Viele Menschen lebten in einfachen strohgedeckten Katen oder Hütten, von denen kaum eine die Zeit überdauert hat. Das Gesinde mußte meist in Nebenräumen von Wirtschaftsgebäuden hausen. Ein eigenes Bett für jedes Familienmitglied war ein Luxus. Die Fußböden bestanden häufig nur aus gestampftem Lehm, und die primitiven Feuerstellen gaben so wenig Wärme ab, daß die Feuchtigkeit beständig in den Wänden blieb.
Für diese einfachste, aber verbreitete Art der Unterkunft genügten in der Hauptsache die Baustoffe, die die Natur in der näheren Umgebung zur Verfügung stellte: Holz, Natursteine, Lehm und Stroh. An vorgefertigten Baumaterialien mußten nur einige Eisenteile wie Nägel, Schlösser und Scharniere und für die kleinen Fenster etwas Glas erworben werden.
Dem geringen Aufwand für die Hütten stand der gewaltige Aufwand für die Paläste gegenüber. Dazwischen lag in hierarchischer Abstufung die mannigfaltige Palette vom einfachen Bürger- oder Bauernhaus bis zum prächtigen Stadthaus des Patriziers und von der einfachen Dorfkirche bis zur Barockkathedrale. Auch hier dominierten die regional verfügbaren Baustoffe.
Das Glas hatte sich vom Luxusartikel, den es in vielen Verarbeitungsformen immer noch darstellte, auch schon zu einem Massenprodukt entwickelt. In allen wichtigen europäischen Ländern existierten Glasmanufakturen, in denen Fensterglas, aber auch Flaschen in Massenfertigung hergestellt wurden. Die luxuriösen Baustoffe wie edler Marmor, leuchtende Mineralfarben oder Seidentapeten waren bedeutende Handelsartikel, vor allem aber Gegenstand hochentwickelter Luxushandwerke.
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Gesundheit: Pocken, Schwindsucht und früher Kindstod
Angesichts der dürftigen Lebensbedingungen liegt auf der Hand, daß es um die gesundheitliche Situation der meisten Menschen in vorindustrieller Zeit nicht gut stand. Hunger oder unzulängliche Nahrungsmittel waren dem Wohlergehen ebensowenig förderlich wie der Mangel an wärmender Kleidung oder die stickige Enge der viel zu kleinen Wohnungen. Hinzu kam die ständige Erschöpfung durch eine übermäßige Arbeitsbelastung.
In den Städten schuf das enge Zusammenwohnen im Zusammenwirken mit mangelhaften hygienischen Bedingungen ideale Voraussetzungen für die Verbreitung ansteckender Krankheiten. Die Kleidung wurde nur selten gereinigt, und Ungeziefer wie Läuse oder Flöhe peinigte nicht nur die ärmeren Bevölkerungsschichten. Das Entleeren der «Nachtstühle» auf die Straße war immer noch nicht völlig unterbunden. Verordnungen wie das Hamburger Mandat von 1788 konnten diesem Übel erst allmählich Einhalt gebieten.9) Auch mit der Körperhygiene stand es nicht zum besten.
Am häufigsten erlagen die Menschen zu Beginn des Industriezeitalters Infektionskrankheiten. Die zum Teil sehr unklaren Bezeichnungen für die als Todesursache angegebenen Krankheiten sind ein Hinweis auf den Stand der damaligen ärztlichen Kunst. Die Heilerfolge waren so schlecht, daß selbst ein Mitglied der Ärzteschaft, der Hygieniker E. Baldinger (1738-1804), den Verdacht äußerte, die Vertreter seiner Zunft würden mit ihren Methoden mehr Menschen töten als heilen.10)
Mobilität
Der Bewegungsspielraum der meisten Menschen beschränkte sich in der vorindustriellen Zeit auf die zu Fuß oder mit dem Pferdefuhrwerk zu erreichenden Orte in der näheren Umgebung des Wohnortes. Größere Entfernungen wurden von den einfachen Leuten meist nur dann zurückgelegt, wenn sie von ihren Landesherren zum Kriegsdienst gezwungen wurden oder wenn sie ihrer Not durch Auswanderung zu entfliehen versuchten. Die Wanderjahre der Handwerksgesellen waren wörtlich zu verstehen.
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Reisen mit der Postkutsche waren teuer, zeitaufwendig und strapaziös. Da der Wohnsitz vielfach auch der Arbeitsplatz der Menschen war, beide jedenfalls nicht weit voneinander entfernt waren, erübrigte sich für die Mehrheit der Bevölkerung ein Personentransport aus beruflichen Gründen, und Vergnügungsreisen kamen bei den geringen Einkommen ohnehin nicht in Frage.
Der hohe Eigenversorgungsgrad der einfachen Landbevölkerung mit allen wichtigen Gütern hielt auch den Güterverkehr in Grenzen. Die für den Markt produzierten Güter wurden in Ochsenkarren oder Pferdefuhrwerken, mit denen auch die Fuhrdienste für den Feudalherren erbracht wurden, auf schlecht ausgebauten Wegen transportiert. Das Netz ausgebauter Straßen war noch sehr dürftig.
Für den Güterverkehr hatten Wasserwege eine weit größere Bedeutung als Straßen. Daher lagen beispielsweise die im Getreidehandel besonders aktiven Gebiete Deutschlands in Küstennähe und verfügten über gute Binnenwasserstraßen. Die Regulierung und Schiffbarmachung von Flüssen und der Kanalbau waren wichtiger als der Ausbau der Landstraßen. In Preußen wurden von 1688 bis 1786 rund 750 Kilometer Wasserstraßen angelegt." Der Fernhandel wurde überwiegend per Schiff bewältigt.
Für die Befriedigung von Verkehrsbedürfnissen wurden Naturressourcen nur in relativ geringem Umfang in Anspruch genommen. Verkehrsbedingte Umweltbelastungen gab es dementsprechend kaum. Eine Ausnahme bildet die Entwaldung ganzer Regionen durch den großen Holzbedarf für den Schiffbau der «Seefahrernationen».
Werkstoffe und Produktionstechnik
Bis zu Beginn der Industrialisierung bestimmten noch die technischen Errungenschaften und Prinzipien des Mittelalters, Verbesserungen der Produktion durch spezialisierte Handwerke und systematische Nutzung von Wind-, Wasser- und Muskelkraft, die Art der Herstellungsprozesse. In den meisten Bereichen der Wirtschaft bildeten die menschliche Muskelkraft und Geschicklichkeit die Hauptquelle produktiver Leistungen.
Neben dem in Zünften organisierten Handwerk hatten sich das Verlagswesen und Manufakturen als weitere gewerbliche Wirtschaftsformen herausgebildet. Das Verlagssystem und vor allem die Manufakturen sind hinsichtlich der Arbeitsorganisation Vorläufer der industriellen Fabrikarbeit. Die Produktionstechnik war dagegen noch nicht über die aus der handwerklichen Tradition überlieferten Prinzipien hinausgekommen.
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Als Antriebskraft dienten weiterhin ganz überwiegend regenerierbare Energien wie Wind- und Wasserkraft oder menschliche und tierische Muskelkraft. Stoffliche Grundlage des Wirtschaftens waren vor allem die regional verfügbaren Naturstoffe. Holz war in vorindustrieller Zeit wichtigster Bau- und Werkstoff, Brennmaterial und Ausgangsstoff für die Gewinnung etwa von Teer, Pech, Pottasche, Holzkohle oder Gerbstoffen. Der Bedarf an Wärmeenergie wurde sowohl im privaten Haushalt als auch in den Gewerben noch überwiegend durch Brennholz gedeckt.
Die Metallerzeugung war bis zur Industrialisierung weit davon entfernt, eine Massenproduktion im modernen Sinn zu sein. Die jährliche Eisenerzeugung in Deutschland wird für 1790 auf 30.000 Tonnen geschätzt;12) das ist die Menge, die ein moderner Großhochofen in drei Tagen erzeugen kann oder etwa ein Tausendstel der Jahresproduktion in der alten Bundesrepublik. Die Metalle spielten im Vergleich mit anderen Gütern wie landwirtschaftlichen Produkten oder Holz quantitativ keine sehr große Rolle; ihre Erzeugung und Verarbeitung hatte dementsprechend am Stoffwechsel mit der Natur erst einen begrenzten Anteil.
Für die qualitative Entwicklung der Technik, vor allem der Werkzeuge, waren die Metalle und der Stand der Metallverarbeitung dagegen seit der Bronzezeit von ausschlaggebender Bedeutung. Eine besondere Bedeutung hatten die Metalle für die Entwicklung der Kriegstechnik.
Formen vorindustrieller Umweltnutzung und -zerstörung
Die vorindustriellen Umweltveränderungen in Mitteleuropa entsprachen dem Stand von Wirtschaft und Technik. Das Ausmaß, in dem in Naturzusammenhänge eingegriffen werden konnte, war durch die natürlichen Grenzen eingeschränkt, in denen auf dieser Stufe über Energien verfügt und Rohstoffe ausgebeutet werden konnten.
Der Zustand der Wälder war zu Beginn der Industrialisierung sehr unterschiedlich. Neben Regionen mit Wäldern in gutem Zustand und Resten naturnaher Wälder fanden sich viele Regionen, in denen die Wälder ein sehr trauriges Bild boten.
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Neben Rodungen zur Gewinnung von Acker- und Weideland waren die Waldweide, übermäßige Wildbestände und übermäßige Holzentnahme für gewerbliche Zwecke sowie der Holzhandel Ursachen großer Verwüstungen. Die Gewerbe mit hohem Brennholzbedarf, Salz- und Salpetersiedereien, Brauereien, Ziegeleien und Kalköfen, Aschenbrenner und Glashütten, Berg- und Hüttenwerke, brannten im wahrsten Sinne des Wortes gewaltige Löcher in die Wälder. Bergbau und Hüttenwesen strapazierten sie nicht nur durch ihren großen Holzbedarf, sondern auch durch die emittierten Schadstoffe, etwa den «schädlichen Hüttenrauch».
Die regional unterschiedlichen Auswirkungen der Gewerbe mit hohem Holzbedarf auf den Zustand der Wälder lassen sich auf die jeweils ausgeübte Wirtschaftsweise, nachhaltiges Wirtschaften oder Raubbau, zurückführen. Zwei Beispiele aus dem Bereich der Salinen und der Eisenmetallurgie belegen das:
Die Lüneburger Salzsiedereien beanspruchten die umliegenden Holzvorkommen durch Raubbau so stark, daß die Entwaldung und Heidebildung in der Umgebung Lüneburgs zu einem Standardbeispiel vorindustrieller Waldverwüstung wurde.
Die Saline Reichenhall wirtschaftete dagegen schon seit dem 16. Jahrhundert nach dem Prinzip des «ewigen» Waldes. In einer Schrift aus dem Jahr 1661 wird der Begriff erläutert:
«Gott hat die Wäld(er) für den Salzquell erschaffen, auf daß sie ewig wie er kontinuieren mögen; also solle der Mensch es halten: ehe der alte ausgehet, der junge bereits zum Verhacken hergewachsen ist.»13)
Durch entsprechende Forstordnungen wurde dafür gesorgt, daß für die Saline nur so viel Holz geschlagen wurde, wie in den Wäldern nachwuchs.
Ähnlich unterschiedliche Wirtschaftsweisen sind auch aus dem Bereich der Eisenerzeugung überliefert. Zeitgenössische Berichte über schlimme Waldverwüstungen — beispielsweise aus der Oberpfalz — nennen rücksichtslosen Kahlschlag zur Deckung des Holzkohlebedarfs der Hochöfen und Hammerwerke als Ursache für den traurigen Zustand der Wälder.
Die im Siegerland betriebene Haubergwirtschaft war dagegen auf langfristige Sicherung der Holzversorgung angelegt. Im Haubergsystem wurden die Waldflächen auf genossenschaftlicher Grundlage im gemeinschaftlichen Interesse von Bauern, Eisenindustrie und Ledergewerbe genutzt : Je nach der Umtriebszeit waren die Hauberge in 16 bis 20 Schläge eingeteilt, von denen jeweils der älteste jährlich geschlagen wurde.14
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Faulige Wässer und ungesunde Dünste
Weit mehr als die anorganischen Schadstoffe, die beim Umgang mit Metallen, Salzen oder Säuren auftraten, belästigten und gefährdeten Substanzen und Zersetzungsprodukte organischen Ursprungs die Menschen und belasteten die Umwelt. Sie waren das Hauptproblem der öffentlichen Hygiene.
Die Belastung der ortsnahen Seen und Flüsse mit Fäkalien und anderen verfaulenden und verwesenden Abfällen führte zu Vergiftungen und zur Verbreitung von Infektionskrankheiten. In größeren Städten war die Bereitstellung einwandfreien Wassers ebenso ein Problem wie die Beseitigung der Abwässer. Je größer die Städte waren, desto schlimmer war der aus den Rinnsteinen, Kanälen und Flüssen quellende Gestank.
Der französische Sozialhistoriker Alain Corbin ist durch die Lektüre zeitgenössischer Schilderungen der hygienischen und insbesondere der geruchlichen Verhältnisse des späten 18. Jahrhunderts dazu angeregt worden, ein Buch über die Geschichte der Geruchswahrnehmungen zu schreiben. Darin beschreibt er die unermüdliche Jagd nach übelriechenden «Miasmen» als Hauptbeschäftigung der damaligen Hygieniker. Als «Miasmen» bezeichnete man giftige, mit Ansteckungsstoffen verseuchte Ausdünstungen des Bodens und der Gewässer.15)
Eine besonders üble Quelle solcher «Miasmen» waren die Papiermühlen. In ihnen wurden Lumpen aller Art, auch die Bekleidung Verstorbener, gebrauchte Verbände und altes Bettzeug verarbeitet. Nicht selten stammten diese Lumpen von Menschen, die an Seuchen gestorben waren. Der Schmutz, die Fäkalien und die Krankheitskeime in diesen Stoffen gerieten über die Schneide-, Wasch- und Stampfwerke der Papiermühlen in die Flüsse, deren Wasser gleichzeitig zum Waschen, Trinken oder Kochen verwendet wurde.16) Die gesundheitlichen Auswirkungen solcher Zustände sowohl auf die Arbeiter(innen) der Papiermühlen als auch auf die Flußanlieger kann man sich vorstellen.
Die hygienischen Probleme am Anfang des Industriezeitalters waren Probleme der Städte. Sie ergaben sich vor allem daraus, daß sich in der Vorbereitungsphase der Industrialisierung die Einwohner der Städte aus dem natürlichen Nährstoffkreislauf von Produktion, Konsum, Zersetzung, erneuter Produktion entfernt hatten. Sie waren von der Produktion ihrer unmittelbaren Lebensgrundlage, der Nahrung, ebenso abgetrennt wie von der natürlichen Wiederverwertung dessen, was von der Nahrung übrigblieb.
Die katastrophalen hygienischen Verhältnisse waren nicht nur Charakteristika einer primitiven, mit den Mitteln moderner Wissenschaft und Technik zu überwindenden Epoche. Sie waren auch die übelriechenden Vorboten des aufkommenden Industriezeitalters.
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