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1. Brief  

 

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Ich kann Ihnen nicht sagen, welch schmerzliches Gefühl die Lektüre Ihres Briefes in mir hervorgerufen hat. Wenn mich hier nicht eine unerbittliche Pflicht zurückhielte, so würde ich Ihnen zu Hilfe eilen. Es ist also wahr, daß Eugénie unglücklich ist! Auch sie wird also von Kummer, Zweifel und Unruhe geplagt! 

Inmitten von Überfluß und Größe sind Sie umgeben von der Zärtlichkeit und von der Achtung eines Gatten, der Sie anbetet; Sie genießen am Hofe den so seltenen Vorzug, von jedermann geliebt zu werden; Sie sind von Freunden umgeben, die Ihren Talenten, Ihren Kenntnissen, Ihrem Geschmack aufrichtig huldigen: wie kann es geschehen, daß Sie traurig und niedergedrückt sind?

 Ihre tugendhafte und reine Seele kann zweifellos weder Schande noch Gewissensbisse kennen. Da Sie stets über die Schwächen Ihres Geschlechts erhaben sind: wessen sollten Sie sich zu schämen haben? 

Da Sie sich auf angenehme Weise Ihren Pflichten widmen, sich durch nützliche Lektüre und heitere Unterhaltungen erfreuen und sich ehrbaren Vergnügen hingeben können: wie kann ein solches Herz, dem alles Zufriedenheit und Frieden geben müßte, von Angst und Sorge bestürmt werden? Nun, wenn Ihr in lebhafter Verwirrung geschriebener Brief es nicht schon allzusehr bestätigte, so hätte ich mühelos erkannt, daß der Aberglaube seine Hand im Spiel hat. Er allein ist imstande, ehrbare Seelen zu verwirren, ohne die Leidenschaft verderbter Seelen beruhigen zu können; er ist hinreichend, für immer die Ruhe der Herzen zu zerstören, deren er sich einmal bemächtigt hat.

Ja, seit langem kenne ich die unseligen Wirkungen religiöser Vorurteile; ich selbst wurde einst von ihnen verwirrt; ich habe wie Sie unter dem Joch der Religion gelitten, und wenn eine mit Überlegung angestellte Überprüfung mich nicht völlig aus dem Irrtum befreit hätte, so würden Sie sehen, daß ich Ihre Unruhe noch teilte und in Ihrer Seele vielleicht die unheilvollen Ideen nährte, von denen ich Sie verwirrt sehe. 

Statt dessen bin ich heute imstande, Sie zu trösten und Ihnen wieder Mut zu geben. Dank der Vernunft und der Philosophie herrscht seit langem Ruhe in meinem Geist; ich habe aus ihm die Schrecken verbannt, die ihn einst beunruhigten. Welch ein Glück für mich, wenn der Frieden, den ich genieße, es mir ermöglichte, die Fesseln zu zerbrechen, die Sie noch in den Banden des Vorurteils gefangenhalten!

Indessen hätte ich ohne Ihren ausdrücklichen Befehl niemals gewagt, Ihnen eine Denkweise zu offenbaren, die von der Ihrigen so sehr abweicht, oder die unheilvollen Anschauungen zu bekämpfen, mit denen, wie man Ihnen einredet, Ihr Glück verbunden sein soll; ich hätte weiterhin Ansichten in mir verschlossen gehalten, die den meisten Menschen verhaßt sind, weil sie alles nur mit den Augen der Richter zu sehen gewohnt sind, die offensichtlich daran interessiert sind, sie zu täuschen. 

Aber eine heilige Pflicht zwingt mich heute, zu sprechen. Die beunruhigte und verwirrte Eugenie will mir ihr Herz öffnen, sie braucht Hilfe, sie will ihre Ideen auf einen Gegenstand richten, der ihre Ruhe und ihre Glückseligkeit betrifft; ich muß ihr die Wahrheit sagen, es wäre ein Verbrechen, länger zu schweigen; wenn meine Freundschaft zu ihr mir nicht die Notwendigkeit auferlegte, auf ihr Vertrauen zu antworten, so würde mich die Liebe zur Wahrheit zwingen, Anstrengungen zu unternehmen, um die Hirngespinste, die sie unglücklich machen, aufzulösen.

Ich möchte also offen zu Ihnen sprechen. 

Vielleicht werden Ihnen meine Ideen auf den ersten Blick seltsam erscheinen, aber untersuchen Sie diese näher, so werden Sie davon nicht mehr abgeschreckt werden. Vernunft, Aufrichtigkeit und Wahrheit werden immer bei einem Geiste wie dem Ihrigen ihr Recht finden; ich lenke also Ihre Aufmerksamkeit von Ihrer verwirrten Einbildungskraft auf Ihr ruhigeres Urteil, von der Gewohnheit und von der Voreingenommenheit auf die Überlegung und die Vernunft. 

Die Natur hat Ihnen eine zarte und empfindsame Seele gegeben; sie hat damit eine sehr lebhafte Einbildungskraft und eine solche Menge von

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Melancholie verbunden, daß Sie zur Träumerei neigen. Eben aus diesen Anlagen ergeben sich, wie ich sehe, die Leiden, die Sie heute niederdrücken. Ihre Güte, Ihre Offenherzigkeit, Ihre Aufrichtigkeit hindern Sie daran, bei anderen Betrug oder Bosheit zu vermuten. Die Sanftheit Ihres Charakters hält Sie davon ab, Begriffen zu widersprechen, die Ihnen bei näherer Prüfung als empörend erscheinen würden; Sie beziehen sich lieber auf das Urteil anderer und billigen deren Ideen, statt Ihre eigene Vernunft und Ihre eigenen Kenntnisse um Rat zu fragen. Die Lebhaftigkeit Ihrer Einbildungskraft bewirkt, daß Sie die mächtigen Gemälde, die man Ihnen vor Augen hält, bereitwillig in sich aufnehmen. Menschen, die daran interessiert sind, Sie zu verwirren, mißbrauchen Ihre Empfindsamkeit, um Sie zu beunruhigen; sie lassen Sie bei den schrecklichen Wörtern Tod, Jüngstes Gericht, Hölle, Strafen, Ewigkeit erzittern; sie lassen Sie schon beim Namen eines unbeugsamen Richters, dessen Ratschlüsse durch nichts verändert werden können, erbleichen; Sie glauben von jenen Teufeln umgeben zu sein, die man zu Dienern seiner Rache an seinen schwachen Geschöpfen bestellt hat. 

So erfüllt sich Ihr Herz mit Schrecken; Sie fürchten ständig, einen launenhaften, immer drohenden und immer erzürnten Gott unwissentlich zu beleidigen: Wenn Sie in Ihren Prinzipien folgerichtig sind, so werden bald alle Augenblicke eines Lebens, das sich nur durch Zufriedenheit und Frieden auszeichnen sollte, durch Unruhe, Zweifel und panische Schrecken vergiftet, von denen eine so reine Seele wie die Ihrige ewig frei sein sollte. Die Aufregung, in die Sie durch jene unheimlichen Ideen gestürzt werden, hindert Sie am Gebrauch Ihrer Fähigkeiten; Ihre Vernunft wird von einer irreführenden Einbildungskraft umnebelt; Sie werden ratlos, bestürzt, mißtrauisdi gegen sich selbst und auf diese Weise von Menschen betrogen, denen es, weil sie die Einbildungskraft ansprechen und die Vernunft blenden, seit langem gelungen ist, die ganze Welt zu unterwerfen und vernünftigen Wesen einzureden, daß die Vernunft unnütz oder gefährlich für sie sei.

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Das ist die ständige Sprache der Apostel des Aberglaubens, deren Ziel es war und immer sein wird, die menschliche Vernunft zu zerstören, damit sie ihre Macht über die Menschen ungestraft ausüben können. Überall sind die hinterlistigen Diener der Religion offen oder insgeheim die Feinde der Vernunft gewesen, weil sie stets bemerkten, daß die Vernunft ihren Absichten zuwiderläuft. Überall verleumdeten sie die Vernunft, weil sie zu Recht fürchteten, daß die Vernunft ihre Herrschaft durch die Aufdeckung ihrer Ränke und der Nichtigkeit ihrer Fabeln zerstört. Überall waren sie bestrebt, auf den Trümmern der Vernunft die Herrschaft des Fanatismus und der Einbildung aufzurichten. Um das mit größerer Sicherheit erreichen zu können, haben sie die Sterblichen unaufhörlich durch abschreckende Gemälde geängstigt, haben sie sie durch Wunder und Mysterien in Erstaunen versetzt und verführt, haben sie sie durch Rätsel und Unsicherheiten verwirrt, haben sie sie mit Andachtsübungen und Zeremonien überhäuft, haben sie deren Geist mit Furcht und Zweifel erfüllt, haben sie deren Blicke auf eine Zukunft gerichtet, die — weit entfernt, sie hienieden tugendhafter und glücklicher zu machen — sie nur vom Wege des wahren Glücks ablenkt und dieses im Grunde ihres Herzens für immer zerstört.

Das sind die Schliche, die die Diener der Religion überall anwenden, um die Erde zu unterwerfen und sie unterm Joch zu halten. In allen Ländern ist das Menschengeschlecht Beute der Priester geworden. Als Religion haben sie die Systeme bezeichnet, die sie ausgeklügelt hatten, um die Menschen zu unterjochen, deren Einbildungskraft sie verführt, deren Geist sie verwirrt und deren Vernunft zu zerstören sie versucht hatten.

Besonders in der Jugend ist der menschliche Geist geneigt, die Eindrücke aufzunehmen, die man ihm geben will. Daher haben sich unsere Priester klugerweise der Jugend bemächtigt, um ihr Ideen einzuflößen, die sie erwachsenen Menschen niemals aufdrängen könnten. Im zartesten Alter zähmen sie die Geister mit seltsamen Märchen, mit ungereimten und zusammenhanglosen Begriffen, mit lächerlichen Hirngespinsten, die für diese Geister allmählich zu Gegenständen werden, die sie während ihres restlichen Lebens achten und fürchten.

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Man braucht nur die Augen zu öffnen, um die unwürdigen Mittel zu sehen, deren sich die geistliche Politik bedient, um in den Menschen die aufkeimende Vernunft zu ersticken. Man trägt ihnen in ihrer Kindheit nur lächerliche, ungehörige, widerspruchsvolle, verbrecherische Erzählungen vor und verlangt, daß sie diese anerkennen. Man macht sie nach und nach mit unvorstellbaren Mysterien vertraut, die man als heilige Wahrheiten verkündet; man gewöhnt sie daran, Phantome als wirklich zu betrachten und vor ihnen zu zittern. Kurz, man wählt die geeignetsten Mittel, um sie zu verblenden, damit sie ihre Vernunft nicht mehr zu Rate ziehen, und um sie einzuschüchtern, damit sie immer Furcht haben, wenn sie sich an die Ideen erinnern, mit denen ihre Priester sie in einem Alter vergiftet haben, in dem sie sich vor deren Fallen nicht schützen konnten.

Erinnern Sie sich nur an die unheilvolle Mühe, die man sich in dem Kloster, in dem Sie erzogen wurden, gegeben hat, um in Ihr Herz den Samen der Unruhe zu legen, von der Sie heute niedergedrückt werden. Dort hat man begonnen, Ihnen von den Märchen, Wundern, Mysterien und Lehren zu erzählen, an die Sie gegenwärtig voller Achtung glauben. Wenn man Ihnen dagegen diese Dinge heute zum erstenmal vortragen würde, so würden sie Ihnen lächerlich und kaum der Aufmerksamkeit wert erscheinen. Ich habe oft lachen müssen über die Einfalt, mit der Sie einst die Hexen- und Gespenstergeschichten glaubten, die Ihnen in Ihrer Jugend die mit Ihrer Erziehung beauftragten Nonnen erzählten. Nachdem Sie in die Welt eingetreten sind, in der man seit langem nicht mehr an diese Hirngespinste glaubt, haben Sie sich nach und nach aus dem Irrtum befreit, und Sie erröten heutzutage über Ihre einstige Leichtgläubigkeit. 

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Warum sollten Sie nicht den Mut haben, auch über unendlich viele andere Hirngespinste zu lachen, die ebensowenig begründet sind, die Sie noch quälen oder die Sie nur noch achten, weil Sie nicht gewagt haben, sie mit normalen Augen zu untersuchen, oder weil Sie sehen, daß sie von einer Menge geachtet werden, die sie überhaupt nicht geprüft hat? Warum wendet Eugenie, die sonst so aufgeklärt und in jeder anderen Beziehung so vernünftig ist, ihre Kenntnisse und ihr Urteil nicht an, sobald es um die Religion geht? Bei diesem furchterregenden Wort jedoch verwirrt sich ihre Seele, versagt ihre Kraft, verdunkelt sich ihr gewöhnlicher Scharfsinn, verirrt sich ihre Einbildungskraft, sieht sie nur noch wie durch einen Nebelschleier und wird unruhig und bedrückt. Mißtrauisch gegen ihre Vernunft, wagt sie nicht, diese zu Hilfe zu rufen. Sie redet sich ein, daß es am sichersten sei, sich den Anschauungen einer Menge anzuschließen, die nichts geprüft hat und die sich immer von blinden oder betrügerischen Führern leiten ließ. Wenn Ihre Seele wieder Frieden finden soll, so hören Sie auf, sich selbst zu verachten; vertrauen Sie ruhig auf Ihre eigenen Kenntnisse; schämen Sie sich nicht, unfreiwillig von einer allgemeinen Epidemie angesteckt worden zu sein, der zu entrinnen nicht von Ihnen abhing. 

Der gute Abbe de Saint-Pierre sagte zu Recht: »Die Frömmigkeit ist die Pockenkrankheit der Seele.« Ich füge hinzu, daß man sehr häufig sein ganzes Leben lang davon gezeichnet ist. Tatsächlich sehen wir recht oft, daß die aufgeklärtesten Menschen für immer in den Vorurteilen ihrer Kindheit befangen bleiben. Man hat sehr frühzeitig damit begonnen, den Menschen Vorurteile einzuprägen; man ergreift fortwährend so viele Vorsichtsmaßregeln, um diese Vorurteile zu befestigen, daß uns nur eins zu Recht überraschen kann: wenn wir nämlich sehen, daß jemand die Kraft hat, sich von ihnen loszureißen. Die größten Geister werden oft zu Spielbällen des Aberglaubens; die Kraft ihrer Einbildung dient bisweilen nur dazu, sie noch mehr in die Irre zu führen und sie noch stärker an Anschauungen zu fesseln, über die sie erröten würden, wenn sie imstande wären, ihre Vernunft zu Rate zu ziehen. 

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Pascal sah ständig unter seinen Füßen die offene Hölle; Malebranche war abergläubisch; Hobbes hatte Furcht vor Phantomen und Dämonen; der unsterbliche Newton hat die Apokalypse erläutert. Kurz, alles beweist uns, daß nichts schwieriger ist, als sich von den Begriffen zu lösen, die uns in unserer Jugend eingeflößt worden sind. Die vernünftigsten Menschen, * die in jeder anderen Beziehung sehr richtig urteilen, fallen in ihre Kindheit zurück, sobald es um die Religion geht.

Sie brauchen sich also nicht einer Schwäche zu schämen, die Sie mit aller Welt gemeinsam haben und von der nicht einmal immer die größten Menschen ausgenommen sind. Fassen Sie also Mut; wagen Sie mit größerer Kaltblütigkeit, die Phantome zu untersuchen, die Sie in Unruhe versetzen. Fragen Sie in einer Sache, die Ihre Ruhe betrifft, eben die aufgeklärte Vernunft um Rat, die Sie ebenso über die Menge erhebt, wie sie das Menschengeschlecht über die übrigen Lebewesen erhebt. Hören Sie auf, Ihren eigenen Einsichten zu mißtrauen, und richten Sie Ihr gerechtes Mißtrauen gegen Menschen, die viel weniger ehrenhaft und viel weniger aufgeklärt sind als Sie. Diese Menschen wenden sich, um Sie zu unterjochen, nur an Ihre empfindsame Einbildungskraft; sie sind so grausam, die Heiterkeit Ihrer Seele zu trüben; sie wollen unter dem Vorwand, Sie nur mit dem Himmel zu verbinden, erreichen, daß Sie Ihre angenehmsten Bindungen aufgeben; schließlich bemühen sie sich, Ihnen den Gebrauch der wohltätigen Vernunft zu untersagen, deren Licht Sie in Ihrem ganzen Betragen so sicher leitet.

Überlassen Sie die Unruhe und die Gewissensbisse jenen verderbten Frauen, die sich Vorwürfe zu machen oder Verbrechen zu sühnen haben. Überlassen Sie den Aberglauben jenen unwissenden Weibchen, deren beschränkter Geist unfähig ist zu Überlegungen. 

Überlassen Sie die wertlosen und nichtigen Andachts­übungen einer überflüssigen Frömmigkeit jenen unbeschäftigten und grämlichen Frauen, denen, nachdem die vorübergehende Herrschaft ihrer Reize verloschen ist, keine Möglichkeiten mehr bleiben, um die

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Leere ihrer Tage auszufüllen, so daß sie sich durch Verleumdung und Klatscherei über den Verlust der Vergnügen zu trösten suchen, deren sie beraubt sind. Widerstehen Sie dieser Neigung zur Nachdenklichkeit, zur Zurückgezogenheit, zur Melancholie. Die Frömmigkeit ist nur für müßige Seelen; Ihre Seele aber ist zum Handeln geschaffen. Sie haben Verpflichtungen gegenüber einem Gatten, dessen Glück Sie sind; gegenüber Kindern, die Ihre Unterweisungen brauchen, um ihr Herz und ihren Geist auszubilden; Sie haben Verpflichtungen gegenüber Freunden, von denen Sie verehrt werden und die Ihren liebenswerten Umgang auch in dem Alter suchen, in dem Ihre Reize verblüht sein werden; Sie haben Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft; sie bedarf Ihres Beispiels, sie findet in Ihnen Tugenden, die bei Menschen Ihres Ranges leider sehr viel seltener sind als die Frömmigkeit. Schließlich brauchen Sie selbst das Glück. 

Trotz der Versprechungen der Religion werden Sie es niemals in jenen Aufregungen finden, in die Sie, wie ich sehe, durch deren dunkle Ideen gestürzt werden. Sie werden in der Religion nur traurige Hirngespinste finden, schreckliche Phantome, endlose Verwirrungen, niederdrückende Beklemmungen, unerklärliche Rätsel, unheilvolle Träumereien, die nur geeignet sind, Ihre Ruhe zu stören, Sie des Glücks zu berauben und Sie unfähig zu machen, auf das Glück der anderen bedacht zu sein. Es ist sehr schwer, andere glücklich zu machen, wenn man selbst weder Glück noch Frieden kennt. Wenn Sie nur ein wenig um sich blicken, werden Sie Beweise finden für das, was ich hier sage. Die religiösesten Menschen sind selten die liebenswertesten und die geselligsten. Da die Frömmigkeit, selbst die aufrichtigste, diejenigen, welche von ihr ergriffen sind, lästigen Andachtsübungen unterwirft, da sie deren Einbildungskraft mit unheimlichen und niederdrückenden Gegensätzen erfüllt, da sie deren Eifer antreibt, ist sie kaum geeignet, den Frommen die ausgeglichene Laune, die Sanftheit des Charakters und die Anmut zu geben, die für die Gesellschaft so wertvoll sind. 

Tausend Beispiele beweisen Ihnen, daß die frommen

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Frauen, die am meisten darauf bedacht sind, Gott zu gefallen, nicht diejenigen sind, die ihren Mitmenschen am besten gefallen. Wenn es von dieser Regel einige Ausnahmen gibt, so haben diese Frauen nicht die ganze Inbrunst und den ganzen Eifer, die die Religion von ihnen zu fordern scheint. Die Frömmigkeit ist entweder eine traurige und düstere Leidenschaft oder eine hitzige Leidenschaft; die Religion duldet nicht, daß das Herz geteilt wird: Alles, was ein guter Christ den Geschöpfen gibt, raubt er dem Schöpfer; eine sehr fromme Seele muß Furcht haben, wenn sie sich mit den Gegenständen der Erde verbunden fühlt; sie würde dadurch ihren eifersüchtigen Gott aus den Augen verlieren, der will, daß man sich ausschließlich mit ihm beschäftige, der es seinen Geschöpfen zur Pflicht macht, ihm ihre liebsten und unschuldigsten Neigungen zu opfern, der verlangt, daß sie sich in der Vorstellung, ihm zu gefallen, hienieden unglücklich machen. So sehen wir, daß die Frommen auf Grund solcher Prinzipien ihre Pflicht, sich selbst zu quälen und die Ruhe des andren zu stören, getreulich erfüllen; sie glauben sich vor dem Beherrscher des Himmels verdient zu machen, wenn sie für die Bewohner der Erde völlig unnütz sind oder ihnen gar lästig fallen.

Ich nehme nicht an, daß die Frömmigkeit Wirkungen in Ihnen hervorruft, die für andere schädlich sind. Ich fürchte vielmehr, daß sie Ihnen selbst schadet. Die Güte Ihres Herzens, die Milde Ihres Charakters, die Wohltätigkeit, die sich in Ihrem ganzen Betragen äußert, müssen zu der Vermutung Anlaß geben, daß die Religion Sie niemals zu gefährlichen Ausschreitungen hinreißt. Dennoch bewirkt die Frömmigkeit oft eigenartige Umwandlungen. Wenn Sie selbst innerlich unruhig, gereizt und unglücklich sind, so ist zu befürchten, daß sich Ihr Temperament verändert, daß sich Ihre Gemütsverfassung verdüstert und daß die schädlichen Ideen, die Sie lange Zeit in Ihrem Inneren ausgebrütet haben, früher oder später die Menschen beeinflussen, mit denen Sie Umgang pflegen. Beweist uns die Erfahrung nicht täglich, daß die Religion solche Veränderungen bewirkt?

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Was man als Bekehrungen bezeichnet, was die Frommen als Wirkungen der Gnade betrachten, sind sehr häufig solche unseligen Umstellungen, durch die wirkliche Laster und schlimme Neigungen an die Stelle liebenswerter und nützlicher Eigenschaften treten. Durch die unselige Wirkung dieser angeblichen Wunder der Gnade wird, wie wir sehen, Heiterkeit oft von Traurigkeit, Fröhlichkeit von einer düsteren und sorgenvollen Stimmung, Ausschweifung von Langeweile, Duldsamkeit und Milde von übler Nachrede, von Intoleranz und von religiösem Eifer abgelöst; ja, selbst an die Stelle der Menschlichkeit tritt die Grausamkeit. Kurz, der Aberglaube ist ein gefährlicher Sauerteig, der geeignet ist, die ehrlichsten Herzen zu verderben.

Sehen Sie wirklich nicht die Ausschreitungen, zu denen sich sonst sehr kluge Menschen, die die besten Absichten haben, durch den Fanatismus und Eifer hinreißen lassen? Fürsten, Beamte, Richter werden unmenschlich und erbarmungslos, sobald es um die Interessen der Religion geht. Sie verwandelt häufig im übrigen sehr sanfte, nachsichtige und gerechte Menschen in wilde Tiere. Die empfindlichsten und mitfühlendsten Menschen halten sich nach bestem Wissen und Gewissen für verpflichtet, hart zu sein, sich Gewalt anzutun, die Natur zu unterdrücken, um sich gegen diejenigen grausam zu zeigen, die man ihnen als Feinde ihrer Denkweise bezeichnet. Erkennen Sie zum Beispiel in den Verfolgungen, denen in Frankreich die Protestanten so oft ausgesetzt waren, die Sanftmut unseres Volkes und seiner Regierung wieder? Finden Sie in den Quälereien, den Einkerkerungen, den Ausweisungen, die man heutzutage über die Jansenisten* verhängt, Vernunft, Gerechtigkeit, Menschlichkeit? Wenn diese jedoch jemals stark genug würden, um ihrerseits Verfolgungen anstellen zu können, so würden sie ihre Gegner zweifellos nicht gerechter und milder behandeln.

 

* Jansenismus — die von dem holländischen Theologen Cornelius Jansen vertretene Ansicht von der dem Jesuitismus entgegengesetzten Gnadenlehre; 1713 verurteilt, wanderten die französischen Jansenisten größtenteils nach Holland aus.

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Sehen Sie nicht täglich, daß Personen, die ihre Ansichten für die allein richtigen halten, schamlos ihre Freude bekunden, wenn sie wissen, daß solche Menschen ausgerottet werden, denen sie weder Wohlwollen noch Nachsicht entgegenbringen zu müssen glauben, und nur darum ausgerottet, weil diese Menschen solche Vorurteile verachten, die die Menge als heilig betrachtet oder die eine falsche Politik für den Staat als nützlich erachtet? Der Aberglaube hat bei sonst sehr ehrenhaften Personen das Gefühl der Menschlichkeit gänzlich erstickt, so daß sie sich nicht schämen würden, ihm die aufgeklärtesten Männer der Nation zu opfern, die gewöhnlich nicht leichtgläubig oder gar dem Joch der Geistlichkeit unterworfen sind.

Mit einem Wort, die Frömmigkeit ist nur geeignet, das Herz mit Bitterkeit zu erfüllen und die Harmonie der Gesellschaft zu stören. In Religionssachen glaubt jeder verpflichtet zu sein, mehr oder weniger Hitzigkeit und Eifer an den Tag zu legen. Habe ich nicht gesehen, daß Sie selbst oft unschlüssig waren, ob Sie traurig sein oder lachen sollten über den Wahnsinn einiger Frömmler, die lächerlich eingenommen waren von jener religiösen Eitelkeit, die solche Eiferer kennzeichnet? Sie sahen, daß sich diese Frömmler für theologische Streitigkeiten interessieren, und Sie glaubten, daran teilnehmen zu müssen, davon etwas zu begreifen. Ich habe gesehen, daß Sie hundertemal über deren Geschrei entrüstet, über deren Bitterkeit bestürzt, über deren Ränke empört und über deren starrköpfige Unwissenheit mit Verachtung erfüllt waren. Indessen sind diese Fehler ganz natürlich: Die Unwissenheit war von jeher die Mutter der Frömmigkeit. Fromm sein heißt immer nur, daß man in seine Priester ein einfältiges Vertrauen setzt, daß man von diesen seine Antriebe erhält und nur so denkt und handelt, wie sie wollen, daß man blindlings ihre Leidenschaft und ihre Vorurteile übernimmt, daß man treulich die Andachtsübungen ausführt, die ihre Laune vorschreibt.

Eugenie ist nicht geschaffen, solchen Führern zu folgen, die sie schließlich in die Irre führen, ihre Einbildungskraft auf-

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reizen und ihren Charakter vergiften werden. Um sich ihres Geistes sicherer zu bemächtigen, wird man sie menschenscheu, unduldsam, ungesellig machen; kurz, mit Hilfe der magischen Kraft des Aberglaubens und seiner übernatürlichen Begriffe wird es vielleicht gelingen, die glücklichen Anlagen, die die Natur ihr gegeben hat, in Laster zu verwandeln. Glauben Sie mir, Sie hätten bei diesem Tausch nichts zu gewinnen. Bleiben Sie, wie Sie sind, oder befreien Sie sich vielmehr aus diesem Zustand der Unsicherheit und der Mutlosigkeit, aus diesem Wechsel von Niedergeschlagenheit und Verwirrung, in dem Sie hin und her gerissen werden. Lassen Sie sich nur von Ihrer Vernunft und Ihrer Tugend leiten, und ich wage zu behaupten, daß Sie bald die Fesseln zerbrechen werden, deren unheilvolle Wirkungen Sie zu empfinden beginnen.

Wagen Sie also — ich wiederhole es —, wagen Sie selbst, diese Religion zu prüfen. Sie ist weit davon entfernt, Ihnen das Wohlergehen zu verschaffen, das sie Ihnen verspricht. Sie wird für Sie nur eine unversiegbare Quelle von Unruhen und Aufregungen sein und Sie früher oder später jener seltenen Eigenschaften berauben, auf Grund deren die Gesellschaft Sie schätzt. Ihr Interesse erfordert, daß Sie Ihrer Seele ihren Frieden wiedergeben; es verpflichtet Sie, die Milde, die Nachsicht, die Heiterkeit zu bewahren, auf Grund deren Sie von allen verehrt werden, mit denen Sie Umgang pflegen. Sie sind sowohl sich selbst als auch Ihren Mitmenschen das Glück schuldig. Überlassen Sie sich also nicht Ihren traurigen Träumereien; spannen Sie alle Kräfte Ihres Urteilsvermögens an, um die Hirngespinste zu bekämpfen, die Ihre Einbildungskraft sich als Realitäten vorstellt; diese lösen sich auf, sobald Sie sie mit Ihrem gewöhnlichen Scharfblick betrachten.

Sagen Sie mir nicht, Ihr Geist sei zu schwach, um die Tiefen der Theologie zu ergründen. Sagen Sie mir nicht — wie unsere Priester es tun —, die Wahrheiten der Religion seien Mysterien, die man glauben müsse, ohne sie begreifen zu können, und die man stillschweigend verehren müsse.

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Sehen Sie nicht, daß derjenige, der in dieser Weise spricht, die Religion, der man Sie unterwerfen will, ächtet und verdammt? Alles Übernatürliche ist nicht für Menschen geschaffen. Alles, was Sie nicht erfassen können, darf Sie nicht beschäftigen. Etwas verehren, was man nicht erkennen kann, heißt nichts verehren; etwas glauben, was man nicht verstehen kann, heißt überhaupt nichts glauben; etwas ohne Prüfung anerkennen, nur weil man es anerkennen soll, heißt feige und leichtgläubig sein. Sagen, die Religion stehe über der Vernunft, heißt eingestehen, daß sie nicht für vernünftige Wesen geschaffen ist; heißt zugeben, daß diejenigen, die sie den andren lehren, in keiner Weise eher als wir imstande sind, ihre Tiefen zu ergründen; heißt anerkennen, daß unsere Kirchenlehrer die Wunder, von denen sie uns täglich erzählen, selbst nicht verstehen.

Wenn die Wahrheiten der Religion, wie man behauptet, für alle Menschen notwendig wären, so müßten sie für alle Menschen erfaßbar und klar sein. Wenn die Lehren dieser Religion so wichtig wären, wie man uns glauben machen will, so dürften sie nicht nur von den Kirchenlehrern, die sie verkünden, sondern auch von allen denen verstanden werden, die jene Lehre hören. Ist es nicht seltsam, daß diejenigen, deren Beruf es ist, sich selbst in der Religion zu unterrichten, zugeben, daß sie deren Dogmen nicht verstehen, und daß sie dennoch dem Volk hartnäckig aufdrängen wollen, was sie nach ihrem eigenen Eingeständnis nicht begreifen! Würden wir wohl Vertrauen zu einem Arzt haben, der uns — nachdem er zugegeben hat, daß er sein Handwerk nicht versteht — dennoch einreden möchte, wie ausgezeichnet seine Heilmittel sind? Das jedoch tun unsere geistlichen Quacksalber täglich. Auf Grund eines seltsamen Verhängnisses lassen sich die vernünftigsten Personen von jenen betrügen, obgleich diese ständig ihre tiefe Unwissenheit zugeben müssen!

Aber wenn die Mysterien der Religion selbst für diejenigen, die sie lehren, unbegreiflich sind; wenn sich unter denjenigen, die sie verkünden, niemand findet, der genau

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wüßte, was er glaubt, oder der sich Rechenschaft abgelegt hätte über die Beweggründe seines Glaubens und seines Verhaltens, so verhält es sich doch ganz anders mit den Einwürfen, die man der Religion entgegenhalten kann. Diese gind einfach, für jedermann verständlich und imstande, jeden zu überzeugen, der auf die Vorurteile der Kindheit verzichtet und gewillt ist, den gesunden Menschenverstand, den die Natur allen Wesen des Menschengeschlechts gegeben hat, zu Rate zu ziehen.

Seit vielen Jahrhunderten sind scharfsinnige Theologen unaufhörlich darauf bedacht gewesen, die Einwände der Ungläubigen zurückzuweisen oder die Schäden wiedergutzumachen, die dem hinfälligen Gebäude der Religion von ihren Gegnern zugefügt wurden, die unter dem Banner der Vernunft kämpften. Es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, die die eitle Anmaßung erkannten, mit der die Priester sich das Recht nehmen, die Geister zu unterjochen und die Völker auszuplündern. Trotz aller Bemühungen der Betrüger, die die Religion verteidigen, von der sie allein den Vorteil hatten, konnten diese großen Männer ihr göttliches System bisher nicht vor den Angriffen der Ungläubigkeit schützen; sie haben unaufhörlich auf die Einwände, die man ihnen machte, geantwortet, aber sie haben sie niemals zu widerlegen oder aufzuheben vermocht. Da sie fast immer von der öffentlichen Autorität unterstützt wurden, bestanden ihre Antworten auf die Klagen der Vernunft nur in Verleumdungen, Deklarationen, Strafen und Verfolgungen. So sind sie die Herren des Schlachtfeldes geblieben, weil ihre Gegner niemals in offenem Kampf mit ihnen streiten konnten. Trotz der Nachteile eines derart ungleichen Kampfes und obwohl die Verteidiger der Religion alle Vorteile hatten und sich ungehindert zeigen konnten, während ihre Gegner sich nur der Vernunft als Waffe bedienen und sich weder in Gefahr begeben noch alle ihre Kräfte ins Feld führen konnten, haben diese dem Aberglauben doch immer wieder tiefe Wunden geschlagen.

Wenn man indessen seinen Anhängern glauben wollte, so schützt die Güte ihrer Sache

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ihr System vor allen Schlägen, die man ihm zufügen kann, und man hat tausendmal in siegesbewußtem Ton auf die dagegen vorgebrachten Einwände geantwortet. Trotz dieser großen Sicherheit sehen wir, daß sie stets unruhig werden, sobald sich ein neuer Kämpfer zeigt; dieser kann sich erfolgreich der gewöhnlichsten und meistgebrauchten Einwände bedienen, .weil es evident ist, daß man sie bisher weder widerlegen noch ihnen befriedigende Antworten entgegensetzen konnte. Um sich von dem zu überzeugen, was ich hier vortrage, brauchen Sie nur die einfachsten und gewöhnlichsten Bedenken, die der gesunde Menschenverstand in bezug auf Religion hat, mit den angeblichen Lösungen zu vergleichen, um zu erkennen, daß diese selbst für Kinder offensichtlichen Einwände auch von den erfahrensten Gottesgelehrten nicht widerlegt werden konnten. Man wird in ihren Antworten nur spitzfindige Unterscheidungen, nur metaphysische Ausflüchte, einen unverständlichen Wortschwall finden, der nicht die Sprache der Wahrheit sein kann und der nur von der Verwirrung, der Ohnmacht und der Unaufrichtigkeit derer zeugt, die auf Grund ihres Standes daran interessiert sind, eine hoffnungslose Sache zu verfechten. Kurz, die Einwürfe gegen die Religion sind klar und für jedermann begreifbar, während die darauf gegebenen Antworten dunkel, verworren und auch für die Menschen, die diese Redeweise am ehesten kennen, wenig befriedigend sind; denn diejenigen, die diese Antworten geben, verstehen selbst nicht, was sie sagen.

Wenn Sie unsere Gottesgelehrten fragen, so werden diese unfehlbar das Alter ihrer Lehre geltend machen, die sich trotz der ständigen Angriffe durch Ketzer, Ungläubige, Gottlose und trotz der Verfolgungen durch die Heiden immer behauptet habe. Sie sind zu klug, um nicht zu wissen, daß das Alter einer Meinung nichts zu deren Gunsten beweist. Wenn das Alter ein Beweis für die Wahrheit wäre, so müßte das Christentum dem Judentum Platz machen, und dieses müßte aus dem gleichen Grund der Religion der Ägypter oder der Chaldäer weichen, das heißt dem Götzen-

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dienst, wie er lange vor Moses bestand. Man hat Tausende von Jahren geglaubt, die Sonne drehe sich um die Erde, welche unbeweglich sei; es ist deshalb nicht weniger wahr, daß sich die Sonne nicht bewegt und daß sich die Erde um sie dreht. Außerdem ist es evident, daß das Christentum heute nicht das ist, was es ehedem war. Die fortwährenden Angriffe, denen diese Religion von Seiten der Ketzer ausgesetzt war, beweisen, daß es unter den Anhängern eines göttlichen Systems, das in seinen Prinzipien fehlerhaft ist, niemals Übereinstimmung geben kann; diese Ketzer verwarfen zumindest einige Teile dieses himmlischen Systems, selbst wenn sie alles übrige anerkannten. Wenn Ungläubige die Religion oft vergeblich angegriffen haben, so heißt das, daß die besten Gründe nutzlos sind, wenn sie gegen den sich auf die öffentliche Autorität stützenden Aberglauben oder gegen den Strom der Meinung oder der Gewohnheit ankämpfen, der die Menschen mit sich fortreißt. Was die Verfolgungen der Kirche durch die Heiden betrifft, so würde man die Wirkungen des Fanatismus und des religiösen Starrsinns wenig kennen, wenn man nicht einsehen will, daß die Tyrannei immer nur geeignet ist, diese aufzureizen und sie immer weiter auszubreiten.

Sie lassen sich nicht von Namen und Autoritäten irreführen. Man wird Sie überhäufen mit mannigfaltigen Zeugnissen vieler berühmter Gelehrter, die die christliche Religion nicht nur anerkannt haben, sondern die auch ihre eifrigsten Verteidiger waren. Man wird Ihnen heilige Gottesgelehrte, große Philosophen, mächtige Redner, Kirchenväter und kluge Exegeten* aufzählen, die immer wieder das Religionssystem gestützt haben. Ich will hier nicht deren Kenntnisse bestreiten; sie können sich nichtsdestoweniger im Irrtum befinden. 

Ich werde mich darauf beschränken, Ihnen zu wiederholen, daß die größten Genies in Sachen der Religion ebensowenig klarsehen wie das Volk selbst; daß sie die Anschauungen, die sie lehren, nicht geprüft

 

* Bibelausleger

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haben, weil sie diese entweder für heilig ansahen oder weil sie niemals zu den Prinzipien vorgedrungen sind, deren Hinfälligkeit sie bemerkt hätten, wenn sie diese vorurteilslos betrachtet hätten. Schließlich haben sie vielleicht eine Sache verteidigt, an der sie interessiert waren und mit der sie ihr Schicksal verbunden sahen. So ist ihr Zeugnis anfechtbar, und ihre Autorität kann kein großes Gewicht haben.

Gerade die Arbeiten jener Exegeten und Kommentatoren, die seit sehr vielen Jahrhunderten so emsig bemüht sind, die göttlichen Gesetze aufzuhellen, die heiligen Bücher der Christen zu deuten, die Dogmen des Glaubens festzulegen, sollten uns diese Religion verdächtig machen, die auf diesen Büchern beruht und die diese Dogmen predigt. Sie beweisen uns, daß die von dem höchsten Wesen geschaffenen Werke dunkel und unverständlich sind und daß es nur mit menschlicher Hilfe gelingt, sie denen verständlich zu machen, denen die Gottheit ihren Willen kundtun wollte. Die Gesetze eines weisen Gottes müßten einfach und klar sein; sie sind aber mangelhaft und müssen erklärt werden.

Auf diese Exegeten dürfen Sie sich also nicht verlassen; Sie müssen sich selbst und Ihre Vernunft um Rat fragen. Es handelt sich um Ihr Glück, es handelt sich um Ihre Ruhe; diese Dinge sind zu bedeutsam, als daß Sie anderen das Recht überlassen dürften, darüber zu entscheiden. Wenn die Religion so wichtig ist, wie man versichert, so verdient sie zweifellos die größte Aufmerksamkeit; wenn diese Religion auf das Glück der Menschen sowohl in dieser Welt wie auch in der künftigen Einfluß haben soll, so gibt es keine Angelegenheit, die uns lebhafter interessieren sollte und die folglich eine reiflichere Untersuchung verdiente. Aber wie seltsam ist doch das Verhalten, das die meisten Menschen an den Tag legen! Obwohl sie im Innersten von der Religion und ihrer Bedeutung überzeugt sind, geben sie sich niemals die Mühe, diese Religion zu ergründen. Sie folgen ihr routine- und gewohnheitsmäßig. Sie überprüfen niemals die Dogmen. 

Sie verehren diese Religion, sie unter-

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werfen sich ihr, sie stöhnen unter ihrem Joch, ohne nach dem Warum zu fragen. Statt sie zu untersuchen, verlassen sie sich auf andere, und gerade diejenigen, auf deren Urteil sie blindlings vertrauen, sind die Personen, deren Urteil ihnen am verdächtigsten sein müßte, nämlich die Priester, die das Recht besitzen, ausschließlich und unwiderruflich über ein System zu urteilen, das offensichtlich nur zum Nutzen der Priester erfunden worden ist. Doch was sagen uns diese Priester? Da sie sichtlich daran interessiert sind, die überkommenen Anschauungen beizubehalten, sagen sie, diese Anschauungen seien notwendig für das öffentliche Wohl, seien nützlich und tröstlich für jeden von uns, seien innig verbunden mit der Moral, seien unerläßlich für die Gesellschaft, kurz, sie seien das Allerwichtigste. Nachdem man uns solche Vorurteile eingepflanzt hat, verbietet man uns sogleich, diese Dinge, die zu erkennen so wichtig ist, näher zu untersuchen. Was soll man von einem solchen Verhalten denken? Sie werden daraus schließen, daß man Sie betrügen will; daß man die Prüfung nur fürchtet, weil die Religion ihr nicht standhalten würde und weil man vor einer Vernunft Angst hat, die die unheilvollsten Anschläge der Geistlichkeit gegen das Menschengeschlecht aufdecken könnte.

Ich kann es also nicht oft genug wiederholen: Prüfen Sie selbst, und nutzen Sie Ihre Kenntnisse. Suchen Sie die Wahrheit mit der Aufrichtigkeit Ihres Herzens, bringen Sie das Vorurteil zum Schweigen, bieten Sie der Gewohnheit Trotz und mißtrauen Sie der Einbildungskraft, dann werden Sie zu Ihrem Besten die Anschauungen der Religion mit sicherer Hand abwägen. Sie werden nur dem zustimmen, was Ihren Geist überzeugt, was Ihr Herz befriedigt, was der gesunden Moral gemäß ist und was von der Tugend gebilligt wird — unabhängig davon, wo es herstammt. Sie werden mit Verachtung alles zurückweisen, was Ihre Vernunft beleidigt; Sie werden mit Abscheu alle verbrecherischen und der Moral schädlichen Begriffe verwerfen, die die Religion als übernatürliche und göttliche Tugenden zu preisen versucht.

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Noch mehr, liebenswerte und weise Eugénie! Prüfen Sie mit aller Strenge die Ideen, die ich Ihnen auf Ihren Befehl vortrage. Ich möchte nicht, daß Sie auf Grund Ihres Vertrauens zu mir und Ihrer Voreingenommenheit für meine geringen Kenntnisse meine Anschauungen blind übernehmen. Ich unterwerfe sie Ihrem Urteil; diskutieren Sie, kämpfen Sie und ergeben Sie sich immer erst dann, wenn Sie die Wahrheit zu erkennen glauben. Meine Ansichten sind weder göttliche Orakel noch theologische Meinungen, gegen die man sich nicht verwahren darf; wenn ich die Wahrheit gesagt habe, so machen Sie sich meine Ideen zu eigen; wenn ich mich getäuscht habe, so zeigen Sie mir meine Irrtümer, und ich bin bereit, sie zu erkennen und mein eigenes Verdammungsurteil zu unterschreiben. Es wäre mir sehr angenehm, von Ihnen die Wahrheit zu erfahren, die ich bisher in den Schriften unserer Gottesgelehrten vergeblich gesucht habe. Wenn ich augenblicklich einen Vorteil vor Ihnen habe, so verdanke ich es nur der Ruhe, in der ich mich befinde und deren Sie gegenwärtig leider beraubt sind. Die Leiden Ihres Geistes, die Unruhe, die Anfälle von Frömmigkeit, die Ihre Seele verwirren, hindern Sie im Augenblick daran, die Dinge kaltblütig zu sehen und von Ihren eigenen Einsichten Gebrauch zu machen; aber ich zweifle nicht daran, daß Ihre Seele bald durch die Vernunft gegen nichtige Hirngespinste gefeit wird und die natürliche Kraft und Überlegenheit, die ihr eigen ist, wiedererlangt. Diesen Augenblick sehe ich voraus und sehne ich herbei, und ich würde mich sehr glücklich schätzen, wenn meine Überlegungen dazu beitrügen, Ihnen die Ruhe des Geistes zu geben, die so notwendig ist, um die Dinge richtig zu beurteilen, und ohne die es kein Glück gibt.

Ich werde sehr spät auf die Länge meines Briefes aufmerksam. Ich hoffe, daß Sie mir dies ebenso verzeihen werden wie meine Freimütigkeit; diese sowohl wie jene werden Ihnen jedenfalls das lebhafte Interesse zeigen, mit dem ich an Ihrer betrüblichen Lage Anteil nehme, sowie das aufrichtige Verlangen, Sie aus dieser zu befreien, und die starke

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Leidenschaft, die mich treibt, um Sie wieder so heiter wie gewöhnlich zu sehen. Nur derart drängende Beweggründe konnten mich bestimmen, das Schweigen zu brechen; es bedurfte Ihrer ausdrücklichen Befehle, um mich zu zwingen, mich mit Ihnen über Dinge zu unterhalten, die, einmal überprüft, kaum verdienen, einen gesunden Geist zu beschäftigen. Ich hatte es mir zum Gesetz gemacht, niemals etwas über die Religion zu sagen; die Erfahrung hat mich oft gelehrt, daß es ein ganz nutzloses Unterfangen ist, voreingenommene Geister aus dem Irrtum befreien zu wollen; ich habe niemals geglaubt, jemals darüber schreiben zu müssen; Sie allein konnten meine Gleichgültigkeit besiegen und mich zwingen, meinen Entschluß zu ändern. 

Eine bedrückte, von Zweifeln geplagte Eugenie, die in eine für andere Menschen lästige Frömmigkeit zu versinken droht, ohne selbst glücklicher zu werden, beehrt mich mit ihrem Vertrauen; sie bittet mich um meinen Rat; sie verlangt, daß ich spreche; nun, habe ich mir gesagt, schreiben wir für Eugenie; versuchen wir, ihr die Ruhe wiederzugeben, die sie verloren hat; kümmern wir uns leidenschaftlich um sie, mit deren Glück das Glück so vieler anderer verbunden ist. Das sind die Beweggründe, die mich eine Zeitlang zur Feder greifen lassen werden. Ich wage zu hoffen, daß Sie mich bis zu der Zeit, da Sie nicht mehr im Irrtum befangen sind, nicht mit den gleichen Augen betrachten, mit denen man, wie die Priester und die Frömmler wollen, alle die ansehen soll, die so kühn sind, ihren Ideen zu widersprechen. Wenn man ihnen glauben wollte, so ist jeder Mensch, der sich gegen die Religion erklärt, ein schlechter Staatsbürger, ein Wahnwitziger, der seine Leidenschaften zu rechtfertigen sucht, ein öffentlicher Ruhestörer, ein Feind seiner Mitbürger, den man nicht streng genug bestrafen kann. Mein Verhalten ist Ihnen bekannt; das Vertrauen, das Sie mir schenken, rechtfertigt mich hinreichend; allein für Sie schreibe ich; um den Kummer zu zerstreuen, der Ihre Seele betrübt, teile ich Ihnen Überlegungen mit, die ich ohne so dringende Gründe für immer in mir verschlossen gehalten hätte.

Sollten diese Überlegungen durch Zufall nicht in Ihre, sondern in andere Hände fallen, für die sie von einigem Nutzen wären, so würde ich mich freuen, zum Glück einiger Menschen dadurch beigetragen zu haben, daß ich verirrte Geister zur Vernunft zurückgeführt, daß ich die Wahrheit bekanntgemacht und Betrügereien aufgedeckt habe, die auf Erden so viele Menschen unglücklich machen.

Kurz, ich ordne meine Gründe Ihren Einsichten unter. Ich vertraue mich gänzlich Ihrer Verschwiegenheit an. Und ich wage anzunehmen, daß meine Ideen — wenn Sie erst von den unsinnigen Schrecken, denen ich Sie augenblicklich ausgeliefert sehe, befreit sind — Sie völlig davon überzeugen, daß diese Religion, die man den Menschen als die wichtigste, wahrste, interessanteste, nützlichste Sache anpreist, nur eine Kette von Absurditäten darstellt, daß sie nur geeignet ist, die Ideen und die Geister zu verwirren, und daß sie nur denen Vorteile bringt, die sich ihrer bedienen, um das Menschengeschlecht zu beherrschen. Kurz, ich würde Ihnen unrecht tun, wollte ich Ihnen nicht aufs klarste beweisen, daß die Religion falsch, unnütz, gefährlich ist und daß allein die Moral würdig ist, unsere Geister zu beschäftigen und unsere Seelen zu erhitzen.

Von dem nächsten Brief an werde ich zur Sache kommen. Ich werde von den Prinzipien ausgehen, und ich hoffe, Ihnen im Verlauf des Briefwechsels zu beweisen, daß die Gegenstände, die die Theologie zu verwirren und zu vernebeln sucht, um sie verehrungswürdiger und angesehener zu machen, nicht nur von Ihnen, sondern auch von allen verstanden werden können, die einen ganz durchschnittlichen gesunden Verstand besitzen. Wenn meine Freimütigkeit Ihnen zu ungestüm erscheint, so denken Sie dabei an sich selbst; ich mußte offen zu Ihnen sprechen; ich habe geglaubt, der Krankheit, von der ich Sie befallen sehe, ein starkes und schnell wirkendes Heilmittel entgegenzusetzen. Im übrigen wage ich zu hoffen, daß Sie mir schon in kurzer Zeit Dank wissen werden, weil ich Ihnen die Wahrheit in vollem Licht gezeigt habe; Sie werden mir verzeihen, weil ich die lästigen Phantome vernichtet habe, die Ihren Geist verwirrten.

Meine Bemühungen, Ihnen die Ruhe wiederzugeben, werden Ihnen zumindest das Interesse, daß ich an Ihrem Glück habe, meinen Eifer, Ihnen zu dienen, und die Achtung beweisen, mit der ich verbleibe etc.

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