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2. Brief

 

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Jede Religion ist ein System von Anschauungen und Verhaltensweisen, das sich auf die wahren oder die falschen Begriffe gründet, die wir uns von der Gottheit machen. Will man die Wahrheit eines Systems beurteilen, so muß man dessen Prinzipien prüfen, so muß man sehen, ob sie einander entsprechen, und muß sich überzeugen, ob alle seine Teile sich gegenseitig stützen. 

Wenn eine Religion wahr ist, so muß sie uns wahre Ideen von Gott geben; allein auf Grund unserer Vernunft ist es uns möglich, darüber zu urteilen, ob die Ideen, die uns die Theologie von diesem Wesen und seinen Attributen gibt, wahr sind; die Wahrheit ist für die Menschen nur die Übereinstimmung mit der Vernunft. Diese Vernunft nun, mit der wir letztlich allein über die Wahrheiten urteilen können, die die Religion uns darbietet, wollte man ächten. Der wahre Gott kann nur der Gott sein, der unserer Vernunft am meisten entspricht; der wahre Kult kann nur der sein, den die Vernunft billigt.

Die Religion ist nur dann von Bedeutung, wenn sie den Menschen Vorteile verschafft. Die beste aller Religionen wäre die, die denen, die sich zu ihr bekennen, sehr reale, sehr weitgehende und sehr dauerhafte Güter verschafft. Eine falsche Religion kann ihren Anhängern nur falsche, eingebildete und vorübergehende Güter gewähren. Die Vernunft muß darüber urteilen, ob die Vorteile, die die Religion verschafft, real oder imaginär sind. So ist es Sache der Vernunft, zu entscheiden, ob eine Religion, ein Kult, eine Verhaltensweise für das Menschengeschlecht vorteilhaft oder schädlich ist.

Auf Grund dieser unanfechtbaren Prinzipien werde ich die Religion der Christen untersuchen. Ich werde zunächst die Ideen analysieren, die sie uns von der Gottheit gibt, die sie uns — wie sie sich rühmt — auf eine vollkommenere Weise zu erkennen gibt als alle anderen Religionen der Welt; ich werde untersuchen, ob diese Ideen miteinander übereinstimmen; ob die Dogmen, die diese Religion lehrt, in Wahrheit diesen grundlegenden Ideen entsprechen und sich mit ihnen vereinbaren lassen; ob das Verhalten, das sie vorschreibt, sich nach den Begriffen richtet, die sie uns von der Gottheit gibt. Zum Schluß werde ich die Vorteile untersuchen, die die christliche Religion dem Menschengeschlecht verschafft; Vorteile, die ihren Verfechtern zufolge alle diejenigen unendlich übertreffen, die sich aus allen anderen Religionen der Welt ergeben.

Die christliche Religion erkennt nur einen einzigen Gott als Grundlage ihres Glaubens an; sie definiert ihn als einen reinen Geist, als eine ewige, unabhängige, unwandelbare Intelligenz, die alles vermag, die alles weiß, die alles vorhersieht, die alles mit ihrer Unermeßlichkeit erfüllt, die die Welt und alles, was sie enthält, aus dem Nichts erschaffen hat, die sie erhält und die sie auf Grund der Gesetze ihrer Weisheit, ihrer Güte, ihrer Gerechtigkeit und ihrer unendlichen Vollkommenheiten regiert, die in allen ihren Werken offenbar werden.

Das sind die Ideen, die uns das Christentum von der Gottheit gibt. Wir wollen nunmehr sehen, ob sich diese mit den übrigen Begriffen decken, die uns dieses Religionssystem darbietet, das behauptet, von Gott selber offenbart worden zu sein, das heißt, von ihm allein Wahrheiten erhalten zu haben, die er dem Rest des Menschengeschlechts, welchem sein Wesen verhüllt geblieben ist, verborgen hat. So gründet sich die christliche Religion auf eine einzige Offenbarung. Wem ist diese Offenbarung gemacht worden? Zunächst Abraham und dann den ihm folgenden Geschlechtern. Der Gott des Universums, der Vater aller Menschen, wollte sich nur den Nachkommen eines Chaldäers zu erkennen geben, die Millionen von Jahre hindurch ausschließlich im Besitz der Kenntnis des wahren Gottes gewesen sind. Durch eine Wirkung seiner besonderen Güte wäre das jüdische Volk lange Zeit das einzige gewesen, welches ein Wissen besessen hätte, das für alle Menschen in gleicher Weise notwendig ist. Nur dieses Volk wußte, wie es sich das höchste Wesen vorstellen sollte; alle anderen Völker irrten im Dunkel oder hatten nur rohe, lächerliche und verbrecherische Ideen vom Beherrscher der Natur.

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So sehen wir, daß das Christentum von Anfang an die Güte und die Gerechtigkeit Gottes zerstört. Eine einzelne Offenbarung verkündet einen parteiischen Gott, der einige seiner Kinder zum Nachteil aller anderen begünstigt, der sich nur von seiner Laune und nicht von wirklichem Verdienst leiten läßt, der unfähig ist, alle Menschen glücklich zu machen, und der seine Zuneigung nur einigen Individuen schenkt, die ebensowenig wie die anderen darauf Anspruch haben, ihm zu gefallen. Was würden Sie von einem Vater sagen, dem Haupt einer zahlreichen Familie, der nur Augen für ein einziges seiner Kinder hätte, der sich nur diesem zeigte und auf alle übrigen erzürnt wäre, weil sie seine Züge nicht kennen, obgleich er doch niemals zugelassen hat, daß sie sich seiner Person nähern? Würden Sie einen solchen Vater nicht des Eigensinns, der Grausamkeit, der Unvernunft und der Torheit zeihen, wenn er seinen Zorn an denen seiner Kinder ausließe, die er selber seiner Gegenwart beraubt hatte? Würden Sie ihn nicht einer Ungerechtigkeit beschuldigen, deren nur die unsinnigsten Wesen unserer Gattung fähig wären, wenn er die Kinder bestrafen würde, weil sie die Befehle nicht ausgeführt haben, die er ihnen niemals hat geben wollen?

Ziehen Sie also mit mir die Schlußfolgerung, daß jede vereinzelte Offenbarung nicht einen guten, unparteiischen, gerechten Gott, sondern einen ungerechten und eigensinnigen Tyrannen voraussetzt, der, wenn er für einige seiner Geschöpfe Güte und Vorliebe zeigt, zumindest allen anderen gegenüber sehr grausam ist. Unter diesen Umständen beweist die Offenbarung nicht die Güte, sondern die Eigenwilligkeit und Befangenheit des Gottes, der — wie die Religion uns gesagt hat — voller Weisheit, Wohlwollen und Gerechtigkeit sein soll und den sie uns als den gemeinsamen Vater aller Erdbewohner darstellt. Wenn die von ihm Begünstigten auf Grund ihres Interesses und ihrer Eigenliebe die tiefen Einsichten eines Gottes bewundern, weil er

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sie zum Nachteil ihrer Mitmenschen mit Wohltaten überhäuft, so muß er all denen, die die Opfer seiner Willkür sind, noch ungerechter erscheinen. Nur der Stolz konnte einige Menschen glauben lassen, sie seien — unter Hintansetzung aller anderen — die Lieblingskinder der Vorsehung: Durch ihre Eitelkeit verblendet, haben sie nicht bemerkt, daß sie seiner allumfassenden und unendlichen Güte zuwiderhandelten, wenn sie annahmen, daß diese sich vorzüglich auf einige Menschen oder einige Völker erstrecken könnte. Diese müssen vor seinen Augen gleich sein, wenn es wahr ist, daß sie in gleicher Weise die Werke seiner Hand« sind.

Dennoch gründen sich alle Religionen der Welt auf einzelne Offenbarungen. Schon jeder einzelne Mensch ist so eitel, sich für das wichtigste Wesen des Universums zu halten, und ebenso ist jede Nation überzeugt, daß sie — unter Hintansetzung aller anderen — die Zuneigung des Beherrschers der Natur besitzen müsse. Wenn die Inder sich einbilden, Brahma habe allein zu ihnen gesprochen, so reden sich die Juden und die Christen ein, die Welt sei nur für sie erschaffen und Gott habe sich nur ihnen allein offenbart.

Aber nehmen wir für einen Augenblick an, Gott habe sich wirklich gezeigt. Wie konnte sich ein reiner Geist bemerkbar machen? Welche Form konnte er annehmen? Welcher materiellen Organe konnte er sich zum Sprechen bedienen? Wie konnte sich das unendliche Wesen endlichen Wesen mitteilen? Man wird mir antworten, er habe sich, um sieh der Schwäche seiner Geschöpfe anzupassen, der Vermittlung einiger ausgewählter Menschen bedient, um seinen Willen allen anderen kundzutun; er habe sie mit seinem Geist erfüllt, er habe durch ihren Mund gesprochen. Aber wie soll man die Vereinigung eines unendlichen Wesens mit der endlichen Natur des Menschen begreifen? Wie soll man sich vergewissern, ob derjenige, der von der Gottheit inspiriert zu sein behauptet, nicht seine eigenen Träumereien oder seine Betrügereien für die Orakel des Himmels ausgibt? Mit welchen Mitteln will man erkennen können, ob es wahr ist,

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daß es sich um Gottes Stimme handelt? Man wird mir sogleich antworten, Gott habe, um den Worten derer, die er als seine Dolmetscher ausgewählt hat, Gewicht zu geben, ihnen einen Teil seiner Allmacht verliehen, und diese hätten Wunder vollbracht, die ihre göttliche Sendung beweisen.

Nun frage ich: Was ist ein Wunder? Man belehrt mich: es sei ein Vorgang, der den von Gott selbst festgelegten Gesetzen zuwiderlaufe. Darauf antworte ich, daß es mir nach den Ideen, die ich von der göttlichen Weisheit habe, unmöglich erscheint, daß Gott, der unwandelbar ist, jemals etwas an den weisen Gesetzen ändern könne, die er selbst aufgestellt hat. Hieraus schließe ich, daß Wunder unmöglich sind, denn sie sind unvereinbar mit den Ideen, die ich von der Weisheit und von der Unwandelbarkeit des Gottes des Universums habe. Im übrigen würden diese Wunder Gott nichts nützen. Wenn er allmächtig ist: kann er dann nicht nach Belieben die Geister seiner Geschöpfe modifizieren? Um sie zu überzeugen, braucht er nur zu wollen, daß sie überzeugt sind; er braucht ihnen nur klare, deutliche, beweiskräftige Dinge zu zeigen, und sie werden durch die Evidenz überzeugt werden; hierzu braucht er weder Wunder noch Dolmetscher: die Wahrheit allein ist hinreichend, um die Menschen zu gewinnen.

Ich will nichtsdestoweniger die Nützlichkeit und die Möglichkeit solcher Wunder annehmen: Wie kann ich mich vergewissern, ob der wunderbare Vorgang, der durch den Dolmetscher der Gottheit ausgelöst wird, den Gesetzen der Natur entspricht oder zuwiderläuft? Bin ich denn über all diese Gesetze unterrichtet? Könnte denn derjenige, der im Namen Gottes zu mir spricht, Werke, die mir ganz außergewöhnlich zu sein scheinen, nicht auf sehr natürlichen, aber mir unbekannten Wegen vollbringen? Wie soll ich mich überzeugen, daß er mich nicht täuscht? Bin ich nicht durch die Unwissenheit, in der ich mich im Hinblick auf seine Geheimnisse und die Hilfsmittel seiner Kunst befinde, der Täuschung eines geschickten Betrügers ausgeliefert, der sich des Namens Gottes bedienen könnte, um mir Respekt einzuflößen und mir etwas vorzuspiegeln?

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So müßten mir seine angeblichen Wunder verdächtig sein, selbst wenn ich ihr Zeuge wäre. Wie muß es erst sein, wenn diese Wunder Millionen von Jahren vor mir geschehen sind! Man wird mir sagen, sie seien durch sehr viele Zeugen bestätigt; aber da ich mich, wenn es sich um ein Wunder handelt, schon nicht auf mich selbst verlassen kann, wie könnte ich mich auf andere verlassen, die vielleicht entweder viel unwissender oder viel dümmer waren als ich oder die ein Interesse daran hatten, durch ihre Zeugnisse der Realität entbehrende Dinge zu bekräftigen?

Was könnten mir diese Wunder, wenn ich sie andrerseits anerkenne, beweisen? Werde ich durch sie glauben, daß Gott sich seiner Allmacht bedient habe, um mich von Dingen zu überzeugen, die den Ideen, die ich mir von seinem Wesen, von seiner Natur, von seinen göttlichen Eigenschaften machen muß, direkt zuwiderlaufen? Wenn ich überzeugt bin, daß Gott unwandelbar ist, so werde ich nicht auf Grund eines Wunders glauben, daß er veränderlich sei. Wenn ich überzeugt bin, daß dieser Gott gerecht und gut ist, so werde ich auf Grund einös Wunders niemals denken, daß er ungerecht und böse sein könne. Wenn ich von der Idee seiner Weisheit durchdrungen bin, so werden mich alle Wunder der Welt nicht davon überzeugen, daß Gott unsinnig reden oder handeln könne. Wird man sagen, die Gottheit lasse Wunder geschehen, die sie selbst vernichten oder die geeignet sind, im Geist der Menschen die Ideen zu zerstören, die sie von deren unendlichen Vollkommenheiten haben müssen?

Dennoch wäre das der Fall, wenn Gott Wunder vollbrächte oder wenn er jemandem die Macht verliehe, einer einzigen Offenbarung zuliebe Wunder geschehen zu lassen. Er würde dann den Lauf der Natur stören, um aller Welt zu zeigen, daß er eigenwillig, parteiisch, ungerecht und grausam ist; er würde seine Allmacht zu dem Zweck gebrauchen, um offenbar zu machen, daß er gegen den größten Teil seiner Geschöpfe nicht gütig ist; er würde vergeblich seine Macht spielen lassen, um seine Unfähigkeit zu verbergen, die Menschen durch eine einzige Willenshandlung zu überzeugen. 

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Schließlich würde er die ewigen und unwandelbaren Gesetze der Natur verletzen, um zu zeigen, daß er sich selbst wandeln kann, und um dem Menschen­geschlecht wichtige Neuheiten zu verkünden, deren er sie trotz seiner Güte lange Zeit beraubt hatte.

Man möge also von der Offenbarung, die mit Hilfe eines Wunders geschieht, halten, was man will; man möge sie für gesichert ansehen: sie wird stets den Ideen zuwiderlaufen, die man uns von der Gottheit gibt; sie wird uns zeigen, daß die Gottheit ungerecht ist, daß sie willkürlich handelt, daß sie bei ihren Gunstbeweisen nur ihrer Laune folgt, daß sie ihr Verhalten ändern kann, daß sie allen Menschen auf einmal weder die Kenntnisse zu vermitteln vermag, die für sie notwendig sind, noch sie zu der Vollkommenheit führen kann, deren sie fähig sind. Hieraus ist ersichtlich, daß die Annahme einer Offenbarung sich weder mit der unendlichen Güte noch mit der unendlichen Gerechtigkeit, noch mit der unendlichen Allmacht, noch mit der Unwandelbarkeit des Beherrschers der Natur vereinbaren lassen kann.

Man wird nicht versäumen, Ihnen zu sagen, daß der Schöpfer aller Dinge, daß der unabhängige Monarch der Natur frei über seine Gnadenbeweise verfügen könne; daß er seinen Geschöpfen nichts schuldig sei; daß er, ohne eine Ungerechtigkeit zu begehen und ohne daß sie sich beklagen dürften, mit ihnen machen könne, was ihm beliebt; daß der Mensch unfähig sei, die Tiefen seiner Ratschlüsse zu ergründen; daß seine Gerechtigkeit nicht die Gerechtigkeit der Menschen ist. Aber alle jene Antworten, die die Theologen unaufhörlich im Munde führen, dienen nur dazu, die hervorragenden Ideen, die sie uns von der Gottheit geben, mehr und mehr zu vernichten. Aus ihren Antworten folgt in der Tat, daß Gott sich wie ein eigenwilliger Herrscher benimmt, der einzig darauf bedacht ist, seinen Günstlingen Gutes zu erweisen, und der sich für berechtigt hält, seine übrigen Untertanen zu vernachlässigen und sie im schrecklichsten Elend schmachten zu lassen.

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Sie werden zugeben, daß man sich auf Grund eines solchen Vorbildes keinen mächtigen, gerechten, wohltätigen Gott vorstellen kann, den doch seine Allmacht befähigen müßte, allen seinen Untertanen Glück zu verschaffen, ohne jemals befürchten zu müssen, die Schätze seiner Güte zu erschöpfen.

Wenn man uns sagt, die göttliche Gerechtigkeit sei nicht mit der Gerechtigkeit der Menschen gleichzusetzen, so antworte ich, daß wir in diesem Fall nicht befugt sind, Gott als gerecht zu bezeichnen, weil wir unter Gerechtigkeit unmöglich etwas anderes begreifen können als eine Eigenschaft, die derjenigen gleicht, die wir bei den Wesen unserer Gattung Gerechtigkeit nennen. Wenn die göttliche Gerechtigkeit keine Ähnlichkeit mit der menschlichen Gerechtigkeit hat, wenn diese Gerechtigkeit hingegen demjenigen gleicht, was wir als Ungerechtigkeit bezeichnen, so verwirren sich unsere Ideen, und wir wissen nicht mehr, was wir darunter verstehen oder was wir sagen, wenn wir behaupten, Gott sei gerecht. Nach unseren menschlichen Ideen (und allein solche können die Menschen haben) wird die Gerechtigkeit immer die Eigenwilligkeit und die Willkür ausschließen, und wir müssen einen Herrscher immer als ungerecht und lasterhaft betrachten, der auf das Glück aller Untertanen bedacht sein will oder kann und doch den größten Teil von ihnen im Elend verharren läßt und seine Wohltaten denen vorbehält, denen seineLaune gegenüber allen übrigen den Vorzug gibt.

Was nun den Satz betrifft, mit dem behauptet wird, Gott sei seinen Geschöpfen nichts schuldig, so macht dieses grausame Prinzip jede Idee von Gerechtigkeit und Güte zunichte und zielt offensichtlich darauf ab, die Grundlagen einer jeden Religion zu untergraben. Ein guter und gerechter Gott muß auf das Glück aller Wesen, denen er die Existenz gegeben hat, bedacht sein; er würde nicht mehr gerecht und gut sein, wenn er sie nur geschaffen hätte, um sie unglücklich zu machen; ihm wäre alle Weisheit und Vernunft abzusprechen, wenn er sie nur zum Leben erweckte, um sie seinen Launen zu opfern. Was würde man von einem Menschen halten, der nur Kinder erzeugte, um sich daran zu erfreuen, ihnen die Augen auszustechen und sie zu seinem Vergnügen zu quälen?

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Andrerseits gründet sich jede Religion nur auf die wechselseitigen Verpflichtungen, die man zwischen Gott und seinen Geschöpfen annimmt. Wenn Gott diesen nichts schuldig ist, wenn er nicht gebunden ist, seinen Verpflichtungen gegen sie nachzukommen, obgleich diese sie erfüllen: was soll dann die Religion? Welche Beweggründe sollten die Menschen haben, der Gottheit ihre Huldigungen und ihren Kult darzubringen? Wäre man sehr geneigt, einen Herrn zu lieben oder ihm zu dienen, der sich jeder Pflicht gegen diejenigen entbunden glaubt, die sich in Erwartung der Belohnung, die er ihnen versprochen hat, in seinen Dienst begeben?

Hieraus ist leicht ersichtlich, daß die negativen Ideen, die man uns von der göttlichen Gerechtigkeit gibt, sich nur auf ein unheilvolles Vorurteil gründen, das dem Durchschnitt der Menschen einredet, eine große Macht müsse notwendig denjenigen, der sie besitzt, von den Gesetzen der Rechtlichkeit ausnehmen, die Gewalt könne das Recht verleihen, Böses zu tun, und niemand könne über die Handlungen eines Menschen Rechenschaft fordern, der mächtig genug ist, allen seinen Launen zu folgen. Diese Begriffe leiten sich augenscheinlich von dem Verhalten der Tyrannen her, die, sobald sie im Besitz unbegrenzter Macht sind, nur noch ihre eigenen Launen als Gesetze anerkennen und sich einbilden, für sie gelte keine Gerechtigkeit.

Diesem schrecklichen Modell haben unsere Theologen den Gott nachgebildet, der, wie sie behaupten, dennoch gerecht sein soll. Dagegen müssen wir ihn, wenn das Verhalten, das man ihm zuschreibt, wahr ist, als den ungerechtesten aller Tyrannen, als den parteiischsten aller Väter, als den eigensinnigsten aller Fürsten, kurz, als das Wesen betrachten, das nach aller Vorstellung unseres Geistes am meisten zu fürchten und unserer Liebe am wenigsten wert ist. Man sagt uns, der Gott, der alle Menschen erschaffen habe, habe sich nur einer sehr kleinen Anzahl von ihnen zu er-

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kennen geben wollen, und während diese wenigen ausschließlich seiner Güte teilhaftig werden, seien alle anderen nur Gegenstand seines Zorns, und er habe sie nur geschaffen, um sie in der Verblendung zu belassen, damit er sie aufs grausamste bestrafen könne. Wir sehen, daß die gesamte Struktur der christlichen Religion von diesen unheimlichen Zügen der Gottheit durchdrungen wird; wir finden sie in den sogenannten inspirierten Büchern; wir finden sie in den Lehren von der Vorherbestimmung und von der Gnade. Mit einem Wort, alles in der Religion weist auf einen despotischen Gott hin, und man bemüht sich vergeblich, uns diesen als gerecht hinzustellen, während doch alles, was man uns von ihm sagt, nur seine Ungerechtigkeiten, seine tyrannischen Launen, seine oft grausamen Eigenwilligkeiten, seine unheilvolle Voreingenommenheit gegen den größten Teil der Menschen beweist. Wenn wir uns gegen sein Verhalten auflehnen, das in den Augen eines jeden vernünftigen Menschen als willkürlich erscheinen muß, so glaubt man, uns den Mund zu verschließen, wenn man sagt, dieser Gott sei allmächtig; er sei Herr über seine Gnadenbeweise; er sei niemandem etwas schuldig; wir seien nur Würmer, die nicht das Recht haben, seine Handlungen zu kritisieren. Schließlich schüchtert man uns durch die Androhung schrecklicher und ungerechter Strafen ein, die er für die bereithält, die zu murren wagen.

Die Schwäche dieser Gründe ist leicht zu erkennen. Die Macht, ich wiederhole es, kann niemals das Recht verleihen, die Rechtlichkeit zu verletzen. Ein Herrscher, wenn er auch noch so mächtig ist, ist deshalb nicht weniger zu tadeln, wenn er Belohnungen und Strafen nur nach seiner Laune austeilt; man wird ihn wohl fürchten, ihm schmeicheln, ihn sklavisch loben, aber man wird ihn niemals aufrichtig lieben, ihm gern dienen, ihn als ein Vorbild an Gerechtigkeit und Güte betrachten. Wenn diejenigen, die seine Wohltaten empfangen, ihn für gerecht und gut halten, so werden diejenigen, die seine Launen und seine Härten erleiden, seine grausamen Ungerechtigkeiten im Grunde ihres Herzens nur verabscheuen können.

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Wenn man uns sagt, wir seien im Verhältnis zu Gott Würmer oder wir seien in seinen Händen das gleiche wie ein Gefäß in den Händen eines Töpfers, so sage ich, daß es in diesem Falle zwischen dem Geschöpf und seinem Schöpfer weder Beziehungen noch moralische Verpflichtungen geben kann. Ich werde daraus die Schlußfolgerung ziehen, daß die Religion nutzlos ist; denn der Wurm ist dem Menschen, der ihn zertritt, nichts schuldig, und ebensowenig kann das Gefäß dem Töpfer, der es geformt hat, etwas schuldig sein; und wenn man annimmt, der Mensch sei in den Augen der Gottheit nur ein Wurm oder ein Tongefäß, so wäre er weder imstande, ihr zu dienen, noch sie zu verherrlichen, zu ehren oder zu beleidigen. 

Indessen wiederholt man uns unaufhörlich, der Mensch könne sich bei seinem Gott Verdienst erwerben oder vor ihm schuldig werden; er müsse ihn lieben, ihm dienen, ihm einen Kult und Ehrungen erweisen. Man versichert uns auch, die Gottheit habe bei ihren Schöpfungen allein den Menschen im Auge gehabt, sie habe das Universum für ihn erschaffen, sie habe ihm zuliebe oft die Ordnung der Natur aufgehoben, und Gott habe sich offenbart, um von dem Menschen verehrt, geliebt und verherrlicht zu werden. Schließlich hört Gott — den Prinzipien der christlichen Religion zufolge —« nicht einen Augenblick auf, sich mit dem Menschen, diesem Wurm, diesem von ihm geformten Tongefäß, zu beschäftigen; ja noch mehr, dieser Mensch ist mächtig genug, um die Ehre, die Glückseligkeit und den Ruhm seines Gottes beeinflussen zu können; von ihm hängt es ab, diesen Gott zufriedenzustellen oder zu reizen, seine Gunst zu erwerben oder seinen Haß zu erwecken, ihm Vergnügen zu bereiten oder ihn zu beleidigen, ihn zu beruhigen oder zu erzürnen.

Erkennen Sie nun die offenkundigen Widersprüche aller jener Prinzipien, die nichtsdestoweniger die Grundlage jeder Religion sind? In der Tat gibt es nicht ein einziges, das auf dem wechselseitigen Einfluß Gottes auf den Menschen und des Menschen auf Gott beruht; unsere Gattung,

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die man so sehr herabwürdigt und die man sozusagen immer in den Staub tritt, wenn es sich darum handelt, die Gottheit von dem Vorwurf, ungerecht oder parteiisch zu sein, rein zu waschen; dieses armselige Geschöpf, dem Gott — wie man behauptet — nichts schuldig sei und das Gott für seine Glückseligkeit nicht brauche; das Menschengeschlecht, das in seinen Augen ein Nichts ist, beginnt plötzlich eine sehr große Rolle in der Natur zu spielen; Es wird für den Ruhm seines Schöpfers notwendig, es ist der einzige Gegenstand all seiner Sorgen, es hat die Macht, ihn zu erfreuen oder zu betrüben, es kann seine Gunst erobern oder seinen Zorn reizen. Ist der Gott des Universums, die Quelle aller Glückseligkeit, diesen widerspruchsvollen Begriffen zufolge in Wirklichkeit nicht das unglücklichste Wesen überhaupt? Wir sehen, daß er ständig den Beleidigungen der Menschen ausgesetzt ist, die ihn durch ihre Gedanken, durch ihre Worte, durch ihre Handlungen, durch ihre Unterlassungssünden verletzen; die ihn durch die Launen ihres Willens, ihrer Leidenschaften, ihrer Begierden und auch ihrer Unwissenheit stören und erzürnen. Wenn wir die Prinzipien des Christentums anerkennen, die annehmen, daß der größte Teil des Menschengeschlechts den Zorn des Ewigen erregt und daß sehr wenige Menschen seinen Absichten gemäß leben, folgt daraus nicht notwendig, daß es unter der unermeßlichen Menge der Wesen, die Gott zu seinem Ruhm erschaffen hat, nur sehr wenige gibt, die ihn verherrlichen und die sein Gefallen erregen, während die übrigen nur darauf bedacht sind, ihm Kummer zu bereiten, seinen Zorn zu erregen, seine Glückseligkeit zu trüben, die Ordnung, die er liebt, zu zerstören, seine Pläne zu durchkreuzen und ihn zu zwingen, seine unwandelbaren Anordnungen zu ändern?

Sie sind zweifellos von diesen Widersprüchen überrascht, denen man bei der Prüfung der Religion vom ersten Schritt an begegnet; ich wage Ihnen voraus­zusagen, daß sich Ihre Verwirrung in dem Maße steigern wird, in dem Sie weiter vordringen. Wenn Sie unvoreingenommen die Ideen prüfen, die uns die den Juden und den Christen gemeinsame Offenbarung gibt und die in den sogenannten heiligen Büchern enthalten sind, so werden Sie finden, daß die Gottheit, wenn sie spricht, sich stets selbst widerspricht, daß sie sich mit ihren eigenen Händen zerstört, daß sie fortwährend damit beschäftigt ist, das zu vernichten, was sie schafft, und ihr eigenes Werk auszubessern, dem sie nicht sogleich den Grad an Vollkommenheit geben kann, den sie ihm zu verleihen wünscht. 

Gott ist mit seinen Werken niemals zufrieden und kann trotz seiner Allmacht das Menschengeschlecht nicht dorthin führen, wohin er will.

Die Bücher, die die Offenbarung enthalten, auf die das Christentum sich gründet, werden Ihnen überall einen guten Gott zeigen, der Bosheiten begeht, einen allmächtigen Gott, dessen Pläne unaufhörlich scheitern, einen unwandelbaren Gott, der fortwährend sein Verhalten und seine Grundsätze ändert, einen vorausschauenden Gott, der in jedem Augenblick unversehens überrascht wird, einen weisen Gott, dessen Maßnahmen niemals Erfolg haben, einen großen Gott, der sich nur mit kindischen Kleinigkeiten abgibt, einen Gott, der sich selbst genügt und dennoch eifersüchtig ist, einen starken Gott, der argwöhnisch, rachsüchtig und grausam ist, einen gerechten Gott, der die schrecklichsten Ungerechtigkeiten begeht oder sie vorschreibt, kurz, einen vollkommenen Gott voller Unvollkommenheiten und Laster, die geeignet sind, selbst die bösartigsten Menschen erröten zu lassen.

Das ist der Gott, den Ihnen die Religion im Geist und in Wahrheit anzubeten befiehlt. Ich spare die Analyse der heiligen Bücher, die man Ihnen als Orakel des Himmels ausgibt, für einen anderen Brief auf; ich bemerke, daß ich fürs erste vielleicht zu vieles erörtert habe, und ich zweifle nicht, daß Sie schon jetzt eingesehen haben, daß ein System, welches auf einer so unsicheren Grundlage beruht, wie es diejenige eines Gottes ist, den man mit einer Hand erhöht, um ihn mit der anderen niederzureißen, nicht beständig sein und nur als ein großes Gewebe von Irrtümern und Widersprüchen angesehen werden kann.

Ich bin etc.

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