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6. Brief 

 

 

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Die Überlegungen, die ich Ihnen in meinen Briefen bisher mitgeteilt habe, sind, wie ich glaube, durchaus hinreichend, um Sie im wesentlichen über die düsteren und bedrückenden Begriffe aufzuklären, die Sie mit den religiösen Vorurteilen eingesogen zu haben scheinen. Damit ich indessen die mir gestellte Aufgabe löse und durch die Zerstörung der günstigen Ideen, die Sie für ein System voller Inkonsequenzen und Widersprüche noch hegen mögen, Ihnen Ihre Ruhe schließlich völlig zurückgebe, werde ich fortfahren, die sonderbaren Mysterien, die uns das Christentum anzubeten befiehlt, zu überprüfen. Diese gründen sich auf so eigenartige und der Vernunft so widersprechende Ideen, daß wir, wären sie uns nicht von Kindheit an immer wieder eingeflößt worden, uns unseres Geschlechts schämen würden, weil wir sie uns auch nur einen Augenblick zu eigen machen und glauben konnten.

Die Christen — wenig zufrieden mit den vielen Rätseln und Widersprüchen, die in Mengen die Bücher der Juden füllen — haben sich seither noch eine große Anzahl von unbegreiflichen Mysterien ausgedacht, für die sie die größte Verehrung hegen; die undurchdringliche Dunkelheit dieser Mysterien scheint für sie ein Beweggrund zu sein, diese um so mehr zu verehren; die durch die Leichtgläubigkeit der Christen ermunterten Priester, die vor nichts zurückschrecken, scheinen darauf erpicht gewesen zu sein, ihre Glaubenssätze und die unverständlichen Gegenstände, die die Christen sich unterwürfig zu eigen machen und, ohne sie begreifen zu können, anbeten mußten, noch zu komplizieren.

Das erste dieser Mysterien ist die Dreieinigkeit; diesem zufolge setzt sich ein einziger und einfacher Gott, der ein reiner Geist ist, dennoch aus drei Gottheiten zusammen, die man Personen nennt. Diese drei Götter, die man als Vater, Sohn und Heiliger Geist bezeichnet, bilden nur einen einzigen Gott. Diese drei Personen sind gleich an Macht, an Weisheit, an Vollkommenheiten. Indessen ist die zweite in

dem Maße der ersten untergeordnet, daß sie gezwungen war, fleischlich und menschlich zu werden, um sich der ersten zu opfern. Man bezeichnet dies als Mysterium der Inkarnation. Trotz seiner Unschuld, seiner Vollkommenheit und seiner Reinheit zieht der Sohn Gottes den Zorn eines gerechten Gottes auf sich, der, obwohl es sich um ein und dieselbe Person handelt, nur durch den Tod seines eigenen Sohnes — oder eines Teiles seiner selbst — befriedigt werden kann. Nicht zufrieden damit, Mensch geworden zu sein, stirbt der Gottessohn, ohne gesündigt zu haben, für das Heil der Menschen, die gesündigt haben; Gott zieht unvollkommene Wesen, die er nicht einmal bessern kann, seinem teuren Sohn vor, der voller göttlicher Vollkommenheiten ist; der Tod eines Gottes war notwendig geworden, um das Menschengeschlecht aus der Knechtschaft Satans zu befreien, der seine Beute andernfalls nicht aus den Klauen gelassen hätte und der gegenüber dem Allmächtigen eine solche Macht besaß, daß er ihn zwingen konnte, seinen eigenen Sohn zu opfern. Das bezeichnet man als Mysterium der Erlösung.

Schon die Darlegung solcher Anschauungen zeigt Ihnen gewiß deren Widersinnigkeit; es ist evident, daß, wenn nur ein Gott existiert, es nicht drei Götter geben kann. Man kann wohl, wie es Platon vor dem Christentum getan hatte, Gott unter drei verschiedenen Gesichtspunkten betrachten, das heißt als allmächtig, als weise und vernünftig und als gütig; aber nur äußerster Wahnsinn vermochte diese drei göttlichen Eigenschaften zu personifizieren oder in wirkliche Wesen zu verwandeln. Man konnte wohl annehmen, daß sich jene moralischen Attribute in ein und demselben Gott vereinigt finden; aber es ist unsinnig, sie zu drei verschiedenen Göttern zu machen, und man kann diesen metaphysischen Polytheismus niemals dadurch bemänteln, daß man versichert, diese Götter seien nur ein einziger Gott. Überdies war dem Gesetzgeber der Hebräer eine solche Träumerei niemals in den Sinn gekommen. Als der Ewige sich dem Moses offenbarte, hat er diesem nicht gesagt, daß er dreifach sei; im Alten Testament ist keine Rede von der Dreieinigkeit.

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Indessen hätte es ein derart merkwürdiger, wunderbarer und schwer zu enträtselnder Begriff wohl verdient, ausdrücklich offenbart zu werden, zumal er dem gesamten Christentum als Grundlage dienen sollte, das von jeher der Gegenstand der göttlichen Fürsorge war und auf dessen Errichtung Gott schon vor der Erschaffung der Welt bedacht gewesen zu sein scheint.

Wie dem auch sei, die zweite Person oder der zweite Gott der Dreieinigkeit ist Fleisch geworden; der Gottessohn ist Mensch geworden. Aber wie kann der reine Geist, der dem Universum gebietet, einen Sohn erzeugen? Wie hat sich dieser Sohn, der vor seiner Inkarnation nur reiner Geist war, mit einem materiellen Körper verbinden und sich in ihn einschließen können? Wie hat sich die göttliche Natur mit der unvollkommenen Natur des Menschen vermengen können, und wie hat sich ein unermeßliches und unendliches Wesen — wie es der Vater ist — im Schöße einer Jungfrau zu bilden vermocht? Auf welche Art hat ein reiner Geist jene auserwählte Jungfrau befruchten können? Hat der Gottessohn von Kindesbeinen an seine Vernunft besessen, oder war er wie andere Kinder für einige Zeit arm an Geist, töricht und mit den Schwächen der Jugend behaftet, und wo blieb in diesem Zeitraum die göttliche Weisheit und Allmacht? Wie hat schließlich ein Gott leiden und sterben können? Wie hat ein gerechter Gott billigen können, daß ein von jeder Sünde freier Gott Strafen zu erdulden hatte, die nur der Sünde auferlegt werden? Warum konnte er sich nur dadurch Genugtuung verschaffen, daß er sich selbst ein so kostbares und unschuldiges Opfer abverlangte? Würden Sie einen Herrscher für vernünftig halten, der, um seinen Zorn gegen ein aufrührerisches Volk zu besänftigen, dieses Volk zwingen würde, einen dem Herrscher teuren Sohn zu opfern, der mit dem Aufruhr nichts zu tun hat?

Man wird uns sagen, Gott wollte dieses Opfer aus Zuneigung zum Menschengeschlecht bringen. Aber ich werde immer fragen: Wäre es nicht einfacher und den Ideen eines Gottes gemäßer gewesen, die Sünden des Menschenge-

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schlechts zu verzeihen oder es daran zu hindern, diese zu begehen, als so mächtige Hilfsmittel in Bewegung zu setzen? Dem ganzen System der christlichen Religion zufolge ist es evident, daß Gott die Welt nur erschaffen hat, um seinem Sohn Gelegenheit zu geben, sich zu opfern. Der Sturz der aufrührerischen Engel sollte augenscheinlich nur den Sturz Adams vorbereiten; Gott ließ die Sünde des ersten Menschen nur zu, um das Vergnügen zu haben, seine Güte zu zeigen, indem er seinen Sohn opferte, damit die Menschen aus der Knechtschaft des Satans erlöst würden. Er gab Satan nur deshalb soviel Macht, weil er diesen Feind durch den Tod eines Gottes täuschen wollte, um die Macht Satans auf Erden schließlich zu zerstören.

Haben sich denn aber Gottes so tiefgründige Absichten erfüllt? Sind die Menschen nun völlig von der Herrschaft des Satans befreit? Sind sie nicht mehr der Sünde ergeben, und ist es ihnen nun nicht mehr möglich, den göttlichen Zorn zu entfachen? Hat das Blut des Gottessohnes die Sünden der Erde getilgt? Beleidigen denn diejenigen, die er erlöst hat, und diejenigen, denen er sich zu erkennen gegeben hat, sowie diejenigen, die an ihn glauben, den Himmel überhaupt nicht mehr? Hat die Gottheit, die doch zweifellos von einem so hervorragenden Opfer zufriedengestellt sein muß, den Menschen die Strafe für die Sünde erlassen? Fordert sie nichts mehr von ihnen, und hat sie die Menschen seit dem Tode ihres Sohnes vor Krankheit, Unbill und Tod bewahrt? Nichts von alledem ist geschehen. Die Maßnahmen, die vor Ewigkeiten von der vorausschauenden Weisheit eines Gottes, dessen Wille keine Hindernisse kennt, ergriffen wurden, sind vereitelt worden; alle göttlichen Pläne sind am freien Willen des Menschen und an der Macht des Teufels gescheitert. Der Mensch sündigt und stirbt weiterhin, der Teufel ist Herr des Schlachtfeldes geblieben, und nur um einer kleinen Anzahl von Erwählten willen hat die Go.ttheit zu sterben geruht.

Man schämt sich in der Tat, solche offensichtlichen Hirngespinste ernsthaft bekämpfen zu müssen. Wenn an ihnen

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etwas wunderbar ist, so die Tatsache, daß sie im Gehirn des Menschen entstehen und von vernünftigen Wesen für wahr gehalten werden konnten. Überdies sind jene Begriffe wahrhaftig Mysterien; nichts ist in der Tat mehr bewiesen, als daß die Menschen, die zu uns davon sprechen, ebensowenig imstande sind wie wir, auch nur das geringste davon zu begreifen. Sagen, man glaube dergleichen Ungereimtheiten, heißt offensichtlich lügen; es wird stets völlig unmöglich sein, das zu glauben, was man nicht verstehen kann; um einen Satz glauben zu können, muß man ihn notwendig verstehen. Glauben, was man nicht begreift, heißt, sich törichterweise die Ungereimtheiten anderer zu eigen machen. Dinge glauben, die selbst von denen, die sie uns sagen, nicht verstanden werden, ist der Gipfel der Torheit; blindlings an die Mysterien der christlichen Religion glauben, heißt Widersprüche annehmen, von denen selbst diejenigen, die sie uns verkünden, nicht überzeugt sein können, weil diese sich notwendigerweise in die Ungereimtheiten verstricken, die sie ohne Prüfung von ihrem Vater oder von ihren Vorfahren, die offensichtlich entweder Betrüger oder Toren waren, übernommen haben.

Wenn Sie mich fragen, wie es möglich war, daß sich die Menschen nicht gegen so viele widersinnige und unverständliche Träumereien empörten, so werde ich Ihnen meinerseits erklären, worin dieses große Mysterium, das Geheimnis der Kirche, das Mysterium unserer Priester, besteht. Man muß nur die allgemeinen Neigungen, besonders des unwissenden und zum Nachdenken unfähigen Menschen, aufmerksam betrachten. Jeder Mensch ist neugierig. Sobald man die Dinge, die man ihm als für sein Glück wichtig hinstellt, mit einem Geheimnis umgibt, wird seine Neugier angestachelt, und seine Einbildungskraft beginnt zu arbeiten. Der Pöbel verachtet,, was er kennt und was er zu begreifen vermag. Das Mittel, ihn für sich einzunehmen, besteht darin, ihn zu blenden, ihm Wunder und außergewöhnliche Dinge zu verkünden. Er bewundert und achtet nur das, was seinen Geist beschäftigt, der selbst keine Ideen hat. Man wird also immer

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den Priestern, die die meisten Wunder und Mysterien verkünden, am begierigsten lauschen: sie werden vom Volk am besten aufgenommen, am meisten geachtet und am besten bezahlt.

Da die Gottheit überdies ein Wesen ist, deren undurchdringliche Natur sich den Blicken der Sterblichen verhüllt, haben diese sich gewöhnlich eingebildet, alles, was sie nicht begreifen konnten, berge notwendigerweise etwas Göttliches. Heilig, mysteriös und göttlich sind gleichbedeutend geworden, und allein durch diese eindrucksvollen Wörter werden die Menschen auf die Knie gezwungen.

Die drei Mysterien, die ich soeben untersucht habe, werden von allen christlichen Sekten einmütig anerkannt; aber es gibt noch andere Mysterien, über die die Theologen sich keineswegs einig sind. In der Tat bemerken wir, daß Menschen, nachdem sie widerspruchslos eine gewisse Menge von Ungereimtheiten hingenommen haben, plötzlich stutzig werden und sich weigern, noch weitere anzunehmen. In dieser Lage befinden sich die protestantischen Christen; sie verabscheuen einige Mysterien, denen die Römische Kirche die größte Achtung entgegenbringt. Indessen scheint es in bezug auf Mysterien schwierig zu sein, die Grenze zu bestimmen, vor der der Geist haltmachen soll.

Was unsere Gottesgelehrten betrifft, die zweifellos sehr viel klüger sind als die der Protestanten, so haben sie unsere Mysterien geschickt ausgebaut; sie wären verzweifelt, wenn es in der Religion etwas gäbe, was klar, verständlich, natürlich wäre. Mysteriöser als selbst die Priester Ägyptens, haben sie das Mittel gefunden, alles zu Mysterien zu machen; Körperbewegungen, belanglose Gebräuche, oberflächliche Zeremonien sind unter ihren mächtigen Händen in erhabene und göttliche Mysterien verwandelt worden. In der Römischen Kirche ist alles magisch, alles wunderbar, alles übernatürlich; die Theologen nehmen bei ihren Entscheidungen fast immer für das Partei, was am unvernünftigsten und am meisten geeignet ist, die Ideen des gesunden Menschenverstandes zu verwirren und umzustülpen. Infolgedessen sind

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unsere Priester auch sehr reich, sehr mächtig und sehr achtunggebietend geworden. Da wir ihrer ständig bedürfen, um vom Himmel die Gnaden zu erhalten, die er uns nur durch seine Diener gewährt, befinden wir uns stets in Abhängigkeit von diesen wunderbaren Menschen, die sich zu Unterhändlern und Vermittlern zwischen dem Himmel und uns aufgeworfen haben.

Alle unsere Sakramente bergen große Mysterien. Man sagt, die Sakramente seien Zeremonien, denen die Gottheit auf unbekannten Wegen, von denen man keine Ideen hat, irgendeine geheime Kraft mitteilt. Ohne Taufe kann kein Mensch gerettet werden; seine Seele wird durch Wasser, mit welchem der Kopf des neugeborenen Kindes besprengt wird, reingewaschen und von den Makeln befreit, die ihm infolge der Sünden, die Adam begangen hat, anhaften. Durch die geheimnisvolle Kraft dieses Wassers und einiger ebenso unverständlicher Worte versöhnt sich Gott mit diesem Kind, das ihn wider Willen durch einen Urahnen beleidigt hatte. In alledem erkennen Sie einen Wirrwarr von Mysterien, die jeder Christ zu glauben gezwungen ist. Dennoch wird es sicherlich weder einen einzigen Christen geben, der begreifen kann, worin die Kraft dieses wunderbaren Wassers besteht, das, wie man behauptet, die Wiedergeburt bewirken soll, noch einen Christen, der zu begreifen vermag, wie der gerechte Monarch des Universums den Menschen Fehler zur Last legt, die sie gar nicht begangen haben, oder der verstehen könnte, wie ein weiser Gott an einer nichtigen Zeremonie Gefallen findet, die, ohne den Hang zur Sünde, den man von Geburt an mitbringt, zu zerstören, besonders im Winter für die Gesundheit des Kindes gefährlich werden kann.

In der Firmung, einem Sakrament oder einer Zeremonie, die, um einige Wirkung zu haben, von einem Bischof vorgenommen werden muß, läßt eine auf die Wange eines Kindes gegebene Maulschelle den Heiligen Geist auf sein Haupt herabsteigen und verschafft dem Kinde die Gnade, in seinem Glauben standhaft zu bleiben. Sie sehen, daß sich

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die Wirksamkeit dieses Sakraments in meiner Person unglücklicherweise nicht bewährt hat. Obgleich ich in meiner Jugend rechtmäßig und so, wie es sich gehört, gefirmt worden bin, kann ich mich weder rühmen, mich meines Glaubens nicht zu schämen, noch im Glauben meiner Väter unerschütterlich zu verharren.

Das Sakrament der Buße, eine Zeremonie, die darin besteht, daß man seine Sünden einem Priester beichtet, besteht gleichfalls aus Wundern und Mysterien. Als Belohnung für diese Unterwerfung, zu der sich jeder gute Katholik notwendigerweise verpflichtet glaubt, verzeiht ein Priester, der zwar selbst ein Sünder, aber von der Gottheit mit Vollmachten ausgestattet ist, in ihrem Namen die Sünden, durch die sie beleidigt worden war; Gott söhnt sich mit jedem Menschen aus, der sich vor seinem Diener demütigt. Und auf Befehl dieses Dieners öffnet er dem Unglücklichen, der sich selbst davon ausgeschlossen hatte, den Himmel. Wenn dieses Sakrament denen, die davon Gebrauch machen, nicht immer sehr spürbare Gnaden verschafft, so hat es doch wenigstens den Vorteil, diese Menschen der Geistlichkeit völlig Untertan zu machen. Diese sieht sich dadurch imstande, ihre Herrschaft über die Geister auszuüben und häufig die Gesellschaft, aber noch mehr die Ruhe der Familien und der Gewissen zu stören.

Für die Katholiken gibt es noch ein anderes Sakrament, das gewiß die seltsamsten Mysterien in sich birgt: das Sakrament des Abendmahls. Unsere Gottesgelehrten zwingen uns unter Androhung der Strafe der Verdammung, zu glauben, daß der Gottessohn den Aufenthalt seines Ruhms verlassen muß, um sich unter dem Schein des Brotes zu verbergen; dieses Brot wird Gott; dieser Gott vervielfacht sich ebensooft, wie es die Priester an den verschiedenen Orten der Erde vorschreiben; indessen sieht man überall nur ein und denselben Gott; er empfängt die Huldigungen und Verehrungen sehr vieler Menschen, die es sehr lächerlich finden, daß die Ägypter einst Zwiebeln angebetet haben. Nicht zufrieden damit, dem Brot, in dem sie Gott vermuten, zu

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huldigen, essen es die Katholiken auch und bilden sich ein, von der Substanz Gottes selbst gezehrt zu haben; die Protestanten weigern sich, an ein so merkwürdiges Mysterium zu glauben, und betrachten diejenigen, die es sich zu eigen machen, als Götzendiener. Wie dem auch sei, dieses wunderbare Dogma ist für unsere Priester zweifellos sehr nützlich; in den Augen derer, die es annehmen, sind jene Priester sehr bedeutende Menschen, da sie die Macht haben, sich die Gottheit dienstbar zu machen und sie nach ihrem Willen zu sich herabsteigen zu lassen: ein katholischer Priester ist der Schöpfer seines Gottes.

Was die Letzte Ölung betrifft, ein Sakrament, welches darin besteht, die Kranken, die sich zur Reise in die andere Welt anschicken, mit Öl zu salben, so versichert man, daß sie den Kranken körperliche und geistige Erleichterung verschaffe. Wenn sie diese guten Wirkungen erzielt, so geschieht es auf unsichtbare und geheimnisvolle Weise. Die Gnaden, die sich sichtbar daraus ergeben, versetzen die schwachen Gehirne lediglich in Angst und Schrecken und führen häufig den Augenblick des Todes schneller herbei. Aber unsere Priester sind so mitleidsvoll und so um das Heil der Seelen besorgt, daß sie die Menschen lieber zugrunde richten, als zuzulassen, daß sie sterben, ohne die heilsame Salbe erhalten zu haben.

Die Priesterweihe ist eine mysteriöse Zeremonie, durch die die Gottheit insgeheim den Menschen, die sie erwählt hat, unsichtbare Gnaden gewährt, so daß sie befugt sind, die Sakramente zu verwalten. Der katholischen Religion zufolge gibt Gott seinen Priestern die Macht, Gott selbst zu sein; ein Privileg, das wir zweifellos nicht genug bewundern können. Die spürbaren Wirkungen dieses Sakraments und die sichtbaren Gedanken, die es verleiht, bestehen nur darin, mit einigen Worten und einigen Zeremonien einen Laien in einen heiligen Menschen zu verwandeln, das heißt in einen Menschen, der nicht mehr Laie ist.

Durch diese geistige Metamorphose* erwirbt der Mensch das Recht, be-

 

* Verwandlung.

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trächtliche Einkünfte zu besitzen, ohne der Gesellschaft nützen zu müssen; im Gegenteil, der Himmel selbst verleiht ihm das Recht, seine weltlichen Mitbürger, die für ihn arbeiten, zu betrügen, zu verwirren und zu berauben.

Schließlich ist die Ehe für uns ein Sakrament, denn es verleiht uns unsichtbare und mysteriöse Gnaden, von denen wir in Wahrheit keine sehr zuverlässigen Ideen haben. Die Protestanten und die Ungläubigen, die die Ehe nur als einen weltlichen Vertrag und nicht als ein Sakrament betrachten, erhalten dadurch weder mehr noch weniger spürbare Gnaden als die guten Katholiken; denn man sieht nicht, daß diese durch die geheime Kraft dieses Sakraments einiger, beständiger oder treuer würden, und Sie kennen, Sie und ich, sehr viele Menschen, denen sie nur die Gnade verliehen hat, sich gegenseitig von Herzen zu hassen.

Ich spreche hier nicht von einer Unmenge anderer magischer Zeremonien, die von einigen christlichen Sekten angenommen, von einigen anderen wiederum verworfen werden und mit denen die Frommen eine sehr hohe Idee verknüpfen, in der festen Überzeugung, daß Gott sich dieser Zeremonien bediene, um seine Gnaden im verborgenen auszuteilen. Alle diese Zeremonien enthalten gewiß große Mysterien, und ihre Wirkungsart selbst ist sehr geheimnisvoll. So gewinnt das Wasser, über welches ein Priester einige in seinem Zauberbuch enthaltene Wörter gesprochen hat, die unsichtbare Kraft, unsichtbar die bösen Geister zu vertreiben, die von Natur aus unsichtbar sind. So nimmt das Öl, über welches ein Bischof ein paar Formeln gemurmelt hat, die Fähigkeit an, den Menschen und sogar unbeseelten Dingen, wie Holz, Stein, Metallen und Mauern, unsichtbare Kräfte zu verleihen, die sie vorher nicht besaßen. Schließlich zeigt man uns in allen Zeremonien der Kirche Mysterien, und die Menge, die nichts zu begreifen vermag, ist nur um so mehr geneigt, jene zu bewundern, ihre Augen daran zu weiden, sie zu achten; sie würde nicht mehr die gleiche Verehrung hegen, wenn sie etwas davon begriffe.

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Anfangs waren bei allen Völkern die Priester nur Quacksalber, Schwindler, Wahrsager und Zauberer. Wir sehen, daß solche Menschen bei den ungebildetsten und wildesten Völkern wirken, wo sie von der Unwissenheit und der Leichtgläubigkeit der anderen leben. Man betrachtet sie als höhere Wesen, die mit übernatürlichen Gaben versehen sind und von den Göttern selbst begünstigt werden, weil man sieht, daß sie Dinge vollbringen, die man für Wunder hält; denn die Unwissenden wundern sich immer und über alles. So üben die Priester, bestärkt durch die Torheit der Menge, weiterhin ihren alten Beruf mit allgemeiner Zustimmung aus.

Sie dürfen sich also nicht wundern, wenn Sie sehen, daß unsere Bischöfe und unsere Priester noch Magie betreiben oder den Völkern, die durch die Vorurteile an ihre alten Gebräuche gekettet sind, Zaubereien vorgaukeln. Die Völker hängen um so mehr an diesen Gebräuchen, je weniger sie deren Beweggründe zu begreifen vermögen. Alles, was mysteriös ist, reizt die Unwissenden; das Wunderbare verführt die Menschen; selbst sehr aufgeklärte Personen haben Mühe, sich dagegen zu schützen. Daher sehen wir, daß die Priester stets an den Riten und den Zeremonien ihres Kultes hartnäckig festhielten; man konnte diese Zeremonien immer nur durch Revolutionen einschränken odei abschaffen; die nichtigste Zeremonie hat oft Ströme von Blut verursacht, die Völker glaubten sich jedesmal verloren, wenn man in der Religion Neuerungen einführen wollte; sie glaubten, man wolle sie der unbekannten Vorteile und der unsichtbaren Gnaden berauben, die, wie sie vermuteten, von der Gottheit einigen Bewegungen des Körpers beigelegt wurden. Die geschicktesten Priester sind darauf bedacht gewesen, die Religion mit Zeremonien, Bußübungen und Mysterien zu überladen; sie erkannten, daß dies alles Mittel waren, um die Völker an sich zu binden, um ihre Schwärmerei zu entfachen, um sich selbst unentbehrlich zu machen und sich Geld und Achtung zu verschaffen.

Aber Sie sind nicht geschaffen, von jenen heiligen Betrügern länger hinters Licht geführt zu werden. Wenn jene auch die Menge durch ihre wunderbaren Zaubereien beeindrucken, so sind Sie doch jetzt davon überzeugt, daß das, was jene als Mysterien bezeichnen, nur Widersinnigkeiten sind, die weder vor ihrer eigenen noch vor der Vernunft eines anderen bestehen können. Sie wissen, daß Körperbewegungen oder Zeremonien Dinge sind, die dem weisen Wesen, welches man uns als die bewegende Kraft aller anderen hinstellt, völlig gleichgültig sein sollten. Sie erkennen, daß ein vernünftiger Gott sich nicht von kindischen Zeremonien schmeicheln lassen kann und daß der allmächtige Herrscher der Natur, der weder Bedürfnisse noch Stolz oder Eitelkeit kennt, nicht wie die weltlichen Fürsten nach einer Etikette verlangen oder sich in seinen Gunstbeweisen nach einer nichtigen und vernunftwidrigen Zeremonie richten kann. Sie werden daraus schließen, daß alle diese wunderbaren Riten, in denen unsere Priester uns so viele Mysterien zeigen und in denen die ganze Religion des Volkes besteht, nur Kindereien sind, denen sich die vernünftigen Menschen nur unterziehen müssen, um den Brauch nicht zu verletzen und um bei den allzu voreingenommenen Geistern ihrer schwachen Mitbürger keine Verwirrung zu stiften.

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