7. Brief
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Sie wissen jetzt, was Sie von den Mysterien und den Zeremonien zu halten haben, welche Sie dem Rat der Religion zufolge ohne Widerspruch verehren und anbeten sollen. Ich werde nunmehr über die Andachtsübungen schreiben, an denen, wie unsere Gottesgelehrten behaupten, die Gottheit Gefallen findet und von denen sie ihre Gunstbeweise abhängig macht.
Im Gefolge dieser falschen, düsteren, widerspruchsvollen und miteinander nicht zu vereinbarenden Ideen, welche uns alle offenbarten Religionen von der Gottheit geben, haben sich die Priester für die Völker eine Unmenge von vernunftwidrigen Gebräuchen ausgedacht, die allerdings den irrigen Begriffen, die sie sich von diesem Wesen machten, durchaus entsprachen. Gott wurde immer als ein Mensch voller Leidenschaften betrachtet, der empfänglich ist für Geschenke, für Schmeicheleien und Unterwürfigkeiten, oder vielmehr als ein eigenwilliger und empfindlicher Herrscher, der sehr leicht darüber in Zorn gerät, daß man ihm nicht die Achtung und die Dienste erweist, die er in seiner Eitelkeit von seinen Untertanen verlangt.
Auf Grund dieser Begriffe, die einem Gott so wenig anstehen, hat man sich eine Menge von Andachtsübungen und merkwürdigen, lächerlichen, lästigen und oft grausamen Erfindungen einfallen lassen, mit deren Hilfe man die Gunst des Beherrschers der Welt zu verdienen oder seinen Zorn zu entwaffnen glaubte. So entstanden all die Gebete und die Opfergaben, die ihm zu weihen man sich für verpflichtet hielt. Man vergaß, daß man einen guten Gott, der alles weiß, nicht zu bitten braucht; daß ein Gott, der alles geschaffen hat, nicht das Bedürfnis hat, daß man ihm seine eigenen Werke opfert; daß ein Gott, der seine Macht kennt, weder der Schmeicheleien noch der Unterwürfigkeiten bedarf, um sich seiner Größe, seiner Kraft und seiner Rechte zu erinnern ; daß ein Gott, der alles beherrscht, nicht verlangen kann, daß man ihm das darbringt, was ihm bereits gehört;
daß ein Gott, der keine Bedürfnisse hat, nicht durch Geschenke günstig gestimmt zu werden vermag oder seine Geschöpfe wegen der Güter beneiden kann, die sie erst durch seine göttliche Güte erhalten haben.
Da sie derart einfache Überlegungen nicht angestellt haben, mußten sich alle Religionen der Welt mit einer Unmenge von oberflächlichen Andachtsübungen umgeben, die zu erfüllen die Menschen sich nach besten Kräften bemüht haben, um die Gottheit günstig zu stimmen. Die Priester, die sich immer als Höflinge, als Diener, als Bevorzugte, als Dolmetscher Gottes ausgaben, haben bemerkt, daß sie aus den Irrtümern der Menschen und aus den Geschenken, die diese ihren Göttern darbringen, leicht Nutzen ziehen können; sie waren also daran interessiert, jene in ihren falschen Ideen zu belassen und sogar die Finsternis ihrer Geister zu vertiefen und Mittel zu erfinden, mit deren Hilfe die Menschen imstande sein sollten, das Gefallen der unbekannten Mächte, die über ihr Schicksal verfügen, zu erregen. Sie waren darauf bedacht, Ergebenheit und Eifer für die unsichtbaren Wesen zu wecken, zu deren sichtbaren Repräsentanten sie sich selbst aufgeworfen hatten. Jene Priester merkten bald, daß sie für sich selbst arbeiteten, wenn sie für die Götter arbeiteten, und daß sie sich die Geschenke und die Opfer zunutze machen konnten, die man den Wesen darbrachte, die niemals erschienen, um das zu fordern, was für sie bestimmt war.
Auf diese Weise haben die Priester mit der Gottheit gemeinsame Sache gemacht. Ihre Politik zwang sie also, die Irrtümer des Menschengeschlechts zu begünstigen und zu vermehren. Sie sprachen von diesem unbestimmbaren Wesen wie von einem eifersüchtigen und von Interesse und Eitelkeit erfüllten Monarchen, der nur gibt, damit auch ihm gegeben werde; der ständig die Zeichen der Unterwerfung, der Achtung und der Ergebenheit, die man ihm entgegenbringt, sehen und wiederholt haben will; der um seine Gunst gebeten sein will und der sie, um sie schwerer erreichbar zu machen, nur den ganz Eifrigen erweist, und der sich besonders durch Geschenke besänftigen und gewinnen läßt, aus denen seine Priester Nutzen zu ziehen wissen.
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Es ist evident, daß sich alle Andachtsübungen, Zeremonien und Riten, die in alle Religionen der Erde Eingang gefunden haben, auf Ideen gründen, die den Fürstenhöfen entlehnt sind. Jede Religion hat sich nach Kräften bemüht, ihren Gott zu dem größten, furchtbarsten, despotischsten und eigennützigsten Monarchen zu machen. Die Völker, bei denen sich diese menschlichen und erniedrigenden Meinungen eingenistet haben, haben sich ohne Prüfung die Erfindungen zu eigen gemacht, die nach den Darlegungen der Diener der Gottheit am geeignetsten waren, deren Gunst zu erringen oder deren Zorn abzuwenden. Die Priester machten sich immer die Andachtsübungen zu eigen, die sie sich für ihr eigenes Religionssystem und für ihre eigenen Interessen ausdachten; der unwissende Pöbel ließ sich blindlings führen. Die Gewohnheit machte ihn mit den Dingen vertraut, über die er niemals nachdachte; sie wurden für ihn zu einer routinehaften Pflichterfüllung, die von Geschlecht zu Geschlecht, von den Vätern an die Kinder weitergegeben wurde.
Kaum ist das Kind geboren, so läßt man es mechanisch die Hände falten, um es beten zu lehren. Man zwingt es, Sprüche zu stammeln, die es nicht versteht und die es an einen Gott richtet, den sein Geist niemals begreifen wird. Auf den Armen seiner Amme wird es in eine Kirche getragen, in der seine Augen daran gewöhnt werden, Schauspielen, Zeremonien und angeblichen Mysterien zuzuschauen, von denen es selbst im reifen Alter nichts verstehen wird. Wenn nun jemand einen solchen Menschen nach dem Grund seines Verhaltens fragt oder von ihm wissen will, warum er sich dieses Verhalten zu einer wichtigen und heiligen Pflicht gemacht hat, so wird er nur sagen können, daß man ihn von Kindheit an gelehrt hat, ehrfurchtsvoll die Bräuche zu achten, die heiliggehalten werden müssen, da sie ihm unverständlich sind.
Wenn man ihn über diesen gewohnheitsmäßigen Flitterkram aufzuklären sucht, so wird
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er entweder nicht darauf hören, oder er wird sich gegen denjenigen erzürnen, der den in seinem Gehirn verwurzelten Begriffen widerspricht. Jeder Mensch, der ihn zum gesunden Verstand zurückführen und gegen die Gewohnheiten, die er angenommen hat, angehen will, wird ihm lächerlich und unvernünftig erscheinen, oder er wird ihn sogar als einen Ketzer und Gottlosen von sich weisen; denn als solche muß er, wie man ihm gesagt hat, alle bezeichnen, die nicht dem gleichen Herkommen folgen oder die nicht die gleichen Ideen mit den Dingen verknüpfen, die jener nicht geprüft hat.
Welchen Schrecken würde man jedem frommen Christen einjagen, wenn man ihm sagte, das Beten sei nutzlos! Wie groß wäre seine Überraschung, wenn man ihm bewiese, daß die Gebete, die, wie man ihm in seiner Kindheit gesagt hat, sein Gott am liebsten hört, gerade den Prinzipien seiner Religion zufolge diesen Gott beleidigen! Wenn Gott tatsächlich alles weiß, muß er dann erst über die Bedürfnisse seiner Geschöpfe, die er liebt, unterrichtet werden? Wenn Gott ein zärtlicher und gütiger Vater ist, ist es dann notwendig, ihn um unser täglich Brot zu bitten? Wenn dieser so gute Gott die Bedürfnisse seiner Kinder voraussieht und sie viel besser kennt als diese Kinder selbst, wie kann er von ihnen verlangen, daß sie ihn quälen, damit er diese Bedürfnisse befriedige? Wenn dieser Gott unwandelbar und weise ist, wie könnte die Schöpfung danach trachten, ihn zur Änderung seiner göttlichen Ratschlüsse zu bewegen? Wenn dieser Gott gerecht und gut ist, so muß man ihn doch beleidigen, wenn man ihn bittet, uns nicht in Versuchung zu führen.
Hieraus ist ersichtlich, daß es sehr wenige Christen gibt, die sich Rechenschaft darüber ablegen, was sie sagen, wenn sie täglich das Gebet herunterleiern, das, wie behauptet wird, von Gott selbst diktiert worden sei. Sie sehen, daß das Vaterunser eine Menge von Widersinnigkeiten und Ideen enthält, die zu denen, die jeder Christ von seinem Gott haben muß, völlig in Widerspruch stehen. Würde man ihn
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fragen, warum er unablässig einen nichtssagenden Spruch wiederholt, über den er nicht nachgedacht hat, so könnte er nur sagen, seine Eltern hätten ihn von Kindheit an gelehrt, daß er seine Hände falten und Worte wiederholen muß, von denen er niemals etwas begriffen hat; er wird weiterhin sagen, seine Priester hätten ihm, solange er lebt, versichert, daß dieses Bittgesuch sehr heilig und sehr geeignet sei, die Gunst des himmlischen Vaters zu erringen.
Zweifellos müssen wir über die Unmenge von Gebeten, die uns unsere Gottesgelehrten unaufhörlich vorschreiben, das gleiche Urteil fällen. Wollte man ihnen glauben, so müßten die Menschen, um Gott zu gefallen, ihre ganze Zeit damit zubringen, ihn mit Bitten zu belästigen, um ihm durch ihre Zudringlichkeiten seine Gnade abzutrotzen. Wenn Gott gut ist, wenn er seine Geschöpfe liebt, wenn er ihre Bedürfnisse kennt, so ist es nutzlos, ihn zu bitten; wenn Gott unwandelbar ist, so kann man nicht erwarten, daß er seine Ratschlüsse ändert; wenn Gott weise ist, so weiß er besser als die Menschen, was für sie notwendig ist; wenn man Gott beleidigen kann, so muß er die Gebete zurückweisen, die seine unendliche Güte, Gerechtigkeit und Weisheit verletzen.,
Welche Beweggründe haben also unsere Priester, uns unablässig einzuschärfen, daß es notwendig sei zu beten? Sie erhalten dadurch in den Köpfen der Menschen Anschauungen aufrecht, aus denen sie selbst Vorteile ziehen. Sie zeigen uns Gott unter dem Bilde eines schwer zugänglichen Monarchen, der sich nicht leicht zu erkennen gibt und dessen Diener, Höflinge und Günstlinge sie sind; sie werfen sich zu Unterhändlern zwischen diesem unsichtbaren Herrscher und seinen irdischen Untertanen auf; sie bieten diesen ihre mächtige Vermittlung an; sie beten für die Völker, und auf Grund dieses wenig beschwerlichen Amtes lassen sie sich ehren, belohnen und bezahlen, als ob sie der Gesellschaft reale Vorteile verschafften. Allein aus der Notwendigkeit des Betens leitet sich die gesamte Existenz unserer Priester, unserer Mönche, unserer Nonnen her, deren hauptsächliche
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Beschäftigung darin besteht, ihre müßigen Hände zum Himmel zu erheben; sie bitten um Milde für die Völker bei einem Gott, der seinen geliebten Geschöpfen andernfalls nichts zukommen lassen oder ihnen nur Strafe und Unheil schicken würde. Die Gebete der Priester werden als Allheilmittel gegen alle unsere Leiden betrachtet. Die Völker werden durch all ihr Unglück in die Arme ihrer geistlichen Führer getrieben; diese kommen bei der allgemeinen Not gewöhnlich auf ihre Rechnung; sie werden dann dafür bezahlt, daß sie beim Allmächtigen um Beistand bitten. Da die Menschen den Gang der Natur und ihre unveränderlichen Gesetze nicht kennen, betrachten sie alles, was sie bedrückt, als sichtbare Wirkungen des himmlischen Zorns; die Leiden, gegen die sie keine Heilmittel finden, erscheinen ihnen vor allem als Zeichen einer übernatürlichen oder göttlichen Macht, von der sie mit Feindschaft verfolgt werden.
Der Gott, den sie für so gut halten, scheint darauf versessen zu sein, ihnen zu schaden; ihr so zärtlicher Vater scheint die Ordnung der Natur zu stören, um seinen Zorn zu zeigen; der so gerechte Gott bestraft sie bisweilen, ohne daß sie zu erraten vermögen, was ihnen seine Rache zugezogen haben könnte. Dann laufen sie in ihrer Hilflosigkeit zu den Priestern, denen es niemals schwerfallen wird, Beweggründe für den göttlichen Zorn zu finden. Sie werden sagen, Gott sei beleidigt und vernachlässigt worden und fordere Gebete und Opfer; er verlange, um beschwichtigt zu werden, daß seine Diener mehr geachtet werden und daß man ihnen besser gehorcht und ihnen Geschenke bringt. Wenn man das nicht tut — verkündet man der Menge —, so werden ihre Weinstöcke erfrieren; werden ihre Felder überschwemmt werden; werden Pest, Hungersnot, Krieg und Seuchen die Erde verwüsten; und wenn diese Unglücksfälle eintreten, so sagt man, die Menschen müßten beten, um sie abzuwenden.
Wenn man trotz Furcht und Schrecken vernünftig denken könnte, so würde man sehen, daß alles Übel wie alles Gute notwendig aus der Natur der Dinge folgt; man würde ein-
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sehen, daß ein weiser und unwandelbarer Gott nur nach den Gesetzen handeln kann, als deren Urheber man ihn betrachtet. Man würde erkennen, daß das Unheil, die Unfruchtbarkeit, die Krankheiten, die Seuchen und der Tod ebenso notwendige Wirkungen sind wie der Wohlstand, der Überfluß, die Gesundheit, das Leben. Man würde finden, daß Kriege, Unfruchtbarkeit und Hungersnöte oft durch die Fahrlässigkeit der Menschen verursacht werden. Man würde sich in solche Unglücksfälle schicken, die man nicht verhindern kann, aber man würde solche verhindern, denen man zuvorkommen kann. Man würde sich auf einfachem und natürlichem Wege gegen diejenigen schützen, gegen die man sich wehren kann, und man würde sich über jene übernatürlichen Mittel und nutzlosen Gebete klarwerden, über welche eine jahrhundertealte Erfahrung die Menschen aufgeklärt haben müßte, wenn sie imstande gewesen wären, auf ihre religiösen Vorurteile zu verzichten.
Dabei würden die Priester jedoch nicht auf ihre Rechnung kommen; sie würden überflüssig werden, wenn man bemerkte, daß ihre Gebete unwirksam sind, daß ihre Andachten nichts nützen und daß ihren Frömmigkeitsübungen, mit denen sie das Menschengeschlecht auf die Knie zwingen, jegliche Grundlage fehlt. Sie bemühen sich immer, diejenigen zu verunglimpfen, die das priesterliche Geschäft diskreditieren; sie ängstigen die schwachen Seelen durch die niederdrückenden und schrecklichen Ideen, die sie von ihrem Gott geben; sie verbieten den Menschen, vernünftig zu denken, und machen sie durch die Unterdrückung der Vernunft ihren ausgefallensten, unvernünftigsten und den ihren eigenen Grundsätzen völlig widersprechenden Befehlen gefügig. Sie erklären die willkürlichen, belanglosen oder sogar unnützen und schädlichen Andachtsübungen für wichtige Pflichten, die als viel wesentlicher angesehen werden sollen als die heiligsten Pflichten der Moral. Sie wissen, daß der Mensch, sobald er leidet oder unglücklich ist, nicht mehr vernünftig denkt; so sind sich die Priester, wenn er wirklich leidet, seiner sicher; ist er nicht unglücklich, so bedrohen sie ihn und flößen ihm Furcht vor künftigem Unglück ein.
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Würden Sie tatsächlich die angeblichen Pflichten, die die Religion Ihnen auferlegt, mit unvoreingenommenen Augen prüfen, so müßten Sie eingestehen, daß sie allein den Priestern nützen, für Gott und die Gesellschaft aber, der sie häufig offensichtlich Verderben bringen, gleichermaßen .nutzlos sind. Von welchem Nutzen kann einer Familie eine sehr fromme Mutter sein, die ihre ganze Zeit mit Beten, Fasten, Betrachtungen und in Zurückgezogenheit verbringt und die — nicht genug, daß sie ihre wahren Pflichten wegen jener nichtigen Beschäftigungen vernachlässigt — nach diesen Andachtsübungen die Bitterkeit in die Gesellschaft trägt, die sie aus ihren mystischen Unterhaltungen mit dem himmlischen Vater geschöpft hat? Werden sich ihr Gatte, ihre Kinder, ihr Gesinde freuen, wenn sie sehen, daß ihr Schicksal von einer Frau abhängig ist, die ihre Zeit mit Beten verliert und die auf Grund ihrer Betrachtungen und lästigen Andachtsübungen nur mürrisch, zänkisch und mißmutig wird?
Ist es nicht besser, wenn sich ein Familienvater oder eine Mutter um ihren Haushalt oder, besonders in großen Häusern, um ihre so oft vernachlässigten häuslichen Angelegenheiten kümmern, als ihre Zeit damit zu verbringen, Messen zu hören, Predigten zu lauschen, über Mysterien und unbegreifliche Dogmen nachzugrübeln, sich von der Welt zurückzuziehen und Andachtsübungen zu befolgen, die ohne Wirkung bleiben? In dem Lande, in dem Sie wohnen, findet man eine große Anzahl frommer Männer und Frauen, die sich in Schulden gestürzt haben und deren Vermögensverhältnisse zerrüttet sind, weil sie nicht daran denken, ihre Geschäfte in Ordnung zu bringen. Da sie sich damit zufriedengeben, ihr Gewissen in Ordnung zu halten, kümmern sie sich weder um die Erziehung ihrer Kinder noch um die Verwaltung ihres Vermögens, noch um die Bezahlung ihrer Schulden. Ein Mensch, der darüber verzweifelt, die Messe versäumt zu haben, läßt in seinem Vorzimmer unglückliche Gläubiger, die er durch seine Nachlässigkeit wie durch seine Böswilligkeit zugrunde richtet, bedenkenlos jahrelang warten. Wenn man sich das alles recht besieht, so entspringt aus der Frömmigkeit in Wahrheit überhaupt kein Nutzen.
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Kann denn etwas all den Begriffen, die man sich von der unendlichen Güte und Weisheit der Gottheit machen soll, mehr widersprechen als jene Enthaltsamkeit und Entbehrung, die die Religion uns zur Pflicht macht, oder als jene Kasteiungen und Bußen, die sie als Tugenden hinstellen will? Was würde man von einem Vater halten, der seine Kinder nur unter der Bedingung an einem reichgedeckten Tisch Platz nehmen ließe, daß sie keine der Speisen berühren, nach denen sie Verlangen haben? Sollte man annehmen, daß ein guter Gott seinen Geschöpfen den Genuß unschuldiger Freuden, die ihnen das Leben angenehmer machen, neiden könne oder daß dieser Gott die begehrenswerten Gegenstände nur geschaffen habe, um mit ihnen die Menschen zu versuchen und sie ihnen dann zu verbieten?
Die christliche Religion scheint uns zu Tantalusqualen* zu verdammen. Fast alle Arten des Aberglaubens haben Gott zu einem launenhaften und eifersüchtigen Herrscher gemacht, der Gefallen daran findet, die Begierden seiner Sklaven aufzustacheln und zu reizen, und der ihnen alle Freuden neidet, die zu genießen er ihnen die Möglichkeit gegeben hat. Fast überall ist Gott mißmutig, ein Feind des Frohsinns und durch das Wohlergehen seiner Geschöpfe beleidigt. Wir sehen, daß es in allen Ländern Menschen gibt, die töricht genug sind und es sich als Verdienst anrechnen, die Natur zu bekämpfen, sich gegen ihre Bedürfnisse aufzulehnen und sich selbst zu quälen, weil sie dadurch Gott zu gefallen glauben. Stets hoffte man, seinen Zorn zu entwaffnen und seinen Strafen zuvorzukommen, wenn man sich selbst strafte und sich dem Zorn eines Gottes überließ, der immer nach Opfern dürstet.
Diesen abscheulichen, fanatischen, unsinnigen Ideen begegnen wir allenthalben in der christlichen Religion. Diese hält ihren Gott für so grausam, daß er seinen unschuldigen Sohn leiden und töten ließ.
* Qualvolles Verlangen nach Unerreichbarem.
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Wenn ein Gott, der nicht sündig ist, sich selbst dem Leiden unterwirft, so ist es nicht verwunderlich, daß sündige Menschen es sich zur Pflicht gemacht haben, es ihm gleichzutun, und sich verpflichtet glaubten, Mittel zu ersinnen, um sich zu erniedrigen. Auf Grund dieser düsteren Begriffe haben sich einst die Wüsten mit einer Menge von Fanatikern bevölkert, die den Freuden des Lebens entsagten, sich lebendig begruben und den Himmel zu verdienen glaubten, indem sie sich selbst mit der größten Grausamkeit behandelten oder dem Vaterland ihre Dienste entzogen. Diesen falschen Ideen zufolge wurde die Gottheit in einen ebenso barbarischen wie unvernünftigen Tyrannen verwandelt; ihnen zufolge weihen sich bei uns noch heute Männer und Frauen für ewig dem Leiden, der Buße, dem Schmerz und den Tränen und sehen die Vollkommenheit in der sinnreichen Kunst der Selbstkasteiungen. Aber die Priester sind stolz auf diese Qualen; die strengsten Mönche rühmen sich der Grausamkeiten, die sie sich auf Grund ihrer eigenen Vorschrift selbst zufügen müssen; sie wissen, daß diese Mühen ihnen die Achtung der leichtgläubigen Völker eintragen, denn diese bilden sich ein, die Menschen, die sich quälen, müßten göttliche Menschen sein. Die Mönche, die die strengen Regeln befolgen, sind Fanatiker, die sich dem Stolz der Geistlichkeit opfern, die in Reichtum und Überfluß lebt, während einige Toren es sich zur Ehre anrechnen, vor Hunger zu sterben.
Wie oft habe ich gesehen, wie Sie voller Rührung an jene armen Nonnen dächten, die sich freiwillig auf Lebenszeit zu den Härten des Gefängnisses verdammt hatten! Einmal durch die Schwärmerei der Jugend verführt oder unter dem Zwang der Befehle unmenschlicher Eltern, verpflichteten sie sich, die Ketten der schwersten Gefangenschaft bis zum Grabe zu tragen. Da sie unwiderruflich den Eigenwilligkeiten einer übellaunigen Oberin ausgeliefert sind, die sich über ihre eigene Knechtschaft nur zu trösten vermag, indem sie ihre Herrschaft die anderen um so härter fühlen läßt, mußten diese Mädchen unglücklich werden. Sie wurden ge-
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zwungen, für immer auf ihren eigenen Willen zu verzichten und ständig unter einem strengen Despotismus zu leiden, dem sie durch unbedachtsame Gelübde unterworfen worden waren. Alle unsere Klöster bieten uns nur ein häßliches Schauspiel von Fanatikern, die sich von der Gesellschaft gelöst haben, um sich der traurigen Aufgabe zu widmen, sich unglücklich zu machen; die sich nur vereinigt haben, um sich das Leben gegenseitig unerträglich zu machen, und die in der Absicht, den Himmel zu verdienen, die Qualen der Hölle schon auf dieser Welt erdulden.
Wenn die Religion nicht von allen Christen diese erhabenen Vollkommenheiten verlangt, so hält sie dennoch alle Menschen zu Leiden und Selbstkasteiungen an; die Kirche schreibt all ihren Kindern Entbehrungen, Enthaltsamkeit und Fasten vor; sie macht ihnen diese zur Pflicht, und die Frommen bilden sich ein, der Gottheit zu gefallen, wenn sie gewissenhaft die beschwerlichen, unbedeutenden und kindischen Andachtsübungen erfüllt haben, mit denen die Priester, wie man sagt, nichts anderes bezwecken, als die Geduld und den Gehorsam derer auf die Probe zu stellen, die ihnen unterworfen sind. Welche lächerliche Idee müssen beispielsweise solche Menschen von der Gottheit haben, die aufrichtig glauben, sie interessiere sich für die verschiedenen Speisen, die in unseren Magen gelangen, oder die sich einreden, sie sei ungehalten, wenn wir Rind- oder Hammelfleisch essen, wohingegen sie erfreut sei, wenn sie uns Bohnen oder Fisch essen sieht? In Wahrheit schwelgen unsere Priester, die uns bisweilen so große Ideen von Gott geben, sehr häufig darin, ihn ungebührlich zu erniedrigen!
Das Leben eines guten Christen oder Frommen ist ausgefüllt mit einer Reihe unbequemer Andachtsübungen, die höchstens dann verzeihlich wären, wenn sie der Gesellschaft einigen realen Nutzen brächten. Doch hierüber beunruhigen sich unsere Priester nicht; sie sind nur darauf bedacht, recht unterwürfige Sklaven zu haben, die so verblendet sind, daß sie alle priesterlichen Launen für Befehle eines weisen Gottes halten, und die so stumpfsinnig sind,
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daß sie alle religiösen Übungen als göttliche Mysterien und die Menschen, die sie gewissenhaft erfüllen, als Günstlinge des Allmächtigen betrachten. Ergibt sich für die Völker etwas Gutes daraus, wenn sie auf den Genuß von Fleisch verzichten, der so vielen Christen verboten ist, während dieses Gesetz von anderen wiederum mit Berechtigung als sehr lächerlich empfunden wird? Es fällt uns nicht schwer, festzustellen, daß dieses Gesetz, das von den Reichen offen verletzt wird, den Armen zur Last fällt, weil diese nun eine ungesunde und für die Wiederherstellung der durch die Arbeit erschöpften Kräfte ungeeignete Nahrung teuer bezahlen müssen. Verkaufen nicht überdies eben die Priester den Reichen die Erlaubnis, die priesterlichen Befehle zu überschreiten? Sie scheinen unsere religiösen Übungen, Pflichten und Martern nur deshalb so vervielfacht zu haben, um den Vorteil zu besitzen, unsere Fehler zu vervielfachen, damit sie aus unseren angeblichen Vergehen ihren Nutzen ziehen können.
Je gründlicher wir die Religion untersuchen, um so mehr Gelegenheit haben wir, uns davon zu überzeugen, daß sie einzig und allein auf den Vorteil der Priester bedacht ist. Alles scheint darauf hinauszulaufen, deren Unentbehrlichkeit augenfällig zu machen, uns ihren Launen zu unterwerfen, uns zu zwingen, ihren Ruhm und ihren Reichtum zu vermehren. Sie befehlen uns lästige Dinge; sie sagen uns, wir müßten unmögliche Vollkommenheiten erstreben, damit sie uns bei Überschreitungen ertappen können; sie erwecken dadurch bei frommen Seelen Gewissensqualen, die sie zu beruhigen verstehen, nachdem man ihnen Geld gegeben hat. Ein Frommer muß unaufhörlich gegen sich selbst auf der Hut sein; er macht sich ständig Vorwürfe; er braucht dauernd seinen Priester, damit die angeblichen Sünden getilgt werden können, die er in seiner Einbildungskraft übertreibt. Unglücklicherweise sind die Fehler, die er sich am meisten vorwirft, und die Pflichten, die er im Leben für die wichtigsten hält, selten diejenigen, die für die Gesellschaft von Interesse sind. Infolge der religiösen Vorurteile, mit
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denen die Priester die schwachen Geister der Frommen vergiften, halten sich diese, wenn sie eine belanglose Andachtsübung unterlassen haben, für unendlich viel schuldiger, als wenn sie eine schreiende Ungerechtigkeit begangen, eine abscheuliche Verleumdung ausgesprochen oder gegen die Menschlichkeit verstoßen haben; gewöhnlich sind die Frommen schon zufrieden, wenn sie ein gutes Verhältnis zu Gott haben; sie kümmern sich dann sehr wenig darum, ob sie zu den Menschen ein gutes Verhältnis haben oder ihresgleichen nützlich sind.
Hat die Gesellschaft tatsächlich irgendwelchen Nutzen von den mannigfaltigen Gebeten, von der Enthaltsamkeit, von der Entbehrung, von der Weltabgeschiedenheit, von den Meditationen*, von den Kasteiungen, welche die Religion für so wertvoll erachtet? Zeitigen alle diese mysteriösen Übungen wirklich irgendeinen guten Erfolg? Sind sie imstande, die Leidenschaften zu besänftigen, das Laster zu beseitigen und die Menschen, die diese Übungen sehr gewissenhaft erfüllen, zur Tugend anzuhalten? Sehen wir nicht täglich Menschen, die sich verdammt glauben, wenn sie einer Messe nicht beiwohnen, wenn sie freitags Hühnerfleisch essen, wenn sie eine Beichte versäumen, die sich aber sonst eine Unmenge von Verfehlungen zuschulden kommen lassen oder die sich sehr ungerecht und sehr hart gegen alle diejenigen benehmen, die unglücklicherweise mit ihnen in Berührung kommen?
Diese religiösen Übungen, die sich die meisten Menschen zur Hauptpflicht machen, drängen gewöhnlich die wahren Pflichten der Moral völlig zurück; sind die Frommen religiös, so sind sie doch sehr selten tugendhaft: sie sind damit zufrieden, das erfüllt zu haben, was die Religion fordert, und sorgen sich sehr wenig um das übrige. Sie glauben, von Gott geliebt zu werden, und kümmern sich kaum darum, ob sie von den Menschen verachtet werden, oder sie tun nichts, um deren Liebe zu erringen. Das gesamte Leben eines Frommen ist damit ausgefüllt, daß
* Sinnendes Betrachten; hier: religiöse Versunkenheit.
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er peinlich genau die Pflichten erfüllt, die einem Gott gleichgültig, dem Frommen selbst unbequem und für die anderen nutzlos sein müssen; er bildet sich ein, tugendhaft zu sein, wenn er getreulich die Übungen befolgt, die die Religion ihm vorschreibt; wenn er über die Mysterien nachdenkt, von denen er nichts begreifen kann; wenn er seine Zeit trübselig mit Dingen getötet hat, deren Nutzen ein vernünftiger Mensch nicht einzusehen vermag; wenn er schließlich versucht, nach Kräften die evangelischen oder christlichen Tugenden auszuüben, in welchen, wie man ihn lehrt, seine gesamte Moral besteht.
Ich möchte auf diese Tugenden in meinem nächsten Brief näher eingehen und Ihnen beweisen, daß sie meistens den Ideen, die wir von Gott haben, widersprechen und daß sie für uns selbst nutzlos und für die übrigen oft gefährlich sind.
Ich verbleibe etc.
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