8. Brief
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Wollten wir uns auf unsere Gottesgelehrten verlassen, so müßten wir davon überzeugt sein, daß die christliche Religion der Philosophie und allen anderen Religionen der Erde durch die Erhabenheit ihrer Moral überlegen sei; wollte man ihnen also glauben, so wären der menschliche Geist und die schwache Vernunft niemals imstande gewesen, sich eine gesündere Moral, heroischere Tugenden und für die Gesellschaft nützlichere Gebote auszudenken. Ja, noch mehr: alle von den Heiden anerkannten oder ausgeübten Tugenden werden von unseren Priestern nur als falsche Tugenden angesehen, die, weit entfernt, unsere Achtung und die Gunst des Allmächtigen zu verdienen, vielmehr verabscheuungswürdig und in den Augen des Ewigen nur verdammenswerte Sünden sind. Mit einem Wort, ihnen zufolge ist die christliche Moral eine rein göttliche Moral, und die Vorschriften, die sie uns gibt, sind so erhaben, daß sie nur das Werk eines Gottes sein können.
Wenn man in der Tat unter göttlich das versteht, was die Menschen weder begreifen noch praktisch verwirklichen können; wenn man solche Tugenden als göttlich bezeichnet, deren Nützlichkeit der menschliche Geist nicht ausfindig zu machen vermag; wenn man solche Eigenschaften, deren die Sterblichen nicht fähig sind oder die sogar all den Eigenschaften, die sie sich vorstellen können, entgegengesetzt sind, als göttliche Vollkommenheit betrachtet, so kann man nicht leugnen, daß die christliche Moral eine rein göttliche ist. Zumindest ist gewiß, daß sie nichts mit der Moral gemein hat, die den Menschen angemessen ist, und daß sie häufig alle Begriffe zu verwirren vermag, die die Menschen sich von der Tugend machen können.
Den schwachen Einsichten unserer Vernunft und dem gesunden Menschenverstand zufolge verstehen wir unter Tugenden die eingewurzelten Neigungen, auf Grund deren wir danach streben, all den Menschen Glück und wirklichen Nutzen zu bringen, mit denen wir in Gesellschaft leben und
die wir durch die Ausübung dieser Tugend dazu anhalten ihrerseits für unser Wohlergehen zu sorgen. Die christliche Religion bezeichnet mit dem Wort Tugend solche Neigungen, die man ohne übernatürliche Gnaden unmöglich erlangen kann und die, wenn wir sie erhalten haben, in dieser Welt, in der wir leben, für uns sowie für die anderen unnütz und lästig sind. Die christliche Moral ist wahrhaftig eine Moral der künftigen Welt. Die guten Christen können mit jenem Philosophen aus dem Altertum verglichen werden, welcher, da er die Augen unaufhörlich auf die Sterne gerichtet hatte, in einen Brunnen fiel, den er vor seinen Füßen nicht sah.
Ihre gesamte Moral hat nur den Zweck, sie gegen die Erde mit Widerwillen zu erfüllen, um sie einzig an den Himmel zu ketten, von dem sie keine Idee haben; diese Moral hat keinesfalls das irdische Glück zum Ziel; diese Welt ist für den Christen nur ein Durchgangsstadium, das ihn zu einer Welt führt, die für ihn viel interessanter ist, weil er nicht imstande ist, sie zu erkennen. Ja, noch mehr: wenn wir in jener unbekannten Welt glücklich sein wollen — lehrt uns die Religion —, so könnten wir nichts Besseres tun, als uns in dieser uns bekannten Welt unglücklich zu madien. Und wenn wir sicheren Schrittes zur Glückseligkeit gelangen wollen, so müssen wir besonders auf den Gebrauch unserer Vernunft verzichten, das heißt die Augen fest verschließen, um uns blindlings von unseren Priestern führen zu lassen. Augenscheinlich ist die gesamte christliche Moral auf diesen Prinzipien begründet.
Prüfen wir unter diesen Voraussetzungen die Tugenden, die der christlichen Religion als Grundlage dienen. Man bezeichnet sie als göttliche oder als christliche Kardinaltugenden; man behauptet, ohne sie könne der Mensch seinem Gott nicht angenehm sein.
Die erste dieser Tugenden ist der Glaube. Unseren Gottesgelehrten zufolge ist dieser Glaube ein Geschenk Gottes, eine übernatürliche Kraft, auf Grund deren man fest an Gott und an alles, was er den Menschen zu offenbaren für gut befunden hat, glaubt, selbst wenn unsere Vernunft es nicht zu begreifen vermag.
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Der Glaube, sagt man, gründe sich auf ein Wort Gottes, der weder uns noch sich selbst täuschen könne; so setzt der Glaube voraus, daß Gott zu den Menschen gesprochen hat; aber wer beweist uns, daß Gott.zu den Menschen gesprochen hat? Die heiligen Schriften. Und wer bezeugt uns, daß die heiligen Schriften das Wort Gottes enthalten? Unsere Priester, die eine Körperschaft bilden, die man Kirche nennt. Aber wer gibt uns die Gewißheit, daß die Kirche uns nicht täuschen kann oder will? Die heiligen Schriften. Diese bescheinigen uns die Unfehlbarkeit der Kirche, während die Kirche uns die Zuverlässigkeit der Schriften bestätigt. Hieraus ist ersichtlich, daß der Glaube in Wahrheit nur das blinde, Vertrauen ist, das wir in unsere Priester setzen, auf deren Wort hin wir uns Anschauungen zu eigen machen, die wir nicht begreifen können. Man sagt uns zwar, die Schriften seien durch Wunder bezeugt, aber diese Schriften berichten ja erst über jene Wunder, deren Unmöglichkeit ich hinlänglich bewiesen zu haben glaube, und geben sie für wahr aus.
Andrerseits glaube ich bereits hinreichend bewiesen zu haben, daß es unmöglich ist, ganz fest von etwas überzeugt zu sein, was unser Geist nicht zu begreifen vermag. Die Prüfung, der wir jene Bücher unterzogen haben, die die Christen als heilig bezeichnen, hat Sie davon überzeugen müssen, daß ein weiser, guter, voraussehender, gerechter und allmächtiger Gott nicht deren Schöpfer sein konnte. Es ist uns also unmöglich, dieses wirklich zu glauben. Das, was wir Glauben nennen, kann immer nur ein blindes und unvernünftiges Vergöttern von Systemen sein, die von den Priestern ausgedacht wurden, welche uns schon vom zartesten Kindesalter an eingeredet haben, daß man sich die Anschauungen zu eigen machen müsse, die sie in bezug auf ihre eigenen Interessen für nützlich halten. Aber können jene Priester — und wenn sie noch so sehr an den Anschauungen, die sie uns als Wahrheit aufschwatzen wollen, interessiert sind — selbst daran glauben; können sie selbst davon innerlich überzeugt sein? Zweifellos kann das nicht der Fall sein.
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Sie sind die gleichen Menschen wie wir, sie haben die gleichen Organe und sind ebensowenig wie wir imstande, innerlich von den Dingen überzeugt zu sein, die für das gesamte Menschengeschlecht in gleicher Weise unverständlich sind. Wenn sie irgendeinen Sinn mehr hätten, so könnten wir uns vielleicht einbilden, sie seien fähig, das zu begreifen, was wir nicht begreifen; da wir aber von diesem vorzüglichen Sinn überhaupt nichts wissen, müssen wir schließen, daß ihr Glaube ebenso wie der aller anderen Christen nur ein blindes und wenig vernünftiges Festhalten an Anschauungen ist, die sie ohne Prüfung von ihren Vorgängern übernommen haben, und daß sie unmöglich ganz fest an Dinge glauben, von denen sie innerlich nicht überzeugt sein können, weil diese Dinge ohne Evidenz1'* sind, welche ihnen allein die Gewißheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit zu geben vermag.
Man wird sicherlich sagen, der Glaube oder die Fähigkeit, unglaubliche Dinge zu glauben, sei ein Geschenk Gottes, das nur von denen erkannt werde, denen Gott diese Gnade zuteil werden lasse. Ich antworte hierauf, daß man, wenn dies der Fall ist, warten muß, bis Gott uns diese Gnade, von der wir keine Idee haben, mitteilt; doch scheinen indessen die Leichtgläubigkeit, die Stumpfsinnigkeit und die Fähigkeit, Unsinn zu reden, keine Gnaden des vernünftigen Gottes zu sein, dem der Mensch seine Vernunft verdankt. Wenn Gott unendlich weise ist, so kann er sich nicht durch das Lob von Toren und Dummköpfen geschmeichelt fühlen; wäre der Glaube eine Gnade, so wäre er offensichtlich die Fähigkeit, die Dinge anders zu sehen, als sie sind oder als Gott sie geschaffen hat; in diesem Fall hätte Gott diese Welt und die gesamte Natur nur zu einem Schauplatz von Illusionen gemacht. Wollte man glauben, daß die Bibel das Werk Gottes sei, so müßte man alle Ideen, die man sich von Gott macht, umkehren; wollte man glauben, ein einziger Gott mache drei Götter und drei Götter machten einen einzigen Gott aus, so müßte man jedes Prinzip aufgeben und sich einreden, daß es auf Erden nichts gibt, was evident ist.
* Völlige Klarheit.
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So haben wir allen Grund zu vermuten, daß das, was unsere Gottesgelehrten als ein höheres Geschenk, als eine übernatürliche Gnade bezeichnen, in Wirklichkeit nur tiefe Verblendung, unvernünftige Leichtgläubigkeit, törichte Unterwerfung, große Ungewißheit und stumpfsinnige Unwissenheit ist, auf Grund deren wir ohne Prüfung allem zustimmen, was uns unsere Priester sagen, und auf Grund deren wir uns — ohne zu wissen, warum — den Anschauungen einiger Menschen anschließen, die selbst keine tiefer begründete Gewißheit haben können als wir. Ohne schließlich zuviel zu sagen, können wir doch annehmen, daß solche Menschen, die unaufhörlich von der Notwendigkeit einer Tugend predigen, welche die klarsten Ideen unseres Geistes nur verwirrt, die Absicht haben, uns zu verblenden, um uns desto sicherer täuschen zu können.
Diese Schlußfolgerung müssen wir in der Tat aus dem Verhalten unserer Priester ziehen. Sobald diese vergessen, daß sie uns den Glauben als eine Gabe Gottes, als ein Geschenk seiner Gnade gepriesen haben, das er jedem gewährt, den er für gut hält, und jedem beliebigen anderen verweigert, erzürnen sie sich alsbald gegen alle diejenigen, denen die Gottheit nicht die Gabe des Glaubens verliehen hat; und wenn sie die Macht dazu haben, unternehmen sie alles, um jene zu vernichten. So wird den Ketzern und den Ungläubigen die Verantwortung für Gnaden auferlegt, die sie nicht erhalten haben; man bestraft sie in dieser Welt, weil sie von Gott nicht die Vorteile erhalten haben, auf Grund deren sie in die künftige Welt eingehen können. Die Ungläubigkeit ist in den Augen der Priester und der Frommen ein gänzlich unverzeihliches Verbrechen; sie wird infolge der grausamen Torheit und der Inkonsequenz der Menschen mit der größten Strenge bestraft; denn Sie wissen sehr wohl, daß man in den vom Klerus beherrschten Ländern aus christlicher Liebe diejenigen verbrennt, die nicht das gehörige Maß an Glauben angenommen haben.
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Fragt man nach den Beweggründen eines so ungerechten und unvernünftigen Verhaltens, so erhält man die Antwort, der Glaube sei das Allernotwendigste und von sehr großer Bedeutung für die Sitten, und ein Mensch ohne Glaube könne nur ein gefährlicher Verbrecher und ein schlechter Staatsbürger sein. Aber ist es denn von einem selbst abhängig, zu glauben oder nicht zu glauben? Ist man Herr über seine Gedanken? Ist es uns denn möglich, das, was uns durch unser Urteil als vernunftwidrig bewiesen wird, nicht für widersinnig zu halten? Haben wir uns in unserer Kindheit dagegen wehren können, die Eindrücke, die Anschauungen, die Ideen in uns aufzunehmen, die uns unsere Eltern und unsere Lehrer haben geben wollen? Gibt es schließlich jemanden, der sich rühmen könnte, wirklich zu glauben und völlig von den unbegreiflichen Mysterien und unglaublichen Wundern überzeugt zu sein, die uns die Religion lehrt?
Wie kann der Glaube unter dieser Voraussetzung nutzbringend für die Sitten sein? Wenn jeder nur auf ein Wort hin glauben soll und demzufolge keine wirkliche Überzeugung hat: kann es dann in der Gesellschaft überhaupt Tugenden geben? Nehmen wir aber an, der Mensch könne glauben: Welche Beziehungen können zwischen den von niemandem zu verstehenden dunklen Spekulationen und den offensichtlichen Pflichten des Menschen bestehen, welche jeder erkennen muß, sobald er in seinen Betrachtungen von seiner Vernunft, von seinem wirklichen Interesse und vom Wohl der Gesellschaft ausgeht, deren Glied er ist? Muß ich also notwendig an die Dreieinigkeit, an die Inkarnation, an das Abendmahl glauben, um dessen sicher zu sein, daß ich gerecht, wohltätig und maßvoll sein soll? Sind die grausamen Geschichten der Bibel, die den Ideen, die ich mir von einem gerechten, weisen und gütigen Gott bilden muß, so sehr widersprechen, nicht weit eher geeignet, mich ungerecht zu machen und zu verderben, als mich auf den Weg der Tugend zu führen? Wenn ich die Nützlichkeit so vieler mir unbegreiflicher Mysterien und seltsamer und unbequemer Andachtsübungen nicht einsehe, die die Religion mir vor-
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schreibt: bin ich deshalb als Staatsbürger gefährlicher als diejenigen, die alle Menschen, die das Unglück haben, nicht so zu denken oder zu handeln wie sie, verfolgen, foltern und töten? Wenn man alles recht betrachtet, so ist doch evident, daß ein Mensch, der einen sehr festen Glauben hat und sich blind für vernunftwidrige Anschauungen ereifert, viel unvernünftiger und demzufolge bösartiger sein wird als derjenige, der nicht solche unheilvollen Anschauungen hat. Wenn die Priester einem Menschen, dessen Vernunft sie verwirrt haben, sagen, daß Gott von ihm verlange, Verbrechen zu begehen, so wird er in der Gesellschaft mehr Verwirrung stiften als derjenige, der nicht glaubt, daß Gott derartige Ungeheuerlichkeiten befehlen könne.
Man wird mir antworten, der Glaube sei für die Moral notwendig, und wir hätten ohne die Ideen, die die Religion uns von Gott gibt, keine hinreichend starken Beweggründe, das Laster zu meiden und der Tugend, die oft schmerzvolle Opfer von uns fordert, zu folgen. Mit einem Wort, man wird behaupten, die Menschen hätten, wenn sie nicht von der Existenz eines rächenden oder belohnenden Gottes überzeugt wären, nichts mehr in dieser Welt, was sie zwingt, ihre Pflichten zu erfüllen.
Sie werden, glaube ich, die Falschheit jener anmaßenden Forderungen erkannt haben, welche von Priestern ausgedacht wurden, die sich selbst unentbehrlich machen wollten und behaupteten, ihre Systeme seien für die Erhaltung der Gesellschaft von unerläßlicher Notwendigkeit. Diese Systeme lösen sich auf, sobald man nur über die Natur des Menschen, über seine wahren Interessen und über den Zweck jeder Gesellschaft nachdenkt. Der Mensch ist ein schwaches Wesen, das in seinem Leben ständig die Hilfe seiner Mitmenschen braucht, um sich selbst zu erhalten und um seine Existenz angenehm zu machen; er kann die anderen an seiner Existenz nur durch die Art und Weise interessieren, wie er sich zu ihnen verhält; das Verhalten, das jene zu seinen Gunsten einnimmt, nennt man Tugend; dasjenige, welches ihnen Unbehagen bereitet, nennt man Verbrechen; das-
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jenige, welches dem Menschen selbst schadet, wird als Laster bezeichnet. So braucht der Mensch nur sich selbst zu betrachten, um zu erkennen, daß sein eigenes Glück von seinem Verhalten gegenüber anderen abhängt, daß ihn selbst die verborgensten Laster ins Verderben stürzen können, daß er von seinen Mitmenschen, die ihm durch alles als Wesen erscheinen müssen, die für seine Glückseligkeit notwendig sind, auf Grund seiner Verbrechen unfehlbar gehaßt und verachtet wird. Mit einem Wort, die Erziehung, die öffentliche Meinung und die Gesetze zeigen ihm seine Pflichten weit besser als die Hirngespinste der Religion.
Jeder Mensch, der mit sich selbst zu Rate geht, wird erkennen, daß er sich erhalten will; die Erfahrung wird ihm zeigen, was er unterlassen oder was er tun muß, um dieses Ziel zu erreichen; demgemäß wird er alle Ausschweifungen fliehen, die für sein Dasein schädlich werden könnten; er wird sich aller Vergnügen enthalten, die durch ihre Folgen seine Existenz unglücklich zu machen vermögen; wenn es nötig ist, wird er sich Opfer auferlegen in der Absicht, sich einen realeren Nutzen zu verschaffen als den, dessen er sich für den Augenblick beraubt. So weiß er, was er sich selbst und anderen schuldig ist.
Das sind in wenigen Worten die wahren Prinzipien aller Moral; sie gründen sich auf die Natur des Menschen, auf die ständige Erfahrung, auf die allgemeine Vernunft. Die Gebote dieser Moral verpflichten uns, weil die Wirkungen unseres Verhaltens ebenso unvermeidlich sind wie die Tatsache, daß ein Stein fällt, solange ihn kein Hindernis im Fallen aufhält. Unvermeidlich und notwendig wird man den Menschen, der Gutes tut, demjenigen vorziehen, der Böses tut. Jedes denkende Wesen, das von dieser Wahrheit überzeugt sein muß, wird darin durch alle die theologischen Ideen nicht im geringsten bestärkt; der Mensch wird also vermeiden, anderen oder sich selbst zu schaden; er wird sich stark fühlen, ihnen Gutes zu tun, wenn er sich selbst wirklich glücklich machen und die Empfindungen erregen will, ohne die die Gesellschaft für ihn reizlos sein muß.
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Sie sehen also, daß der Glaube die Sitten keineswegs zu bessern vermag; Sie werden erkennen, daß seine übernatürlichen Begriffe in keiner Weise die Verpflichtungen vermehren, die unsere Natur uns auferlegt. Im Gegenteil, je dunkler, wunderbarer und unbegreiflicher die Ideen sind, die uns die Religion gibt, um so geeigneter werden sie sein, uns von unserer Natur und der gesunden Vernunft abzulenken, deren Stimme uns niemals täuschen wird, wenn wir sie zu Rate ziehen. Prüfen wir ohne Vorurteil die Quelle einer Unzahl von Übeln in unserer Gesellschaft, so werden wir sehen, daß sie auf die unheilvollen Spekulationen der Religion zurückzuführen sind, die die Menschen mit Schwärmerei, Fanatismus und Wahnsinn erfüllen und sie auf diese Weise blind, unbesonnen und zu Feinden ihrer selbst und der anderen machen. Unter einem tyrannischen, parteiischen und grausamen Gott werden seine Anbeter niemals gerechte und wohltätige Menschen werden. Die Priester, die uns befehlen, die Vernunft zu ersticken, werden uns immer nur zu unvernünftigen Wesen machen, die sich von allen Leidenschaften entflammen lassen, die jene Priester uns einzuflößen beabsichtigen.
In Wahrheit sind sie auf Grund ihres Interesses gezwungen, uns zu solchen Menschen zu machen. Sie wollen, daß wir unsere Vernunft opfern, weil diese Vernunft ihnen widersprechen und ihre großen Pläne durchkreuzen könnte. Der Glaube nützt allein ihnen; er unterwirft ihnen abgestumpfte Sklaven, mit denen sie machen können, was sie wollen, und die sie zu Werkzeugen ihrer Leidenschaften erniedrigen. Daher sind sie so eifrig bei der Verbreitung ihres Glaubens; hier liegt die wahre Ursache ihrer Feindschaft gegenüber dem Wissen und gegenüber denen, die sich weigern, sich ihrem Joch zu fügen; sobald es ihnen möglich ist, richten sie deshalb die Herrschaft des Glaubens (das heißt ihre eigene Herrschaft) durch Feuer und Schwert auf, die bei ihnen immer an die Stelle von Argumenten treten.
All das beweist uns den geringen Nutzen, den die Gesellschaft von dem übernatürlichen Glauben hat, den unsere
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Gottesgelehrten als die vornehmste aller Tugenden betrachten. Für Gott selbst ist er nutzlos, denn wenn die Menschen überzeugt werden sollen, so braucht Gott nur zu wollen, daß sie überzeugt seien. Der Glaube ist eines weisen Gottes unwürdig, der nur so zu sprechen braucht, wie es der Vernunft, welche er den Menschen gegeben hat, angemessen ist. Er ist eines gerechten Gottes unwürdig, der nicht verlangen kann, daß die Menschen von einer Sache überzeugt seien, die sie unmöglich zu begreifen vermögen. Er zerstört selbst die Existenz Gottes, da er uns lehrt, daß die Dinge den Begriffen, die wir von der Gottheit haben, völlig widersprechen.
Was die Moral betrifft, so kann sie durch den Glauben weder heiliger noch notwendiger werden, als sie es schon durch sich selbst und durch die Natur des Menschen ist; der Glaube ist für die Gesellschaft nutzlos und sogar gefährlich, denn er führt unter dem Vorwand der Notwendigkeit oft zu Wirrnissen und zu wirklichen Verbrechen. Schließlich steht der Glaube in Widerspruch zu seinen eigenen Prinzipien, weil er uns zwingt, Dinge zu glauben, die mit den Begriffen, die er uns von sich selbst gibt, unvereinbar oder ihnen entgegengesetzt sind. Das haben wir bei der Prüfung der Bücher festgestellt, in denen das nachzulesen ist, was man uns zu glauben befiehlt.
Wem dient also der Glaube? Einzig und allein einigen Menschen, die sich des Glaubens bedienen, um die Menschheit zu unterjochen und um die Völker zu zwingen, unaufhörlich für die Größe, für die Macht und für das Wohlergehen jener Menschen zu arbeiten. Sind die Völker, die einen tiefen Glauben oder ein blindes Vertrauen zu ihren Priestern haben, deshalb viel glücklicher? Gewiß nicht, man findet bei ihnen weder bessere Sitten noch mehr Tugenden, noch mehr Fleiß oder größeres Glück; man wird im Gegenteil bemerken, daß die Völker um so verderbter und elender sind, je mehr Macht ihre Priester haben.
Doch die Hoffnung, die zweite der christlichen Tugenden, tröstet uns über die Leiden, die der Glaube uns ver-
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ursacht; sie befiehlt uns. fest davon überzeugt zu sein, daß diejenigen, die glauben, das heißt, die sich auf ihre Priester verlassen, in der künftigen Welt als Belohnung für ihre Unterwerfung ein unsagbares Glück genießen werden. So gründet sich die Hoffnung auf den Glauben, so wie umgekehrt der Glaube auf die Hoffnung, die ihm als Beweggrund und als Basis dient. Der Glaube sagt uns, man müsse auf das hoffen, was der Glaube uns zu erwarten befiehlt. Aber auf was sollen wir hoffen? Auf unsagbare Güter, das heißt auf Güter, von denen die Sprache uns keine Ideen zu geben vermag. Unter dieser Voraussetzung können wir nicht wissen, worauf wir hoffen; man muß also prüfen, ob es möglich ist, zu hoffen oder auch nur nach etwas zu verlangen, was die Sprache nicht auszudrücken vermag. Wie kann man unaufhörlich von Dingen sprechen, von denen man sich — wie man uns sagt — unmöglich irgendwelche Ideen zu machen vermag?
Die Hoffnung ist also nicht besser begründet als der Glaube; wenn dieser zerstört wird, so ist damit notwendigerweise auch jene vernichtet. Aber welchen Nutzen kann die Hoffnung den Menschen bringen? Sie ermuntere sie, wie man sagt, zur Tugend; sie helfe uns, die Leiden des Lebens zu ertragen; sie tröste die gläubigen Menschen in der Not. Aber wie kann man durch unsichere Begriffe, die uns keine bestimmten Ideen geben, ermutigt, gestärkt oder getröstet werden? Wie dem auch sei, es ist gewiß, daß die Hoffnung den Priestern immer dann sehr zustatten kommt, wenn es darum geht, die Vorsehung wegen ihrer vorübergehenden Ungerechtigkeiten und wegen der Leiden zu rechtfertigen, die sie auf Erden ihren Erwählten zufügt. Da diese Priester sich überdies trotz ihrer schönen Systeme außerstande sehen, den Völkern mit Hilfe des Glaubens das Glück zu geben, das sie ihnen unablässig versprechen, und da sie die Völker sehr häufig durch die Leiden unglücklich machen, die durch die Streitigkeiten und durch die falschen Begriffe der Religion verursacht werden, sagen sie ihnen, der Mensch sei nicht von dieser Welt, sein Vaterland sei der Himmel,
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und er werde im zukünftigen Leben ein Glück genießen, von dem er sich keine Vorstellung machen könne. Schließlich ähneln sie den Scharlatanen, die die Kranken, deren Gesundheit sie durch ihre Medikamente zerstört haben, zum besten halten; sie haben jedoch noch den Vorteil, solchen Menschen Hoffnungen zu verkaufen, die fühlen, daß ihnen nicht mehr geholfen werden kann. Unsere Priester beginnen, so wie viele Ärzte, damit, uns durch die Schrecken krank zu machen, die sie uns einflößen, und das nur, um das Vergnügen zu haben, uns durch Hoffnungen zu trösten, die sie uns für Gold verkaufen. Die gesamte Religion ist eigentlich weiter nichts als ein solcher Handel.
Die dritte christliche Kardinaltugend ist die Liebe; sie besteht darin, daß wir Gott über alles und unseren Nächsten wie uns selbst lieben. Aber um Gott über alles zu lieben, müßte die Religion ihn wenigstens liebenswert zu machen suchen. Seien Sie ehrlich: Ist der Gott, den das Christentum uns zu lieben befiehlt, unserer Liebe auch würdig? Ist es möglich, gegenüber einem parteiischen, launenhaften, grausamen, rachgierigen, eifersüchtigen, blutdürstigen Tyrannen etwas anderes zu empfinden als Abscheu? Wie kann man das furchtbarste aller Wesen, den lebendigen Gott, in dessen Hände zu fallen entsetzlich ist, diesen Gott, der der ewigen Verdammnis seiner Geschöpfe beizupflichten vermag, aufrichtig lieben? Wissen unsere Theologen wirklich, was sie sagen, wenn sie behaupten, die Furcht vor Gott sei eine kindliche, das heißt eine mit Liebe verbundene Furcht? Müssen wir nicht einen barbarischen Vater hassen und verabscheuen, der die Ungerechtigkeit so weit treibt, daß er die unschuldige Menschheit nur darum bestraft, weil er sich für die Erbsünde rächen will, obwohl er allein sie zu verhindern vermochte? In Wahrheit kann man unmöglich einen Gott über alles lieben, der sich in der Bibel nur unter Zügen zu erkennen gibt, die geeignet sind, Schrecken einzuflößen. Wenn, wie die Jansenisten behaupten, die Liebe zu Gott absolut unerläßlich für die Erlangung des Heils ist, eo dürfen wir uns nicht über die derart geringe Zahl von Erwählten wundern.
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Es gibt sogar sehr wenige Leute, die diesen Gott nicht hassen; schon damit sollte man sich nach Meinung der Jesuiten zufriedengeben. Das Vermögen, einen Gott zu lieben, den die Religion zum hassenswertesten aller Wesen gemacht hat, wäre zweifellos die übernatürlichste, das heißt die widernatürlichste aller Gnaden! Das zu lieben, was man nicht kennt, ist bereits sehr schwierig; das zu lieben, was man fürchtet, ist noch viel schwieriger; ein Wesen zu lieben, welches man in den empörendsten Farben schildert, ist offenbar unmöglich.
Wir müssen also davon überzeugt sein, daß ein Christ mit gesundem Menschenverstand seinen Gott nicht lieben kann, wenn er nicht die unbekannten Gnaden empfangen hat, von denen die Ungläubigen keine Idee haben; die Frommen, die dieses Glück zu kennen behaupten, könnten sich leicht einer Täuschung hingeben. Sie verhalten sich augenscheinlich wie elende Schmeichler, die in der Absicht, einem verhaßten Tyrannen den Hof zu machen oder sein Rachegefühl nicht zu erwecken, nach außen hin so tun, als ob sie ihn lieben, während sie ihn im Grunde ihres Herzens verabscheuen. Oder aber es sind Schwärmer, die sich auf Grund ihrer übersteigerten Einbildungskraft selbst täuschen und die einen Gott, den man uns als gut und zugleich überall als das bösartigste Wesen schildert, nur von der günstigsten Seite her betrachten. Die wirklich aufrichtigen Gläubigen gleichen jenen Frauen, die sich ungezügelt ihrer Neigung überlassen und für solche Liebhaber schwärmen, die von allen anderen Frauen, die nicht so verliebt sind wie jene, verschmäht werden. Frau von Sevigne sagte, sie liebe Gott wie einen großen Ehrenmann, den sie niemals gesehen habe. Aber ist der Gott der Christen ein Ehrenmann? Wenn sie über das Bildnis nachgedacht hätte, das uns die Bibel und unsere Theologen von ihm geben, und wenn sie nicht betört gewesen wäre, so hätte sie ihn gewiß nicht geliebt.
Ist aber die Religion nicht notwendig, um die Nächstenliebe zu fördern und um uns einsehen zu lassen, daß wir auf Grund der Menschlichkeit verpflichtet sind, unseres-
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gleichen Zuneigung und Wohlwollen entgegenzubringen? Wenn wir bei anderen Menschen günstige Eindrücke hervorrufen, so können wir in ihnen die Gefühle erwecken, die wir in ihnen um unseretwillen zu finden wünschen. Es genügt, Mensch zu sein, um ein Recht auf das Herz jedes empfindenden Menschen zu besitzen, wenn dieser nur das so schöne Gefühl der Menschlichkeit kennt. Doch wem ist dieses Gefühl besser bekannt als Ihnen? Empfindet Ihre mitfühlende Seele nicht ständig das Vergnügen, Unglücklichen zu helfen? Würden Sie sich den Tränen des Armen verschließen, wenn Ihnen die Religion in dieser Beziehung nichts vorschriebe? Beherrscht man die Herzen nicht, indem man sie glücklich macht? Genießen Sie also Ihre Herrschaft, seien Sie weiterhin wohltätig zu allen, von denen Sie umgeben sind; Sie werden mit sich selbst zufrieden sein, Sje werden sich über das Gute freuen, das Sie getan haben; die anderen werden Sie dafür segnen, sie werden Ihnen die Zuneigung schenken, welche wohltätigen Seelen gebührt.
Nicht zufrieden damit, die Nächstenliebe zu predigen, fordert das Christentum den Menschen noch dazu auf, seine Feinde zu lieben; ein Gebot, dessen Erfindung man dem Sohn Gottes selbst zuschreibt und durch welches unsere Gottesgelehrten die Überlegenheit seiner Moral über diejenige aller Weisen des Altertums dartun wollen. Man muß nun untersuchen, ob dieses Gebot in der Praxis durchführbar ist. Eine erhabene Seele kann wohl ein ihr zugefügtes Unrecht vergeben; es ist edel, Beleidigungen zu vergessen; es ist eines großen Herzens würdig, sich durch Wohltaten zu rächen und diejenigen, über die man sich zu Recht beklagen könnte, zu zwingen, sich zu schämen. Aber es ist uns unmöglich, für solche Menschen eine wahrhafte Zuneigung zu empfinden, von denen wir wissen, daß sie bereit sind, uns zu schaden. Die Liebe zu Feinden, auf deren Erfindung das Christentum so stolz ist, ist ein unmögliches Gebot; das Verhalten der Christen straft es ständig Lügen. Ist es in der Tat möglich, das zu lieben, was uns bedrückt? Sind wir imstande, den Schmerz zu lieben, mit Freuden eine Be-
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schimpfung hinzunehmen und diejenigen zu lieben, die uns hart behandeln? Zweifellos nicht; wir können dies wohl auf Grund unserer Standhaftigkeit ertragen und uns mit der Hoffnung auf höhere Belohnungen trösten, aber wir werden doch jene böswilligen Wesen, denen wir das Unglück zu verdanken glauben, das wir gegenwärtig erleiden, nicht aufrichtig lieben. Zumindest werden wir sie meiden, was nicht auf Liebe hindeutet.
Obgleich die christliche Religion ausdrücklich die Nächstenliebe, die Feindesliebe und das Verzeihen von Beleidigungen vorschreibt, kann nicht verborgen bleiben, daß diese Gebote fortwährend gerade von denen verletzt werden, die deren Vorzüglichkeit am meisten rühmen. Besonders scheinen unsere Priester nicht sehr darauf bedacht zu sein, dieses wunderbare Gebot, so wie es geschrieben steht, zu befolgen. In Wahrheit betrachten sie jeden, der nicht so denkt wie sie, weder als ihren Nächsten noch als Menschen. Wenn es ihnen gelingt, verleumden, verfolgen und töten sie wegen dieser Ideen zweifellos alle diejenigen, die ihnen mißfallen. Man sieht selten, daß sie ihren Feinden verzeihen, selbst wenn sie nicht imstande sind, sich zu rächen. Zwar wollen sie niemals ihre Beleidigungen rächen und ihre Feinde töten, sondern nur die Beleidigungen, die Gott zugefügt wurden, der sich ohne die priesterliche Hilfe zweifellos nicht rächen könnte. Aber man weiß doch, daß die Feinde der Priester auch unfehlbar die Feinde Gottes sein müssen; dieser macht mit seinen weltlichen Dienern stets gemeinsame Sache; er würde es für schlecht halten, wenn sie in feiger Duldsamkeit die Beleidigungen verzeihen würden, die ihnen gewöhnlich zugefügt werden. So sind unsere Priester immer nur aus Eifer grausam, rachgierig und unmenschlich; sie würden zweifellos auch ihren Feinden verzeihen, wenn sie nicht fürchteten, wegen ihrer Nachsichtigkeit den Unwillen des barmherzigen Gottes zu erregen.
Man muß Gott über alles lieben, und demzufolge muß man ihn mehr lieben als seinen Nächsten. Uns interessiert alles das sehr lebhaft, was den Gegenstand unserer Liebe betrifft.
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So muß jeder gute Christ voller Eifer sein und, wenn es nötig ist, selbst seinen Nächsten umbringen, wenn dieser auf eine Art und Weise denkt, die seinem Gott mißfällt oder ihn verunglimpft. Gleichgültigkeit in diesem Falle wäre ein Verbrechen; wenn man Gott aufrichtig liebt, muß man eifrig für seine Sache fechten und kann dabei die Dinge nie weit genug treiben.
Auf diese widersinnigen Begriffe gehen die Verbrechen, die Überspanntheiten und die Torheiten zurück, die der religiöse Eifer von jeher auf Erden hervorgebracht hat. Einfältige und von ihren Priestern aufgewiegelte Fanatiker haben sich gegenseitig gehaßt, verfolgt und umgebracht; sie hielten sich für verpflichtet, den Allmächtigen zu rächen; sie bildeten sich ein, der Gott der Milde und der Güte sähe mit Vergnügen, wenn sie ihre Brüder morden; sie haben sich törichterweise eingeredet, daß die Verteidigung der Sache der Priester die Verteidigung der Sache Gottes'selbst sei. Mit einem Wort, jenen Ideen zufolge, die all den Ideen, die uns die Religion selbst von der Gottheit gibt, widersprechen, waren ihre Diener jederzeit bereit, die Ruhe der Völker zu stören und ihre eigenen Feinde auszurotten. In dem Vorwand, den Allmächtigen zu rächen, haben jene Priester das Geheimnis gefunden, sich selbst zu rächen, ohne sich dem Haß oder der Verurteilung preiszugeben, die ihr rachsüchtiges Wüten und ihre Unmenschlichkeit verdienen. Im Namen des Gottes der Natur erstickten sie in den Herzen der Menschen die Stimme der Natur; im Namen des Gottes der Güte ermunterten sie die Menschen zur Raserei; im Namen des Gottes der Barmherzigkeit verboten sie jegliches Verzeihen.
So hat der Eifer, der eine notwendige Wirkung der göttlichen Liebe ist, zu allen Zeiten die größten Verheerungen auf Erden angerichtet. Der Gott der Christen hat wie der Janus der Römer zwei Gesichter: einmal stellt man ihn uns unter den Zügen der Güte dar, zum anderen zeigt man ihn uns dürstend nach Rache, Zorn und Grausamkeit. Was ergibt sich aus dieser zwiefachen Sicht? Die Christen werden
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durch die schrecklichen Seiten ihres Gottes weit mehr in Furcht versetzt, als sie durch die Züge seiner Güte gefestigt werden; sie mißtrauen seinen Launen, sie halten ihn für veränderlich, sie bilden sich ein, daß es am sichersten sei, ihn zu rächen und recht viel Eifer zu zeigen; sie reden sich ein, ein sehr bösartiger Herrscher könne es nicht schlecht finden, wenn man ihm nacheifert, und er könne seine Diener nicht tadeln, selbst wenn sie in ihrer Rache gegen die, die so kühn waren, ihn zu beleidigen, übers Ziel hinausschießen.
Aus dem soeben Gesagten sind die gefährlichen Folgen ersichtlich, die die göttliche Liebe oder der sich daraus ergebende Eifer haben können. Wenn diese Liebe eine Tugend ist, so nutzt sie gewiß nur den Priestern, die allein befugt sind, den Völkern mitzuteilen, wann sich Gott beleidigt fühlt. Sie allein gewinnen bei den Geschenken und den Huldigungen, die man ihm darbringt; sie allein entscheiden über die Anschauungen, die ihm gefallen oder die ihm mißfallen; sie allein verkünden, was er von den Menschen fordert und wann es an der Zeit ist, die ihm zugefügten Beleidigungen zu rächen; sie allein sind daran interessiert, die Gottheit furchterregend und grausam zu machen, damit sie die Menschen besser unterjochen können; sie allein haben das Mittel gefunden, ihre Rachegelüste und ihre eigenen Leidenschaften zu befriedigen, indem sie vorgeben, ihre Gottheit sei rachsüchtig und zornmütig, und indem sie den Sterblichen jede Menschlichkeit verleiden, sie intolerant machen gegen alles, was nicht geheiligt ist, und ihnen einen Verfolgungsgeist einflößen, der zu allen Zeiten bei allen christlichen Völkern unglaubliche Verheerungen anrichtete.
Den unheilvollen Prinzipien der Religion zufolge ist es nicht anders möglich, als daß die Christen diejenigen hassen und verfolgen, die man ihnen als Feinde Gottes bezeichnet. Sobald die Christen annehmen, man müsse einen strengen Herrscher, der sich beim geringsten Anlaß beleidigt fühlt und sich sogar über die unwillkürlichsten Gedanken und Meinungen der Menschen erzürnt, über alles lieben — so-
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bald die Christen dies annehmen, werden sie sich für verpflichtet halten, ihm eifrig zu dienen, für ihn zu streiten und ihn als Gott zu rächen, das heißt, sie werden in ihrer Grausamkeit zügellos sein. Dieses Verhalten ist eine notwendige Folge der empörenden Ideen, die uns unsere Priester von der Gottheit geben. So ist ein guter Christ stets a gezwungen, intolerant zu sein. In der Theorie predigt das Christentum zwar Nachsicht, Duldsamkeit, Eintracht und Frieden, aber in der Praxis halten sich die Christen niemals an diese Tugenden, es sei denn, sie seien nicht stark genug, ihrem vernichtenden Eifer freien Lauf zu lassen. In der Tat zeigen die Christen nur denen gegenüber die allgemeinsten Gefühle der Menschlichkeit, die ebenso denken wie sie und die die gleichen Dinge zu glauben vorgeben; sie hegen einen mehr oder weniger großen Abscheu gegen alle, die nicht alle theologischen Spekulationen ihrer Priester teilen. Wir sehen, daß die sanftesten und ehrwürdigsten Menschen die Angehörigen einer anderen Sekte stets mit anderen .Augen betrachten; überall vernichtet die herrschende Religion (das heißt die Religion des Herrschers oder die der Priester, zu deren Gunsten sich der Herrscher erklärt) alle anderen Sekten oder läßt diese zumindest ihre Überlegenheit und ihren Abscheu auf sehr spürbare, sehr beleidigende und sehr empörende Art fühlen. So machen sich die Fürsten den Priestern zuliebe oft die Herzen ihrer treuesten Untertanen abspenstig und ziehen einen Haß auf sich, der nur den Priestern gelten dürfte, deren Ratschlägen jene Fürsten folgen.
Mit einem Wort, nirgends herrscht aufrichtige Toleranz. Die Priester der verschiedenen Sekten lehren die Christen von Kindheit an, sich gegenseitig zu mißtrauen oder sich sogar um theologischer Fragen willen, die niemand jemals verstehen wird, zu hassen. Man wird nie bemerken, daß der Klerus, wenn er die Macht hat, Toleranz predigt; er wird alle diejenigen verdächtigen, die sich für Toleranz erklären; er wird sie der Gleichgültigkeit beschuldigen und sie für ungläubig, für heimliche Gegner, mit einem Wort, für feindliche Glaubensbrüder halten.
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Die Sorbonne erklärte im sechzehnten Jahrhundert, es wäre eine Ketzerei, wenn man sage, Ketzer dürften nicht verbrannt werden. Wenn der blutdürstige heilige Augustinus auch unter bestimmten Umständen Toleranz predigte, so änderte dieser Kirchenvater doch seine Meinung, sobald er in die Geheimnisse der Kirchenpolitik, die sich niemals mit der Toleranz abfinden wird, näher eingedrungen war. Die Verfolgungen sind für die Priester in der Tat notwendig; sie haben immer nur das Ziel, den Geiz, die Ehrsucht, die Eitelkeit, die Starrköpfigkeit des Klerus zu rächen. Dieser will lediglich seine Macht ausdehnen, will sich mehr Sklaven schaffen und alle diejenigen, die sich ihm nicht unterwerfen und die vor seinen willkürlichen Entscheidungen nicht den gebührenden Respekt haben, verhaßt machen.
Das ist der Grund, warum unsere Gottesgelehrten auf die Demut, die sie zur Tugend erhoben haben, so großen Wert legen. Man kann nicht leugnen, daß Sanftmut, Mäßigkeit und Entgegenkommen schätzenswerte und für die Gesellschaft nützliche Eigenschaften sind; Stolz, Unverschämtheit im täglichen Leben erregen unter allen Umständen Mißfallen; sie stoßen uns ab und verletzen notwendigerweise die Eigenliebe all der von ihnen berührten Menschen. Aber dieses Entgegenkommen, durch das wir uns bei unseren Mitbürgern beliebt machen, hat nichts gemein mit der christlichen Demut. Diese will den Menschen dahin bringen, sich selbst zu verachten, die Wertschätzung der anderen zu fliehen und seiner Vernunft zu mißtrauen, um sich blind den unfehlbaren Erkenntnissen seiner geistlichen Führer zu unterwerfen und ihnen auch solche Wahrheiten zu opfern, die sein Geist für sehr begründet hält.
Aber welchen Zweck soll diese vorgebliche Tugend haben? Kann denn ein rechtschaffener und vernünftiger Mensch Beweggründe haben, sich selbst zu verachten? Was wird gewöhnlich aus denen, die nichts mehr auf die öffentliche Meinung geben? Können die Menschen, um ihrem Vaterland nützlich zu sein, edlere und mächtigere Trieb-
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kräfte haben als das Streben nach Ruhm und das Verlangen, die Zustimmung ihrer Mitbürger zu finden? Welche Belohnung bleibt ihnen, wenn man ihnen ungerechterweise das verweigert, was ihnen gebührt, und wenn man ihnen nicht erlaubt, mit sich selbst zufrieden zu sein und sich glücklich zu schätzen wegen des Guten, das sie den Undankbaren gegeben haben? Warum soll sich ein rechtschaffener Mensch, welcher Kenntnisse, Talente und Wissen besitzt, für weniger aufgeklärt halten als ein allein von seinen Interessen ausgehender Priester oder ein unwissender Fanatiker, die nur Lügen oder Hirngespinste von sich geben?
Unsere Priester wiederholen unaufhörlich, Stolz führe zur Ungläubigkeit und die Religion verlange demütige und unterwürfige Geister. Aber wäre es nicht töricht, sein Urteilsvermögen und seine Erkenntnisse gegen die offenbaren Widersinnigkeiten einzutauschen, die die Geistlichkeit uns glauben machen will? Wird ein würdiger Gottesgelehrter tatsächlich so unverfroren sein und mir vorschlagen, daß ich midi demütig zu Anschauungen und Mysterien bekennen soll, von denen er augenscheinlich selbst nichts begreift? Ist es denn anmaßend, sich für aufgeklärter zu halten als die Menschen, deren Systeme nur aus einem Wirrwarr von Widersprüchen, Ungereimtheiten und falschen Begriffen bestehen und deren Betrügereien die Menschheit häufig zum Opfer fällt? Würde man Ihnen Stolz und Eitelkeit vorwerfen, wenn Sie dem Urteil von Frau D. nicht beipflichten, deren Unvernunft und Bosheit alle diejenigen, die sie näher kennen, zu durchschauen vermögen?
Die christliche Demut ist eine Mönchstugend; sie kann der Gesellschaft nichts nützen; sie ist nur geeignet, die Energie unserer Seele zu zerstören; sie kann nur für die Priester vorteilhaft sein, die die Menschen unter dem Vorwand, sie zur Demut anzuhalten, in Wirklichkeit nur erniedrigen und alles Wissen und allen Mut in ihnen ersticken wollen, um sie dem Joch des Glaubens, das heißt ihrem eigenen Joch zu unterwerfen. Schlußfolgern Sie also mit mir, daß die christlichen Tugenden eingebildete Tugenden sind, nutzlos
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für Gott, nutzlos und oft gefährlich für die Menschen, von großem Vorteil aber für die Priester. Schlußfolgern Sie, daß diese Religion, die man um ihrer schönen Moral willen rühmt, uns zwar Tugenden predigt, uns aber Praktiken auferlegt, die dem gesunden Verstand widerstreben. Schlußfolgern Sie, daß man Moral und Tugenden haben kann, ohne die Anschauungen zu teilen, ohne sich etwas auf die Tugenden zugute zu tun, ohne sich den Pflichten zu unterwerfen, die unsere Priester uns als notwendig für unser Heil empfehlen. Schlußfolgern Sie schließlich, daß man ein Freund der Tugend sein kann, ohne ein Freund der Priester zu sein, und daß man, ohne die christlichen Tugenden zu haben, doch alle diejenigen besitzen kann, die für die Gesellschaft notwendig sind.
Würden wir die Dinge genauer betrachten, so würden wir vielleicht finden, daß die wahre Moral (das heißt diejenige, die für die in Gesellschaft lebenden Menschen wahrhaft nützlich ist) mit der christlichen oder mit jeder anderen offenbarten Religion unvereinbar ist. Wenn wir annehmen, Gott sei parteiisch, jähzornig, rachsüchtig, wechselhaft und lasse sich durch die Gedanken, Worte und Handlungen seiner Geschöpfe beleidigen, so müssen diejenigen, die sich für die Günstlinge dieses Gottes halten, die anderen Menschen notwendigerweise geringschätzen, sie verachten und anmaßend, hart, ja grausam behandeln, denn sie glauben, daß jene den Zorn des himmlischen Monarchen auf sich gezogen haben. Menschen, die törichterweise glauben, ihr Gott sei ein eigenwilliger, leicht reizbarer und in seiner Raserei unerbittlicher Tyrann, werden mißmutige, zitternde Sklaven sein, die bereit sind, allen denen Schaden zuzufügen, die durch ihr Verhalten, durch ihre Anschauungen oder durch ihre Reden die Rache des Himmels heraufbeschwören könnten. Unwissende, die sich in ihrer Dummheit einreden, ihre geistlichen Führer seien unfehlbare Werkzeuge der Gottheit, werden Verbrechen begehen, sobald jene Führer ihnen sagen, diese seien notwendig, um die Gottheit zu besänftigen. Menschen, die so unklug sind, sich die Moral jener Führer, welche in ihren Prinzipien inkonsequent sind und in ihren Auffassungen selten übereinstimmen, zu eigen zu machen, werden nur eine unsichere Moral haben, die sich, je nachdem, wie es die Interessen dieser Führer verlangen, wandelt. Mit einem Wort, es ist unmöglich, mit solch einem ungerechten, launenhaften und veränderlichen Gott, wie ihn die Religion uns nachzuahmen und anzubeten befiehlt, eine wahre Moral zu begründen.
Halten Sie also an Ihren Tugenden fest; durch sie allein können Sie in dieser Welt glücklich werden; um ihretwillen werden Sie von all denen, die Ihren glücklichen Einfluß erfahren, geachtet, geliebt und geschätzt; diese Tugenden geben Ihnen zumindest das Recht, sich selbst zu achten, ein Gefühl, das immer legitim sein wird, wenn man nur das Bewußtsein hat, zum Glück der Menschheit beigetragen zu haben.
Ich bin etc.
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