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11. Brief   

 Holbach-1768

 

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Wenn Sie nur ein wenig über das, was ich mir Ihnen bisher zu schreiben erlaubte, nachgedacht haben, so werden Sie eingestehen müssen, daß es völlig unmöglich ist, eine sichere und unveränderliche Moral auf eine schwärmerische, vieldeutige, mysteriöse, widerspruchsvolle Religion zu gründen, die niemals mit sich selber in Einklang steht. Sie werden einsehen, daß ein Gott, dem es zu gefallen scheint, sich nicht zu erkennen zu geben, daß ein parteiischer und wandelbarer Gott, dessen Gebote einander widersprechen, nicht die Grundlage einer Moral sein kann, die für alle Bewohner der Erde und zu allen Zeiten die gleiche bleiben muß. 

Wie können sich in der Tat Gerechtigkeit und Güte auf ein ungerechtes und bösartiges Wesen gründen, das den Menschen, für den es das Universum erschaffen hat, in Versuchung führt, um das Recht zu haben, ihn zu bestrafen, wenn er sich in Versuchung führen ließ? Wie soll man wissen, was man von dem Willen eines Gottes denken soll, der da sagt: »Du sollst nicht töten«, und der andrerseits ganze Völker ausrotten läßt? Welche Idee soll man sich von einer Moral bilden, die einem Gott angenehm sein muß, dessen Prophet der blutdürstige Moses und dessen Günstling der Aufrührer, Mörder und Ehebrecher David war? 

Ist es möglich, die heiligen Pflichten der Menschlichkeit an einem Gott zu erkennen, dessen Freunde unmenschliche Verfolger und grausame Ungeheuer waren? Wie können wir unsere Pflichten den Unterweisungen der Priester eines Friedensgottes entnehmen, die immer nur auf Empörung, Rache und Mord sinnen, sobald man ihre Rechte angreift? Können wir solche Heiligen zu Vorbildern unseres Verhaltens wählen, die entweder nutzlose Schwärmer oder überschäumende Fanatiker oder hartgesottene Aufrührer waren, die unter dem Vorwand, die Sache Gottes zu verteidigen, die größten Verwüstungen auf Erden angerichtet haben? Kann sich die gesunde Moral zu unausführbaren, übernatürlichen Tugenden bekennen, die offensichtlich für uns selbst und für unsere Mitmenschen nutzlos sind und deren Folgen häufig sehr gefährlich werden können? Sollen wir unsere Sitten von Priestern bestimmen lassen, deren Lehren zufolge alle unsere Pflichten in unbegreiflichen Anschauungen und in kindischen und oberflächlichen Übungen bestehen sollen, die wir den realsten Tugenden vorziehen müßten? Sollen wir uns schließlich von Menschen leiten lassen, deren unbeständige Moral immer nur von ihren augenblicklichen Interessen bestimmt wird und die uns einmal sagen, wir müßten wohltätig, menschlich und friedfertig sein, und die uns ein andermal zu verstehen geben, daß der Himmel von uns verlange, ungerecht, unmenschlich, aufsässig und treulos zu sein?

Sie sehen ein, daß es unmöglich ist, die Moral auf so unsichere und allen natürlichen Ideen, die wir von der Tugend haben, so entgegengesetzte Begriffe zu gründen. Unter Tugenden haben wir solche Neigungen zu verstehen, denen zufolge wir gewohnheitsmäßig das tun, was das Glück unserer Mitmenschen vermehren kann; die Religion versteht unter Tugend nur das, was dazu beitragen kann, uns bei einem verborgenen Gott beliebt zu machen, der seine Gunst von Übungen, von Meinungen und von einem Verhalten abhängig macht, das sowohl für uns selbst wie auch für andere sehr schädlich ist. Die Moral der Christen ist eine mystische Moral, die ebenso dunkel, unbegreiflich, unsicher und den Auslegungen der Menschen anheimgestellt ist wie die Dogmen ihrer Religion. Diese Moral ist niemals beständig, weil sie von einer Religion abhängig ist, die unaufhörlich in ihren Prinzipien schwankt und die sich nach dem Willen eines wandelbaren und despotischen Gottes oder vielmehr nach dem Willen seiner Priester richtet, deren Interessen sich verändern, die launisch sind und die infolgedessen niemals mit sich selbst ins reine kommen. 

Die Schriften sind die Quellen, aus denen die Christen ihre Moral schöpfen; diese Quellen sind nicht nur von einer tiefen Dunkelheit erfüllt und erfordern nicht nur ständige Erklärungen, welche nur von den Priestern gegeben werden

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dürfen, sondern sie widersprechen sich auch untereinander. Wenn diese Orakel des Himmels uns an einer Stelle wahrhaft nützliche Tugenden ans Herz legen, so billigen sie oder schreiben sie an einer anderen Stelle solche Handlungen vor, die den Ideen, die wir von der Tugend haben, völlig entgegengesetzt sind. Der gleiche Gott, der uns befiehlt, gut, gerecht, wohltätig zu sein, der uns verbietet, Beleidigungen zu rächen, der sich als Gott der Milde und des Mitleids betrachtet wissen will, zeigt sich in seiner Raserei als unerbittlich, verkündet, daß er »das Schwert und nicht den Frieden« bringe, sagt uns, daß er gekommen sei, die Menschen aufeinander zu hetzen, fordert schließlich, daß man das ihm angetane Unrecht räche, und befiehlt, zu rauben, zu verraten, Throne umzustürzen und zu morden. Mit einem Wort, es ist unmöglich, in der Schrift sichere moralische Prinzipien zu finden. Neben einer kleinen Anzahl von nützlichen und vernünftigen Geboten stehen die ausgefallensten und für das Wohl jeder Gesellschaft unheilvollsten Grundsätze.

Es scheint, daß die Moral der Juden im gesamten Alten Testament, dem Willen Gottes zufolge, nur in der genauen Befolgung abergläubischer und oberflächlicher Pflichten besteht. Alles, was Gott vom Volke Israel verlangt, ist das genaue Einhalten der Vorschriften, Riten, Zeremonien; als Belohnung für die gewissenhafte Erfüllung jener angeblichen Pflichten gestattet er ihm die schrecklichsten Verbrechen.

Die von dem Sohn Gottes im Neuen Testament empfohlenen Tugenden aber sind wahrhaftig nicht die gleichen wie diejenigen, auf die Gottvater einst so großen Wert legte. Er verkündet, daß er weder von Opfern noch von Bußübungen etwas wissen wolle; er fordert dafür jene übernatürlichen Tugenden, deren Nutzlosigkeit, deren Unmöglichkeit und deren Unvereinbarkeit mit dem Wohlergehen des in Gesellschaft lebenden Menschen ich hinreichend bewiesen zu haben glaube. Der Sohn Gottes widerspricht sich aber ebensosehr wie sein Vater; er reißt an einem Ort ein, was er an einem anderen geschaffen hatte, und seither haben

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seine Priester die Prinzipien zerstört, die er selbst aufgestellt hatte. Sie stimmen nur dann mit ihrem Gott überein, wenn die Gebote dieses Gottes mit ihren gegenwärtigen Interessen übereinstimmen. Haben sie Interesse daran, zu verfolgen, so finden sie, daß dieser Gott offenbar die Verfolgung befehle und daß es sein Wille sei, die Gäste zu zwingen, in den Saal des Gastmahls, das heißt in ihrer Sprache in die Kirche, einzutreten. Werden sie selbst verfolgt, so finden sie, daß dieser friedliebende Gott Gewalttaten verbiete und jeglichen Zwang nur mit höchstem Abscheu betrachte. 

Halten sie die abergläubischen Praktiken für einträglich und nutzbringend, so werden sie die Völker — ungeachtet der Abneigung Jesu Christi gegen Opfer, Bußübungen und Zeremonien — jenen Praktiken unterwerfen, sie mit mysteriösen Riten überhäufen und verlangen, daß sie diese mehr achten als die heiligsten Pflichten der Gesellschaft. Wenn Jesus nicht wollte, daß man ihn räche, so finden sie, daß sein Vater ihn bis zum äußersten rächen wollte. Wenn Jesus erklärt hat, daß sein Recht nicht von dieser Welt sei, und wenn er gegenüber Reichtümern die größte Verachtung gezeigt hat, so finden seine Priester im Alten Testament Gründe und Rechte, sich überall einzumischen, das Universum zu erobern, den Herrschern ihre Macht streitig zu machen und auf Erden in den Besitz der uneingeschränktesten Autorität und der zügellosesten Freiheit zu gelangen. Mit einem Wort, wenn man in der Bibel einige Gebote einer gesunden und nützlichen Moral findet, so findet man dort ebenfalls alles, womit man die schrecklichsten Verbrechen rechtfertigen kann.

So ist die Moral in der christlichen Religion einzig von den Eigenwilligkeiten, von den Leidenschaften und von den Interessen der Priester abhängig; sie hat niemals sichere Prinzipien, sie richtet sich ganz nach den Umständen. Der Gott, dessen Werkzeuge und Vermittler die Priester sind, sagt nur das, was diesen genehm ist, und widerspricht ihnen niemals; je nach ihren Launen ändert er fortwährend seine Meinung; er billigt und mißbilligt gleiche Handlungen; er liebt oder verabscheut ein gleiches Verhalten; er verwandelt Verbrechen in Tugend und Tugend in Verbrechen.

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Aus alledem ergibt sich, daß die Christen niemals sichere moralische Prinzipien haben; ihre Moral ist bedingt durch die Politik der Priester, die die Macht haben, die Christen in ihrer Leichtgläubigkeit zu lenken, die Menschen durch Drohungen und Schrecken zu zwingen, die Augen vor den Widersprüchen der Geistlichkeit zu schließen und die rechtschaffenen Seelen zu den größten Schandtaten zu veranlassen, sobald es sich um die Religion handelt. So gewöhnen sich die Christen unter einem Gott, der die Nächstenliebe predigt, von Kindheit auf daran, ihren ungläubigen Nächsten zu verabscheuen, und sie sind fast immer bereit, ihm aus dem einzigen Grunde Schaden zuzufügen, weil er sich nicht dem Willen ihrer Priester unterwerfen will. So hassen und vernichten die Christen unter einem Gott, der die Feinde zu lieben und die Beleidigungen zu verzeihen befiehlt, die Feinde ihrer Priester und nehmen für die Beschuldigungen, die gegen jene vorgebracht wurden, maßlose Rache. So werden die Christen unter einem gerechten Gott, dessen Güte man nicht genug rühmen kann, auf ein Zeichen ihrer geistlichen Führer ungerecht und grausam und rechnen es sich als Verdienst an, die Stimme der Natur und der Menschlichkeit sowie die Ratschläge der Klugheit und des öffentlichen Interesses erstickt zu haben. 

Mit einem Wort, notwendigerweise verwirren sich im Kopf eines Christen alle Ideen von Recht und Unrecht, von Gut und Böse, von Güte und Boshaftigkeit. Sein despotischer Priester gebietet im Namen Gottes sogar der Natur. Vor seiner mächtigen Stimme verzagt die Vernunft, muß die Wahrheit fliehen, trübt sich die Einbildungskraft, liefert sich der Mensch nur noch dem Fanatismus und dem Wahnsinn aus, die ihm vom Höchsten eingeflößt werden. In seiner Verblendung tritt er die heiligsten Pflichten mit Füßen und hält sich für tugendhaft, wenn er alle Tugenden verhöhnt. Hat er Gewissensbisse, so werden sie alsbald von seinem Priester beruhigt, und dieser erlegt ihm leichte Bußübungen auf, durch die er sich mit seinem Gott zu versöhnen vermag.

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War er ungerecht, hat er gestohlen oder geraubt, so kann er alles wiedergutmachen, wenn er der Kirche die Güter überläßt, die er seinen Mitbürgern entwendet hat, oder wenn er Spenden gibt, die es ermöglichen, daß Gebete gesagt werden und daß der Müßiggang gefördert wird. Dieser Priester wird ihm niemals die. Ungerechtigkeiten, die Grausamkeiten und die Verbrechen zum Vorwurf machen, die er zum Wohle der Kirche und zum Vorteil ihrer Diener begangen hat; er wird nur solche Vergehen nicht verzeihen, die den Interessen der Geistlichkeit geschadet haben. Mangel an Glauben und an Unterwürfigkeit gegenüber den Priestern wird stets das schlimmste von allen Verbrechen sein: »die Sünde wider den Heiligen Geist«, die weder in dieser noch in der künftigen Welt gesühnt werden kann; Verachtung der Gegenstände, deren Wertschätzung im Interesse der Priester liegt, wird als »Gotteslästerung« und als »Ketzerei« ausgelegt. Diese unbestimmten und sinnlosen Worte sind hinreichend, um den törichten Pöbel in Schrecken zu versetzen. Jeder Angriff auf die Person, auf die Güter und auf die heiligen Rechte der Geistlichkeit wird mit dem furchtbaren Wort »Gotteslästerung« belegt. Die Unterlassung irgendeiner nichtssagenden Religionsübung wird aufgebauscht und als ein Verbrechen hingestellt, das viel verabscheuungswürdiger ist, als es die für das Menschengeschlecht schädlichsten Handlungen sind. Der Priester wird seinem unterwürfigen Sklaven, wenn dieser die Religionspflichten getreulich erfüllt, leicht seine Laster, seine verbrecherischen Ausschweifungen und seine schreiendsten Maßlosigkeiten verzeihen.

Sie sehen also, daß die christliche Moral in Wirklichkeit nur den Nutzen der Priester im Auge hat. Wir dürfen uns daher nicht wundern, daß diese sich zu Richtern und zu Herrschern über die Moral aufgeworfen haben und daß sie alle Tugenden, die sich ihren wunderbaren Systemen nicht einzufügen vermögen, als falsch und verbrecherisch verschrien haben. Die christliche Moral scheint es sich nur zum Ziel gesetzt zu haben, die Menschen zu verblenden, ihre

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Vernunft zu trüben, sie verächtlich und furchtsam zu machen, sie zu erniedrigen, sie zu entmutigen, sie zu zwingen, einander zu hassen, zu schmähen und den Blick von der von ihnen bewohnten Erde abzuwenden, um nur noch den Himmel zu betrachten. Mit Hilfe einer solchen Moral sind die Priester die wahren Herren auf Erden geworden; sie haben sich Tugenden und Praktiken ausgedacht, die für sie selbst nützlich sind; sie haben diejenigen verboten und verleumdet, die für die Gesellschaft wahrhaft von Nutzen waren; sie haben ihre Schüler zu Sklaven gemacht, deren Tugend und Verdienst darin bestand, sich blindlings allen priesterlichen Launen zu unterwerfen und ohne eigene Überlegung an deren unwürdigen Streitigkeiten teilzunehmen, und die also niemals wahre Ideen von der Moral und von der Tugend hatten.

Um den Grundstein für eine gute Moral zu legen, ist es also unbedingt notwendig, die Vorurteile zu zerstören, die die Priester uns aufdrängen. Man muß der menschlichen Seele ihre Energie und ihre Spannkraft zurückgeben, die offenbar durch leere Schreckbilder zerbrochen worden sind. Man muß auf jene übernatürlichen Begriffe verzichten, die die Menschen bisher daran gehindert haben, die Natur um Rat zu fragen, und die die Vernunft gezwungen haben, sich unters Joch der Autorität zu beugen. Man muß den Menschen ermutigen und ihn über jene würdelosen und verderblichen Prinzipien aufklären, denen zufolge er sich einredet, daß er der Gegenstand des göttlichen Zorns sei, daß seine Natur verderbt sei, daß seine Vernunft nur ein unzuverlässiger Führer sei, den er nicht zu Rate ziehen dürfe, und daß er glücklich werde, wenn er sich selbst verblende. Man muß ihn von der Idee befreien, daß er sich selbst hassen müsse, daß es ihm verboten sei, auf seine irdische Glückseligkeit bedacht zu sein, und daß es für ihn nicht interessant sei, auf dieser Erde glücklich zu sein und wirkliche Tugenden auszuüben. Schließlich muß man ihn lehren, sich selbst zu lieben, sich selbst zu achten und sich durch sein Verhalten die Freundschaft, das Wohlwollen und die Wertschätzung all jener zu erwerben, mit denen er in Gemeinschaft leben muß.

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Die religiöse Moral scheint nur ausgedacht worden zu sein, um die Gesellschaft zu zerstören und jedes ihrer Glieder, aus denen sie sich zusammensetzt, in den Zustand der Wildheit zurückzuversetzen. Die christlichen Tugenden zielen offensichtlich darauf ab, den Menschen zu isolieren, ihn aus den Banden zu lösen, die ihn an seinesgleichen ketten, ihn einzig an seine Priester zu fesseln und ihn von seinem beständigsten Glück fernzuhalten, um ihn nur mit Hirngespinsten zu beschäftigen, die für ihn selbst und für die anderen gefährlich sind. Wir leben nur in Gesellschaft, um uns leichter Güter, Hilfe und Vergnügen zu verschaffen, die wir nicht haben könnten, wenn wir isoliert lebten. Wenn man es uns zur Pflicht macht, hienieden unglücklich zu werden, uns selbst zu verachten, die Wertschätzung der anderen zu fliehen, uns freiwillig zu betrüben, uns den anderen Menschen nicht anzuschließen: heißt das nicht, daß man uns auffordert, die Gesellschaft zu zerstören, mit der Menschheit zu brechen und wieder Wilde zu werden, die einander fremd sind?

Wenn es indessen wahr ist, daß Gott der Schöpfer des Menschen ist, so hat Gott den Menschen gesellig gemacht, und so hat Gott gewollt, daß der Mensch um seines größeren Glückes willen in Gesellschaft lebe. Wenn Gott gut ist, so kann er nicht billigen, daß der Mensch sich von der Gesellschaft zurückzieht, um sich unglücklich zu machen; wenn Gott der Schöpfer der Vernunft ist, so hat er gewollt, daß der Mensch vernünftig ist und daß er sich dieser Vernunft bedient, um die Mittel ausfindig zu machen, mit deren Hilfe er sich das Wohlergehen verschaffen kann, nach dem er seiner Natur zufolge streben muß. Wenn Gott sich offenbart hat, so kann es nur aus den gleichen Neigungen heraus geschehen sein, die er allen Menschen gibt, und eben diese Offenbarung ist evidenter und klarer als alle jene vorgeblichen Offenbarungen, die augenscheinlich allen Begriffen zuwiderlaufen, die man uns von der Gottheit gibt. Wenn man

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sich unter diesen Umständen verpflichtet glaubt, auf Gott zurückzugreifen, um die Pflichten zu begründen, durch die sich die Menschen untereinander verbunden fühlen, so kann man sagen, daß Gott sich sehr deutlich dahingehend erklärt hat, daß in allen Wesen der menschlichen Gattung das beständige Verlangen nach Wohlergehen offenkundig ist. Da wir nun die Mittel, die uns zur Glückseligkeit zu führen vermögen, nur entdecken können, wenn wir die Vernunft um Rat fragen, kann Gott nur gewollt haben, daß wir Gebrauch machen von dieser Vernunft und daß sie für uns ein sicherer Führer zu dem Ziel sei, nach dem wir streben. Es ist also evident, daß dieser Gott — sofern man den Menschen als sein Geschöpf betrachtet — gewollt hat, daß der Mensch seine Vernunft zu Rate zieht, die ihm ein Glück verschaffen wird, das sicherer und wahrer ist als alle geoffenbarten Hirngespinste oder als die schädlichen Tugenden, die die Religion ihm vorschreibt.

Welche Meinungen wir auch von der Gottheit haben mögen, wir sollten die vernünftige Moral an die Stelle der religiösen Moral setzen. Wir sollten an die Stelle einer Moral, die parteiisch und nur einer kleinen Anzahl von Menschen vorbehalten ist, eine allgemeine Moral setzen, die für alle Bewohner der Erde begreiflich ist und deren Prinzipien jeder Von ihnen in seiner eigenen Natur finden wird. Wir wollen diese Natur, ihre Bedürfnisse und Wünsche studieren; wir wollen überlegen, zu welchem Zweck wir in Gesellschaft leben; wir wollen sehen, welchen Dingen unsere Mitmenschen ihrer Natur nach ihre Zuneigung, ihr Wohlwollen, ihre Achtung und ihre Hilfe gewähren müssen; wir wollen sehen, welches Verhalten ihren Haß, ihre Verachtung, ihre Strafen verdient. Die Erfahrung erleuchte unsere Forschungen; die Vernunft bestimme uns zu Handlungen, die uns das realste, dauerhafteste und sicherste Glück verschaffen mögen. Wir sollten solche Handlungen unterlassen, deren Wirkungen uns unsicher erscheinen. Wir wollen ein beständiges Wohlbefinden nicht vorübergehenden Vorteilen opfern; wir wollen für einige Augenblicke des Vergnügens niemals auf ein dauerhaftes Wohlbefinden verzichten. 

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Denken wir an unsere Selbsterhaltung, denken wir daran, unser Glück im höchsten Grade zu vermehren; seien wir mutig darauf bedacht, alle Leiden von uns abzuwenden; trösten wir, so das möglich ist, diejenigen, die hilflos sind; suchen wir in uns selbst und bei unseren Mitmenschen Mittel gegen unsere Kümmernisse; interessieren wir sie für unser Schicksal ; verdienen wir ihre Zuneigung und ihre Hilfe durch das Gute, das wir ihnen geben.

Wenn wir uns so verhalten, so werden wir eine natürliche, vernünftige, beständige Moral haben, die allen Menschen gerecht wird und weit eher geeignet ist, zum Glück der Gesellschaft und jedes ihrer Glieder beizutragen, als jene mystische, unsichere oder verderbte Moral, die uns die Diener der Religion predigen. In der Vernunft und in unserer eigenen Natur werden wir Führer haben, die viel sicherer sind als jene Götter, denen die Geistlichkeit nach ihrem Gutdünken irgendwelche Worte in den Mund legt und deren Sprache sie je nach ihren Interessen auslegt. Wir werden Gebote haben, die sich auf die Notwendigkeit der Dinge gründen; jeder, der sie verletzt, wird bestraft werden, jeder, der sie beachtet, wird belohnt werden. Jeder gerechte, nützliche und wohltätige Mensch wird der Gegenstand der Liebe seiner Mitbürger sein; jeder ungerechte, unnütze und bösartige Mensch wird der Gegenstand ihres Hasses sein; jeder rechtschaffene und maßvolle Mensch wird mit sich selbst zufrieden sein; jeder lasterhafte oder verdorbene Mensch wird gezwungen sein, zu zittern sich selbst zu hassen, sich im Grunde seines Herzens zu schämen und ständig zu fürchten, daß die Blicke der anderen seine Neigungen entdecken.

Wenn man also fragt, was man an die Stelle der Religion setzen könnte, so werde ich antworten: eine vernünftige Moral, eine rechtschaffene Erziehung, vorteilhafte Gewohnheiten, evidente Prinzipien und weise Gesetze, die auch die Bösen beeindrucken, sowie Belohnungen, die zur Tugend auffordern. Die heutige Erziehung zielt offensichtlich nur

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darauf ab, die Menschen zu abergläubischen Sklaven zu machen; die Tugenden, die sie der Jugend beibringt, sind nur Tugenden des Fanatismus, die den Geist für das Joch reif machen, das sie nach dem Willen der Priester das ganze Leben lang tragen müssen; die Beweggründe, deren sie sich bedienen, sind fiktiv und imaginär; die Strafen und die Belohnungen, die sie uns in dunkler Ferne zeigen, haben keine Wirkung oder vermögen die Menschen nur zu nutzlosen Schwärmern oder zu gefährlichen Fanatikern zu machen. Die Prinzipien, auf welche die Religion ihre Moral gründet, sind schwankend und schwach; die Prinzipien, auf die sich die Moral der Vernunft gründet, sind unerschütterlich und werden niemals umgestoßen werden. 

Solange der Mensch ein vernünftiges Wesen ist, das auf seine eigene Erhaltung bedacht ist und nach Glück strebt, wird er die Tugend lieben, wird er ihre Vorzüge erkennen und wird er für sich selbst die Wirkungen der Zügellosigkeit oder des Verbrechens fürchten. Er wird die Tugend schätzen, weil er sein Wohlergehen wünscht. Er wird das Verbrechen hassen, weil es in seiner Natur liegt, den Schmerz zu fliehen. Solange die menschlichen Gesellschaften bestehen werden, werden sie Tugenden brauchen, um sich zu erhalten, werden sie gute Gesetze brauchen, um zu existieren, werden sie tatkräftige Staatsbürger brauchen, die den Gesellschaften dienen und sie verteidigen. Diese Gesetze werden gut sein, wenn sie die Mitglieder der Gesellschaft anhalten, zum Wohl der Körperschaft zu arbeiten, zu der sie gehören. Diese Gesetze werden gerecht sein, wenn sie je nach dem Guten oder dem Bösen, welches die Gesellschaft erfährt, Belohnungen oder Strafen austeilen. Diese Gesetze werden, wenn sie sich auf eine sichtbare Autorität und auf gegenwärtige Beweggründe stützen, zweifellos mehr Kraft haben als die der Religion, die nur unsichere, weit entfernt liegende, imaginäre Beweggründe haben und die, wie die Erfahrung beweist, nicht hinreichend sind, solche Menschen im Zaum zu halten, deren Vernunft man stets als etwas Gefährliches hingestellt und wohlweislich niemals entwickelt hat.

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Wenn man sich bemühte, die menschliche Vernunft zu vervollkommnen, anstatt sie zu ersticken; wenn man uns die Wahrheit zeigte, anstatt uns mit Lügen abzuspeisen; wenn man uns eine menschliche und von der Erfahrung geleitete Moral verkündete, anstatt uns eine übernatürliche Moral zu predigen, so brauchten wir keine imaginären Triebkräfte oder furchterregenden Märchen, um die Notwendigkeit der Tugend zu erkennen. Jeder würde wahrnehmen, daß sein eigenes Glück notwendigerweise mit der Ausübung der Tugend und mit der genauen Einhaltung der Pflichten der Moral verbunden ist. Ist ein Mann verheiratet, so wird er erkennen, daß er um seines eigenen Glückes willen seiner Gefährtin gegenüber fürsorglich, liebevoll und zärtlich sein muß, da sie ihm vom Schicksal nur gegeben wurde, damit er mit ihr die Freuden und die Leiden des Lebens teile; wenn diese Gefährtin ihre wahren Interessen ins Auge faßt, so wird sie erkennen, daß sie alles unterlassen muß, was ihr das Herz ihres Gatten entfremden oder auch nur seine Achtung, sein Vertrauen und seine Gefühle für sie mindern könnte. 

Väter und Mütter würden erkennen, daß ihre Kinder eines Tages die Trostspender und Stützen ihres Alters sein werden und daß sie demzufolge das größte Interesse daran haben, ihnen frühzeitig die Gefühle einzuflößen, deren für sie selbst vorteilhafte Früchte sie einst ernten wollen. Sobald diese Kinder auch nur ein wenig nachzudenken beginnen, werden sie sehen, daß es in ihrem Interesse liegt, das Wohlwollen ihrer Eltern zu erwerben und ihnen Beweise einer Dankbarkeit zu geben, die sie wiederum von ihren eigenen Kindern verlangen werden. Der Herr wird erkennen, was er seinen Knechten schuldet; er wird erkennen, daß er, wenn sie ihm aus Liebe dienen sollen, für sie sorgen und ihnen gegenüber Güte und Milde walten lassen muß; diese werden nicht umhin können, ihrerseits anzuerkennen, daß sie an der Erhaltung, an der Wohlhabenheit und an dem Wohlwollen eines Herrn interessiert sind, von dem sie abhängig sein müssen. Der Freund wird erkennen, daß er das Herz seines Freundes braucht; da es für sein Glück not-

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wendig ist, wird er sorgfältig in sich selbst die Neigungen pflegen, die er in jenem zu finden wünscht. Die Mitglieder einer Familie werden die Notwendigkeit erkennen, die Einheit zu erhalten, durch die sie von Natur aus verbunden sind, damit sie einander helfen, das Unglück abzuwenden, das sie zu fürchten haben, und sich die Güter zu verschaffen, die sie begehren müssen. Wenn die Verbündeten über das Ziel ihrer Verbindung nachdenken, so werden sie erkennen, daß sie aufrichtig handeln und treu ihre gegenseitigen Verpflichtungen einhalten müssen, wenn sie jenes erreichen wollen. Wenn der Staatsbürger seine Vernunft zu Rate zieht, so wird er bald wahrnehmen, daß sein Schicksal mit dem der Nation verbunden ist, deren Mitglied er ist, und daß er ihren Wohlstand und ihr Unglück teilen muß. Infolgedessen wird jeder auf seinem Gebiet und seinen Fähigkeiten entsprechend daran interessiert sein, ihr mit allen seinen Kräften, Talenten und Kenntnissen zu dienen, und er wird erkennen, daß derjenige, der sie schädigt, ein gefährlicher Mensch ist und daß der Feind des Staates immer der Feind des Staatsbürgers ist.

Mit einem Wort, jeder Mensch, der über sich selbst nachzudenken gewillt ist, wird gezwungen sein, anzuerkennen, daß die Tugend auf dieser Welt zum Glücklichsein notwendig ist. Er wird sehen, daß jede Gesellschaft auf der Gerechtigkeit beruht; daß die Wohltätigkeit notwendigerweise Zuneigung und Liebe nach sich zieht; daß jeder Mensch, der sich selbst liebt, danach streben muß, sie zu erwerben; daß er die Achtung seiner Mitmenschen braucht; daß er über seinen Ruf eifersüchtig wachen muß; daß ein schwaches Wesen, dem ständig ein Unglück widerfahren kann, aus eigenem Interesse am Schicksal seines Mitmenschen teilnehmen, menschlich sein und ihm die Hilfe gewähren muß, die es vielleicht zu irgendeiner Zeit selbst sehr nötig gebrauchen kann.

Wenn man nur ein wenig über die Wirkungen der Leidenschaften nachdenkt, so wird man erkennen, daß es notwendig ist, sie zurückzudrängen, um sich die Reue zu er-

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sparen, die sich stets nach heftigen Aufwallungen zeigt und die meistens nutzlos ist. So genügt allein das Nachdenken, um die Gefahren des Zorns und die unheilvollen Folgen der Rache, der Verleumdung oder der üblen Nachrede zu erkennen. Jedermann wird leicht feststellen, daß er, wenn er seinen überschäumenden Begierden die Zügel schießen läßt, ein Feind der Gesellschaft wird; derjenige aber, der seine Vernunft nicht anwendet und der die Beweggründe verkennt, die ihn im Zaum halten sollten, muß durch die Gesetze gezähmt werden.

Wenn man mir sagt, der Mensch könne der Hypothese zufolge, daß er in seinen Handlungen nicht frei sei, auch seine Leidenschaften nicht in Gewalt haben, so daß er durch die Gesetze nicht bestraft werden dürfe, so antworte ich: Wenn der Mensch nicht frei ist, das Böse nicht zu tun, so sind die Menschen, mit denen er in Gemeinschaft lebt, ihrerseits ebensowenig frei, ihn wegen des Bösen, das er ihnen antut, nicht zu hassen, und die Gesellschaft ist um ihrer eigenen Erhaltung und um ihres eigenen Glückes willen augenscheinlich berechtigt, denjenigen zu beseitigen, der sich in der unglücklichen Notwendigkeit befindet, ihr zu schaden. Die notwendigen Fehler des Menschen rufen notwendig den Haß derer hervor, die unter jenen Fehlern zu leiden haben.

Wenn der Mensch, der Beine Vernunft zu Rate zieht, wirkliche und mächtige Beweggründe hat, anderen Gutes zu tun und ihnen nicht zu schaden, so hat er nicht weniger zwingende Beweggründe, den Neigungen zu widerstehen, die ihn zum Laster verführen könnten. Allein schon die Erfahrung vermag ihm begreiflich zu machen, daß er früher oder später selber seinen Ausschweifungen zum Opfer fällt; es gibt nicht ein einziges Laster, das sich nicht selbst bestraft. Unter diesen Voraussetzungen werden die Klugheit und das Verlangen, sich zu erhalten, jeden vernünftigen Menschen daran hindern, seinen ungebührlichen Neigungen freien Lauf zu lassen; dieser wird erkennen, daß er das Bedürfnis hat, in seinen Begierden maßzuhalten und enthaltsam und keusch zu sein; diejenigen, die diese Wahr-

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heiten nicht begreifen, werden notwendigerweise durch den Verlust der Gesundheit, durch die Verachtung seitens der Gesellschaft und häufig durch eine kränkliche und unglückliche Existenz bestraft, welcher der Tod bald ein Ende setzen wird.

Braucht man also übernatürliche Einsichten oder göttliche Offenbarungen, um die Wahrheit der Prinzipien dieser Moral zu erkennen? Muß man in den unbekannten Regionen der Zukunft unsichere und fiktive Beweggründe suchen, um uns zu lehren, wie wir uns in unserem eigenen Interesse auf dieser Erde zu verhalten haben? Genügt es nicht, auf sein Glück und auf seine Erhaltung bedacht zu sein, um sich verpflichtet zu fühlen, die Mittel anzuwenden, ohne die man dieses Ziel, das allen vernünftigen Wesen gemeinsam ist, nicht erreichen kann? Jeder Mensch, der sich selbst ins Verderben stürzen, der eine unglückliche Existenz führen und der sein beständiges Glück den Vergnügungen eines Augenblickes opfern will, ist töricht oder unklug und hat nicht über die ihm naheliegenden Interessen nachgedacht.

Wenn die so klaren Prinzipien dieser menschlichen Moral verkannt worden sind und noch verkannt werden, so ist die Schuld hierfür bei der' Religion zu suchen. Ihre dunklen, mystischen, widerspruchsvollen Begriffe haben die evidenteste und erwiesenste Wissenschaft in eine unbegreifliche, mysteriöse, unsichere Wissenschaft verwandelt, die von niemandem verstanden wird. Unter den Händen unserer Priester ist die Moral zu einem unlösbaren Rätsel geworden. Sie haben unsere Pflichten, anstatt sie auf den Menschen selbst zu gründen, auf einen Gott gegründet, den der Geist des Menschen niemals zu begreifen vermag; sie haben die Grundfesten eines Gebäudes, das für die Erde bestimmt ist, in den Himmel verlegt; sie haben unsere Sitten den zwiespältigen Orakeln gemäß einrichten wollen, die sich ständig widersprechen und die oft nur dazu beitragen, uns unglücklich, nutzlos und verderbt zu machen. Sie wollten ihre Moral durch weit entfernt liegende Belohnungen und Strafen geheiligter machen, die sie uns im Namen der Gottheit verkündeten.

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Sie haben den Wahnsinn so weit getrieben, daß sie uns sagten, der Mensch dürfe sich selber nicht lieben, er müsse sich hassen und auf alles irdische Glück verzichten, um in der künftigen Welt glücklich zu werden. Anstatt die Leidenschaften der Menschen im Sinne des öffentlichen Wohls zu lenken, anstatt sie zum Glück der Gesellschaft beitragen zu lassen, haben die Priester gewollt, daß man die Leidenschaften vernichte, die zum Wesen der menschlichen Natur gehören, ohne die wir keine Menschen mehr wären und ohne die die Gesellschaft nicht existieren könnte. Schließlich haben sie alle Vergnügen unterdrückt und behauptet, der Mensch müsse, wenn er vollkommen sein wolle, völlig gefühllos sein.

Wir wollen uns also nicht darüber wundern, daß diese übernatürliche oder vielmehr der Natur so entgegengesetzte Moral stets unwirksam war. Aber vergebens wird man die Natur bekämpfen oder gar vernichten wollen. Sie ist stärker als das Blendwerk der Einbildungskraft. Der Mensch wird all seinen spitzfindigen und wunderbaren Spekulationen zum Trotz fortfahren, sich selbst zu lieben, nach Wohlergehen zu streben und den Schmerz zu fliehen. Er wird also immer Leidenschaften haben; wenn diese Leidenschaften maßvoll oder nur auf das öffentliche Wohl gerichtet sind, so werden sie rechtschaffen und legitim sein, und man wird die von ihnen bewirkten Handlungen billigen; wenn diese gleichen Leidenschaften verworren und für die Gesellschaft und für den Menschen selbst unheilvoll sind, so wird man sie verurteilen und bestrafen, und derjenige wird von all denen gehaßt und verachtet werden, die die Auswirkungen jener Leidenschaften zu spüren bekommen. Der Mensch wird stets das Vergnügen lieben, weil es in seinem Wesen liegt, all das zu lieben, was seine Existenz angenehm macht; niemals wird es gelingen, ihm das begehrenswert erscheinen zu lassen, was ihm unbequem ist oder was ihn gewöhnlich unglücklich macht. Daher bleibt die christliche Moral, die offensichtlich nur den Zweck hat, die Natur zu bekämpfen und irgendwelchen Hirngespinsten unterzuord-

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nen, für die meisten Menschen stets ohne Wirkung. Sie dient nur dazu, einige schwache und leichtgläubige Seelen einzuschüchtern, aber sie hält nicht eine von denen im Zaum, die heftige Leidenschaften oder eingewurzelte Gewohnheiten haben. Wenn sich diese Moral lockert, um sich den Neigungen oder den Leidenschaften der Menschen anzugleichen, so widerspricht sie offensichtlich den grundlegenden Prinzipien einer unbeugsamen Religion; solange diese Moral in ihrer ganzen Stärke besteht, ist sie nicht anwendbar; sie wird höchstens von einigen wenigen Fanatikern befolgt, die ihr eigenes Herz bekämpfen, die ihre eigene Natur unterdrücken und die auf diese Weise der Gesellschaft häufig nur um so lästiger fallen. Diese Moral, die sich die meisten Frommen zu eigen machen, bringt sie ständig nur mit sich selbst in Widerspruch, ohne ihre Gewohnheiten oder ihre natürlichen Neigungen auszumerzen; ihr Leben ist ein Kreis von Vergehen und Glaubenszweifeln, von Sünden und Gewissensbissen, von Verbrechen und Sühnen, von Vergnügungen, die sie sich dann sehr häufig ohne Grund zum Vorwurf machen, und von ganz fruchtloser Reue. Mit einem Wort, die religiöse Moral bringt häufig Unruhe in ihre Herzen, in die Familien, in die Nationen; sie macht die Menschen zu Schwärmern, zu Fanatikern, zu ängstlichen Frömmlern; sie schafft eine große Zahl von Toren und Unglücklichen; sie bessert niemanden; sie macht nur diejenigen gut, die es bereits auf Grund ihrer Natur, auf Grund der Gewohnheit und der Erziehung geworden sind.

Über unser Verhalten entscheidet das Temperament; maßvolle Leidenschaften, frühzeitig angenommene und lang geübte rechtschaffene Gewohnheiten, lobens­werte Beispiele und vernünftige Anschauungen bestimmen uns zur Tugend und sind Voraussetzungen für jedwedes Glück. Es ist äußerst schwierig, mit einem sehr hitzigen Temperament und mit überschäumenden Leidenschaften tugendhaft und glücklich zu sein. Man braucht Ruhe, um sich auf sich selbst besinnen und um die Vernunft zu Rate ziehen zu können. 

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Hat uns die Natur lebhafte Leidenschaften oder eine ungestüme Einbildungskraft gegeben, so hat sie uns ein unheilvolles Geschenk gemacht; wir fallen uns dann selbst zur Last, und den übrigen fügen wir Schaden zu; wir sind nicht in der Lage, an unsere wirklichen Interessen zu denken und uns gegen unsere gegenwärtigen Neigungen zu wehren. Die Leidenschaften, welche die Vernunft nicht im Zaum zu halten vermag, werden auch nicht durch die Trugbilder der Religion im Zaum gehalten. Man würde vergebens hoffen, mit ihrer Hilfe ein Glück, das uns die Natur nicht zu geben vermag, oder Tugenden zu erlangen, die sich durch ein zu ungestümes Temperament nicht entfalten können. Die Religion läßt die Menschen so, wie die Natur und die Gewohnheit sie geschaffen haben; wenn sie einige Veränderungen in ihnen hervorruft, so sind diese Veränderungen, wie ich hinreichend bewiesen zu haben glaube, alles andere als vorteilhaft.

Seien Sie also zufrieden, mit glücklichen Neigungen geboren worden zu sein und rechtschaffene Prinzipien angenommen zu haben, so daß Sie mit Ihrem Schicksal nicht zu hadern brauchen und die Tugend aus Gewohnheit und mit Liebe ausüben dürfen. Erfreuen Sie weiterhin eine Familie, die Sie liebt, die Sie achtet und die Sie ehrt. Seien Sie auch in Zukunft wohltätig. Handeln Sie fernerhin so, daß Sie von jedermann geschätzt und geachtet werden. Lieben und achten Sie sich selbst; derart legitime und zarte Gefühle werden von anderen in keiner Weise getadelt werden. Seien Sie auf Ihr eigenes Glück bedacht, indem Sie sich mit demjenigen all derer beschäftigen, mit denen Ihr Schicksal Sie in Verbindung bringt; vor allem bitte ich Sie, mich selbst Ihrer kostbaren Freundschaft nicht zu berauben; ich wäre — mit Ihrer Erlaubnis — hocherfreut, wenn es mir gelang, von Ihrer Seele die Last zu nehmen, die ihre Heiterkeit trübte, indem ich Ihre Vernunft gegen Ihren Geist zu Hilfe rief, den eine allzu empfindsame Einbildungskraft in die Irre führen zu wollen schien. Schwören Sie für immer einem Aberglauben ab, der nur geeignet ist, die Menschen unglücklich zu machen. 

Die Moral der Natur sei Ihre einzige Religion; das Glück sei Ihr beständiges Ziel; die Vernunft sei Ihr Führer; die Tugend verschaffe Ihnen die Mittel, glücklich zu werden; diese Tugend sei der einzige Gegenstand Ihrer Verehrung. Die Tugend lieben und ausüben ist die einzige Art und Weise, die Gottheit zu lieben und zu achten. Wenn ein Gott existiert, der sich für das Wohlergehen seiner Geschöpfe interessiert, wenn ein gerechter und guter Gott existiert, wenn ein weiser und vernünftiger Gott existiert, so wird er nicht auf Sie erzürnt sein, weil Sie Ihre Vernunft zu Rate gezogen haben; wenn es ein künftiges Leben gibt, so kann dieser Gott Sie dort nicht unglücklich machen, nachdem er sich Ihrer bedient hat, um auf Erden so vielen Menschen das Glück zu schenken.

Ich verbleibe mit Hochachtung etc.

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