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24.  Auseinandersetzung mit der Primärtherapie von Arthur Janov 

Von Wolfgang H. Hollweg 1995

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Inzwischen habe ich schon recht oft die Primärtherapie von Arthur Janov erwähnt, der ich für die Entwicklung der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie viel verdanke. Die TBT ist im Laufe der Jahre jedoch beträchtlich über die Möglichkeiten der Primärtherapie hinausgewachsen.

Arthur Janov warnt immer wieder davor, sich bei solchen «Primärtherapeuten» in Behandlung zu begeben, die nicht ausdrücklich von seinem Institut bzw. von ihm selbst autorisiert sind. Da es diese «autorisierten» Therapeuten praktisch nur in seinem Institut gibt und die von ihm bzw. seinem Institut ausgebildeten Therapeuten, die in eigener freier Praxis arbeiten wollen, diese Autorisation meist nicht erhalten, ist die Vermutung wohl nicht abwegig, daß sich hinter dieser Einschränkung ein massives geschäftliches Interesse verbirgt.

Wie dem auch sein mag, seine Warnung ist jedenfalls in keiner Weise hilfreich. Sie widerspricht der Tatsache, daß die für die Primärtherapie charakterist­ischen Phänomene «von der Person Janovs unabhängig reproduzierbar» sind (Albert Görres in <Die Psychologie des 20. Jahrhunderts>, Band III).

Wer sich mit der Primärtherapie näher befassen möchte, den muß ich auf Janovs Bücher verweisen und auf die erwähnte wohlwollend-kritische Darstellung von Albert Görres. Ich selbst werde mich in der folgenden skizzenhaften Darstellung auf diejenigen Momente der Theorie und Praxis der Primärtherapie beschränken, die für die Weiterentwicklung der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie in irgend einer Weise, positiv oder negativ, von Bedeutung geworden sind.

Janov bezeichnet die Menschen als «Bedürfnisgeschöpfe». Die Grundbedürfnisse des Neugeborenen, z.B. genährt und gestreichelt zu werden, Wärme und Geborgenheit zu erfahren, angemessen und ausreichend stimuliert zu werden usw., seien die Grundlage sowohl von Gesundheit als auch von Neurose. «Reale Bedürfnisse basieren auf Biologie. Sie sind Zustände des Zellgewebes — Gesamtgeschehen von Gehirn und Körper, keine abstrakten psychologischen Konzepte», schreibt er und fährt fort: «Die frühsten Bedürfnisse sind physischer Art. Wenn wir heranwachsen, entstehen neue Ebenen von Bedürfnissen. Mit der Reifung des Gehirns verfeinert sich das Bedürfnis. Es entwickeln sich emotionale und intellektuelle Fähigkeiten wie auch neue Einzelheiten jedes Grundbedürfnisses.»  

Zum Ausgangspunkt von Neurosen, Psychosen und psychosomatischen Erkrankungen werden, seiner Meinung nach, die Bedürfnisse dann, wenn sie nicht bzw. nicht ausreichend erfüllt werden und der Säugling dadurch in Gefahr gerät.

Janovs «biologischer» Ansatz und seine Definition der «Grundbedürfnisse» scheint dem Ansatz der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie bei der «biologischen Basis» und den ihr zugehörigen «biologischen Programmen» auf den ersten Blick sehr ähnlich zu sein. Doch diese Ähnlichkeit täuscht in mehrfacher Hinsicht. Janov hat ein ganz und gar anderes Verständnis von Biologie und vor allem ein grundlegend anderes Menschenbild als die TBT, was sich selbstverständlich auch in der therapeutischen Praxis auswirkt.

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Für Janovs Neurosenlehre ist charakteristisch, daß er die Grundbedürfnisse und deren Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung, ebenso natürlich deren Beeinträchtigung mit ihren Folgen, an «drei Bewußtseins­ebenen» gebunden sieht, die er mit den Funktionen von Stamm-, Mittel- und Endhirn (Cortex, Hirnrinde) gleichsetzt, die sich im Verlauf der Phylogenese (der «Stammesgeschichte» des Menschen) hintereinander entwickelt hätten und sich in der Ontogenese (der «Entwicklung des menschlichen Individuums», also in seiner vor- und frühen nachgeburtlichen Zeit) in verkürzter Form wiederholen würde.

Dieser letztlich auf Charles Darwin zurückgehenden Lehre, die Janov in der recht undifferenzierten Ausprägung von Ernst Haeckel präsentiert, stellt die TBT das von Erich Blechschmidt formulierte «Gesetz von der Erhaltung der Individualität» entgegen:    wikipedia  Erich_Blechschmidt  1904-1992

«Die im genetischen Code materiell festgelegte Erhaltung der Individualität ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung. Wir dürfen nicht von Entwicklung sprechen, wenn wir nicht die Erhaltung der Individualität während der ganzen Dauer der Entwicklung grundsätzlich und regelmäßig voraussetzen könnten. Wir haben als Prinzip festzuhalten, daß der Träger einer Entwicklung während der ganzen Entwicklungs­dauer ein und derselbe bleibt und daß sich nur sein Erscheinungsbild ändert.»

Was Erich Blechschmidt hier auf die embryonale und fötale Entwicklung bezieht, gilt natürlich uneingeschränkt für die körperliche, psychische und geistige Entwicklung vor und nach der Geburt bis hin zum Lebensende — und es gilt, ohne Abstriche, auch für die in einer guten Therapie stattfindenden Entwicklungs­vorgänge. Auch sie stehen unter dem Lebensprinzip der Erhaltung und Entfaltung der Individualität.

Der Mensch ist auch im Mutterleib keinen Augenblick lang ein Fisch mit dem Nervensystem und den Bedürfnissen eines Fisches (so die Theorie von Ernst Haeckel!), sondern von seiner Zeugung an nichts mehr und nichts weniger als ein Mensch, und zwar dieser eine und unverwechselbare Mensch. Und seine Grundbedürfnisse — besser: seine biologischen Programme! — sind von Anfang an und für immer die typischen eines Menschen, dieses einen und unverwechselbaren Individuums.

Zu den biologischen Programmen gehören von allem Anfang an auch die seelischen und geistigen Bedürfnisse und Fähigkeiten, die, weil der Mensch immer ein Ganzer ist, schon im Mutterleib gestört, ja geschädigt werden können. Ich muß der Behauptung Janovs, daß die frühesten Bedürfnisse des Menschen rein physischer Art seien, energisch widersprechen. Er formuliert: «Das Bedürfnis nach Sicherheit und Liebe ist zunächst nur körperlich. ... Kritik ist für ein Neugeborenes bedeutungslos. Eine Demütigung, wie etwa, gesagt zu bekommen, man sei unnütz, bedeutet für einen drei Monate alten Säugling nichts.» 


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Damit leugnet er, sich an Charles Darwin und Ernst Haeckel orientierend, daß der Mensch von allem Anfang an ein Ganzer ist, Leib, Seele und Geist, und als ein Ganzer wahrnimmt und empfindet. Er macht die seelischen und geistigen Momente von der Entwicklung des Gehirns abhängig. Das ist grundfalsch! Ich werde in Kapitel 48 gerade zu der oben zitierten Behauptung Janovs ein Beispiel aus meiner Praxis als Gegenbeweis erbringen.

Janov sieht die Entstehung von Neurosen, Psychosen und psychosomatischen Erkrankungen in der mangelnden Befriedigung von Grundbedürfnissen des Säuglings und Kleinkindes begründet. Das ist richtig, wenn auch nicht die ganze Wahrheit. Er bezieht den sozialen Aspekt von vornherein mit in seine Krankheitslehre ein. Bedürfnisse drängen auf Befriedigung, die Säugling und Kleinkind nur durch die Eltern, besonders die Mutter erfahren können.

Wieweit und auf welche Weise diese jedoch ihrer Aufgabe gerecht wird, hängt von ihrem eigenen Zustand, ihrer eigenen Entwicklungsgeschichte und natürlich auch von den Diktaten und Erwartungen der Gesellschaft ab, in der sie lebt. Diese heute in der Psychologie zwar allgemein anerkannte, im gesellschaftlichen Bewußtsein aber keineswegs gegenwärtige Tatsache, findet in der TBT eine durchaus andere, profiliertere Beantwortung als in der Primärtherapie. In der erlebt sich der Patient nämlich stets als Opfer, wenn auch als ein Opfer von Opfern, das nicht anzuklagen, sondern seinen Schmerz, der ihm angetan wurde, zu durchleben und zu durchleiden hat.

Nach der Auffassung der TBT sind psycho-physisch-mentale Erkrankungsprozesse jedoch nicht einfach eine Folge früher Schädigung, und der Kranke ist nicht bloßes Opfer seiner Eltern und der über sie einwirkenden Gesellschaft. Was wir als psychische oder psychosomatische Erkrankung bezeichnen, ist vielmehr die sehr persönliche Antwort des Betroffenen auf die Schädigung. Sie ist seine Überlebensstrategie, die er gegen die Einwirkung der Schädigung und ihre Folgen entwickelt hat. Die Strukturierung dieser Antwort durch Verdrängung und später durch die Mobilisierung verschiedener Abwehr­mechanismen ist eine aktive Leistung des geschädigten Menschen selbst. 

Deshalb muß diesem Gesichtspunkt in jeder Therapie große Aufmerksamkeit geschenkt werden. Damit aber treten nun die intrapsychischen (innerseelischen) Prozesse ins Blickfeld, die in den tiefenpsychologischen Schulen als «Psychodynamik» bezeichnet werden. Unter diesem Blickwinkel ist die TBT, im Gegensatz zur Primärtherapie, eine tiefenpsychologisch orientierte Methode.

Zwei Momente werden in der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie und in der Primärtherapie kaum unter­schiedlich gesehen und beurteilt: der «Schmerz» und seine Bedeutung und der neurotische «Kampf».

Der Schmerz hat uns in Kapitel 12, Ziffer 3, bereits ausführlich beschäftigt, besonders unter dem Gesichtspunkt des Heilungsprozesses. Zum neurotischen Kampf habe ich mich kurz im Zusammenhang mit der Ich-Entwicklung geäußert. Hier einige Sätze daraus, die gleichzeitig noch einmal Licht auf den Gegensatz zwischen der primärtherapeutischen «Opferhaltung» und dem für die TBT charakteristischen «Antwort-Charakter» von Erkrankungsprozessen werfen:

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«Wir müssen erkennen, daß es sich ausschließlich um unser Leben handelt, für das wir als nunmehr Erwachsene, was immer auch in unserer Vergangenheit geschehen ist, selbst verantwortlich sind und niemanden anderes mehr dafür verantwortlich machen dürfen. Niemand kann uns aus der Sackgasse unserer Gefühle und Symptome heraushelfen, ganz gewiß nicht diejenigen, die uns einmal geschädigt haben. Das können nur wir selbst. Solange wir den — inneren oder äußeren — Kampf mit den Schädigern nicht aufgeben, werden wir nicht gesunden. Unsere Antwort auf das, was früher einmal geschehen ist und uns in schwere Bedrängnisse und Ängste gestürzt hat, können nur wir selbst in innerer aber intensiver Auseinandersetzung neu formen.»  (Kapitel 12 d.B.)

Worum es im neurotischen Kampf letztlich geht, ist in einem einzigen Satz gesagt: Es geht um den Versuch auf der Übertragungsebene — denn der Kampf wird ja meist in der Auseinandersetzung mit Partnern, Freunden, Mitarbeitern, Untergebenen und Vorgesetzten in Szene gesetzt —, sich doch noch eine bessere Mutter, bessere Eltern, eine konfliktfreie Atmosphäre erkämpfen zu können — und das ausgerechnet, indem man kaum überwindliche, weil dem eigentlichen Motiv nach für andere nicht durchschaubare, Konflikte heraufbeschwört!

Im Zentrum der Primärtherapie stehen die «Urerlebnisse», die «primals». «In ihnen wird ein Kindheitsereignis mit allen Sinnen ... wiedererlebt, als geschehe es jetzt und hier. Auch der eigene Körper wird als Kinderkörper erfahren. ... Der Patient weiß immer, daß er in einem «primal» ist, dessen Inhalt er von seiner realen gegenwärtigen Situation wohl unterscheiden kann.» Im primal bricht der Urschmerz «nicht von außen über den Menschen herein, sondern von innen aus ihm heraus. Das wird wie die Ausstoßung eines Fremdkörpers erfahren» (Albert Görres).

Das stimmt, wie meine eigenen Fallbeispiele gezeigt haben und zeigen werden, mit den Erfahrungen der TBT voll überein. Nur sprechen wir nicht von «Urerlebnis», «primal» und «Urschmerz», sondern schlicht von «Schmerz» und «Wiedererleben».

Arthur Janov hat sein erstes Buch, in dem er die Anfänge der Primärtherapie darstellt, unter dem Titel «Der Urschrei» («The Primal Scream») veröffentlicht. Er hat in den folgenden Büchern den Begriff «Urschrei» immer mehr gemieden, wohl um Mißverständnissen vorzubeugen. Erst in seinem bisher letzten Buch «Der neue Urschrei» greift er diesen Begriff wieder auf.

Bei dem ersten «primal», das Janov zufällig miterlebte und über das er im Vorwort seines ersten Buches berichtet, ist er von diesem Phänomen völlig überrascht und sichtlich fasziniert gewesen. Er hat ihm bei der Entwicklung seiner Therapie und der beginnenden Theoriebildung noch eine allgemeine Bedeutung zugemessen, die sich auf die Dauer so nicht bestätigte. 


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Vor allem wurde bald eine Abgrenzung gegenüber all jenem Schreien notwenig, das Patienten nicht als Ausdruck durchbrechenden (Ur-) Schmerzes, sondern gerade zu dessen Verhinderung, nämlich aus Widerstand produzieren. Mit beiden Varianten, sowohl mit dem des echten «Urschreis» wie mit dem Geschrei aus Widerstand, werde ich auch in der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie immer wieder konfrontiert. Da sich das «Phänomen Urschrei» aber oft, ja sogar meist, sehr viel anders anhört, als Janov es anfangs beschrieben hat, vermeide ich diesen Begriff überhaupt, um nicht falsche Assoziationen zu wecken. Für mich ist es sehr viel wichtiger, den Lautäußerungen meiner Patientinnen und Patienten sehr genau und sehr kritisch zuzuhören und ihren Gefühlen nachzuspüren.

 

Mit dieser Bemerkung möchte ich es aber nicht bewenden lassen. Ich bin nämlich der Überzeugung, daß dieser Art des Aufschreis aus tiefster Seele eine ganz bestimmte Bedeutung zukommt, die mit dem «Wandlungsgeschehen», wie es von C.G. Jung beschrieben wurde, zusammenhängt und sehr wohl einen «heilenden Charakter» hat.

Ich bin diesem Phänomen zuerst in der Literatur begegnet, und zwar im Jahre 1947, als ich 17 Jahre alt war, in einer Erzählung von Friedrich Griese mit dem Titel «Eine mondhelle Nacht». Das war zwei Jahre vor meinem Abitur, in dem ich mich im deutschen Aufsatz u.a. mit dem Wandlungsgeschehen befaßt habe. Griese beschreibt in seiner Novelle eine Nachtwanderung mit seinem Freund, den er Bargum nennt. In jener Nacht haben die beiden Freunde ein ihr Gefühl zutiefst aufwühlendes Erlebnis:

«Wo die menschliche Ansiedlung und der Wald zusammenstießen, hatte jemand geschrien. ... Der Schrei war so klagend, so leidvoll rufend, daß ich mit aller Macht an mich halten mußte. ... Da stieß der Schrei von rechts her zu uns, aus einer ... grenzenlosen Hilflosigkeit.... Gewiß war es ein Mensch, der da klagte, aber es hätte auch ein Tier, ein Stein, der Wald, die ganze Schöpfung sein können, so ohne Halt und so grenzenlos war die Klage. ... Die Schreie kamen aus einer solchen Qual heraus, daß ich damals wohl empfunden habe, was die Leute meinen, wenn sie sagen, daß einem das Herz im Leibe wehe tut.»

Solches aus erfühltem Schmerz aus der Tiefe von Körper, Seele und Geist aufsteigendes Schreien habe ich oft und oft bis zum heutigen Tage als Ausdruck tödlichen Getroffenseins in meiner Praxis gehört — bei weitem nicht von jedem Patienten, denn dazu sind die Lebensgeschichten viel zu verschieden. Aber für die aufzulösende Problematik mancher Patienten ist es charakteristisch und notwendig, sich auf diese Weise auszudrücken.

Im letzten Absatz seiner Erzählung schreibt Griese über seinen Freund und sich selbst im Rückblick auf das Erlebte: «Über diese Nacht haben wir uns beide Stillschweigen auferlegt. Wir wußten damals aber nicht, daß man, der Erkenntnis anderer Menschen wegen, zuweilen nicht schweigen darf.» Ja, so ähnlich sehe ich das auch, und deshalb schreibe ich jetzt darüber. 


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Und ich füge hinzu, daß ich, mit bestimmten Abwandlungen natürlich, auch das erlebe, was Griese als Reaktion der beiden Freunde schildert auf das, was sie gehört, erlebt und empfunden haben: «Bargum kroch unter eine niedrige Kiefer, drückte sich da hin, und ich setzte mich neben ihn. Wir rührten uns nicht, saßen nur da und fürchteten uns.»

Ähnliches erlebe ich gelegentlich, wenn Gäste in meine Praxis kommen, meist Kolleginnen und Kollegen, die daran interessiert sind, evtl. selbst das «Handwerk des mit der TBT arbeitenden Psychotherapeuten» zu erlernen und erfahren möchten, was da wohl auf sie zukommen kann. Selten hält es ein Gast länger als eine oder höchsten zwei Sitzungen aus, wenn sich die Patienten ihrem Schmerz überlassen. Wenn der Schmerz aus der eigenen frühen Lebensgeschichte nicht aufgelöst ist, kann man sich kaum dagegen wehren, selbst angerührt, betroffen und manchmal auch zutiefst beunruhigt zu sein. Das ist für die Besucher eine durchaus positiv zu wertende Erfahrung. Es ist nämlich für einen Therapeuten, der mit einer so tiefgreifenden Methode wie der TBT arbeiten will, keine gute Voraussetzung, wenn ihn das Erlebte kalt läßt. Wer sich seiner persönlichen Betroffenheit schämt, sich dazu nicht bekennen will, wer sie gar nicht erst zuläßt oder vor sich selbst verleugnet, ist von seinen eigenen Gefühlen und Schmerzen noch sehr weit entfernt. Wie will er sich da anheischig machen, die Schmerzen seiner Patienten voll wahrzunehmen und darauf adäquat antworten zu können !?

 

Zum Abschluß muß ich noch etwas ausführlicher über Janovs Einstellung zur christlichen Religion, ja zur Religion überhaupt diskutieren, die ich als sehr voreingenommen empfinde.

Es geht mir in diesem Zusammenhang wahrhaftig nicht um jenes Moment, das in allen tiefenpsychologisch orientierten Therapien als gemeinsame Erfahrung bekannt ist, nämlich daß die Psychotherapeuten bei fast allen ihren «religiösen» Patienten einen ungeheuren Wust von Pseudo-Religiosität zu Gesicht bekommen, die eindeutig der Abwehr dient und somit Teil der Neurose/Psychose/Psychosomatose ist. 

Ich teile Janovs Auffassung, daß es im therapeutischen Prozeß nicht darum gehen kann, dem Patienten seinen Glauben zu nehmen, sondern ihm behilflich zu sein, seinen Schmerz zu empfinden und aufzulösen. Und ich bestätige ausdrücklich seine Erfahrung, daß, wenn dies gelingt, bei fast allen «religiösen» Patienten so gut wie nichts mehr von der ursprünglichen Gläubigkeit übrig bleibt.

Mich persönlich erschüttert an dieser Erfahrung immer wieder, in welch großem Ausmaß die Kirchen das Überleben ihrer Organisation und die Seelsorger ihre wirtschaftliche Existenz der neurotischen Religiosität ihrer «Gläubigen» verdanken. Diese Erkenntnis hat meinen Entschluß, die amtlich-kirchliche Seelsorge gegen die Psychotherapie einzutauschen, entscheidend mitbestimmt. Damit teile ich aber keineswegs Janovs Meinung, «daß Religion vom Wesen her eine neurotische Flucht vor der Wirklichkeit ist und nie etwas anderes sein kann» (nach Görres).


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Im Gegenteil: Ich habe in vielen Therapien, ganz besonders häufig bei solchen Patienten, die ohne Beziehung zur Religion aufgewachsen waren, im Zusammen­hang mit dem Aufbrechen ihrer tiefsten Schmerzen ein sich plötzlich einstellendes spontanes Verständnis für bestimmte Grundfragen des christlichen Glaubens erlebt, das mich sehr betroffen gemacht hat.

Wenn sich die Patienten in der Therapie ihrem tiefsten Schmerz nähern, stellen sich immer wieder dieselben Gefühle ein: Einsamkeit, Verlassenheit, Hilflosigkeit und Todesangst. In solchen Situationen habe ich oft zu hören bekommen: «Jetzt kann ich plötzlich verstehen, was Jesus am Kreuz gefühlt haben muß.» Sie begreifen ihn als den «Mann der Schmerzen» (Jesaja 53). Und häufig wird der Verzweiflungsschrei des Gekreuzigten als Ausdruck des eigenen Gefühls zitiert: «Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?» (Evangelium nach Matthäus, Kap. 27, Vers 46).

Mir begegnen in der Therapie sehr viel mehr «pseudo-religiöse» Patienten als solche, die Bibelkenntnisse besitzen und sich mit Glaubensfragen ernsthaft auseinandersetzen. Von den wenigen, die ich im Verlauf von drei Jahrzehnten zu behandeln hatte, habe ich nach so tiefgreifenden Erlebnissen immer wieder die Meinung gehört, daß sie die Vorstellung vom «stellvertretenden Leiden und Sterben» des Jesus von Nazareth für die Menschen (ein vom Apostel Paulus immer wieder betonter theologischer Aspekt des Christentums) nicht mehr nachvollziehen könnten. Mit dem biblischen Begriff «Nachfolge» könnten sie eher etwas Konkretes anfangen: «Sein Kreuz auf sich nehmen» und Jesus «nachfolgen» wird von diesen Patienten ganz konkret erfahren und begriffen als dieses Sich-Einlassen in das im therapeutischen Prozeß erlebte totale Ausgeliefertsein, in diese völlige Gottverlassenheit, in der einem niemand tröstend beistehen kann, die durch die Gegenwart des Therapeuten nicht gemildert wird, aber auch nicht gemildert werden darf. 

Ich muß dem jedoch hinzufügen, daß die Gegenwart des Therapeuten während dieses Grenzgeschehens deshalb nicht etwa überflüssig ist. Im Gegenteil, sein Dabeisein, in dem er von den betroffenen Patienten sehr intensiv als ein Du, ein Gegenüber erfahren wird, an das man den Ausdruck dieser letzten Verlassenheit richten kann, ermöglicht es den Patienten überhaupt erst, Schmerzen von solcher Intensität und Tiefe zuzulassen. Das hat, entgegen der vorschnellen Interpretation von Psychoanalytikern, nicht mit einer Vater-Übertragung zu tun, sondern mit der grundsätzlichen Du-Bezogenheit jedes Menschen, wie sie sich in dem Satz von Martin Buber widerspiegelt: «Der Mensch wird am Du zum Ich.»

In manchen Therapien ist diese tiefe Schmerzerfahrung von jenem Geschehen begleitet bzw. gefolgt, das Janov als «Urschrei» («primal scream») bezeichnet hat. Wer mit offenen Sinnen und Herzen diesen wortlosen, unartikulierten, aus dem Gesamtorganismus aufbrechenden Schrei selbst erlebt oder auch nur miterlebt hat, dem drängen sich Fragen auf, die in theologische Dimensionen hineinragen.


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Der «Urschrei» signalisiert jenen Punkt, an dem das «Gefangensein im Schmerz» {Janov), das Verschüttetsein unter der erstarrten Decke der Abwehr, das «Totsein» (so wird es von Patienten besonders häufig formuliert!) in ein Gefühl von Freisein, von «Lebendigkeit» umschlägt, das bezeichnenderweise auch immer wieder wie ein «Neugeborensein» empfunden und beschrieben wird.

Vergleicht man das nun, wie viele Patienten es spontan tun, mit dem Kreuzesgeschehen, so erinnert sich der ein wenig in der Bibel Bewanderte daran, daß nach dem Matthäusevangelium dem Verzweiflungsschrei des sterbenden Jesus, «mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?», ein namenloser Todesschrei folgte. Gerade diesem hat nun der später schreibende Evangelist Johannes den Text unterlegt: «Es ist vollbracht.» Es ist nun naheliegend anzunehmen, daß er damit den Tod und die Auferstehung des Jesus von Nazareth als ein zusammenhängendes, voneinander nicht zu trennendes Geschehen charakterisieren wollte. Das wiederum deckt sich mit der Gepflogenheit der ersten christlichen Gemeinden, das Kreuzesgeschehen liturgisch nicht in ein am Karfreitag begangenes Gedenken des Todes und am Ostersonntag begangenes Gedenken der Auferstehung auseinanderzureißen, sondern die Osternacht im Sinne eines Wandlungsgeschehens, d.h. als Durchbruch durch den Tod hindurch ins Leben, feiernd zu begehen.

 

Wir müssen dazu noch bedenken, daß in eben diesen Osternachtfeiern die Taufen derjenigen stattfanden, die für den Glauben an den gestorbenen und auferstandenen Jesus geworben worden waren — es waren in der Regel Erwachsene, Kinder bildeten nur die Ausnahme —, und daß das Taufgeschehen als ein Hineingenommenwerden in dieses Wandlungsgeschehen von Tod und Auferstehung verstanden wurde (vergleichen Sie dazu Römer 6, Verse 3, 4, 9, 10 und 11). Ich denke, die Parallelität beider Erlebnisreihen, der psychotherapeutischen und der christlich-religiösen, drängt sich förmlich auf. Darauf hätte Arthur Janov eigentlich auch stoßen müssen. Umso weniger kann ich sein grundsätzliches Vorurteil gegen alle Religion verstehen.

Es drängen sich mir nun zwei Fragen auf, die ich nur stellen, aber nicht abschließend beantworten kann:

1. Hat sich in den Kreuzigungs- und Auferstehungsberichten der Evangelien eine anthropologische (zum Menschsein gehörende) Grundgegebenheit in Form eines greifbaren und vermittelbaren Symbols verdichtet, das man so umschreiben könnte: Das Durchschreiten der Todeserfahrung im Sinne des Wandlungsgeschehens ist notwendig, um zu einem wirklich lebendigen menschlichen Leben durchzudringen? 

Ein solches Geschehen wäre dann eine Art «zweite Geburt» — im christlichen Sprachgebrauch «Wiedergeburt». Verbirgt sich dahinter vielleicht die uralte Erfahrung, daß es für sehr viele Menschen notwenig ist, ihre erste Geburt wiederzuerleben, um sich lebendig fühlen zu können?


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2. Um meine zweite Frage stellen zu können, muß ich voraussetzen, daß es sich beim «Glauben» und bei der Taufe weder um einen Akt des Denkens, noch des Gehorsams, noch um eine bloßes Zeremoniell handelt, sondern um ein subjektives, den Menschen wirklich veränderndes Wandlungsgeschehen, das dem Geschehen in der Therapie vergleichbar ist. Und nun die Frage: Was bedeutet die in der Therapie und die in Glauben und Taufe vorweggenommene Todeserfahrung mit ihrer nachfolgenden Lebendigkeitserfahrung für den realen Tod? Berichte meiner Patienten bestätigen, was ich an mir selbst beobachtet habe: Wer sich in der Therapie einem solchen Grenzgeschehen ausgesetzt hat, sieht seinem zukünftigen Tod mit ganz anderen Gefühlen und Erwartungen entgegen. Daß das deutliche Parallelen zu gelegentlichen Berichten aus dem religiös-christlichen Bereich aufweist, ist mit Händen zu greifen.

 

Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, deutlich zu machen, daß es mir weder um eine Psychologisierung der Religion, noch um eine religiöse Mystifizierung der Therapie geht, sondern um die Frage aller Fragen, was denn Menschsein eigentlich bedeutet, welche Dimensionen und welche Konsequenzen die tiefsten Erfahrungen in sich schließen, die dem Menschen im Grenzgeschehen von Therapie einerseits'und Glauben andererseits aufscheinen.

 

Nachtragen muß ich noch, daß das Wandlungsgeschehen in der Therapie nicht an die Erfahrung des Urschreis gebunden ist. Er ist dazu nicht Vorbedingung, sondern ein gelegentlich auftretender Ausdruck desselben, auch keineswegs der einzig mögliche, aber doch ein besonders deutlicher und überzeugender. Außerdem kann dieses Phänomen mehrfach auftreten, und zwar beim Wiedererleben unterschiedlicher Todesbedrohtheiten in sich steigernder Form, wenn die betreffenden Patienten bereit sind, sich in der Therapie ihren Bedrohtheiten und Ängsten voll auszuliefern. Ob sie das wirklich tun oder ihre Bedrohungen und Ängste mit lautem Schreien abzuwehren versuchen, ist für erfahrene Therapeuten am Ton des Schreiens sehr gut zu unterscheiden. In der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie wird der Begriff «Urschrei» nicht verwendet.

Ein deutlicher Unterschied zwischen der Primärtherapie und der Tiefenpsychologischen Basis-Therapie bezieht sich auf die Ich-Entwicklung. Janov hat die — illusorische — Vorstellung, daß es letztlich das plötzliche und intensive Wiedererleben der Schädigung ist, die den Heilungsprozeß ausmacht. Wir bezeichnen eine solche therapeutische Vorstellung als «kathartisch» (reinigend). 


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Was dabei zum Schaden der Patienten übersehen wird, ist die Notwendigkeit der Ich-Entwicklung im Verlauf einer Therapie. Damit haben wir uns in Kapitel 6 ausführlich befaßt.

Die Tiefenpsychologische Basis-Therapie ist keine kathartische Therapie und will es auch nicht sein. Zwar gibt es in der TBT gelegentlich überraschende Spontanheilungen, die den Eindruck einer «Psycho-Katharsis» hinterlassen könnten, doch tritt eine derartige Wirkung immer nur bei Patienten auf, bei denen eine relativ gesunde Ich-Entwicklung stattgefunden hat. Bei den meisten frühgeschädigten Patientinnen und Patienten ist jedoch das Ich gewöhnlich nur recht schwach entwickelt, so daß seine systematische Nachentwicklung im Zusammenhang mit dem Erinnerungs- und Heilungsprozeß nur Schritt für Schritt vor sich geht und nur so vor sich gehen kann.

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Abschließen möchte ich die Darlegungen über meine Beschäftigung mit der Primärtherapie mit einem kurzen Bericht über eine meiner ersten Therapien mit dieser Methode überhaupt, die sogar gleichzeitig auch richtungs­weisend wurde für die spätere Entwicklung in Richtung auf die Tiefenpsychologische Basis-Therapie.

Hilde beschäftigt sich auf der Matte mit ihren Gefühlen ihren Eltern gegenüber, besonders zu ihrem Vater, einem Lehrer, den sie, ob seiner Strenge, immer sehr gefürchtet hat. Plötzlich fragt sie mich, wann der Therapieraum eigentlich zuletzt gesaugt worden sei. Es rieche stark nach Staub. Als ich feststelle, daß der Raum erst am Tag vorher gesäubert worden ist, möchte sie sich umdrehen und die Matte beriechen. Doch das klärt den Staubgeruch in ihrer Nase nicht. Als sie in die Rückenlage zurückkehrt und sich auf ihre "Wahrnehmung einläßt, nimmt er sogar noch erheblich zu. Plötzlich erlebt sie sich in einem offenen Bauernwagen auf einer staubigen Landstraße.

Hilde war gerade vier Wochen alt, als die Mutter mit ihr Anfang Oktober 1944 auf einem Bauernfuhrwerk im Treck aus ihrem Heimatdorf in der Nähe von Belgrad nach Zagreb flüchten mußte. Die Fahrt über staubige Landstraßen dauerte zwei Tage. Hilde erinnert sich, daß sie auf dem Treck immer wieder von Tieffliegern beschossen wurden. Von Zagreb aus wurden Mutter und Kind von deutschen Offizieren in einem Militärfahrzeug nach Westen mitgenommen.

In der Therapie bekommt Hilde dann zunächst starke Hunger- und Durstgefühle. Schließlich fühlt sie sich so matt, kraftlos und am Ende, daß sie meint, sterben zu müssen. Die Mutter hatte sich, neben den Offizieren sitzend, nicht getraut, ihr Kind zu stillen, war von der ganzen Strapaze der Flucht wohl auch selbst so erschöpft, daß sie vermutlich gar nicht hätte stillen können. Jedenfalls war das Baby dem Tode nahe.

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An dieser Spontanregression war so besonders auffällig, daß die Erinnerung an das Fluchtgeschehen in der Nase begann — also mit einer Körpererinnerung an das frühe Geschehen. Der Erinnerungsvorgang lief in diesem Fall also zunächst nicht über die Gefühle, sondern über den Körper ab. Die Gefühle folgten dann allerdings sehr bald nach.

Während die Janovsche Primärtherapie grundsätzlich bei den Gefühlen ansetzt, ist für die Tiefenpsychologische Basis-Therapie (TBT) der Ansatz beim Körper charakteristisch, denn «der Körper lügt nicht». Dadurch ergibt sich in der TBT automatisch auch ein anderes Verhältnis zum Abwehrmechanismus der Übertragung. Solange nämlich die Gefühle im Vordergrund stehen, ohne daß über die Körpererfahrung ihr primärer Bezug deutlich geworden ist, besteht ein sehr viel größerer Drang danach, die Gefühle an anderen Personen, besonders am Therapeuten festzumachen. Wenn sich die Patienten jedoch von Anfang an in einer den ganzen Körper erfassenden Regression, die sich an ihren Körpersymptomen orientiert hat, als Ungeborenes oder Baby wiedererleben, ist die Neigung, den Therapeuten zum Vater oder zur Mutter zu machen, sehr viel geringer. Vor allem aber ist es für den Therapeuten leichter, einen Patienten aus seiner Übertragung herauszuholen.

Ich wollte mit der kurzen Darstellung der Wiedererinnerung an diese Flucht zeigen, wie früh — für mich selbst zunächst noch unerkannt — sich der spätere Weg der TBT ankündigte. Ich zeichne in diesem Buch ja u.a. den Weg von meiner eigenen Früherfahrung (mit 15 Jahren) über die Psychoanalyse bis hin zur TBT und zur Human-Biologischen Ganzheits-Medizin nach. Wie früh sich der zukünftige therapeutische Weg über die Körperwahrnehmung angekündigt hat, bereits bei meinen ersten Behandlungen mit der Primärtherapie, hat mich beim Nachdenken über dieses Fluchterlebnis von Hilde selbst überrascht.

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Wolfgang Hollweg und Arthur Janov