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 § 17 

(Klages, Deschner, Dollinger)

 

 

92-95

Der über eine verfälschende Rezeptionsgeschichte zur persona non grata erklärte Ludwig Klages, der tiefe Bruch im Denken Freuds, der horrende Wirklichkeits­verlust seiner Anhänger, alles das verdeutlicht schlaglichthaft das intellektuelle Ruinenfeld, das die Wiederaufrichtung des humanistischen Popanz im kriegslüsternen 20. Jahrhundert hinterlassen hat.

Geistiges Überleben war in diesem Terrain mehr als schwierig und das hohe Risiko hat temporär zu einer weiteren Dezimierung der ohnedies versprengten Partisanen anthropofugaler Resistance geführt — allein, die Wahrheit kennt Niederlagen, aber keine Kapitulation, und seit den 60er Jahren ist trotz erbitterter humanistischer Störmanöver eine Phase erneuter Stabilisierung und Konsolidierung zu verzeichnen, die darauf hoffen läßt, daß das Untier — wie es seiner Intelligenz gebührt — sehenden und verständigen Auges jenen apokalyptischen Streich gegen sich selbst und die mitleidende Kreatur führen wird, für den es sich seit dem Zweiten Vorbereitungskrieg so fieberhaft ertüchtigt.

Immerhin existieren inzwischen Dokumentationen, die das Untier nackt vorführen und seine tollwütigen historischen Manifestationen, den Veitstanz seines Fortschritts, das unablässige Vae Victis marodierender Bestien nicht länger humanistisch ummanteln und metaphysisch retuschieren. Statt die Leistungen der Generäle, Feldherren, Industriellen und Politiker herauszustreichen, die sich rechtzeitig auf die Seite des Siegers schlugen, anstelle einer üblichen »Geschichte« des 20. Jahrhunderts also, gibt etwa Karlheinz Deschner dessen <Pathographie> heraus, eine Krankheitsgeschichte jener Dekaden, in denen sich das Resultat von fünf und mehr Jahrtausenden Zivilisation noch einmal in nuce darstellen zu wollen scheint — als »Gier und Gewalt, eine Kette von Katastrophen. Der ewige Bankrott. Geschichte« (Deschner 1966: 8).

Was Deschner und seine Mitarbeiter exemplarisch behandeln, das verfolgt Hans Dollinger in seinem <Schwarzbuch der Weltgeschichte> ab ovo, d.h. vom Anbeginn schriftlicher Aufzeichnung und dem Einsetzen des historischen Gedächtnisses des Untiers an. 

Und auch hier ist es die »Kehrseite« der offiziellen Geschichts­schreibung, die Dollinger aufdeckt, ist es eine blutbefleckte, angesengte, zerfetzte Leinwand, das wahre Schweißtuch der Gattung, was unter der Tünche und den fettbunten Farbschichten der Historienmalerei zum Vorschein kommt.

 

Als »höherer Sinn« bleibt allein die iterative Monotonie der Pogrome, »eine nie abreißende Kette von Verbrechen gegen den Menschen, von Verfolgungen, Vertreibungen, Massenfluchten, Aussiedlungen und systematischen Ausrottungen« (Dollinger 1973: 6), samt und sonders Ausgeburten ein und derselben genoziden Mentalität, die ihre vollständige Ausprägung lange vor Auschwitz, lange auch vor Cortez' und Pizarros Endlösungsprogrammen in der Inka- und Aztekenfrage erreichte und schon bei dem Assyrerkönig Assurnasipal II. (883-859 v.u.Z.) in höchster Blüte stand, der die Nachwelt über seine — freilich noch handwerklich-vorindustriellen — Massen­vernichtungs­künste denn auch nicht im dunklen lassen wollte:

Ich tötete immer den zweiten Mann; ich baute eine Mauer vor den Haupttoren der Stadt. Schinden ließ ich die Rädelsführer, und mit ihrer Haut überzog ich jene Mauer. Einige wurden darin lebendig eingemauert, andere entlang der Mauer gepfählt. Eine große Zahl ließ ich schinden und bekleidete die Mauer mit ihrer Haut. Ihre Köpfe ließ ich in Gestalt von Kränzen und ihre Leiber als Girlanden sammeln.  (ebd.: 20)  

 

Illusionslose Inventur und Bestandsaufnahme, wie sie in den beiden genannten Arbeiten in Angriff genommen wird, ist auch Voraussetzung für die überfällige Wiederauferstehung der Philosophie, die derweil zum humanistischen Halluzinogen der Intelligenz verkommen ist. Glücklicherweise besteht auch hier begründete Hoffnung auf Wiedereinsetzung der anthropofugalen Vernunft in ihre alten und angestammten Rechte, hat sie doch u.a. im französischen Strukturalismus, insbesondere aber in seinem radikalsten Vollender und Überwinder Michel Foucault, erstmals wieder wirkungsvolle und integre Verfechter gefunden.

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Claude Levi-Strauss etwa sieht in <Das Wilde Denken> das Untier gegenüber dem Diktat der Strukturen in einer dezentrierten und peripheren Position und erklärt, »daß das letzte Ziel der Wissenschaft vom Menschen nicht das ist, den Menschen zu konstituieren, sondern das, ihn aufzulösen« (Levi-Strauss 1973: 284). Diese Auflösung ist auch der Schlüssel zum Denken Foucaults, dem distanziertes Philosophieren ein »Graben unter unseren Füßen« (Foucault 1974: 14), permanente Subversion, bedeutet, und der mit seinem CEuvre folgerichtig Sabotage an den verknöcherten Überzeugungen und Wesensgewißheiten des Humanismus übt:

In unserer Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. ... Allen, die noch vom Menschen, von seiner Herrschaft oder von seiner Befreiung sprechen wollen, all jenen, die noch fragen nach dem Menschen in seiner Essenz, jenen, die von ihm ausgehen wollen, um zur Wahrheit zu gelangen, jenen umgekehrt, die alle Erkenntnis auf die Wahrheiten des Menschen selbst zurückführen, allen, die nicht formalisieren wollen, ohne zu anthropologisieren, die nicht mythologisieren wollen, ohne zu demystifizieren, die nicht denken wollen, ohne sogleich zu denken, daß es der Mensch ist, der denkt, all diesen Formen linker und linkischer Reflexion kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen  (Foucault 1971: 412).

 

Foucaults Hauptwerk <Die Ordnung der Dinge> ist diesem Credo gemäß Ausgrabung von Verschüttetem, eine — wie der Untertitel formuliert — <Archäologie der Humanwissenschaften>, die noch deren Fundamente freilegt, feststellt, daß sie wie das Gebäude längst erodiert und zerfressen sind, und füglich mit der Wette schließt, »daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (ebd.: 462). 

Gewiß, dieser Satz ist bei Foucault noch nicht unmittelbar existentiell, als Vorhersage apokalyptischer Selbst­aufhebung also, gemeint, sondern prognostiziert lediglich die Ablösung einer humanistischen Episteme, d.h. einer am Menschen ausgerichteten Organisationsform des Wissens, zugunsten einer gegenüber dem Subjekt höchst indifferenten Ordnung der Dinge.

 

Insofern ist sein anthropofugaler Ansatz auf erkenntnistheoretisches Terrain begrenzt und bleibt hinter den universalistischen Systemen eines Klages, von Hartmann und Schopenhauer zurück. Aber schon anthropo­fugale Epistemologie besitzt in einer humanistisch okkupierten und reglementierten kulturellen Umwelt wichtige Brückenkopffunktionen, und Foucault hat keinen Zweifel daran gelassen, daß er diesen Brückenkopf zu halten, ihn auszubauen und zu Ausfällen gegen den »Gedanken vom unverjährbaren Wert des Menschen« (Foucault 1974: 16) oder eudämonistische Heilslehren zu nutzen gedenkt, zu denen er in einem Interview ausführt:

Wenn wir über das Problem des Humanismus zu diskutieren scheinen, beziehen wir uns eigentlich auf ein einfacheres Problem, auf das des Glücks. Ich behaupte, daß sich der Humanismus zumindest auf der politischen Ebene als jene Einstellung definieren läßt, derzufolge es Zweck der Politik ist, das Glück herbeizuführen. Meiner Überzeugung nach kann aber der Begriff des Glücks nicht mehr gedacht werden. Das Glück existiert nicht und das Glück der Menschen existiert noch weniger (ebd.: 29).  

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Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)