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§ 18 

Foucault, Cioran, Präapokalytikum, Schopenhauer

 

 

 

 

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Foucault ist — wie seine strukturalistischen Weggenossen — ein Wiederentdecker, der sich trotz seiner Belesenheit und Kenntnis der Philosophie­geschichte auf philosophischer terra incognita fühlt und vergessen hat, daß das, was er so mühsam vermißt und auskundschaftet, schon einmal kartographiert und auf den Begriff gebracht worden ist. 

Dieser Irrtum ist tragisch, denn das humanistische Interregnum, das er bekämpft und zu beenden sucht, demonstriert so noch im Sturz seine Macht über den Insurgenten, indem es ihn von den anthropofugalen Traditionen abschneidet, deren Kenntnis seinen geistigen Weg müheloser, seine Einsicht tiefer und seine Perspektive weiter hätte werden lassen.

Vergleichbare Vorbehalte auch bei seinem aus Rumänien gebürtigen, naturalisierten Landsmann E.M. Cioran, der Foucault derzeit an Bekanntheit weit unterlegen, an anthropofugaler Konsequenz aber zu ebensolchen Graden über ist, machen zu wollen, hieße, sich dem berechtigten Vorwurf geistes­geschicht­licher Kurzsichtigkeit auszusetzen. 

Cioran ist philosophisch zu Ende gekommen; nicht als Pfadfinder, Wegbereiter oder Nachdenker des fahr­lässig Vergessenen und Verdrängten wird er deshalb in die Annalen der anthropofugalen Philosophie eingehen, sondern als neuer Schopenhauer jenes Zeitalters, das man in Anlehnung an die gebräuchlichen erdgeschichtlichen Termini als Präapokalyptikum bezeichnen könnte — ein Pessimist, Lebensverneiner und Stilist von höchstem Niveau, ein anthropofugales Genie, das mit dem begnadeten Verfasser der Welt als Wille und Vorstellung sogar noch seine Fehler teilt, von denen der schwerwiegendste in beiden Fällen jene idealistische Abgehobenheit ist, die über den wohlgesetzten Jeremiaden, den ziselierten Bannflüchen und dem wortgewaltigen Ekel jenes konkrete Nachdenken über die Mittel und Wege vernachlässigt, mit deren Hilfe das planetarische Jammertal für immer befriedet werden könnte.

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Schopenhauers Versagen, seine Flucht in die individuelle Askese, ist dabei aufgrund der annihilistischen Impotenz der zeitgenössischen Militärmaschinerien mehr als verständlich, Ciorans vornehme Enthaltsamkeit gegenüber dem modernen ABC der Vernichtung ist es kaum.

Wie zweitrangig und nebensächlich aber wird aller Tadel dem, der Cioran liest. Ist es nicht zuweilen, als ob die anthropofugale Vernunft selbst zu uns spräche, eine posthume Stimme aus der Nachgeschichte, der Menschenleere, der leblosen und mineralischen Kühle nach der Katastrophe, »ein Fötus, zerfressen von einer allwissenden Idiotie, noch ehe seine Augenlider sich öffnen, eine wissende Totgeburt« (Cioran 1978: 194)? 

Erinnerungen an das Untier steigen auf, fossile Reminiszenzen, eingebettet in das Sediment der Erleichterung darüber, daß es vorbei ist, retrospektive ausgeweidete Visionen; und die Aussicht der Ganglien auf Versteinerung, das vorausgeahnte große Aufatmen der Materie, der Seinsfriede, lockt, drängt, treibt an, stachelt auf.

»Denken ist unterhöhlen« (Cioran 1977: 150), heißt es in der Aphorismensammlung Vom Nachteil, geboren zu sein, es ist ein Aufschrecken aus dem Nachtmahr des Lebendigen, ein letzter Liebesdienst für die, »die nicht mehr für lange da sind ... für Gladiatoren«, (ebd.: 77), für die »morituri« in der Arena des planetarischen Circus Maximus. Denken ist das Eingeständnis, »daß wir hienieden sind, um einander unglücklich zu machen« (ebd.: 143), ist Aufklärung über das Untier, jenen Spezialisten in »Gegen-Schöpfung« (Cioran 1965: 85), jenen Mörderaffen und Henker, der noch in der Larve bürgerlicher Bonhomie in seinen Wunschträumen »einen Friedhof voller Freunde und Feinde hinter sich her[schleppt]« (Cioran 1978: 70).

Was ist diese Masse von »Hampelmännern, die mit roten Blutkörperchen vollgestopft wurden, um die Geschichte mitsamt ihren Grimassen zu gebären« (ebd.: 86); was sollen diese »Unheilbaren«, diese »schmerz­durchzuckte Materie«, dieses »brüllende Fleisch«, das »von Schreien zernagte Gebein« (Cioran 1972.: 17), dieser wuchernde »Krebs der Erde«? (Cioran 1977: 136)

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Cioran, der die Sinnattrappen der Religion und einer korrumpierten Philosophie verwirrt, befragt die Spuren und gelangt in seiner Lehre vom Zerfall zu dem Ergebnis:

Die Geschichte hat keinerlei Sinn: wir haben also Grund zur Freude. Sollten wir vielleicht Qualen ausstehen um eines günstigen Ausgangs des Geschehens willen, um eines letzten Festes willen, dessen Kosten von unserem Schweiß und unserem Scheitern bestritten würden? Künftigen Idioten zuliebe, die über unsere Qual frohlocken und auf unserer Asche herumhüpfen? Die Vision eines paradiesischen Endzustandes übertrifft in ihrer Absurdität die schlimmsten Verirrungen der Hoffnung.
(Cioran 1978: 181)  

Ein gutes Ende also ist ausgeschlossen; aber wenn die Geschichte in dieser Hinsicht auch sinn- und ziellos scheint, so besitzt sie doch ein Geheimnis, das es zu lüften gilt, eine perverse Logik, einen im Menschen auf das verheerendste aufbrechenden Un-Sinn:

Der Schlüssel zu allem, was es in der Geschichte an Unerklärlichem gibt, könnte sich sehr wohl im Wüten gegen sich selbst finden lassen, in dem Abscheu vor Sattheit und Wiederholung, in der Tatsache, daß der Mensch immer dem Unerhörten vor der Routine den Vorzug geben wird.... Alles was lebt, bejaht und verneint sich bis zur Raserei. Sich hinsterben lassen bezeugt Schwäche; sich selbst vernichten ist Zeichen von Kraft. 
(Cioran 1972.: 130f.)  

 

Aus dieser ungetrübten anthropofugalen Einsicht in die Geschichte als Schädelstätte und Beinhaus eines manischen, eines unheilbar blindwütigen Schlachtens, Schindens und Schleifens, des Zerstörenmüssens bis zum letzten, folgt für Cioran alles weitere mit Notwendigkeit. Der Mensch, so die erste Konklusion, kann und wird nicht dauern:

Die Erschöpfung wartet auf ihn, und er wird für seine allzu originelle Laufbahn zahlen müssen. Denn es wäre unvorstellbar und widernatürlich, daß er sich noch lang weiterschleppte und gut endete.
(Cioran 1977:
112)  

 

Wir alle schon sind letzte Menschen, Endzeitler, Nachgeburten, Abdecker unserer selbst und unserer Traditionen:

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Wir sind die großen Altersschwachen, Urträume drücken uns zu Boden, nie mehr bringen wir Utopien zuwege, wir sind Techniker der Müdigkeiten, Totengräber der Zukunft... Der Baum des Lebens — er geht keinem neuen Frühling entgegen: sein Stamm ist verdorrt; man wird aus ihm Särge zimmern für unsere Knochen, Träume und Schmerzen. Unser Fleisch hat den Gestank der schönen Kadaver geerbt, die über die Jahrtausende hin verstreut liegen. Ihr Ruhmesglanz bestrickt uns: wir haben ihn ausgekostet bis zur Neige.

Auf den Friedhöfen des Geistes ruhen Prinzipien und Formeln: das Schöne wurde definiert — es liegt hier begraben. Und ebenso das Wahre, das Gute, das Wissen und die Götter. Sie alle verwesen hier. ... Und über einer Unzahl von Grabplatten, unter denen Delirien und Hypothesen ruhen, erhebt sich das Mausoleum des Absoluten: hier sind die falschen Tröstungen bestattet und die trügerischen Höhenflüge der Seele. 
(Cioran 1978: 149)  

Aber, so die zweite Folgerung, unsere Agonie und Selbstzerfleischung geschieht bei klarem Verstand, nicht unter der Fuchtel von Instinkten oder hinter der Nebelwand verminderter Zurechnungsfähigkeit, und darin liegen Chance und Fluch zugleich. Fluch, weil das Untier nicht umhin kann, einzusehen, daß es einen »biologischen Skandal« (ebd.: 109), »eine Abschweifung, eine Häresie« (Cioran 1972: 13) darstellt und daß seine Suche nach dem Gral des Glücks, dem Neuen Jerusalem, dem irdischen Garten Eden immer nur neue Verwüstungen anrichten, neue Höllen öffnen, die bittere Wahrheit aufs neue bestätigen konnte:

»Das Paradies ist die Abwesenheit des Menschen.« (Ebd.: 84) Chance, weil die Vernunft realisiert, daß die menschliche Existenz doch nur einen Sonderfall des Organischen bildet, von dem ganz allgemein gilt:

Leben ist ein tragischer Aufstand im Innern des Anorganischen, Leben ist die beseelte und, so muß man wohl sagen, durch Leiden aufgeriebene Materie. Einen Ausweg aus soviel Betriebsamkeit, soviel Dynamik und Tätigkeitsdrang findet man nur, indem man die Ruhe des Anorganischen anstrebt, den Frieden im Schoß der Elemente. Der Wille zur Materie zurückzukehren, bildet den eigentlichen Grund der Todessehnsucht.
(ebd.: 91).  

Dieser Drang ins Anorganische, Kristalline, Mineralische, ins Unbewegte ist — wie aus der Beschäftigung mit der großartigen Intuition Freuds erinnerlich — der gesamten Biosphäre eigen, seine Unterbindung und Blockade Ursache des gepeinigt zuckenden, ewig blutenden Fleisches, das den Planeten bedeckt:

Alles steuert der Häßlichkeit und dem Gangrän entgegen: dieser Erdball — er eitert und die Lebenden stellen dabei ihre Wunden zur Schau, auf die die Strahlen des Leuchtgeschwürs herabfallen.
(Cioran 1978: 159).  

Das Untier aber, das die Ubiquität des Leidens begreift, kann daraus einen unausgesprochenen Auftrag, die Aufforderung, nicht nur für die eigene Gattung, sondern für alles Vitale zu handeln, ableiten. Und es hat die Macht, dem allseitigen Anrufe stummer Qual zu entsprechen und dieser Brueghel-Welt, dieser Senkgrube der Schöpfung, dieser um ihre Achse rotierenden Folterkammer ein erlösendes Ende zu bereiten, so wie die aufgehende Sonne die Schrecknisse und Ängste der Nacht in Nichts zerstrahlt — denn generös war die Zerstörungswut des Menschen von Anbeginn, und er rast gegen alle Welt:

Unter der Einwirkung dieses Bewußtseins ... gelangt der Mensch zu seinem höchsten Vorrecht; dem Vorrecht, zugrunde zu gehen. — Von Natur zu ihrem Ehrenkranken auserkoren, schwächt er ihre Kraft... er zerstört sie ... Nur auf den Trümmern der Elemente vermochte er zur Vollendung zu gelangen — und den Abhang hinabzusteigen. Nun ist sein Werk vollbracht, er ist reif zum Verschwinden. 
(ebd.: 117)  

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Cioran bei detopia     www.detopia.de       ^^^^     Literatur   

Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)