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1.  Über die Verlorenheit - Eine heillose Predigt

       Ulrich Horstmann am 1. Januar 1989 in Lübeck-Kirche

Horstmann 1987 Audio 

 

9-18

Wer von der Verlorenheit predigen will, der sollte bei den Abgeschriebenen und Vergessenen in die Lehre gehen, auf ihre unseligen Einflüsterungen achtgeben, jenen dünnen Stimmchen sein Ohr leihen, die aus ihrem Nirgendwo ein ganz befremdliches Evangelium übermitteln.

 

        

Und endlich bring' ich euch die gute Kunde, 
bezeugt von dem, was ist, zu jeder Stunde,
    die frohe Botschaft, die euch helfen soll:

Es ist kein Gott — uns quält kein Teufel dieses Namens, 
der uns erschuf zum Zweck geheuchelten Erbarmens
    und dem vor Arglist schier die Galle überquoll.

Nur kurzes Erdendasein ist uns aufgeladen, 
den Grabesfrieden sichern Wurm und Maden;
     wir schlafen ein und werden nie mehr wach;

von uns bleibt nichts, das unverweslich wäre, 
vielmehr zerfällt des Leibes Erdenschwere 
      und mischt sich neu zu Pflanzen, Tieren - tausendfach. 

So geht's vorbei, und unser elendes Geschlecht 
verschwindet einst und überläßt in dem Geflecht
      des Lebens seinen Platz bald selber ausgewischten Wesen;

Äonen hatten niemals von dem Menschen Kunde, 
Äonen geh'n ins Land nach unserer Stunde,
    auf Mammutknochen kann man unser Schicksal lesen.

Im Weltall steckt kein Segen, steckt kein Fluchen, 
als gut und böse läßt sich nichts verbuchen,
   es ist, wie's muß, ohne die kleinste Wahl;

ein tiefer Abgrund unserm Sinnverlangen, 
das Antwort sucht und doch von Nacht umfangen
   nur irre träumt von seinem großen Baal.

 

Diese Verse sind 120 Jahre alt. Es handelt sich dabei um den 14. Gesang aus James Thomsons Melancholie­gedicht <Nachtstadt>, das in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts entstand. Als mich die Anfrage erreichte, ob ich als Schriftsteller in der St. Petri Kirche zu Lübeck predigen wolle, tauchte die von Thomson beschriebene Welt der Vergeblichkeiten wie von selbst vor mir auf, und damit war eigentlich mein Thema festgelegt, unsere Verlorenheit nämlich.

James Thomson* hat sie nicht nur literarisch zur Sprache gebracht, er hat sie am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Sein Name steht gleich auf zwei Verlust­listen, denn er zählt nicht nur zu den Opfern des Alkohols, der ihn mit 47 Jahren aus dem Leben spülte, auch die Literatur­geschichte hat ihn ohne viel Federlesens dem Vergessen überantwortet. 

* detopia-2008:  Ab Seite 115 ein Essay über den Dichter 

Hier ist nicht der Ort, das zu ändern. Hier ist der Ort, auf diese Unperson zu hören, die uns aus immer größer werdendem zeitlichen Abstand die Wahrheit über uns selbst sagt, die schon damals jenes Requiem auf das Geborgensein und Zufluchtfinden anstimmte, dessen schwermütige Melodie uns heute selbst durch das heftigste Mediengetöse verfolgt. 

Die <City of Dreadful Night>, die Nachtstadt der verlorenen Seelen, die Thomson bis in die letzten Winkel erforschte und beschrieb, ist längst keine phantastische Exklave mehr, sie ist unser aller Lebensraum. Denn ein großes, ein weltanschauliches Ausnüchtern macht uns zu schaffen, ein Sinnentzug sondergleichen. 

10/11

Vielleicht ist es die Musik, der dieses Verdunsten und Entweichen am wenigsten zusetzt und die allein weiter­klingt, wenn alles Melodiöse, die Getragenheit und der Zusammenklang aus der Wirklichkeit verschwunden sind. Deshalb habe ich mich eines solchen Immunen und Immuniseurs versichert, von dem sämtliche Stücke dieses Abends komponiert wurden. Es handelt sich - abwechslungshalber - um einen der ganz unvergessenen und unvergeßlichen Zeitgenossen Thomsons, um Antonin Dvorák.*

Dieser Name steht hier für die Musik einer heilen Welt, die gleichwohl keine Sekunde vergißt, daß sie in einer maroden ertönt. Voll ist sie von den Sirenen­klängen einer Versöhnung, die wir mit dem Leben bezahlen müßten, machten wir auch nur ansatzweise Ernst damit. Diese Musik weiß, daß das Paradies nicht für, sondern nur ohne den Menschen zu haben ist. Aber wie es klingt im Garten Eden, das weiß sie auch. Und gerade deshalb müssen wir sie im Ohr behalten über dem gurgelnden Sichentleeren der Welt. 

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Die Kirche, in der ich spreche, ist 1942 in einen solchen Vernichtungsstrudel geraten und nach einem Bombenangriff völlig ausgebrannt. Es war dies ein Akt der Barbarei, provoziert von Barbaren und von ihnen mit neuen Greueln vergolten. Der Feuersturm hat das Kircheninnere ausgeglüht, hat alles verzehrt, was ein Gotteshaus auszeichnet vor anderen Gebäuden. Eine Ruine, ein steinerner Torso blieb zurück, bis zur Unkenntlichkeit verwüstet, bis zur Unkenntlichkeit geläutert.

Möglicherweise ist das der Grund für die Selbstverständlichkeit, mit der ich der Einladung gefolgt bin. 

Ich fühle mich hier bestens aufgehoben, ein am Boden zerstörter Metaphysiker und ausgeglühter Christ, die bis zur Unkenntlichkeit verwüstete Ruine eines Gläubigen. Als Überrest findet man Zuflucht bei Überresten, Schutz in Häusern, die selbst kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Und daß wir beide wiederher­gerichtet, erneut vorzeigbar gemacht, saniert und restauriert worden sind, macht die Seelenverwandt­schaft nur noch enger. 

Denn die Leere, die aus der völligen Zerstörung des einstigen Innenlebens resultiert, kann man in Gebäuden zwar wieder vollstellen, was hier, dem Himmel sei Dank, nicht oder noch nicht passiert ist. Und man kann analog die seelische Evakuierung mit allerlei Bildungsflitter und großformatigen Sinnattrappen verkleiden. 

In beiden Fällen begibt man sich aber des Gewinns, den der verfluchte Segen und segensreiche Fluch eines unwieder­bringlichen Verlusts abwirft, zerstört den Hall, das Nachklingen, die spürbare Anwesenheit des Nicht-mehr-Vorhandenen, verschließt sich der Botschaft <aus der Neuen Welt>, die schon bei Dvorák nur der versunkenen alten abzulauschen war.

 *detopia-2013:  wikipedia Dvorak  (1841-1904 in Prag) kleiner Umweg wegen der "böhmischen Buchstaben" im Namen

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Das Verlorene, das wir vielleicht niemals besaßen, lebt in Trümmerfeldern, im Schonraum des Wüsten; alles Ärmelaufkrempeln und Zupacken verscheucht es wie ein verängstigtes Tier, und nur die Ohnmacht kann es in aller Ruhe studieren

Wann haben wir uns den Luxus der eingestandenen Hilflosigkeit zum letztenmal geleistet? Wann die Hände sinken lassen? Wann das Programm nicht durchgezogen, die Sache nicht abgewickelt, das Projekt nicht realisiert? 

Lange her? Könnte es nicht sein, daß uns gerade die ununterbrochene Kette unserer Erfolge fesselt und zunehmend in Bewegungs- und Empfindungslosigkeit erstarren läßt? Ist es nicht möglich, daß unsere Kompetenz, unser prometheisches Alleskönnertum, uns einmauert, abkapselt und vielleicht endkatastrophal scheitern läßt, weil es doch gelacht wäre, wenn der Homo faber nicht auch das Kunststück fertigbrächte, das sogenannte menschliche Versagen mit Stumpf und Stiel auszurotten?

Sie merken schon, daß ich bei meinem Annäherungsversuch nicht mit der Verlorenheit zu hadern gedenke, sondern sie eher umwerbe, und zwar deshalb, weil der allerschlimmste Verlust, der uns treffen könnte, der wäre, keinen Verlusterfahrungen mehr ausgesetzt zu sein. Nur in der Hölle ist alles heil und intakt, funktioniert alles verschleiß-, wartungs- und störungsfrei, gibt es keinen Gegenstand, der nicht gnadenlos durchoptimiert wäre. Nur dort vermißt man nichts, aber auch gar nichts, wie immer man sein Hirn zermartert; und eben deshalb ist die Tortur grenzenlos.

In dieser Kirche liegen die Dinge andersherum. Sie ist zwar keine Ruine mehr, aber vermissen tut man eine ganze Menge; manche würden vielleicht sogar sagen: das meiste und das wichtigste. Und deshalb ist sie zwar nicht gerade das Gegenteil der Hölle, nämlich ein Himmel auf Erden, aber doch so etwas wie eine Freistatt des Verlorenen — ein mittels der List der Tünche gerettetes Asyl. Hier entdecken metaphysische Habenichtse wie ich einen der seltenen Brückenköpfe des Ausgelöschten, eine Insel des Kargen und Unfertigen inmitten des Ozeans unserer Habseligkeiten und seiner erbaulich erstarrten Betonfluten. 

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In einem solchen Anderswo — und das wird man mir hoffentlich vergeben — kommt einen Gottlosen die Lust an, zu predigen, wird in ihm das Bedürfnis wach, sich Rechenschaft abzulegen über seine spirituelle Mangelsituation, sein transzendentes Defizit, die religiöse Leerstelle, die er selbst ganz und gar nicht als Behinderung oder Strafe, sondern als Gnade empfindet.

Als Gnade — ich weiß, was ich den meisten mit diesem Wort zumute, aber ich benutze es doch, wobei ich genausowenig zu billigen Blasphemien aufgelegt bin wie mein Vorredner aus der Nachtstadt Thomsons. Wir wollen die Verlorenheit nicht mit Verlogenheit gesellschaftsfähig machen. Und deshalb muß noch etwas Anstößigeres heraus, nämlich mein Glaubensbekenntnis, daß auch ein Atheist in Frieden mit Gott leben kann und daß die Unseligkeit viele der Vorzüge besitzt, die man früher gewöhnlich in Abrahams Schoß vermutete. 

Der HERR schuf den Gottlosen nach seinem Bilde, nach seinem Bilde schuf er ihn, denn auch der Demiurg hat den Glauben an sich selbst verloren, seit ihm die Krone der Schöpfung auf so unfaßbare Weise entglitt und ihm sein Statthalter auf Erden nach Herzenslust vorzuführen begann, was in ihm steckt.

Und was war das? Ein göttlicher Funke? Oder ein infernalischer Haß auf alles, was da kreucht und fleugt? 

Ach, wenn sich das nur so sauber und mit den entsprechenden moralischen Vorzeichen auseinander­dividieren ließe. Der Funke war schon da; unsere Vorfahren haben ihn über Abertausende von Jahren gehegt, von Generation zu Generation weitergegeben, mühsam Zunder gesammelt und darum angehäuft, gehaucht, geblasen, gebetet — und jetzt knechtet den Menschen das so mühsam entfachte Feuer, versklavt ihn die Glut, und er ist dabei, einen ganzen Planeten zu verheizen, um die Kälte nicht wieder in den Gliedern zu spüren, die ihm zum Herzen kroch, und um die lauernde Angst zu vertreiben.

Denn wurde er nicht in eine Mördergrube hineingeboren, in der nur ein Gesetz galt: Töten, um nicht getötet zu werden, kaltmachen, was einen mit seinem stinkenden Raubtieratem anfallen wollte, sich bis an die Zähne rüsten gegen ein blindwütiges Verschlingen und Zerstören, gegen das Aus-dem-Leben-gerissen-werden, an dem einst die Dämonen schuld waren und für das heute Viren, Bakterien oder genetische Defekte geradestehen müssen?

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Was blieb uns denn anderes übrig, als dieser Hölle mit der zugleich herrlichsten und verheerendsten aller Waffen entgegenzutreten, mit der wir uns selbst­hypnotisch unverwundbar machen und zugleich alles Erbarmen abstreifen konnten: mit der Vision des neuen Gartens Eden nämlich, dem eisernen Willen zur Fabrikation des Paradieses und zur Humanisierung der Natur? 

Jawohl, wir haben dabei den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben, wie das dem Strickmuster einer Welt entspricht, von der ein weniger verblendeter Urheber hätte einsehen müssen, daß sie alles andere als makellos war. 

Jawohl, wir - die wir vergehen »wie Rauch von starken Winden« - haben den Spieß umgedreht. 

Gegen eine Weltunvernunft, die uns überzog mit Hungers­nöten, Pestepidemien und Schuldkomplexen, haben wir angedacht, angeforscht, anexperimentiert. Und endlich begriffen, wie man den wissen­schaft­lichen Geist aus der Flasche befreit und wie man ihn auf beliebige Opfer hetzt. Wir mußten sie loslassen auf die Wirklichkeit, diese Furie des Verschwindens, um uns selbst vor der Auflösung zu schützen. 

Fressen oder gefressen werden — das Gesetz des Dschungels hat auch die Zivilisation gestiftet, diesen Urwald unserer Wünsche, Begierden und wildwuchernden Hoffnungen. Und es ist das aus uns selbst aufgeschossene Dickicht, in dem der große Mechaniker, Pflanzenzüchter und Tierbändiger, der Medizinmann und Möchtegern-Heiland Erdenkloß sich immer hoffnungsloser verrennt und verirrt.

Aus dem Blickwinkel der Opfer sind alle unsere Utopien ohnedies nur verkleidete Ausrottungs­verheißungen gewesen. 

Denn das gelobte Land, das sie beschrieben, war stets schon bevölkert und mußte erobert und freigekämpft werden. Sattsein bedeutete so: den Nahrungs­konkurrenten ausmerzen, den Boden urbar machen, roden, trockenlegen und alles Widersetzliche als Unkraut, Schädling, Unzeug vertilgen. Die schöne neue Welt der verläßlich gefüllten Bäuche wurde mit Weltuntergängen bezahlt, und sie wird es weiterhin.

Überhaupt haben wir die Kosten unserer Fortschritte regelmäßig auf das Nichtmenschliche abzuwälzen verstanden, das wir mit dem Unmenschlichen in einen Topf warfen. Und diese Kosten sind explodiert. Satt an die Scholle gefesselt zu sein ist heute keine Utopie mehr, sondern ein Alptraum. Die Bäuche wollen Bewegung, die Bäuche wollen in die Sonne transportiert werden, die Bäuche wollen gekitzelt sein, und zwar von innen und außen. Handel und Wandel, Konsum, Lebensqualität, Freizeit, Unterhaltung, Traumreisen — alles per Kreditkarte, alles abzubuchen vom Konto von Mutter Natur. 

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Ach ja, und ganz oben auf der Wunschliste der neue heilige Gral, zusammengestückelt aus lauter Mikrochips, das elektronische »Glück von Edenhall«. Denn berechnend, wie wir sind, erscheint uns die Rechnerei längst schon als Zumutung, und die Propheten der künstlichen Intelligenz werden uns über kurz oder lang enthüllen, daß das Denken eine ebenso menschenunwürdige Beschäftigung darstellt wie das Hungern, und uns auch diese Last von den Schultern nehmen.

Worauf ich polemisch hinauswill? 

Auf die schlichte Einsicht, daß die Strategie der Kostenabwälzung, mit der wir unsere skrupellose Bereicherung zu finanzieren gedachten, nicht mehr funktioniert, nie funktioniert hat. Das Kulturwesen Mensch bleibt immer ein Stück jener Natur, die die Zeche bezahlt.

Ungeschminkter noch: 

Er bleibt ihr Schuldner, wobei die Gläubigerin, das Ökosystem, sich keineswegs als mitfühlend und großzügig erweist, vergibt und vergißt und den verlorenen Sohn huldvoll wieder aufnimmt, sobald er sich zur Umkehr entschlossen hat. 

Vielmehr handelt dieses System wie ein Kredithai, indem es die Außenstände nicht nur auf Heller und Pfennig eintreibt, sondern auch noch Zins und Zinseszins von unseren Kindern und Kindeskindern erpreßt.

Schon sitzen wir bettelarm in Hülle und Fülle. Die Tiere und Pflanzen, die früher — auf uns jetzt märchen­haft dünkende Weise — mit uns redeten und verkehrten, haben längst allen Kontakt abgebrochen. Die Wälder sterben lieber, als uns zuzuraunen. Die Luft und das Wasser erwehren sich unser mit schleichenden Giften. Der letzte Gott, der noch zu uns hielt und den wir zum Dank den Allmächtigen tauften, läßt sich verleugnen. Die Götzen stürzen von ihren Altären, kaum daß wir sie mit immensen Kosten installiert und mit selbst­mörder­ischem Werbeaufwand populär gemacht haben. 

Alle guten Geister haben uns verlassen, und selbst die Erinnerungen zersetzen sich und zerfallen wie das Buchpapier in den Bibliotheken. 

Wer Augen hat zu sehen, wer Ohren hat zu hören, der muß unsere Welt verloren geben.

Der Augenblick, in dem eben dies geschieht, ist vielleicht der bedeutsamste der Menschheitsgeschichte, die wahre Apokalypse; denn Apokalypse heißt <Enthüllung>, und mit unserer Bankrotterklärung leisten wir den Offenbarungseid.

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Zum ersten und einzigen Mal haben wir uns ganz durchschaut, sehen wir uns so, wie wir waren und wie wir sind: Verwüster unserer selbst und unseres Planeten, eine furchtbare Geißel, ein evolutions­geschichtlicher Spuk, der so schnell verschwinden wird, wie er kam, eine Rotte heilssüchtiger Berserker, hilflos den eigenen Hirngespinsten ausgeliefert, die ihnen immer noch vorgaukelten, sie legten die Fundamente des neuen Jerusalem, als sie schon ihr eigenes Grab schaufelten.

Zu dieser Selbsterkenntnis gehört aber auch die Einsicht, daß wir keine Chance hatten. 

Wir sind Bestand­teile eines Perpetuum mobile, das mit Blut läuft; Produkte und Opfer einer ganz und gar unparadiesischen Maschinerie. Und das Handicap, uns mit diesem Schicksal nicht abfinden zu können, hat uns zu tragisch-grotesker Selbstüberforderung verleitet. 

Als manische Weltverbesserer kannten wir nur die Alternative zwischen Vernichten und Versklaven, zwischen der lebenslänglichen Aufopferung für die gute Sache und dem Aus-dem-Wege-Räumen alles Widerspenstigen, wobei uns niemand nachsagen kann, wir hätten unseresgleichen geschont und dort mit zweierlei Maß gemessen, wo es sich bei der Opposition nicht um Sachen oder Mitgeschöpfe, sondern um Gattungsgenossen handelte.

Unsere Achillesferse war die Begeisterungsfähigkeit für hohe Ideale, derentwegen wir uns auf einen Rüstungs­wettlauf mit der Natur einließen, den wir eigentlich schon viel früher* hätten verlieren müssen. 

Ein paar hunderttausend Jahre Kampf sind kein Pappenstiel; aber der jetzige Kriegsschauplatz heißt Armageddon. Dort hängt das Signal zum großräumigen Angriff, zur Vernichtungsschlacht schon in der Luft. Drei, vier Atemzüge vielleicht, dann werden sie ertönen, die Posaunen jenes Jüngsten Gerichts, das das Restrisiko unseres eigenen Erfindungsreichtums über uns hereinbrechen läßt. 

Noch aber herrscht die Ruhe vor dem Sturm, eine köstliche Verhaltenheit angesichts der Katastrophe. Alles ist von einer wehmütigen, fast schwebenden Präsenz; die Fernsicht ist ungeheuer.

In solchen Augenblicken möchte der alte Adam sich entschuldigen bei aller Welt, das grundsätzliche Mißver­ständnis aufklären, sich verbrüdern. Nicht aus Angst vor dem Unabwendbaren, sondern weil er wie verzaubert ist durch diese flüchtige Kristallisation, gebannt von jenem anmutigen und ungezwungenen Stilleben vor der schwarzen Wand des Vorüber. 

Ganz unverhofft und für ein paar Herzschläge ist Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, weil sie sich an die Dinge und in den Dingen verloren haben. Und doch hatten sie nichts dazu zu tun, als inne­zuhalten und die Hände in den Schoß zu legen. Darin übte man sich früher in Kirchen wie dieser hier und nannte es Andacht.

Mag sein, daß wir diese Fähigkeit immer nur dann zurückgewinnen, wenn wir mit unserem Latein am Ende sind. 

Mag sein, daß der Medientropf dieses Mal die meisten ohne klare und andächtige Momente hinüberdämmern läßt.

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Wie es auch ausgehen wird, eins jener Selbstporträts, die wir der Nachwelt übereignen, wird immerhin besinnlich - wird ein Stilleben - sein. 
Ich weiß das so genau, weil es schon existiert: 

 

 

 

 

Sie alle hier haben teils verwundert, teils gelassen verfolgt, was sich dort über Ihren Köpfen zusammenfügt, und ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig: Was Sie dort sehen, ist gleichsam unsere Totenmaske, die uns um Äonen überdauern wird. 

Lächerlich kurz ist die Überlebensspanne von Pyramiden, Höhlen­zeichnungen und Menhiren* gegen die Ewigkeit dieses Artefakts, das wir als Flaschenpost einer Verlorenheit überant­wortet haben, von der sich keine Menschenseele einen Begriff machen kann. 

Die hier reproduzierte Plakette befindet sich an Bord der Raumsonde Pioneer-10, die 1972 gestartet wurde, 1973 den Jupiter, 1983 die Neptunbahn passierte und jetzt durch den interstellaren Raum auf die Sonne Aldebaran im Sternbild des Stiers zusteuert, die sie in zwei Millionen Jahren erreichen dürfte. 

So lange also wird sich das Abbild zweier Menschen durch die kosmische Leere bewegen, wird der Mann in das Nichts hinausgrüßen, die Frau ihm stand­haft entgegenblicken. 

Und so lange existiert ein Partikel jener versunkenen Welt, deren Bodenlosigkeit Antonin Dvorák überspielte und deren Schönheit die Gegenstimme des 104. Psalms* - die hier in einem diesem Gotteshaus das letzte Wort haben soll - in so vielen Andachten vergeblich beschwor.

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*detopia-2013: 

Ich würde gerne besser verstehen, was der Autor damit genau meint, mit: "früher verlieren müssen". - "müssen" ist hier unklar, ob Horstmann "sollen" meint. (damit wir dann eine Chance gehabt hätten; um eine echte Länger-lebens-chance zu haben; also dass wir es nicht solange schaffen, die "Nebenwirkung" der Naturzerstörung auszugleichen/zu überdecken; etwa: die Ausrottung der Flussfische durch Hochseefischerei; usw.)

Oder aber anders, nämlich dass die Naturzerstörung schon früher (viel? wieviel?) so groß war, dass wir heute nur durch glückliche Zufälle noch leben. (??) Also etwa wir in einer Schlacht, wo der eine Gegner militärisch stärker war, aber ein Seuche die Kämpfer lähmte, so dass der Schwächere letztendlich "gewann". - Oder wie David gegen Goliath. (Also der, der eigentlich gewinnen müßte (also Goliath), der hat dann aber doch nicht gewonnen.)

wikipedia / Menhir  Hinkelstein, meist in Europa, künstlich aufgerichtete Großsteine, aus vorgeschichtlicher Zeit, sagen wir: aus der Steinzeit (Datierung ist schwer)

 

Plakette 1972 von Carl Sagan an Bord von Pioneer-10 (USA, 1972) 

Die Platten bestehen aus Aluminium und sind mit Gold beschichtet. Sie sind 23×15 (cm) groß und 1,3 mm dick. Die auffälligste Abbildung auf der Plakette sind ein Mann und eine Frau. Im Hintergrund ist im gleichen Maßstab die Silhouette der Pioneer-Sonde zu sehen. 
Links daneben ist die Position der Erde in Relation zu 14 Pulsaren und zum Zentrum der Milchstraße kodiert. Unten befindet sich eine Darstellung unseres Sonnensystems und die Reiseroute der Raumsonde darin. Links oben findet sich die Darstellung eines Hyper­fein­struktur­überganges des Wasserstoffatomes. 
Eine ähnliche Botschaft steckt in den 1977 gestarteten Sonden Voyager 1 und 2 in Form der goldenen Sounds-of-Earth-Schallplatten. 

wikipedia  Pioneer-Plakette  

wikipedia  Voyager_Golden_Record   

wikipedia  Pioneer_10  1972 gestartet; Letzter Kontakt: 2003 

heise.de  Flaschenpost  Position von Pioneer-10 im Jahr 2011

wikipedia  Pioneer_11  1973 gestartet; Letzter Kontakt: 1995 

wikipedia  Voyager_1  
1977 gestartet; Im Februar 1998 „überholte” Voyager 1 die Sonde Pioneer 10 und ist seitdem das am weitesten entfernte Objekt; Interstellarer Raum: August 2012; Letzter Kontakt: 2025; Zukunft: In etwa 40.000 Jahren wird Voyager 1 den Stern AC+79 3888 (Sternbild Giraffe) passieren.

wikipedia  Voyager_2  
1977 gestartet; Letzter Kontakt: 2025   

 

wikipedia / Psalm_104 

 

Gottes Lob aus der Schöpfung   (Ein Loblied auf den Schöpfer)   Luthertext - Einheitsübersetzung 1999, Seite 667-668 

 

1 Lobe den HERRN, meine Seele! HERR, mein Gott, du bist sehr herrlich; du bist schön und prächtig geschmückt. 

2 Licht ist dein Kleid, das du anhast; du breitest aus den Himmel wie einen Teppich; 

3 Du wölbest es oben mit Wasser; du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und gehst auf den Fittichen des Windes; 

4 der du machst Winde zu deinen Engeln und zu deinen Dienern Feuerflammen; 

5 der du das Erdreich gegründet hast auf seinem Boden, daß es bleibt immer und ewiglich. 

6 Mit der Tiefe deckst du es wie mit einem Kleide, und Wasser standen über den Bergen.

7 Aber von deinem Schelten flohen sie, von deinem Donner fuhren sie dahin. 

8 Die Berge gingen hoch hervor, und die Täler setzten sich herunter zum Ort, den du ihnen gegründet hast. 

9 Du hast eine Grenze gesetzt, darüber kommen sie nicht und dürfen nicht wiederum das Erdreich bedecken. 

10 Du läßt Brunnen quellen in den Gründen, daß die Wasser zwischen den Bergen hinfließen, 

11 daß alle Tiere auf dem Felde trinken und das Wild seinen Durst lösche.

12 An denselben sitzen die Vögel des Himmels und singen unter den Zweigen. 

13 Du feuchtest die Berge von obenher; du machst das Land voll Früchte, die du schaffest; 

14 du lässest Gras wachsen für das Vieh und Saat zu Nutz den Menschen, daß du Brot aus der Erde bringest, 

15 und daß der Wein erfreue des Menschen Herz, daß seine Gestalt schön werde vom Öl und das Brot des Menschen Herz stärke; 

16 daß die Bäume des HERRN voll Saft stehen, die Zedern Libanons, die er gepflanzt hat. 

17 Daselbst nisten die Vögel, und die Reiher wohnen auf den Tannen. 

18 Die hohen Berge sind der Gemsen Zuflucht, und die Steinklüfte der Kaninchen.

19 Du hast den Mond gemacht, das Jahr darnach zu teilen; die Sonne weiß ihren Niedergang. 

20 Du machst Finsternis, daß es Nacht wird; da regen sich alle wilden Tiere, 

21 die jungen Löwen, die da brüllen nach dem Raub und ihre Speise suchen von Gott. 

22 Wenn aber die Sonne aufgeht, heben sie sich davon und legen sich in ihre Höhlen. 

23 So geht dann der Mensch aus an seine Arbeit und an sein Ackerwerk bis an den Abend. 

24 HERR, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter.

25 Das Meer, das so groß und weit ist, da wimmelt's ohne Zahl, große und kleine Tiere. 

26 Daselbst gehen die Schiffe; da sind Walfische, die du gemacht hast, daß sie darin spielen. (Dort ziehen die Schiffe dahin, auch der Leviatan, den du geformt hast, um mit ihm zu spielen.)

27 Es wartet alles auf dich, daß du ihnen Speise gebest zu seiner Zeit. 

28 Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gut gesättigt. 

29 Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie; du nimmst weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder zu Staub. 

30 Du lässest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen, und du erneuest die Gestalt der Erde. 

31 Die Ehre des HERRN ist ewig; der HERR hat Wohlgefallen an seinen Werken. 

32 Er schaut die Erde an, so bebt sie; er rührt die Berge an, so rauchen sie. 

33 Ich will dem HERRN singen mein Leben lang und meinen Gott loben, solange ich bin.

34 Meine Rede müsse ihm wohl gefallen. Ich freue mich des HERRN.

35 Der Sünder müsse ein Ende werden auf Erden, und die Gottlosen nicht mehr sein.   (Doch die Sünder sollen von der Erde verschwinden und es sollen keine Frevler mehr da sein.)
    Lobe den HERRN, meine Seele! Halleluja!

 

 

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 Ansichten vom Großen Umsonst - Essays 1984-1990