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2. Der Narziß in der Menschenleere

    Wider eine ptolemäische Anthropologie

 Ärtzteblatt 1984  

 

 

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Ein auffälliges Merkmal des modernen Menschen ist seine Ich-Sucht und Eigenliebe, eine bis zur Selbst­anbetung sich steigernde Hochschätzung, die schon in der klassischen theologischen Definition der Gattung als <Krone der Schöpfung> angelegt war und die die Wissenschaft mit der Klassifikation ihres Betreibers als <Homo sapiens> keineswegs unterläuft oder in Frage stellt.

Allerdings hat eben dieser Homo sapiens historisch gesehen ein gut Teil seiner Weisheit darauf verwenden müssen, sich über die zahllosen Enttäuschungen seines Gattungsnarzißmus hinwegzutrösten und einen zunehmend unhaltbar werdenden naiven Anthropo­zentrismus auszutauschen gegen sublimere und deshalb auch schwerer zu durchschauende Formen der Selbstbespiegelung.

Beispielhaft für solche Ausweich- und Auffangmanöver ist der Zusammenbruch des ptolemäischen Weltbildes am Beginn der Neuzeit, die sogenannte <kopernikanische Wende> also. Diese Revolution, die die Erde aus dem Zentrum der Welt rückte und die sie später — am radikalsten bei Giordano Bruno — in einer virtuellen Unendlichkeit von Sonnen und Planetensystemen sich verlieren sah, war ein Schlag ins Gesicht der selbstverliebten Gewißheit, im Mittelpunkt der himmlischen Sphären zu leben und also das Wesen zu sein, um das sich alles dreht.

Diese später von Freud so genannte »kosmologische Enttäuschung« galt es im Anschluß an die Renaissance zu verarbeiten und, wenn möglich, vergessen zu machen. Und eben das gelang über die Entwicklung einer neuen, gleichsam autoerotischen philosophischen Perspektive, nämlich der des Humanismus, wie sie schon Pico della Mirandola — gleichsam im Vorgriff auf den Ideologiebedarf der folgenden Jahrhunderte — in seiner 1496 verfaßten Schrift <De dignitate hominis> skizziert.

Der Humanismus stellt im Kosmos des Geistes eben jenen in der realen Kosmologie abgewirtschafteten Ptolemismus wieder her, indem er den Menschen im Zentrum des Wissens inthronisiert und nach der später bei Alexander Pope kodifizierten Maxime verfährt: »The proper study of mankind is man« — also frei, alles eigentliche Wissen ist Wissen über den Menschen und dient somit seiner Selbsterkenntnis und, wie wir hinzufügen müssen, seinem Selbstgenuß.

Das anthropozentrische Apriori des Humanismus, das einem lädierten Selbstwertgefühl so nachhaltig über sein kopernikanisches Enttäuschungs­erlebnis hinweghalf, daß es noch heute als Zauberformel kultureller Identitätsstiftung in Gebrauch ist, wird nun ausgerechnet in einem Weltkontext aufgestellt, der durch nichts so eindeutig definiert ist wie durch seine unmenschlichen Dimensionen und Proportionen. Die Diskrepanz ist ungeheuerlich, die Paradoxie kaum mehr überbietbar. 

In einem beobachtbaren All, in dem auf jeden der heute lebenden Menschen größenordnungsmäßig nicht eine Sonne, sondern eine ganze Galaxie mit ihrerseits Milliarden von Sternen kommt, in einem solchen Kosmos insistiert der Humanismus unbeirrt auf seiner Nabelschau und redet sich ein, der Mensch sei das Telos der Evolution und der archimedische Punkt allen Nachdenkens.

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Und doch sind die Daten selbst durch die verzweifelte Behauptung eines »anthropischen Prinzips« nicht mehr zu disziplinieren und belegen das genaue Gegenteil, führen uns unmißverständlich vor Augen, daß das durch­gängige Merkmal des kosmischen Raums, der Tiefen des Alls, ja sogar unserer eigenen Erdgeschichte nicht die Gegenwart, sondern die Abwesenheit des Menschen ist und daß alle Forschung, die die unmittelbare Oberfläche unseres Planeten verläßt oder den Zeitraum der letzten drei oder vier Millionen Jahre transzendiert, in ein humanistisches Vakuum vorstößt.

Die Menschenleere erscheint also als die urtümliche Rahmenbedingung unserer Existenz, ist das, woraus wir aufgetaucht sind, und das, worin wir wieder verschwinden werden.

 

Solche realitätsgerechte und - wie ich es nenne - anthropofugale Sicht gilt es, in der Philosophie wiederzu­gewinnen. Und die Rekonstruktion eines Denkens, dem der Star des Anthropozentrismus gestochen ist, ist deshalb so dringlich und unaufschiebbar, weil allein diese so lange verschüttete menschen­flüchtige Perspektive heute die bitter nötige Orientierung und <Existenzerhellung> zu liefern vermag.

Wir leben in einer Endzeit, im Präapokalyptikum, in einer Phase möglicher Selbstauslöschung und der entsprechend hysterischen Reaktionen. Angesichts einer Menschheit, die sich anschickt, den Urzustand der Menschenleere wiederherzustellen, versagen die traditionellen Erklärungsmuster in eklatanter Weise, und der Humanismus kann nur noch <verstehen>, indem er die Sinnhaltigkeit dieser Revokation überhaupt in Abrede stellt oder sich auf eine hilflose Betriebs­unfall­metaphorik zurückzieht.

Derartige Unanfechtbarkeitseinbußen aber stärken ein Denken gegen den menschenfrommen Strich, das vorher unisono als pessimistisch, misanthropisch, antihumanistisch an den Pranger gestellt werden konnte, und die Orientierungskrise hat Philosophen wie E.M. Cioran auf den Plan gerufen, der das Paradies ohne Umschweife als »Abwesenheit des Menschen« definiert.

Vielleicht sind von den Pforten dieses Garten Eden, der uns so lange verschlossen und nur den Expeditionen anthropofugaler Spekulation zugänglich war, schon die Riegel zurückgeworfen. In den Silos nistet das Unheil, das allem Unheil ein Ende bereitet, und wir wären selbst schon jene letzten Menschen, die Ciorans Lehre vom Zerfall so wortgewaltig heraufbeschwört:

Wir sind die großen Altersschwachen ... Totengräber der Zukunft ... Unser Fleisch hat den Gestank der schönen Kadaver geerbt, die über Jahrtausende hin verstreut liegen. Ihr Ruhmesglanz bestrickt uns: wir haben ihn ausgekostet bis zur Neige. Auf den Friedhöfen des Geistes ruhen Prinzipien und Formeln: das Schöne wurde definiert — es liegt hier begraben. Und ebenso das Wahre, das Gute, das Wissen und die Götter. Sie alle verwesen hier. ... Und über einer Unzahl von Grabplatten, unter denen Delirien und Hypothesen ruhen, erhebt sich das Mausoleum des Absoluten: hier sind die falschen Tröstungen bestattet und die trügerischen Höhenflüge der Seele.  

Unsere ultimativen Höhenflüge werden denn auch seelenlos sein; sie folgen den ballistischen Kurven jener Waffen, mit denen der Krieg uns und sich selbst auslöscht. Dann ist die Ahnung Immanuel Kants, daß der ewige Frieden »auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung« geschlossen werde, Gewißheit geworden, dann hat das Morden ein Ende, dann beginnt, was war: die ewige Seligkeit des Versteinerten und der Steine.

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 Ansichten vom Großen Umsonst Essays 1984-1990