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3.

Faun und Faunenschnitt: 

 Plädoyer für eine Philosophie des Abschieds

Ulrich Horstmann 1984 im Wochenmagazin 'Profil', Österreich.

 

 

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Wie verhält man sich gegenüber Sterbenden? Es gibt offenbar zwei grundverschiedene, einander ausschließ­ende Möglichkeiten. 

Seit unserem Ausscheren aus dem Tierreich und der ersten großen Entdeckung des Untiers, der Entdeckung des Todes, haben wir uns als Sterbliche definieren müssen und uns mit der Unsterblichkeit der Gattung über das individuelle, das eigene Verenden hinwegtrösten gelernt. Das aber ist nicht länger möglich. Mit dem Durch(buch)stabieren des ABC der Massenvernichtung nach dem Zweiten Vorbereitungskrieg sind wir, wie Günther Anders einmal prägnant formuliert hat, vom genus mortalium, vom Geschlecht der Sterblichen also, zu einem genus mortale, einem sterblichen Geschlecht, geworden und leben im Angesicht des Gattungsexitus oder — biologisch gesagt — in Erwartung der Terminierung der menschlichen Keimbahn durch die gegenwärtig existenten Gattungs­exemplare selbst. 

Homo sapiens stirbt. Wie verhält man sich gegenüber einer sterbenden Spezies? Wie verhält man sich gegen­über der sterbenden Spezies, der man selbst angehört? Es gibt auch hier zwei grundverschiedene, einander ausschließende Möglichkeiten: 

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Ich halte die prämortale <Alles-wird-wieder-gut>-Therapie, den Weg in das selbstinduzierte Nichtwahrhaben­wollen für falsch und plädiere im folgenden für einen bewußten Tod, für ein Sterben, das uns das Abschied­nehmen von uns selbst und unserem Planeten erlaubt — und für eine Philosophie, die uns die Trennung erleichtert, die uns hilft, statt uns zu belügen, und deren Intentionen wir mit jenen drei Worten umreißen können, die der vor fast eineinhalb Jahrtausenden zum Tode verurteilte und im Kerker auf seine Hinrichtung wartende Boethius über sein letztes Manuskript setzte: <De consolatione philosophiae>, über den Trost der Philosophie. 

Die Wahrnehmung dieser Trostfunktion setzt ein Umdenken und eine Neuorientierung voraus, die sich in drei Schritten vollzieht, die ich zunächst nennen und dann ausführlicher erläutern möchte; nämlich:

1. Die Philosophie nimmt Abschied von der Macht.
2. Die Philosophie nimmt Abschied vom Menschen.
3. Die Philosophie nimmt Abschied von sich selbst.

detopia-2015:
profil.at 
 eine Art <Spiegel>: "Österreichs unabhängiges Nachrichtenmagazin".       wikipedia  Profil_Zeitschrift   
wikipedia  Boethius  *480 in Norditalien    wikipedia  Trost der Philosophie   
  wikipedia  Hans_Ebeling  *1939 in Braunschweig 

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  1. Abschied von der Macht 

 

Seit ihren griechischen Anfängen leidet die Philosophie unter Halluzinationen, unter der Wahnvorstellung, sie könne, sie müsse etwas ändern und verbessern. 

Und der Traum vom Philosophenkönigtum, vom Putsch des Denkens und der Denker, von der Transsubstantiation des Besserwissens ins Besser­machen ist ihr so lieb und teuer geworden, daß ein Plato selbst auf dem Sklavenmarkt von Aigina nicht aus ihm erwachen mochte, wo ihn der Potentat, dem er die Vorzüge des philosophischen Regierungsstils hatte nahebringen wollen, zum Verkauf feilbieten ließ.

Die Befreiungs- und Erlösungsanmaßungen von der <Politeia> bis zum <Kapital> sind in ihrer wohlmeinenden Welt­fremd­heit eine schwere Hypothek für jede situations­gerechte philosophische Analyse, eine Hypothek, die selbst angesichts der Menschheits­dämmerung mit immer neuen, immer groteskeren Selbst­über­forderungen vergrößert statt abgebaut wird. 

Als ein Beispiel für die Fortexistenz des spekulativen Machtdelirs — als eines unter vielen — zitiere ich eine Passage aus dem Band <Gelegentlich Subjekt> des in Paderborn lehrenden Philosophen Hans Ebeling, der in auswegloser Lage mit der folgenden hyperplatonischen Patentlösung aufwartet:

Allein mit ... [einer] Universalnorm als Regulativ allen Handelns läßt sich ein Vernunftstaat begründen und ausführen, der die tendenzielle Selbstaufhebung der Gattung jedenfalls tendenziell erneut aufhebt. Durchsetzen läßt sich dieser Vernunftstaat allein von der politisch gewordenen Philosophie selbst: also von Philosophen, die bereit sind, Macht zu übernehmen.

Diese Macht bedarf der transsubjektiven Kontrolle. 

Solche Kontrolle angesichts des totalen Drucks, den Holozid zu verhindern, ist nicht jederzeit, nämlich nicht binnen jeweils kürzester Zeit, die bei der Abwehr zur Verfügung steht, transsubjektiv gewährleistet. 

Deshalb kann die Macht legitim nur ausgeübt werden von jederzeit an das Gesetz der Vernunft Gebundenen [also von Philosophen]. Nur dann ist der Terror der ethischen Vernunft ein vernünftiger Schrecken. ... Der Vernunftstaat ist als Staat des vernünftigen Schreckens nur legitimierbar, wenn seine Agenten jederzeit widerwillig die Macht ausüben: in Kenntnis der Belanglosigkeit, <mächtig> zu sein.

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Die letzte Katastrophe, das Ende der Geschichte, ist folglich nach Ebeling allein abzuwenden durch eine erbarm­ungs­lose Erziehungs­diktatur, durch den Terror und die Schreckensherrschaft der an den philosophischen Seminaren ausgebildeten Denkkader, die — von Machtekel geschüttelt — die Universal­norm und die Friedensliebe in die Köpfe der Unbelehrbaren hineinfüsilieren.

Ich überlasse es dem Urteil der Leser, ob sie solche Einlassungen eher als naiv, obszön oder barbarisch einstufen; fest steht, daß sie symptomatisch sind für einen durch die Zeitläufe hysterisierten Humanismus, dem jedes Mittel — auch das der Kollaboration mit Gewalt und Willkür — recht ist, um das als unausdenkbar Perhorreszierte — und sei es um den Preis der Prostitution der Vernunft — nicht Wirklichkeit werden zu lassen.

 

Wenn die philosophische Reflexion dem Konkurs der Gattung Homo sapiens nicht mit dem Konkurs ihrer jahr­tausendealten Denk­anstrengungen zuvor­kommen will, muß sie den eigenen Macht- und Interventions­ansprüchen, deren Absurdität inzwischen offen zutage liegt, abschwören

Eine aufgeklärte Philosophie des Präapokalyptikums offeriert deshalb keine säkularen Hilfs- und Heilsangebote auf der Basis von rationalisierten oder sich — wie bei Ebeling — auf <Sachzwänge> berufenden Omnipotenz­phantasien, sie beginnt vielmehr mit dem Eingeständnis ihrer eigenen Ohnmacht.

Das selbstbewirkte Verschwinden des Untiers vom Antlitz dieses Planeten kann nichts und niemand auf Dauer verhindern: kein Gott, keine Vorsehung, keine Abschreckung und keine Philosophie. 

Wir sind hilflos, aber erst das Eingeständnis dieser Hilflosigkeit bringt das Denken vor seine Aufgabe. Und diese Aufgabe lautet: 

Wie werde ich philosophisch mit einem Ereignis fertig, das ich vorhersehen, aber nicht abwenden kann — und das nicht nur meinen, sondern den Tod aller, ein globales Sterben also, impliziert?

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Die Antwort kann nicht in noch so subtilen und hochreflektierten Verdrängungs­anstrengungen bestehen, mit denen ich mir oder einer Runde von Gleich­gesinnten einrede, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Vielmehr ergibt sie sich aus unseren Erfahrungen mit dem Unkontrollierbaren, die wir andernorts schon so lange haben sammeln müssen.

Wir werden — mit anderen Worten — mit einem unabwendbaren, unserem Zugriff entzogenen Zukünftigen allein auf die Weise zu Rande kommen können, die wir schon immer mit der spiegelbildlichen Form des über uns Hereinbrechenden, Unhandhabbaren und Katastrophalen zu Rande gekommen sind, das hinter uns liegt, mit dem Vergangenen also.

Auch das Vergangene ist nicht mehr zu ändern, so wie das Kommende nicht zu ändern ist. 

Wie leben wir mit unserer Ohnmacht gegenüber der Faktizität dessen, was nun einmal so geworden ist, wie es geworden ist? Nun, wir interpretieren. Wir verwandeln die Sperrigkeit, Kontingenz, das Verquere und Grauenvolle des Vergangenen in die Sequentialität, Folgerichtigkeit, Fortschritt­lichkeit, Heimeligkeit unserer Geschichte. Wir generieren Sinn, wo einst Sinnlosigkeit, Logik, wo Aberwitz, Vertrautheit, wo das Fremde oder Monströse herrschte. 

Geschichte bedeutet, wie Theodor Lessing formulierte, Sinngebung des Sinnlosen, sie ist ein Kunstprodukt, das Ergebnis unserer Fähigkeit, uns über das Unheil und das Unvorstellbare des Vergangenen hinwegzutrösten.

»Theorie ist das, was man macht, wenn nichts mehr zu machen ist«, sekundiert Odo Marquard, und Historiographie und Geschichts­philosophie liefern — so können wir hinzusetzen — in diesem Sinne Muster­beispiele theoretischer Kompetenz im Sinne erfolgreicher Kontigenzverarbeitung.

Nach dem Abschied von der Macht oder — genauer — von der Illusion der Geschichtsmächtigkeit, dem Wahn, man könne im letzten Augenblick doch noch das Ruder herumreißen, hat die Philosophie die Hände frei für ihre eigentliche Aufgabe. Diese Aufgabe besteht darin, die Techniken der Vergangenheits­bewältigung für die Aussöhnung mit dem Zukünftigen — dem angeblich <Unausdenkbaren> — zu nutzen. 

Da wir die Apokalypse nicht abwenden können, müssen wir lernen, sie als sinnvolles Ende zu interpretieren, ganz so wie wir vormals gelernt haben, die Katastrophe in Permanenz, unsere Gattungs­geschichte, als sinnvollen Anfang zu sehen. 

* (d-2015:)  T.Lessing bei detopia      wikipedia  Odo_Marquard  *1928 in Hinterpommern 

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  2. Abschied vom Menschen   

 

Die Philosophie im Präapokalyptikum verabschiedet den Menschen, indem sie den finalen Akt der Selbst­aufhebung als logisch, begründet und sinnvoll deutet. Sie kann diese tröstliche Interpretation aber nur dann vornehmen, wenn sie sich zuvor eines nichthumanistischen Standortes versichert; und das unterscheidet ihre Prämissen — bei Identität der Wirkungsabsichten — von den anthropozentrischen Grundlagen der Vergangen­heitsbewältigung.

Dem Humanismus ist der Mensch der Fixpunkt allen Denkens und Handelns; diese Doktrin basiert folglich auf einer autistischen Perspektive und zielt — zumindest tendenziell — auf Selbsterhöhung und Selbstver­götzung, auf die ewig verharmlosende weitere Aufstachelung der Dornenkrone der Schöpfung.

Naturgemäß ist aus einem derartigen Blickwinkel das Gattungsende nur als Inbegriff des Sinnlosen zu erleben, und das Verschwinden des Menschen wird von Humanisten entsprechend in grotesker Verzerrung der Proportionen zum <Weltuntergang> emporstilisiert.

Es ist von entscheidender Wichtigkeit, solche selbstverliebten und engstirnigen Wahrnehmungsmuster endlich zu überwinden und uns und unseresgleichen distanzierter zu betrachten, d.h. die Gattung gleichsam in den unverwandten Blick zu nehmen.

Ich nenne diese auf Abstand bedachte Sichtweise anthropofugal und möchte die Erkenntnisleistung mensch­en­flüchtiger Vernunft, die im übrigen uralt ist und sich in zahlreichen Weltschöpfungsmythen und Kata­klys­mus­phantasien nachweisen läßt, zumindest anhand zweier Repräsentanten aus der neueren Philo­sophie­geschichte verdeutlichen.

 

Als ersten wähle ich den französischen Aufklärer d'Holbach, der in seinem 1770 erschienenen <System der Natur> der humanistischen Apotheose des Menschen und seinen Ewigkeitsaspirationen entgegenhält: 

* (d-2015:)  Paul Holbach bei detopia 

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Welche Ungereimheit oder welche Inkonsequenz liegt denn in der Vorstellung, daß der Mensch, das Tier, der Fisch, der Vogel einst nicht mehr sein werden? Sind diese Geschöpfe denn für die Natur eine unerläßliche Notwendigkeit, und könnte sie ohne diese Geschöpfe ihren ewigen Gang nicht verfolgen? ...
Sonnen erlöschen und verkrusten, Planeten werden zerstört und zerstreuen sich in dem weiten Weltraum; andere Sonnen entzünden sich, neue Planeten bilden sich, um ihre Umdrehungen auszuführen oder um neue Bahnen zu beschreiben, und der Mensch, ein unendlich kleiner Teil des Erdballs, der in der unermeßlichen Weite nur ein unendlicher Punkt ist, glaubt, daß das Universum für ihn gemacht sei, bildet sich ein, daß er der Vertraute der Natur sein müsse, schmeichelt sich, ewig zu sein, und nennt sich König des Universums.  

Aus d'Holbachs Blickwinkel liegt im Untergang der Menschheit keinerlei »Ungereimtheit«, denn die Menschen­leere enthüllt sich als das Umfassende und Einbettende unseres Daseins. Sie ist nicht nur vorstellbar, sondern sie umgibt uns räumlich als das, was — wie wir in menschlichem Eigendünkel zu sagen pflegen — sonst noch da ist, sowie temporär als das, was vor uns war und aus dem wir aufgetaucht sind, und als das, was nach uns kommt und worin wir wieder verschwinden werden.

Somit gelangt die anthropofugale Vernunft zu der Einsicht, daß die Natur Äonen lang ohne den Menschen ausgekommen ist und dazu fraglos auch in Zukunft befähigt sein wird, nachdem Homo sapiens aus eigenem Antrieb und aus eigener Machtvollkommenheit den Urzustand der Menschenleere wieder­hergestellt hat.

Was philosophisch dergestalt ohne Schwierigkeiten und Aporien denk- und antizipierbar ist, braucht aber noch nicht wünschenswert zu sein. Um ihrer Trostfunktion gerecht zu werden, muß die anthropofugale Philosophie deshalb einen Schritt weitergehen und nicht nur die Denkbarkeit der Apokalypse, sondern ihre Sinnhaltigkeit demonstrieren. 

Sie kann das nur im Rekurs auf eine gewöhnlich als <Pessimismus> und <Misanthropie> verfemte Gegen- und Unterströmung neuzeitlichen Denkens von de Maistre über Schopenhauer, Eduard von Hartmann und Ludwig Klages bis zu Koestler, Foucault und Cioran.

Ich greife hier als zentrale Figur Arthur Schopenhauer heraus, der seinen Leser in kaum überbietbarer Luzidität jenen angeblich so gesunden Optimismus austreibt, auf dessen Nährboden jegliche Idolisierung des Menschen angewiesen bleibt: 

* (d-2015:) bei detopia:  A.Schopenhauer   E.Hartmann   L.Klages   A.Koestler   E.Cioran  

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Bald unsinniger Wahn, bald grübelnde Politik hetzt Millionen zu Kriegen aufeinander: dann muß Schweiß und Blut des großen Haufens fließen, die Einfälle Einzelner durchzusetzen, oder ihre Fehler abzubüßen. Im Frieden ist Industrie und Handel tätig, Erfindungen tun Wunder, Meere werden durchschifft, Leckereien aus allen Enden der Welt zusammengeholt, die Wellen verschlingen Tausende. 

Alles treibt, die einen sinnend, die anderen handelnd, der Tumult ist unbeschreiblich. — Aber der letzte Zweck von dem allen, was ist er? Ephemere und geplagte Individuen eine kurze Spanne Zeit hindurch zu erhalten, im glücklichsten Fall mit erträglicher Not und komparativer Schmerz­losigkeit, der aber auch sogleich die Langeweile aufpaßt; sodann die Fortpflanzung dieses Geschlechts und seines Treibens. 

Bei diesem offenbaren Mißverhältnis zwischen der Mühe und dem Lohn, erscheint uns der Wille zum Leben — objektiv genommen — als ein Tor, oder subjektiv, als ein Wahn, von welchem alles Lebende ergriffen, mit äußerster Anstrengung seiner Kräfte, auf etwas hinarbeitet, das keinen Wert hat.

Schopenhauers anthropofugaler Blick durchschaut die Glücksideologien und Utopien, mit deren Hilfe wir die Verluste, Niederlagen, Demütigungen zu vergessen, die Trostlosigkeit zu bannen suchen, die jenseits der Routinen auf uns lauert; denn hinter den potemkinschen Stellwänden der Lebenslust und Existenz­bejahung verfliegt die Trance, und der bacchantische Taumel verkehrt sich in Überdruß, Ekel, Resignation, mündet in Ent-Täuschung — aber damit auch in die Chance, nach all den Phantasmagorien und Hirngespinsten doch noch zur Vernunft zu kommen, zu einer ernüchterten Einsicht freilich, deren Summe Schopenhauer wiederum nicht schuldig bleibt:

Der Tod ist die große Zurechtweisung, welche der Wille zum Leben durch den Lauf der Natur erhält. Er ist die schmerzliche Lösung des Knotens, den die Zeugung mit Wollust geschürzt hatte, und die von außen eindringende, gewalt­same Zerstörung des Grundirrtums unseres Wesens. Wir sind im Grunde etwas, das nicht sein sollte: darum hören wir auf zu sein.  

Diese bitterste aller Wahrheiten — daß wir »im Grunde etwas sind, das nicht sein sollte« — ist immer noch verfemt.

* (d-2015:)   wiktionary  ephemer    nur für kurze Zeit bestehend, flüchtig, ohne bleibende Bedeutung  

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Daran haben die Massengräber nichts zu ändern vermocht, nicht die Hekatomben von erschlagenen, aufge­spießten, zerhackten, erschossenen, nieder­kartätschten, vom Bomben zerfetzten, vergasten, zerstrahlten oder sonstwie mit patridiotischem* Elan vom Leben zum Tode beförderten Gattungs­genossen, die endlosen Feldzüge, Gemetzel, Völkerschlachten und Ausrottungs­kampagnen nicht, die Vernichtungslager nicht und auch nicht die Feuerstürme in den Städten

O nein, dieses Wesen, das das Tierreich in einen Schlachthof verwandelt hat und die Flora entweder ausmerzt oder unter seine chemische Knute zwingt, das in Strömen eigenen und fremden Bluts zu waten gewohnt ist und sein Heimatrecht auf diesem Planeten längst verwirkt hat, dieses Wesen denkt gar nicht daran, sich in Frage stellen zu lassen, sondern wippt biped** auf den Hinterläufen und bestätigt sich, von Symposion zu Symposion eilend, seine Unverzicht­barkeit und eine unverwüstliche Humanität, die zu den schönsten Erwartungen Anlaß gebe.

Die anthropofugale Vernunft weiß es besser. Und allein die Tatsache, daß keine Hoffnung mehr ist, vermag sie hoffnungsfroh zu stimmen.

 (d-2013:)   * patriotisch-idiotisch?     ** biped : auf zwei Füßen 

 

 

   3. Abschied von der Philosophie   

 

Der Humanismus vertröstet uns auf das Reich der Freiheit und eine menschliche Zukunft, die nie anbricht; das anthropofugale Denken lehrt uns getröstet sterben. Der Untergang jenes Wesens, das sich selbst und seiner Umwelt zur Inkarnation des Leidens geworden ist, und die Wiederkunft der Menschenleere sind nicht abzuwenden, aber sie sind gleichwohl — wie sich gezeigt hat — philosophisch antizipier- und begreifbar.

Den Nachruf auf das Untier setzt die Philosophie noch zu dessen Lebzeiten auf, denn sie selbst wird sein Ende nicht überdauern. Ihr Abschied vom Menschen bedeutet deshalb zugleich auch immer schon den Abschied von sich selbst. Es ist dies das für sie schmerzhafteste Lebewohl, das Lebewohl des Nachdenkens an die Vernunft, der Vernunft an die Erinnerung, der Erinnerung an den Sinn, den sie bewahrte, nachdem jene ihn gezeugt und ausgebildet hatten.

Aber feiern wir in diesem bewußten Lebewohl nicht auch einen letzten, ja vielleicht unseren einzigen unbefleckten Triumph? 

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Ist es nicht zutiefst tröstlich, daß unser Geist weiter reicht, als es für die Bedürfnisse einer rein technolog­ischen Intelligenz und Kompetenz notwendig wäre, für die Entwicklung und den Bau jener Apparaturen also, mit denen wir einen Schlußstrich setzen unter die Aufrechnung sich fort- und fortzeugenden Leids?

Und ist es nicht eine Gnade und ein unverdientes Geschenk, daß wir mit einer Form der Vernunft begabt sind, die nicht nur sich selbst erkennt, sondern dieses Erkennen seinerseits wiederum zum Gegenstand der Erkenntnis machen kann und die darüber hinaus in einem Akt äußerster anthropofugaler Selbst­distanzierung noch einzusehen vermag, daß ihr Verlöschen sinnvoller und vernünftiger wäre als die ihr von Eigenliebe und Eigendünkel angetragene Unsterblichkeit?

Die letzte Philosophie — ohnmächtig, menschenflüchtig, ephemer — verabschiedet das Untier, schenkt ihm reinen Wein ein in seiner Agonie, aber sie läßt es nicht im Stich. Sie spendet Trost, verabreicht das Morphium des Sinns, das allein uns das Ende erträglich macht, so wie es uns unsere Geschichte durchlebbar, durchleidbar machte.

Mehr noch: sie stirbt mit den Getrösteten. 

Das Land ihrer Verheißung, das Land Menschenleer, bleibt ihr verschlossen. Kein Mensch wird es jemals betreten, keine Botschaft aus der Nachgeschichte wird uns jemals erreichen. 

Der Umschlag der Apokalypse, der äußersten Anti-Utopie des Humanismus, in den Steingarten Eden und damit die äußerste Utopie der anthropofugalen Vernunft, ist realiter nicht mehr erlebbar. Auch hier stößt Philosophie an ihre Grenze und auf ihre Ohnmacht. Wo ihre Wirklichkeit endet, beginnt das Versprechen, wo sie verstummt, kann nur noch eines reden: die Poesie.

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* (d-2015:) 

Hier einige Covers des <österreichischen Spiegels> des Jahres 1984. Es ist scheinbar auch so, dass Horstmann in Österreich mehr Öffentlichkeit bekam als in Deutschland, wenn man auch an das lange Fernsehgespräch 1990/91 mit Robert Jungk denkt. Das müsste Nr. 20 mit Horstmann sein, aber das Jahr ist nicht deutlich zu sehen: 

 

       

 

 

       

 

    

 

   

 

 

    

 

 

    

 

 

 

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 Ansichten vom Großen Umsonst - Essays 1984-1990