Start    Weiter

8. Nach uns der Mythos! 

Ein Aufruf an seine Verächter, Vernunft anzunehmen

  

 

71-76

Mythen sind Schlüsselgeschichten, die uns Zutritt zu dem verschaffen, was uns als wirklich begegnet. Sie erklären, warum das, was war, so war, wie es war, warum das, was ist, so ist, wie es ist, warum das, was kommt, so sein wird, wie es sein wird. Sie deshalb für schöne oder unschöne, allemal aber überholte Tautologien zu halten, zeugt von eben jener Verblendung gegenüber grundlegenden Zusammenhängen, deren Folgen nicht nur die antiken Mythen in so grauenvollen Tableaus ausmalen.

Tableaus voll von prometheischen Zerfleischungen, Tantalusqualen, Sisyphusarbeiten, Kassandra-Verstockt­heiten, Pandora-Segnungen, die erklären, warum das, was war, nicht so war, wie es sein wollte*, warum das, was ist, anders ist, als es sein müßte, warum das, was kommt, nicht mehr werden kann.

Man sieht, der Mythos ist ein Verwandlungskünstler, ein Proteus, der ja seinerseits ein Mythos ist. Es gibt nichts, was außerhalb der Reichweite mythischer Geschichten läge, der Mythos vom Jenseits des Mythos eingeschlossen. Dieser Mythos nennt sich Aufklärung oder wissenschaftliche Rationalität. Er gibt sich ein bißchen intolerant und hält sich für etwas Besseres, hat aber, das muß man ihm lassen, ein paar Jahrhunderte lang prächtige Geschichten erzählt, von der großen Maschine, vom Fortschritt, von der Gleichheit, vom Wissen, vom Ende des Mythos.

Jetzt ist er selbst mit seinem Latein am Ende und muß mitanhören, wie andere Stimmen laut werden, muß erkennen, daß hinter seinem Rücken länger schon Geschichten über ihn die Runde gemacht haben — vielleicht von Anfang an. Darin heißt er nicht Wissenschaft, sondern Faust oder Frankenstein, und das fortschrittliche Vehikel, mit dem er ruhigere Gewässer erreichen wollte, trägt seit jener Mondnacht auf aalglatter See am Bug unübersehbar den Schriftzug Titanic.

Als die Titanic unterging, wurde ihr Mythos unsinkbar. Als der Mythos Aufklärung seinen Nimbus verlor, begann die Vernunft, wieder Vernunft anzunehmen.

Soweit mein unbeholfener Versuch, mythologisch über den Mythos zu sprechen. Dieses Reden müssen wir erst wieder lernen, stotternd und wie eine Fremdsprache. Als verlorene Söhne in der, ich weiß nicht wievielten Generation stehen wir sonst stumm vor dem, was uns empfängt.

Eine sehr brauchbare Vor- und Zungenübung ist in diesem Zusammenhang der Widerruf. Was also haben wir zu korrigieren, zurückzunehmen, durchzustreichen? Ich nenne in eher bunter Reihe — auch das eine der vergessenen mythischen Verlockungen — einige Punkte, genauer Mißverständnisse des Mythos, die auszuräumen wären. 

* (d-2006:)  So im Orig., es steht also nicht dort: "sein sollte":

72


Der Mythos ist nicht vor-, halb- oder widervernünftig, vielmehr steht er vor uns als die umfassende Erscheinungsform unserer Urvernunft. Im Aufleuchten seiner momentanen Evidenzen liegt der Keim aller Philosophie und Wissenschaft, und noch das »clare et distincte« des Descartes, jenes Vaters neuzeitlicher Rationalität, beruft sich auf das sinnstiftende Aha-Erlebnis von Schlüsselgeschichten.

Entsprechend aussichtslos bleibt das Auseinanderdividieren von Vernunft und mythischem Bewußtsein. Die Wissenschaft ist getragen vom Mythos der Aufklärung und des Fortschritts, und sie setzt selbst aus sich heraus Mythen frei, wie man an der modernen Kosmologie und Astrophysik studieren kann. Radioteleskope und gigantische Rechnerkapazitäten erzeugen hier — Geschichten. Geschichten von Roten Riesen und Weißen Zwergen, von Schwarzen Löchern und vom Urknall, wie sie ein Schamane am Lagerfeuer nicht spannender zum besten geben könnte. Und entsprechend fasziniert — die Auflagenzahlen populär­wissenschaftlicher <Summae> beweisen es — hört das Publikum immer noch zu.

Ebensowenig wie wissenschaftlich auszugrenzen ist der Mythos moralisch halbierbar. Es zeugt von Einäugigkeit, oder sagen wir — gegenstandsorientierter — von Hybris, nur einen <guten> oder einen <schlechten> Mythos gelten lassen zu wollen. Der Mythos hat Auschwitz ermöglicht und Lambarene, und beide überleben als Mythen.

Pascal hat einmal gesagt, der Mensch sei »ni ange, ni bete«, weder Engel noch Tier, und das Unglück wolle es, daß derjenige, der den Engel anstrebt, das Tier macht. So geht es auch beim Mythos, der übrigens die von Pascal bemühte Kategorie des <Unglücks> durch die des <Schicksals> ersetzen würde. Wer der Hydra Mythos die schwarzen Köpfe zugunsten der weißen abschlagen will, der sieht sich im Handumdrehen dem doppelten und dreifachen Nachwuchs gegenüber.

Mythen also lassen sich nicht aufklärerisch-szientifisch auflösen oder ethisch reglementieren. Widerstand, so er denn angezeigt ist, entkommt nicht der mythologischen Gravitation. Wie eine Religion nur durch eine andere Religion erfolgreich zu bekämpfen ist, so läßt sich ein Mythos, eine Schlüsselgeschichte, nur durch eine bessere Schlüsselgeschichte aus der Welt schaffen.

73


Wie das funktioniert, kann man vielleicht am ehesten an der Verdrängung des Perfektibilitäts- und Fort­schritts­mythos zeigen, den nach Condorcet ganze Heerscharen von Intellektuellen nach- und weitererzählt haben. Das ist vorbei, weil sich in dieser Gruppe eine neue Geschichte breitgemacht und durchgesetzt hat, die ebenso wie ihre Vorgängerin in tausend und abertausend Varianten existiert. Ich führe hier eine der prägnantesten an. Erzählt wird sie von dem amerikanischen Schriftsteller Kurt Vonnegut in seinem 1959 veröffentlichten Roman <The Sirens of Titan>:

 

Auf dem Planeten Tralfamadore gab es einmal Geschöpfe, die alles andere waren als Maschinen. Sie waren nicht zuverlässig. Sie waren nicht effizient. Ihr Verhalten war nicht vorhersehbar. Sie waren nicht dauerhaft. Und diese armen Kreaturen waren von der Idee besessen, daß alles, was existierte, einen Zweck haben müsse und daß einige Zwecke höher seien als andere.

Diese Geschöpfe verbrachten den Hauptteil ihrer Zeit mit dem Versuch herauszufinden, was ihr eigener Existenzzweck sei. Aber jedesmal, wenn sie einen Zweck gefunden hatten, schien er ihnen so niedrig, daß er sie mit Scham und Ekel erfüllte.

Und statt einem derart niedrigen Zweck zu dienen, bauten sie eine Maschine, die das für sie erledigte. Dadurch wurden die Geschöpfe in den Stand versetzt, sich höheren Zwecken zuzuwenden. Aber immer, wenn sie einen höheren Zweck fanden, schien er ihnen wieder nicht ausreichend.

Also bauten sie Maschinen für höhere Zwecke.

Und die Maschinen arbeiteten so ausgezeichnet, daß man ihnen schließlich die Aufgabe übertrug, herauszufinden, was der höchste Zweck ihrer Konstrukteure sei.

Und die Maschinen kamen zu dem ehrlichen Ergebnis, daß die Geschöpfe eigentlich gar keinen Existenzzweck besaßen. Daraufhin fingen die Geschöpfe an, sich gegenseitig umzubringen, weil sie nichts so sehr haßten wie zweckloses Zeug.

Und sie entdeckten, daß sie nicht einmal zum Umbringen taugten. Also delegierten sie auch diese Arbeit an Maschinen. Und die Maschinen beendeten ihre Aufgabe in weniger Zeit, als man braucht, um <Tralfamadore> zu sagen.

74


Aufschlußreich ist dieser neue Leitmythos der Gegenwart, der ein katastrophaler ist und gleichsam unter den Orchesterklängen im Ballsaal der Titanic von Mund zu Mund geht, aber noch aus einem anderen Grund. Er liefert nämlich eine Erklärung, den Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum das Schiff sinkt, welches Treibgut das Wunderwerk der Zivilisation über seine volle Länge aufgeschlitzt hat. Es ist das der zum Unsinn vereiste, eisbergige, driftende Mythos selbst, den niemand mehr wahrhaben will.

Das Projekt aufklärerischer Entmythologisierung scheitert an dem, was sich jetzt unter der Wasserober­fläche bewegt, d.h. an seiner eigenen uneingestandenen Mythenverfallenheit in Gestalt einer selbsthypnotischen Unsinkbarkeitsgarantie. Und auch dieses Paradox ist endzeitlich, apokalyptisch in des Wortes ureigenster Bedeutung. Offenbar wird ein Fatum, eine Nemesis, ein Verhängnis, eine Unverfügbarkeit von Welt, von der der Mythos nie müde geworden ist zu erzählen und die er bei Vonnegut noch in seinem und über sein Verlöschen bezeugt.

Weil uns Aufgeklärten der Sinn — und dieser Sinn ist der Inbegriff mythologischer Weltauslegung —, der Glaube an die Geschichten verloren­gegangen ist, weil wir in dem existentiellen Bedeutungsvakuum Geschichte vegetieren, das wir vergeblich mit wissenschaftlichen Ersatzwerten aufzufüllen suchen, eben deshalb gebiert sich in uns ein letzter, ein ultimativer Mythos, eine Schlüsselgeschichte vom unwiederbringlichen Verlust des Schlüssels, die Erzählung vom Ende aller Erzählungen und aller Erzähler.

Aber der Mythos wäre kein Proteus und hätte diese Figur nicht hervorgebracht, wenn er nicht auch seine eigene Apokalypse überredete.

Denn der Untergang der Erzähler und ihrer Geschichten ist nicht der Untergang des Erzählens. Die Vergangenheit, die Urzeit, die Vorgeschichte, alles das gilt traditionsgemäß als mythologisches Terrain; aber auch die Zukunft, in der wir keine Zukunft mehr haben, die Nachgeschichte also, ist es nicht minder.

Immer schon haben nicht wir, immer schon hat es in unseren Köpfen erzählt — hinterrücks, unverfügbar. Phantasie heißt der Souffleur, nein, die dämonische Stimme, die den einen zugrunde richtet, weil er schwerhörig ist, den anderen, weil er die Untertöne versteht.

Der Mythos ist nicht gut, der Mythos ist nicht böse; er ist übermächtig wie die Natur, die in ihm zu Worte kommt. Dem, der über ihn zu Gericht sitzen will, zerbricht er seine Gesetze; dem, der ihn wegvernünftelt, verwirrt sich der Verstand.

Bleibt nur zuzuhören, wie es erzählt in den Schädeln, erzählt von Schädeln, in denen nichts mehr erzählt, von Schädelstätten, von Wüsteneien, Trümmer­feldern, wastelands, über denen es brütet wie einst über den Wassern. Brütet und sich putzt und ab und an sorgsam unter sich das Weltenei wendet, in dem ganz neuen, ganz unerhörten, ganz menschenflüchtigen Geschichten die Eizähne wachsen.

75-76

#

 

  ^^^^

https://detopia.de

 Ansichten vom Großen Umsonst Essays 1984-1990