7. Gehirnwäsche / Pawlow
Von Aldous Huxley 1958
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In den zwei vorausgegangenen Kapiteln habe ich die Methoden dessen, was man Gehirnmanipulation im Großen nennen könnte, beschrieben, wie sie von dem größten Demagogen und den erfolgreichsten Verkaufskanonen, die der Geschichte bekannt sind, angewendet wurden.
Aber kein menschliches Problem läßt sich ausschließlich durch En-gros-Methoden lösen. Die Schrotflinte hat ihren Platz, aber den hat auch die Injektionsspritze. In den folgenden Kapiteln will ich einige der wirkungsvolleren Methoden beschreiben, nach welchen nicht Massen, nicht ein ganzes Publikum, sondern einzelne Individuen manipuliert werden.
Im Lauf seiner epochemachenden Versuche zu konditionierten Reflexen beobachtete Pawlow, daß Versuchstiere, wenn sie einer längeren physischen oder psychischen Belastungsprobe, auch stress genannt, unterworfen wurden, alle Symptome eines nervlichen Zusammenbruchs zeigten. Ihre Gehirne weigerten sich, noch weiter zu versuchen, mit einer unerträglichen Lage fertig zu werden, und begannen — sozusagen — zu streiken und hörten entweder ganz auf zu arbeiten (der Hund verlor das Bewußtsein), oder sie nahmen ihre Zuflucht zu passiver Resistenz und Sabotage (der Hund benahm sich unrealistisch oder entwickelte die Art von physischen Symptomen, die wir bei einem Menschen hysterische nennen würden).
Einige Tiere sind widerstandsfähiger gegen stress als andere. Hunde, die besitzen, was Pawlow eine »stark exzitable« Konstitution nennt, brechen schneller zusammen als Hunde von bloß »lebhaftem« (im Gegensatz zu einem cholerischen oder sehr aufgeregten) Temperament. Ebenso gelangen »schwach inhibitorische« Hunde viel früher ans Ende ihrer Kräfte als »gleichmütige, unerschütterliche« Hunde. Aber auch der stoischste Hund ist unfähig, unbegrenzt Widerstand zu leisten. Ist der stress, dem er unterworfen wird, genügend stark oder hält er genügend lange an, bricht er zuletzt so jämmerlich und so völlig zusammen wie der schwächste seiner Art. wikipedia Iwan_P._Pawlow 1849-1936
Pawlows Entdeckungen wurden auf die betrüblichste Weise und in sehr großem Maßstab während der zwei Weltkriege bestätigt. Als Ergebnis eines einzelnen katastrophalen Erlebnisses oder einer Folge von weniger entsetzlichen, aber häufig wiederholten Erschütterungen entwickeln Soldaten eine Anzahl sie untauglich machender psycho-physischer Symptome: zeitweilige Bewußtlosigkeit, äußerste Erregung, Lethargie, funktionale Blindheit oder Lähmung, völlig unrealistische Reaktionen auf den Reiz von Ereignissen, seltsame Umkehrungen lebenslang gewohnter Verhaltensweisen — all jene Symptome, die Pawlow an seinen Hunden beobachtete, tauchten unter den Opfern dessen wieder auf, was im Ersten Weltkrieg »Nervenerschütterung«, im Zweiten »Kampfmüdigkeit« genannt wurde.
Jeder Mensch wie jeder Hund hat seine eigene, individuelle Belastungsgrenze. Die meisten Männer erreichen diese Grenze unter den Verhältnissen moderner Kriegsführung nach ungefähr dreißig Tagen von mehr oder weniger beständigem stress. Die überdurchschnittlich Empfindlichen erliegen schon nach fünfzehn Tagen. Die überdurchschnittlich Zähen können fünfundvierzig oder sogar fünfzig Tage aushalten. Aber stark oder schwach, zuletzt brechen sie alle zusammen. Alle, heißt das, der anfänglich Gesunden.
Denn ironischerweise sind die einzigen, die den stress des modernen Kriegs unbegrenzt ertragen können, die Psychopathen. Individueller Wahnsinn ist immun gegen die Folgen kollektiven Wahnsinns.
Die Tatsache, daß jeder Mensch seine Belastungsgrenze hat, war längst bekannt und wurde auf eine grobe, unwissenschaftliche Weise seit undenklichen Zeiten ausgenutzt. In manchen Fällen ist »des Menschen gräßliche Unmenschlichkeit gegen den Menschen« von der Vorliebe für Grausamkeit um ihrer Gräßlichkeit und Faszination selbst willen inspiriert gewesen, öfter jedoch war reiner Sadismus mit Nützlichkeitserwägungen, theologischen Gründen oder der Staatsraison vermischt. Körperliche Folter und andere Formen von stress wurden von Juristen angewendet, um widerwilligen Zeugen die Zunge zu lösen; von Priestern, um Irrgläubige zu strafen und sie zu bewegen, ihre Meinungen zu ändern; von der Geheimpolizei, um von Personen, welche verdächtig waren, der Regierung feindlich gesinnt zu sein, Geständnisse zu erpressen.
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Unter Hitler wurde die Folter und später die Massenausrottung gegen jene biologischen Ketzer, die Juden, angewendet. Für einen jungen Nationalsozialisten war eine Pflichtreise durch die Vernichtungslager (um mit Himmler zu sprechen) »...die beste Belehrung über minderwertige Menschen und die untermenschlichen Rassen«. Da der Antisemitismus, den Hitler als junger Mann in den Armenvierteln von Wien aufgeschnappt hatte, einer Besessenheit gleichkam, war diese Erneuerung der vom heiligen Offizium gegen die Ketzer und Hexen angewendeten Methoden unvermeidlich.
Aber im Licht der Forschungsergebnisse Pawlows und der von Psychiatern bei der Behandlung von Kriegsneurosen gewonnenen Erkenntnisse erscheint der Antisemitismus als ein abscheulicher und grotesker Anachronismus. Verschiedene Arten von stress, die vollkommen ausreichen, um einen völligen zerebralen Zusammenbruch zu verursachen, können durch Methoden herbeigeführt werden, die zwar unmenschlich sind, aber doch nicht bis zu körperlicher Folter gehen.
Was immer in früheren Jahren geschehen sein mag, es scheint ziemlich gewiß zu sein, daß körperliche Folterung von der kommunistischen Polizei heute nicht mehr in großem Ausmaß angewendet wird. Sie holt sich ihre Inspiration nicht beim Inquisitor oder beim SS-Mann, sondern beim Physiologen und seinen methodisch konditionierten Versuchstieren. Für den Diktator und seine Polizei haben Pawlows Forschungsergebnisse wichtige praktische Konsequenzen.
Wenn das zentrale Nervensystem eines Hundes zum Zusammenbrechen gebracht werden kann, so auch das zentrale Nervensystem eines politischen Häftlings. Es handelt sich einfach darum, das richtige Maß von stress während der richtigen Dauer anzuwenden. Am Ende der Behandlung ist der Häftling dann in einem Zustand der Neurose oder Hysterie und wird bereit sein, zu gestehen, was immer die ihn gefangen Haltenden von ihm gestanden wissen wollen.
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Aber das Geständnis genügt nicht. Ein hoffnungsloser Neurotiker ist niemandem von Nutzen. Was der intelligente und praktische Diktator braucht, ist nicht ein Patient, welcher in eine Anstalt einzuweisen ist, oder ein Opfer, welches erschossen werden muß, sondern ein Bekehrter, welcher für die Sache des Diktators arbeiten will.
Er holt sich also abermals Rat bei Pawlow und erfährt, daß die Hunde auf dem Weg zum endgültigen Zusammenbruch übernormal beeinflußbar werden. Neue Verhaltensweisen können leicht eingebaut werden, während der Hund sich der Grenze seines zerebralen Ausharrens nähert oder sie schon erreicht hat, und diese neuen Verhaltensweisen scheinen untilgbar zu sein. Das Tier, dem sie eingepflanzt wurden, kann nicht wieder dekonditioniert werden. Was es unter stress gelernt hat, bleibt ein integraler Teil seiner Konstitution.
Seelischer stress kann auf vielerlei Weise hervorgerufen werden. Hunde werden verstört, wenn Reize ungewöhnlich stark sind; wenn das Intervall zwischen einem Reiz und der gewohnten Reaktion ungebührlich verlängert wird und das Tier in einem Zustand der Erwartung bleibt; wenn das Gehirn durch Reize in Verwirrung gerät, welche allem zuwiderlaufen, was der Hund zu erwarten gelernt hat; wenn Reize keinen Sinn innerhalb des dem Opfer gewohnten Beziehungssystems zu haben scheinen. Ferner hat man entdeckt, daß die absichtliche Einflößung von Furcht, Zorn oder Angst die Beeinflußbarkeit des Hundes deutlich steigert. Wenn diese Gefühle lange genug in einem hohen Grad der Intensität gehalten werden, beginnt das Gehirn »zu streiken«. Tritt das ein, dann können mit größter Leichtigkeit neue Verhaltensweisen eingebaut werden. Zu den Arten von körperlichem stress, die die Suggestibilität des Hundes erhöhen, gehören Ermüdung, Verwundungen und jegliche Krankheit.
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Für den Möchtegern-Diktator haben diese Entdeckungen wichtige praktische Konsequenzen. Sie beweisen, zum Beispiel, daß Hitler recht hatte mit der Behauptung, Massenversammlungen seien nachts noch wirkungsvoller als bei Tag. »Morgens und tagsüber«, schrieb er, »scheinen die Willenskräfte der Menschen sich noch mit höchster Energie gegen den Versuch der Aufzwingung eines fremden Willens und einer fremden Meinung zu sträuben. Abends dagegen unterliegen sie leichter der beherrschenden Kraft eines stärkeren Wollens.«
Pawlow hätte ihm beigestimmt; Ermüdung erhöht die Suggestibilität. (Das ist unter anderem der Grund, daß die kommerziellen Paten von Fernsehprogrammen die Abendstunden bevorzugen und bereit sind, mit barem Geld dafür entsprechend zu bezahlen.)
Krankheit ist hinsichtlich der Beeinflußbarkeit sogar noch wirksamer als Ermüdung. In der Vergangenheit waren Krankenzimmer der Schauplatz zahlloser religiöser Bekehrungen. Der wissenschaftlich ausgebildete Diktator der Zukunft wird alle Krankenhäuser seines Herrschaftsbereichs mit Tonanlagen und Kopf(kissen)hörern ausstatten. Konservierte Überredung wird zu allen vierundzwanzig Stunden des Tages durch den Äther schwirren, und die wichtigeren Patienten werden von politischen Seelenrettern und Gesinnungswandlern besucht werden, genau wie in der Vergangenheit ihre Vorfahren von Priestern, Nonnen und frommen Laien besucht wurden.
Die Tatsache, daß ausgeprägte negative Emotionen geeignet sind, die Suggestibilität zu erhöhen und so einen Gesinnungswechsel zu erleichtern, ist lange vor Pawlow beobachtet und genutzt worden. Wie Dr. William Sargant in seinem aufschlußreichen Buch Battle for the Mind (Der Kampf um die Seele)"' betont, gründete sich John Wesleys ungeheurer Erfolg als Prediger auf ein intuitives Verständnis des zentralen Nervensystems. Er eröffnete seine Predigt etwa mit einer langen und ins einzelne gehenden Beschreibung der Qualen, zu denen seine Hörer, wenn sie sich nicht bekehrten, zweifellos auf alle Ewigkeit verdämmt sein würden.
* Deutsche Ausgabe im R. Piper & Co. Verlag, München 1958.
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Sobald dann Schrecken und quälendes Schuldbewußtsein seine Zuhörerschaft an die Schwelle oder in manchen Fällen über die Schwelle eines völligen zerebralen Zusammenbruchs gebracht hatten, änderte er die Tonart und versprach denjenigen, die glaubten und bereuten, die Rettung ihrer Seele. Durch solches Predigen bekehrte Wesley Tausende von Männern, Frauen und Kindern. Heftige Furcht zermürbte sie und rief einen Zustand sehr verstärkter Beeinflußbarkeit hervor. In diesem Zustand waren sie fähig, die theologischen Erklärungen des Predigenden fraglos hinzunehmen. Worauf sie durch Worte des Trostes reintegriert wurden und aus ihrer schweren Prüfung mit neuen Verhaltensweisen hervorgingen, welche ihrem Geist und ihrem Nervensystem fest aufgeprägt worden waren.
Die Effizienz politischer und religiöser Propaganda hängt von den angewendeten Methoden ab, nicht von den gepredigten Lehren. Diese Lehren mögen wahr oder falsch, bekömmlich oder schädlich sein — es macht wenig oder keinen Unterschied. Wenn die Belehrung auf die richtige Weise im geeigneten Stadium nervlicher Erschöpfung erfolgt, wird sie wirken. Unter günstigen Umständen kann so gut wie jedermann zu so gut wie allem bekehrt werden.
Wir besitzen ins einzelne gehende Beschreibungen der von der kommunistischen Polizei bei politischen Häftlingen angewendeten Methoden. Von dem Augenblick an, wo das Opfer in Gewahrsam genommen wird, wird es systematisch vielen Arten von körperlichem und seelischem stress unterworfen. Der Häftling wird schlecht ernährt. Es wird dafür gesorgt, daß er sich äußerst unbehaglich fühlt. Es wird ihm nicht gestattet, mehr als wenige Nachtstunden zu schlafen. Und die ganze Zeit wird er in einem Zustand der ängstlichen Erwartung, der Ungewißheit und heftiger Befürchtungen gehalten. Tag auf Tag — oder vielmehr Nacht auf Nacht, denn diese pawlowschen Polizeibeamten begreifen den Wert der Ermüdung als eines Verstärkers der Beeinflußbarkeit — wird er verhört, oft viele Stunden hintereinander und von Leuten, welche ihr möglichstes tun, ihm Furcht einzuflößen, ihn zu verwirren und ratlos zu machen.
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Nach ein paar Wochen oder Monaten solcher Behandlung beginnt sein Gehirn zu streiken, und er gesteht, was immer er nach dem Wunsch seiner Gefängniswärter gestehen soll. Dann wird ihm, falls er nicht erschossen, sondern bekehrt werden soll, der Trost der Hoffnung geboten. Wenn er nun den wahren Glauben annehmen wollte, könnte er jetzt noch gerettet werden — natürlich nicht im Jenseits, nicht im ewigen Leben (denn offiziell gibt es kein ewiges Leben), sondern in diesem.
Ähnliche, aber etwas weniger drastische Methoden wurden während des Koreakrieges bei Kriegsgefangenen angewendet. In den chinesischen Lagern wurden die jungen westlichen Gefangenen systematischem stress unterworfen. So wurden diejenigen, die auch nur im geringsten gegen die Lagerregeln verstießen, in das Büro des Kommandanten gerufen, um hier verhört und eingeschüchtert und öffentlich gedemütigt zu werden. Und das Verfahren wiederholte sich immer wieder, zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht. Diese beständige Quälerei erzeugte in den Opfern ein Gefühl der Ratlosigkeit und chronischen Angst.
Um ihr Schuldbewußtsein zu verstärken, wurden sie gezwungen, lange autobiographische Berichte über ihre Unzulänglichkeiten zu schreiben und dies mit immer intimeren Einzelheiten aber- und abermals zu wiederholen. Und nachdem sie ihre eigenen Sünden bekannt hatten, wurden sie genötigt, die Sünden ihrer Gefährten anzugeben. Beabsichtigt war damit, innerhalb des Lagers ein nachtmahrisches Kollektiv zu schaffen, in welchem jeder jeden bespitzelte und anzeigte.
Zu diesen seelischen Belastungen kamen die körperlichen der Unterernährung, des Unbehagens und der Krankheit hinzu. Die so herbeigeführte Suggestibilität wurde von den Chinesen geschickt ausgenutzt, indem sie diesen abnorm empfänglichen Gemütern große Mengen prokommunistischer und antikapitalistischer Schriften einpumpten.
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Diese pawlowschen Verfahren waren bemerkenswert erfolgreich.
Einer von je sieben amerikanischen Kriegsgefangenen machte sich — wie uns amtlich gesagt wird — schwerer Kollaboration mit den chinesischen Behörden schuldig, einer von je dreien der Kollaboration im kriegsrechtlichen Sinn.
Man darf nicht etwa annehmen, daß diese Art der Behandlung von den Kommunisten ausschließlich ihren Feinden vorbehalten wird. Die jungen Leute, deren Aufgabe es während der ersten Jahre des neuen Regimes war, sich als kommunistische Missionare und Organisatoren in den unzähligen Städten und Dörfern Chinas zu betätigen, wurden einem viel intensiveren Eintrichterungskursus unterworfen als jemals ein Kriegsgefangener.
In <China under Communism> beschreibt R. Walker die Methoden, durch welche die Parteiführer es bewerkstelligen, aus gewöhnlichen Männern und Frauen die Tausende selbstloser Fanatiker zu machen, die zur Verbreitung des kommunistischen Evangeliums und zur Durchführung kommunistischer Maßnahmen erforderlich sind.
Bei diesem Schulungssystem wird das menschliche Rohmaterial in besondere Lager befördert, wo die zu Schulenden völlig von ihren Freunden, Familien und der Außenwelt im allgemeinen abgeschnitten sind.
In diesen Lagern müssen sie ermüdende körperliche und geistige Arbeit leisten; sie sind nie allein, sondern immer in Gruppen; sie werden dazu angehalten, einander zu bespitzeln; es wird von ihnen verlangt, selbstanklägerische Lebensgeschichten zu schreiben; sie leben in beständiger Furcht vor dem gräßlichen Geschick, das ihnen zuteil werden kann ob dessen, was von Spitzeln über sie berichtet worden ist oder was sie selbst gestanden haben.
In diesem Zustand erhöhter Suggestibilität werden sie einem intensiven Lehrgang in theoretischem und angewandtem Marxismus unterzogen — einem Lehrgang, bei welchem das Nichtbestehen der Prüfungen alles mögliche, von schmählicher Ausstoßung bis zu einer Strafzeit in einem Zwangsarbeitslager oder sogar die Liquidierung, bedeuten kann.
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Nach etwa sechs Monaten dieser Behandlung ruft der langdauernde geistige und körperliche stress diejenigen Ergebnisse hervor, die Pawlows Entdeckungen gemäß zu erwarten sind. Einer nach dem anderen oder in ganzen Gruppen brechen die auf diese Weise Geschulten zusammen. Neurotische und hysterische Symptome treten auf.
Manche der Opfer begehen Selbstmord, bei anderen (bis zu 20% der Gesamtzahl, so wird uns berichtet) entwickeln sich schwere Geistesstörungen.
Diejenigen, die die Härten des Bekehrungsvorgangs überstehen, gehen mit neuen und untilgbaren Verhaltensweisen daraus hervor. Alle ihre Bindungen an die Vergangenheit — an Freunde, Familie, traditionelle Anständigkeit und Frömmigkeit — sind durchschnitten worden.
Sie sind neue Menschen, neu erschaffen im Ebenbild ihres neuen Gottes und völlig seinem Dienst geweiht.*
Überall in der kommunistischen Welt erzeugen Hunderte von Konditionierungszentralen Zehntausende dieser disziplinierten und hingebungsvollen jungen Leute.
Was die Jesuiten für die katholische Kirche zur Zeit der Gegenreformation leisteten, das leisten nun und zweifellos auch weiterhin diese Erzeugnisse einer wissenschaftlicheren und sogar noch härteren Schulung für die kommunistischen Parteien Europas, Asiens und Afrikas.
* Diese Erziehungsmethoden werden nun anscheinend bei jedermann angewendet. Ein zwölfstündiger Arbeitstag gewährleistet einen dauernden Erschöpfungszustand. Bespitzelung, Denunziation und eine allgegenwärtige Polizei fördern chronische Angst. Die erzwungene Unterdrückung des Geschlechtstriebs und der Herzensneigungen ruft ein Gefühl äußerster, hoffnungsloser Frustration hervor. Auf Männer, Frauen und Kinder, die durch diese bewährten pawlowschen Methoden mürbe gemacht wurden, ergießt sich ein unaufhörlicher Strom von Befehlen, dogmatischen Behauptungen, glühendheißem Chauvinismus, Haßgesängen und Androhungen schwerer Bestrafung, gemildert durch chiliastische Versprechen einer glorreichen Zukunft. Wie viele Millionen unter dieser erzieherischen Feuerprobe zusammenbrechen werden, bleibt abzuwarten.
In politischer Hinsicht scheint Pawlow ein altmodischer Liberaler gewesen zu sein. Aber durch eine seltsame Ironie des Schicksals haben seine Forschungen und die Theorien, die er darauf begründete, eine große Armee von Fanatikern ins Leben gerufen, welche sich mit Herz und Hirn, Reflex- und Nervensystem der Vernichtung des altmodischen Liberalismus, wo immer er sich findet, widmen.
Gehirnwäsche, wie sie heute gehandhabt wird, ist ein Zwitterverfahren und hängt, was ihre Effizienz betrifft, teils von systematischer Gewaltanwendung, teils von geschicktem psychologischen Manipulieren ab. Sie stellt das Vorgehen von <1984> im Übergang zum Vorgehen von <Schöne neue Welt> dar. Unter einer schon lange bestehenden und gut geregelten Diktatur werden unsere heute geläufigen Methoden halb gewaltsamen Manipulierens zweifellos als absurd roh erscheinen.
Von frühester Kindheit an konditioniert (und vielleicht auch biologisch genormt), wird das Durchschnittsindividuum der mittleren oder unteren Kaste nie einer Bekehrung oder auch nur eines »Auffrischungskurses« im wahren Glauben bedürfen.
Die Angehörigen der höchsten Kaste aber werden imstande sein müssen, bei neuen Situationen neue Gedanken zu denken. Folglich wird ihre Schulung viel weniger intensiv sein als die jenen auferlegte, deren Aufgabe es sein wird, nicht nach dem Warum zu fragen, sondern bloß mit einem Mindestmaß von Aufwand zu tun, was sie zu tun haben, und gegebenenfalls dabei zu sterben. Diese Individuen der Oberkaste werden noch immer Exemplare einer wilden Spezies sein — der selber nur leicht konditionierten Trainer und Wärter einer riesigen Herde völlig gezähmter Tiere. Ihre Wildheit wird es ihnen ermöglichen, Häretiker und Rebellen zu werden. Wenn das geschieht, werden sie entweder liquidiert, oder ihre Gehirne werden zur Orthodoxie zurückgewaschen werden müssen, oder sie werden (wie in <Schöne neue Welt>) auf irgendeine Insel verbannt werden, wo sie nicht weiter lästig fallen können, außer — natürlich — einer dem anderen.
Aber allgemeines Konditionieren im Kindesalter und die anderen Verfahren des Manipulierens und Dirigierens liegen noch immer einige Generationen weit in der Zukunft. Unterwegs in die »schöne neue Welt« werden sich unsere Beherrscher auf die vorläufigen und übergangsweisen Verfahren der Gehirnwäsche verlassen müssen.
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Aldous Huxley