10 Hypnopädie
von Aldous Huxley
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Im Spätsommer 1957 wurde das Woodland Road Camp, eine Strafanstalt im Landkreis Tulare in Kalifornien, der Schauplatz eines merkwürdigen und interessanten Versuchs. Miniaturlautsprecher wurden unter die Kopfkissen einer Gruppe von Strafgefangenen getan, die sich freiwillig als psychologische Versuchskaninchen gemeldet hatten. Jeder dieser Kopfkissenleisesprecher oder Flüsterapparate war mit einem Plattenspieler im Büro des Direktors verbunden. Während der ganzen Nacht wiederholte stündlich ein inspiratorisches Flüstern eine kurze Homilie über »die Grundsätze moralischen Lebenswandels«.
Um Mitternacht erwachend, hörte ein Sträfling dieses leise Stimmchen etwa die Kardinaltugenden preisen oder in Vertretung seines besseren Ichs murmeln: »Ich bin von Liebe und Mitgefühl für alle erfüllt, so wahr mir Gott helfe!« Nachdem ich von dem Woodland Road Camp gelesen hatte, sah ich mir daraufhin das zweite Kapitel meiner Schönen neuen Welt an. In diesem Kapitel erklärt der Direktor der Brut- und Normanstalt für Westeuropa einer Gruppe angehender Normer und Brüter das Funktionieren dieses staatlich geleiteten Systems ethischer Erziehung, das im 7. Jahrhundert n. F. als Hypnopädie bekannt ist.
Die frühesten Versuche mit Schlafunterricht, so sagt der Direktor seiner Zuhörerschaft, waren auf falscher Spur und daher erfolglos. Die Erzieher hatten versucht, ihren schlummernden Zöglingen geistige Bildung zu vermitteln. Aber geistige Tätigkeit verträgt sich nicht mit Schlaf. Die Hypnopädie hatte erst dann Erfolg, als sie für die sittliche Bildung verwendet wurde — mit anderen Worten, für das Konditionieren oder Normen des Verhaltens durch verbale Suggestion zur Zeit herabgesetzten psychischen Widerstands.
»Reflexnormung ohne Worte ist grobschlächtig und summarisch, sie vermag kein feineres Unterscheidungsgefühl zu verleihen, nicht das richtige Benehmen in schwierigen Lebenslagen einzuschärfen, wie der Staat es verlangt. Dazu braucht es Worte, jedoch Worte ohne Sinn ...«, die Art von Worten, die zu ihrem Verständnis keiner Analyse bedürfen, sondern ganz und gar vom schlafenden Gehirn geschluckt werden können. Das ist wahre Hypnopädie, »das beste Mittel zur Stärkung der sittlichen und sozialen Gefühle, das es je gegeben hat«.
In der »schönen neuen Welt« hatte man nie Schwierigkeiten mit einem den unteren Kasten angehörenden Bürger. Warum? Weil von dem Augenblick an, wo es sprechen und verstehen konnte, was zu ihm gesprochen wurde, jedes Kind der unteren Kasten Nacht für Nacht während der Stunden der Schläfrigkeit und des Schlafs endlos wiederholten Einflüsterungen ausgesetzt war.
Diese Suggestionen waren
»wie Tropfen flüssigen Siegelwachses, die kleben, sich verkrusten und mit dem, worauf sie fallen, verschmelzen, bis der Felsblock ein einziger scharlachroter Klumpen ist. Bis schließlich der Geist des Kindes aus lauter solchen Einflüsterungen besteht und die Summe dieser Einflüsterungen den Geist des Kindes bildet. Und nicht nur den des Kindes, auch den des Erwachsenen — Zeit seines Lebens. Der urteilende, begehrende, abwägende Verstand — er ist aus diesen Einflüsterungen aufgebaut. Und alle diese Einflüsterungen sind unsere Einflüsterungen — Einflüsterungen des Staats ...«
Bis heute sind, soviel ich weiß, keine beträchtlicheren hypnopädischen Einflüsterungen von irgendeinem Staat verabreicht worden als die im Landkreis Tulare. Und gegen die Art der dort an Gesetzesbrecher gerichteten hypnopädischen Suggestionen läßt sich nichts einwenden. Wenn doch wir alle und nicht nur die Insassen von Woodland Road Camp während unseres Schlafes mit Liebe und Mitgefühl für alle vollgefüllt werden könnten! Nein, es ist nicht die durch das inspiratorische Geflüster vermittelte Lehre, wogegen man Einwände erhebt; sondern das Prinzip eines Schlafunterrichts durch Funktionäre des Staates.
Ist die Hypnopädie die Art von Mittel, die Beamten, denen die Ausübung der Autorität in einer demokratischen Gesellschaft übertragen ist, nach ihrem Ermessen zu gebrauchen gestattet sein sollte? Im gegenwärtigen Fall wenden sie sie nur bei Freiwilligen an, und mit den besten Absichten. Aber es besteht keine Gewähr dafür, daß in anderen Fällen die Absichten gut oder die Belehrung nur für Freiwillige sein werden. Jedes Gesetz, jede soziale Einrichtung, welche es möglich machen, daß Beamte in Versuchung geführt werden, sind schlecht. Jedes Gesetz, jede Einrichtung, welche sie vor der Versuchung bewahren, die ihnen übertragene Gewalt zu ihrem eigenen Vorteil oder zum Nutzen des Staates oder irgendeiner politischen, wirtschaftlichen oder kirchlichen Organisation zu mißbrauchen, sind gut.
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Die Hypnopädie wäre, wenn effizient, ein unermeßlich mächtiges Werkzeug in den Händen eines jeden, der in der Lage wäre, einer ihm ausgelieferten Zuhörerschaft Suggestionen aufzuzwingen. Eine demokratische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, dem Leitsatz verschrieben, daß Macht oft mißbraucht wird und daher Beamten nur in begrenztem Ausmaß und für begrenzte Zeit anvertraut werden darf. In einer solchen Gesellschaft sollte die Anwendung der Hypnopädie durch Beamte gesetzlich geregelt sein — das heißt natürlich, wenn die Hypnopädie tatsächlich ein echtes Werkzeug der Macht ist. Aber ist sie das tatsächlich? Wird sie heute so gut funktionieren, wie ich mir ihr Funktionieren im 7. Jahrhundert n. F. vorstellte? Wir wollen den Tatsachenbestand prüfen.
Im <Psychological Bulletin> für Juli 1955 haben Charles Simon und William Emmons die zehn bedeutendsten Studien auf diesem Gebiet analysiert und gewertet. Alle diese Studien befassen sich mit dem Gedächtnis. Hilft Schlaf Unterricht dem Schüler beim Auswendiglernen? Und bis zu welchem Ausmaß ist der einem Schlafenden eingeflüsterte Lehrstoff am nächsten Morgen beim Erwachen noch im Gedächtnis bewahrt? Simon und Emmons antworten folgendermaßen: »Es wurden zehn Schlaflernstudien durchgesehen. Viele darunter sind unkritisch von Handelsfirmen oder in populären Zeitschriften und in Zeitungsartikeln zitiert worden, als Beweis für die Möglichkeit, im Schlaf zu lernen. Es wurde eine kritische Analyse dieser Studien durchgeführt. Ihr Versuchsplan, ihre Statistik, ihre Methodologie und ihre wissenschaftlichen Kriterien zur Definition des Schlafes wurden eingehend untersucht. Alle diese Studien hatten Schwächen auf dem einen oder anderen dieser Gebiete.«
Die Studien legen nicht eindeutig dar, daß Lernen tatsächlich während des Schlafes stattfindet. Aber einiges Lernen scheint stattzufinden, in »einer besonderen Art von Wachzustand, und die Versuchspersonen erinnern sich später nicht mehr, ob sie dabei wach waren. Das kann von großer praktischer Bedeutung sein hinsichtlich einer Ersparnis an Lernzeit, aber es kann nicht als Schlaflernen interpretiert werden ... Das Problem wird teilweise durch eine unzureichende Definition des Schlafens erschwert.«
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Mittlerweile bleibt das Faktum bestehen, daß in der amerikanischen Armee während des Zweiten Weltkriegs (und versuchsweise sogar schon während des Ersten) die bei Tag erteilte Unterweisung im Morsealphabet und in fremden Sprachen durch Unterricht während des Schlafes ergänzt wurde — offenbar mit befriedigenden Ergebnissen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben mehrere Handelsfirmen in den USA und anderswo eine große Zahl von Kopfkissensprechern und auf bestimmte Zeiten einstellbaren Plattenspielern und Tonbandgeräten verkauft, vor allem an Schauspieler, die es eilig haben, ihre Rolle zu lernen, Politiker und Prediger, die den Eindruck erwecken möchten, aus dem Stegreif beredsam zu sein, an Studenten, die sich auf Prüfungen vorbereiten, und schließlich, zu ihrem größten Nutzen, an die zahllosen Leute, die sich mit sich selbst, so wie sie sind, unzufrieden fühlen und sich gern suggerieren lassen oder sich selber suggerieren möchten, daß sie ein anderer Mensch werden können.
Selbsterteilte Suggestionen können leicht auf ein Tonband aufgenommen und immer wieder abgehört werden, bei Tag wie während des Schlafens. Suggestionen von außen her gibt es als Schallplatten zu kaufen, welche die mannigfaltigsten hilfreichen Texte eingeritzt tragen. Es sind Platten auf dem Markt für das Herabsetzen von Spannung und das Herbeiführen tiefer Erholung, Platten zur Förderung des Selbstvertrauens (von Handelsreisenden viel gekauft), Platten zur Erhöhung des Charmes der Persönlichkeit und ihrer magnetischen Anziehungskraft. Unter den am meisten gekauften finden sich Platten zur Erzielung »sexueller Harmonie« und Platten fürs Schlankwerden. (»Schokolade ist mir schnuppe. Kartoffeln lassen mich kalt. Kuchen und Schlagsahne können mir gestohlen bleiben.«) Es gibt Platten und Tonbänder zur Besserung der Gesundheit und sogar zur Erhöhung des Einkommens.
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Und das Bemerkenswerte an alledem ist, laut den unaufgefordert von dankbaren Käufern dieser Platten und Tonbänder eingesandten Zeugnissen, daß viele Leute tatsächlich mehr Geld verdienen, nachdem sie solche hypnopädische Suggestionen abgehört haben; daß viele dicke Damen schlanker werden und viele Paare auf der Schwelle der Scheidung sexuelle Harmonie erzielen und, wenn sie nicht gestorben sind, glücklich noch heute leben.
In diesem Zusammenhang ist ein Abhandlung von Theodore X. Barber, »Sleep and Hypnosis«, welche im Journal of Clinical and Experimental Hypnosis vom Oktober 1956 erschien, aufschlußreich. Barber weist darauf hin, daß ein signifikanter Unterschied zwischen leichtem und tiefem Schlaf besteht. In tiefem Schlaf verzeichnet der Elektro-Enzephalograph keine Alphawellen; in leichtem Schlaf tauchen Alphawellen auf. In dieser Hinsicht steht leichter Schlaf dem Wachsein und der Hypnose (in welchen beiden Alphawellen vorhanden sind) näher als dem Zustand tiefen Schlafes. Ein lautes Geräusch verursacht das Erwachen einer in tiefem Schlaf befindlichen Person. Ein weniger heftiger Reiz weckt den Schlafenden nicht, sondern verursacht das Wiederauftauchen von Alphawellen. Tiefer Schlaf ist für kurze Zeit leichtem Schlaf gewichen. Ein tief Schlafender ist Einflüsterungen nicht zugänglich. Wenn aber ein in leichtem Schlaf Befindlicher Einflüsterungen erhält, reagiert er, so fand Barber heraus, auf dieselbe Weise auf sie, wie er in hypnotischer Trance auf Suggestionen reagiert.
Viele der frühen Erforscher der Hypnose stellten ähnliche Versuche an. Milne Bramwell verzeichnet in seinem klassischen, zum erstenmal 1903 veröffentlichten Werk <History, Practice, and Theory of Hypnotism>, daß »viele Gewährsleute behaupten, natürlichen Schlaf in hypnotischen Schlaf verwandelt zu haben. Nach Wetterstrand ist es oft sehr leicht, sich mit schlafenden Personen, besonders Kindern, en rapport zu setzen ... Wetterstrand hält diese Methode, Hypnose herbeizuführen, für die Praxis für äußerst wertvoll und behauptet, sie oft mit Erfolg angewendet zu haben«.
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Bramwell zitiert viele andere erfahrene Hypnotiseure (einschließlich solcher hervorragender Autoritäten wie Bernheim, Moll und Forel), welche dasselbe Ergebnis erzielten. Heute würde ein Experimentator nicht davon sprechen, »natürlichen in hypnotischen Schlaf zu verwandeln«. Er ist nicht bereit, mehr zu sagen, als daß leichter Schlaf (im Gegensatz zu tiefem Schlaf ohne Alphawellen) ein Zustand ist, in welchem viele Versuchspersonen Suggestionen ebenso bereitwillig annehmen wie in der Hypnose. Zum Beispiel werden viele Versuchspersonen, nachdem ihnen in leichtem Schlaf gesagt wurde, daß sie in einer kleinen Weile sehr durstig aufwachen würden, pünktlich mit trockener Kehle und einem starken Verlangen nach Wasser erwachen. Die Gehirnrinde mag zu untätig sein, um folgerichtig zu denken; aber sie ist alert genug, um auf Suggestionen zu reagieren und sie an das vegetative Nervensystem weiterzugeben.
Wie wir bereits gesehen haben, hatte der bekannte schwedische Arzt und Versuchsleiter Wetterstrand besonderen Erfolg bei der hypnotischen Behandlung schlafender Kinder. In unseren Tagen werden Wetterstrands Methoden von einer Anzahl von Kinderärzten befolgt, welche junge Mütter in der Kunst unterrichten, ihren Kindern während der Stunden leichten Schlafs hilfreiche Suggestionen einzuflüstern. Durch diese Art von Hypnopädie können Kinder von Bettnässen und Nägelbeißen geheilt werden, können darauf vorbereitet werden, sich furchtlos chirurgischen Eingriffen zu unterziehen, können mit Zuversicht und Gewißheit gestärkt werden, wenn aus irgendeinem Grund ihre Lebensumstände betrüblich geworden sind. Ich selbst habe bemerkenswerte Erfolge therapeutischen Schlafunterrichts bei kleinen Kindern gesehen. Ähnliche Erfolge könnten wahrscheinlich bei vielen Erwachsenen erzielt werden. Für einen Möchtegern-Diktator ist die Lehre aus alledem klar. Unter geeigneten Bedingungen wirkt Hypnopädie tatsächlich, und das, so will es scheinen, ungefähr ebenso sicher wie Hypnose.
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Das meiste von alledem, was mit einer Person in hypnotischer Trance vorgenommen werden kann, kann auch mit einem Menschen in leichtem Schlaf angestellt werden. Gesprochene Suggestionen können durch die schlummernde Gehirnrinde dem Mittelhirn, dem Hirnstamm und dem vegetativen Nervensystem weitergegeben werden. Sind diese Suggestionen gut abgefaßt und werden sie häufig wiederholt, kann man die körperlichen Funktionen des Schläfers verbessern oder stören, neue Gefühlskomplexe einbauen und alte abändern, posthypnotische Befehle geben, Slogans, Formeln und Auslöseworte tief ins Gedächtnis einsenken. Kinder eignen sich besser als Erwachsene dazu, hypnopädisch behandelt zu werden, und der zukünftige Diktator wird das zu seinem Vorteil voll ausnutzen.
Kindern im Vorschul- und Kindergartenalter werden während ihres Nachmittagsschläfchens hypnopädische Suggestionen verabreicht werden. Für ältere Kinder und besonders für die von Parteimitgliedern — für die Jungen und Mädchen, die zu Führern, Verwaltungsbeamten und Lehrern heranwachsen sollen — wird es Internate geben, wo eine vortreffliche Tagesausbildung durch nächtlichen Schlafunterricht ergänzt werden wird. Wenn es sich um Erwachsene handelt, wird den Kranken besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Wie Pawlow vor vielen Jahren dartat, werden willensstarke und widerstandsfähige Hunde nach einer Operation oder wenn sie an einer entkräftenden Krankheit leiden, völlig suggestibel. Unser Diktator wird daher dafür sorgen, daß jedes Krankenhaus ausreichend mit Kabelanschlüssen versehen ist. Aus einer Blinddarmoperation, einer Niederkunft, einer Lungenentzündung oder Gelbsucht läßt sich die Gelegenheit zu einem intensiven Kursus in Parteitreue und wahrem Glauben und zu einem »Auffrischer« in den Grundzügen der örtlich vorherrschenden Ideologie machen. Andere hilflos ausgelieferte Zuhörerschaften wären in den Gefängnissen, in Arbeitslagern, in Kasernen, in Schiffen auf hoher See, nachts in Zügen und Flugzeugen und in den trübseligen Wartesälen der Bus- und Eisenbahnstationen zu finden.
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Auch wenn die diesen wehrlosen Zuhörerschaften erteilten hypnopädischen Suggestionen bei nicht mehr als zehn Prozent der Betroffenen Wirkung zeigen würden, wären die Ergebnisse doch noch eindrucksvoll und für einen Diktator höchst wünschenswert. Von der mit leichtem Schlaf und Hypnose verbundenen erhöhten Suggestibilität wollen wir uns nun der normalen Suggestibilität derjenigen zuwenden, die wach sind — oder wenigstens glauben, wach zu sein. (Tatsächlich sind, wie die Buddhisten beharrlich betonen, die meisten von uns allzeit in halbem Schlaf befangen und gehen als Schlafwandler, welche fremden Suggestionen gehorchen, durchs Leben. Erleuchtung ist völliges Wachsein. Das Wort »Buddha« läßt sich mit »der Wache« übersetzen.)
Genetisch ist jeder Mensch einzigartig und auf vielfältige Weise von jedem anderen Menschen verschieden. Die Spanne der individuellen Abweichungen von der statistischen Norm ist erstaunlich weit. Und die statistische Norm, das wollen wir nicht vergessen, ist nur bei versicherungsmathematischen Berechnungen von Nutzen, nicht im wirklichen Leben. Im wirklichen Leben gibt es keine solche Person wie den Durchschnittsmenschen. Es gibt nur individuelle Männer, Frauen und Kinder, ein'jeder mit seinen angeborenen Idiosynkrasien des Geistes und des Körpers, und alle versuchen sie (oder werden gezwungen), ihre biologischen Verschiedenartigkeiten in die Gleichförmigkeit irgendeiner kulturellen Schablone zu zwängen.
Suggestibilität ist eine der Eigenschaften, die signifikant von Individuum zu Individuum variieren. Umweltfaktoren spielen gewiß ihre Rolle dabei, den einen Menschen mehr als einen anderen für Suggestionen empfänglich zu machen; aber es gibt nicht weniger gewiß auch konstitutionelle Unterschiede in der Suggestibilität der Individuen. Äußerster Widerstand gegen Suggestion ist recht selten. Und das ist ein Glück. Denn wenn jeder Mensch so unempfänglich für Suggestionen wäre, wie es manche sind, wäre ein soziales Leben unmöglich.
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Menschliche Gesellschaften können mit einem angemessenen Maß an Funktionsfähigkeit nur bestehen, weil die meisten Menschen — wenn auch in verschiedenem Grad — suggestibel sind. Extreme Suggestibilität ist wahrscheinlich ebenso selten wie extreme Nichtsuggestibilität. Und auch das ist ein Glück. Denn wenn die meisten Menschen so sehr auf von außen kommende Suggestionen eingehen würden wie diejenigen an der äußersten Grenze der Suggestibilität, wäre eine vernünftige Wahl für die Mehrzahl der Wählerschaft so gut wie unmöglich und demokratische Einrichtungen könnten sich nicht erhalten oder nicht einmal entstehen.
Vor ein paar Jahren führte im Massachusetts General Hospital eine Forschungsgruppe einen höchst aufschlußreichen Versuch über die schmerzstillenden Wirkungen von Placebos durch. (Ein Placebo ist irgend etwas, wovon der Patient glaubt, es sei ein wirkungsvolles Heilmittel, das aber tatsächlich pharmakologisch wirkungslos ist.) Bei diesem Experiment waren die Versuchsobjekte einhundertzweiundsechzig Patienten, welche soeben aus dem Operationssaal kamen und beträchtliche Schmerzen litten. Sooft ein Patient ein Medikament zur Linderung seiner Schmerzen verlangte, wurde ihm eine Einspritzung entweder von Morphium oder von destilliertem Wasser gemacht. Alle Patienten erhielten Einspritzungen von Morphium und von destilliertem Wasser. Ungefähr dreißig Prozent der Patienten empfanden nie eine Erleichterung durch das Placebo. Andererseits empfanden vierzehn Prozent Erleichterung nach jeder Einspritzung destillierten Wassers. Den verbleibenden sechsundfünfzig Prozent wurde durch das Placebo einige Male Erleichterung zuteil, andere Male aber nicht.
In welcher Hinsicht unterschieden sich die suggestiblen, reagierenden Personen von den nichtsuggestiblen, nicht-reagierenden? Sorgfältige Untersuchung und Prüfung enthüllten, daß weder Alter noch Geschlecht relevante Faktoren waren. Männer reagierten auf das Placebo ebenso häufig wie Frauen, und Junge ebenso häufig wie Alte.
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Auch schien der Intelligenzgrad, gemessen nach den üblichen Tests, nicht von Relevanz zu sein. Der durchschnittliche Intelligenzquotient der zwei Gruppen war ungefähr gleich. Signifikant unterschieden sich die Angehörigen der beiden Gruppen vor allem im Temperament, in den Gefühlen, welche sie sich selbst und anderen Leuten gegenüber hegten. Die Reagierenden waren zur Kooperation eher bereit als die Nichtreagierenden, sie waren weniger kritisch und weniger argwöhnisch. Sie machten den Krankenschwestern keine Schwierigkeiten und waren der Ansicht, die Pflege, die sie in dem Krankenhaus erhielten, sei »einfach wundervoll«.
Aber wenngleich die Reagierenden weniger unfreundlich anderen gegenüber waren als die Nichtreagierenden, waren sie im allgemeinen viel ängstlicher um sich selbst besorgt. Unter Druck neigte diese Ängstlichkeit dazu, sich in verschiedene psychosomatische Symptome umzusetzen, wie Magenbeschwerden, Durchfall und Kopfschmerzen. Trotz oder wegen ihrer Ängstlichkeit waren die Reagierenden ungehemmter in der Zurschaustellung von Gefühlen und gesprächiger als die Nichtreagierenden. Sie waren auch viel religiöser, viel tätiger in ihren Kirchen und, auf einer unterbewußten Ebene, viel mehr mit den Organen ihres Beckens und Unterleibs beschäftigt.
Es ist interessant, diese Zahlen für die Reaktion auf Placebos mit den Schätzungen zu vergleichen, die von Autoren, welche über Hypnose geschrieben haben, auf ihrem Spezialgebiet angestellt wurden. Ungefähr ein Fünftel der Menschen, so sagen uns diese, ist sehr leicht zu hypnotisieren. Ein zweites Fünftel läßt sich überhaupt nicht hypnotisieren oder nur dann, wenn Medikamente oder Ermüdung den psychischen Widerstand herabgesetzt haben. Die restlichen drei Fünftel lassen sich etwas weniger leicht hypnotisieren als die erste Gruppe, aber beträchtlich leichter als die zweite. Ein Hersteller hypnopädischer Tonbänder und Platten sagte mir, daß etwa zwanzig Prozent seiner Kunden begeistert seien und ihm von verblüffenden, in sehr kurzer Zeit erzielten Erfolgen berichteten.
Am anderen Ende des Spektrums der Suggestibilität gibt es eine Minderheit von acht Prozent, die regelmäßig ihr Geld zurückverlangt. Zwischen diesen beiden Extremen stehen diejenigen, die zwar keine schnellen Erfolge erzielen, aber suggestibel genug sind, um mit der Zeit doch beeinflußt zu werden. Wenn sie ausdauernd den entsprechenden hypnopädischen Unterweisungen zuhören, erzielen sie am Ende, was sie gewollt haben — Selbstvertrauen oder sexuelle Harmonie oder Gewichtsverlust oder mehr Geld.
Den Idealen der Demokratie und Freiheit steht die nackte Realität menschlicher Suggestibilität entgegen. Ein Fünftel jeder Wählerschaft kann fast im Nu hypnotisiert werden. Ein Siebentel kann durch Einspritzungen von Wasser von Schmerzen befreit werden, ein Viertel spricht prompt und begeistert auf Hypnopädie an. Und diesen allzusehr zur Mitarbeit bereiten Minderheiten muß man noch die langsamer reagierenden Mehrheiten hinzuzählen, deren weniger außerordentliche Suggestibilität effektvoll von jedem ausgebeutet werden kann, der sich auf dieses Geschäft versteht und bereit ist, Zeit und Mühe daran zu verwenden.
Ist individuelle Freiheit vereinbar mit einem hohen Grad individueller Suggestibilität? Können demokratische Einrichtungen den Umsturz von innen her überleben, den geschickte Gehirnmanipulierer anstreben, welche in der Wissenschaft und Kunst des Ausbeutens der Suggestibilität von Individuen ebenso wie von Volksmengen geübt sind?
Bis zu welchem Ausmaß kann die angeborene Neigung, allzu suggestibel zu sein, zum eigenen Besten und zum Besten einer demokratischen Gesellschaft durch Erziehung neutralisiert werden? Wie weit kann die Ausbeutung ungewöhnlicher Suggestibilität durch Geschäftsleute, Geistliche und solche Politiker, die an der Macht sind oder sie anstreben, von Gesetzes wegen eingedämmt werden?
Ausdrücklich oder implizit sind die ersten zwei Fragen in früheren Kapiteln besprochen worden. Im folgenden will ich mich mit den Problemen der Prävention und der Abhilfe befassen.
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