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11   Erziehung zur Freiheit 

von Aldous Huxley 1958

 

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Erziehung zur Freiheit muß mit dem Konstatieren von Tatsachen und dem Formulieren von Werten beginnen und muß dann geeignete Methoden entwickeln, diese Werte zu erreichen und diejenigen in Schach halten, die — was immer ihre Gründe sein mögen — die Tatsachen unbeachtet lassen oder die Werte leugnen. 

In einem früheren Kapitel habe ich das Sozialethos besprochen, in dessen Begriffen die aus Überorganisierung und Übervölkerung sich ergebenden Übel gerechtfertigt werden und den Anschein des Positiven erhalten. Steht ein solches Wertsystem im Einklang mit unserem Wissen um Körperbau und Temperament des Menschen? 

Die Sozialethik unterstellt, die Erziehung sei von vorrangiger Bedeutung für die Ausbildung menschlichen Verhaltens, und die Naturveranlagung — die psycho-physische Ausrüstung, mit welcher der einzelne Mensch geboren wird — sei ein zu vernachlässigender Faktor. Ist das aber wahr? Ist es wahr, daß der Mensch nichts anderes ist als das Produkt seiner sozialen Umwelt? Und wenn es nicht wahr ist, welche Rechtfertigung kann es für die Behauptung geben, das Individuum sei weniger wichtig als die Gruppe, von welcher es ein Glied ist?

Alles uns zugängliche Material führt zu dem Schluß, daß im Leben des einzelnen und ganzer Gesellschaften Vererbung nicht weniger relevant ist als Kultur. Jedes Individuum ist biologisch einzigartig und von allen anderen Individuen verschieden. Freiheit ist daher ein großes Gut, Duldsamkeit eine große Tugend und Bevormundung ein großes Mißgeschick. Aus praktischen und theoretischen Gründen sind Diktatoren, Organisations­menschen und gewisse Wissenschaftler darauf aus, die vertrackte Verschiedenheit der Menschennaturen auf irgendeine handliche Gleichförmigkeit zu reduzieren. 

Im ersten Aufflammen seines behavioristischen Eifers erklärte J. B. Watson rundweg, er könne »nichts finden, was die Annahme erblicher Verhaltens­weisen oder besonderer Begabungen (musikalischer, künstlerischer usw.), welche sich angeblich in Familien vererben, stützt«. Und auch heute noch hören wir einen hervorragenden Psychologen, B.F. Skinner von der Harvard-Universität, mit Nachdruck behaupten, 

»während wissenschaftliche Einsicht immer umfassender wird, scheint sich der Beitrag, den der einzelne zu leisten sich rühmen kann, immer mehr dem Nullpunkt zu nähern. Die vielgerühmten schöpferischen Kräfte des Menschen, seine Leistungen in der Kunst, der Wissenschaft und der Ethik, seine Fähigkeit, eine Wahl zu treffen, und unser Recht, ihn für die Folgen seiner Wahl verantwortlich zu machen — nichts von alledem zeigt sich an dem neuen, wissenschaftlichen Selbstbildnis des Menschen«.

Mit einem Wort, Shakespeares Dramen wurden nicht von Shakespeare geschrieben, nicht einmal von Bacon oder dem Grafen von Oxford; sie wurden vom elisabethanischen England geschrieben.

Vor mehr als sechzig Jahren schrieb William James einen Essay über »Große Menschen und ihre Umwelt«, worin er trachtete, das hervorragende Individuum gegen die Angriffe Herbert Spencers zu verteidigen. Spencer hatte verkündet, »die Wissenschaft« (diese wundervoll bequeme Personifizierung der von den Professoren X., Y. und Z. zu einem gegebenen Zeitpunkt verfochtenen Meinungen!) habe den »großen Menschen« völlig beseitigt. 

»Der große Mensch«, so hatte Spencer geschrieben, »muß mit allen anderen Phänomenen der Gesellschaft, die ihn hervorbrachte, als ein Produkt ihrer Vorgeschichte klassifiziert werden.« Der große Mensch sei vielleicht (oder scheine) »der unmittelbare Urheber von Veränderungen ... Aber wenn es irgend etwas wie eine wirkliche Erklärung dieser Veränderungen geben soll, muß sie in jenem Aggregat von Verhältnissen gesucht werden, aus dem sowohl er wie sie entstanden sind.« Dies ist ein Beispiel der leeren Tiefsinnigkeiten, denen unmöglich ein Sinn, mit welchem sich operieren ließe, beigelegt werden kann. Was unser Philosoph da sagt, heißt einfach, daß wir alles wissen müssen, bevor wir irgend etwas voll verstehen können.

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Daran ist nicht zu zweifeln. Tatsächlich aber werden wir nie alles wissen. Wir müssen uns daher mit teilweisem Verstehen und nächstliegenden Ursachen, einschließlich des Einflusses großer Menschen, zufriedengeben. 

»Wenn irgend etwas menschlich gewiß ist«, schreibt William James, 

»ist es dies, daß die Gesellschaft im eigentlichen Sinn, in welcher der große Mensch aufwächst, ihn nicht gestaltet, bevor nicht er sie neu gestalten kann. Was ihn gestaltet, sind physiologische Kräfte, mit welchen die sozialen, politischen, geographischen - und in großem Ausmaß - auch die anthropologischen Verhältnisse ebensoviel oder ebensowenig zu tun haben wie der Krater des Vesuv mit dem Flackern des Gaslichtes, bei dem ich dies schreibe. Ist es möglich, daß Mr. Spencer der Meinung ist, die Konvergenz soziologischer Kraftlinien auf Stratford-on-Avon sei um den 26. April 1564 so stark gewesen, daß ein W. Shakespeare mit allen seinen geistigen Besonderheiten dort geboren werden mußte?... Und meint er etwa, daß, falls besagter W. Shakespeare an Brechdurchfall gestorben wäre, eine andere Mutter in Stratford-on-Avon notwendigerweise ein Duplikat seiner zur Welt gebracht hätte, um das soziologische Gleichgewicht wiederherzustellen?«

Prof. Skinner ist Experimentalpsychologe, und sein Buch über »Wissenschaft und menschliches Verhalten« ist auf Tatsachen gegründet. Leider aber gehören die Tatsachen einer so begrenzten Klasse an, daß seine Schluß­folg­erungen, wenn er endlich eine Verallgemeinerung wagt, so schlechtweg unrealistisch sind wie jene der viktorianischen Theoretiker. Und das unvermeidlich; denn Prof. Skinners Gleichgültigkeit dem gegenüber, was James die »physiologischen Kräfte« nennt, ist fast so vollständig wie die Herbert Spencers. Die genetischen, das Verhalten der Menschen bestimmenden Faktoren werden von ihm auf weniger als einer Seite abgetan. 

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In seinem Buch findet sich kein Hinweis auf die Forschungsergebnisse der Konstitutionsmedizin noch irgendeine Andeutung jener Konstitutions-Psychologie, in deren Begriffen (und, soweit ich es zu beurteilen vermag, in deren Begriffen allein) es vielleicht möglich ist, eine vollständige und realistische Biographie eines einzelnen Menschen in Beziehung auf die relevanten Fakten seiner Existenz zu schreiben — auf seinen Körper, sein Temperament, seine Geistesgaben, seine unmittelbare Umwelt von Augenblick zu Augenblick, seine Zeit, seinen Wohnort und seine Bildung. 

Eine Wissenschaft des menschlichen Verhaltens ist wie eine Wissenschaft der abstrakten Bewegung — notwendig, aber für sich allein gegenüber der Realität völlig unzulänglich. Man betrachte eine Libelle, eine Rakete und eine sich brechende Welle. Alle drei veranschaulichen dieselben Grundgesetze der Bewegung; aber sie veranschaulichen sie auf verschiedene Weise. Und die Unterschiede sind mindestens so wichtig wie die Entsprechungen. Für sich allein kann uns ein Studium der Bewegung fast gar nichts über das sagen, was in einem gegebenen Fall bewegt wird. Ebenso kann uns ein Studium des Verhaltens für sich allein fast nichts über die individuelle Persönlichkeit sagen, die in irgendeinem bestimmten Augenblick dieses Verhalten zeigt. 

Für uns aber, die wir psychisch und physisch Personen sind, ist eine Kenntnis der Psyche und der Physis von überragender Wichtigkeit. Überdies wissen wir durch Beobachtung und Erfahrung, daß die Unterschiede zwischen individuellen Personen ungeheuer groß sind und daß einige Persönlichkeitsstrukturen ihre soziale Umwelt tief beeinflussen können und das auch tun. Was diesen letzten Punkt betrifft, befindet sich Bertrand Russell in voller Übereinstimmung mit William James — und mit so gut wie jedem, möchte ich hinzufügen, außer den Verfechtern spencerianischer oder behavioristischer Wissenschaftlichkeit.

Nach Russeis Ansicht gibt es dreierlei Ursachen geschichtlicher Veränderung — wirtschaftlichen Umschwung, politische Theorien und bedeutende Individuen. »Ich glaube nicht«, sagt Russell, »daß irgendeine von diesen dreien unbeachtet gelassen oder gänzlich als die Wirkung von Ursachen anderer Art hinwegerklärt werden kann.«

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So wäre etwa, wenn Bismarck und Lenin im Kindesalter gestorben wären, unsere Welt sehr verschieden von der, die sie, zum Teil durch Bismarck und Lenin, heute ist. »Die Historik ist noch nicht eine Wissenschaft und kann nur durch Verfälschungen und Weglassungen den Anschein von Wissenschaftlichkeit erhalten.« Im wirklichen Leben, im Leben, wie es von Tag zu Tag gelebt wird, kann das Individuum nie hinweg­erklärt werden. Nur in der Theorie scheint sich sein Beitrag dem Nullpunkt zu nähern; in der Praxis ist er von ausschlaggebender Bedeutung. Wenn in unserer Welt eine Arbeit geleistet wird, wer leistet sie tatsächlich? Wessen Augen und Ohren besorgen das Wahrnehmen, wessen Gehirn besorgt das Denken, wer hat die motivierenden Gefühle, den Willen, der die Hindernisse überwindet? Gewiß nicht die soziale Umwelt; denn eine Gruppe ist kein Organismus, sondern nur eine blinde, unbewußte Organisation. 

Alles, was innerhalb einer Gesellschaft geschieht, wird von Individuen veranlaßt. Diese Individuen sind natürlich tief beeinflußt von der örtlichen Kultur, den herrschenden Tabus und Sittengesetzen, den aus der Vergangenheit überkommenen, in einem Verbund mündlicher Traditionen oder schriftlicher Überlieferungen bewahrten richtigen und falschen Erkenntnissen; aber was immer sich jeder einzelne von der Gesellschaft nimmt (oder, um genauer zu sein, was immer er sich von anderen, zu Gruppen zusammengeschlossenen Individuen nimmt, oder aus den, von anderen, lebenden oder verstorbenen Individuen, gesammelten symbolischen Zeugnissen), wird von ihm ganz auf seine eigene, einzigartige Weise angewandt werden — mit seinem spezifischen Verstand, seiner biochemischen Konstitution, seinem und niemandes anderem Körperbau und Temperament. Jegliche wissenschaftliche Erklärung, wie umfassend sie auch sein mag, kann diese selbstverständlichen Gegebenheiten nicht hinwegerklären. Und vergessen wir nicht, daß Prof. Skinners wissenschaftliches Porträt des Menschen als eines Produktes der sozialen Umwelt nicht das einzige wissenschaftliche Porträt ist. 

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Es gibt andere, realistischere Konterfeis. Man betrachte zum Beispiel das von Prof. Roger Williams angefertigte. Was er malt, ist nicht ein Verhalten im abstrakten Sinn, sondern es sind Persönlichkeitsstrukturen, welche sich verhalten — Personen, welche das Erzeugnis teils der Umwelt, die sie mit andern Personen gemein haben, teils ihrer höchsteigenen Erbmasse sind. In The Human Frontier und Free but Unequal hat uns Prof. Williams zahl­reiche, ins einzelne gehende Belege über diese angeborenen Unterschiede zwischen Individuen dargetan, für die Dr. Watson keinen Anhaltspunkt finden konnte und deren Wichtigkeit in Prof. Skinners Augen sich dem Nullpunkt nähert. 

Unter den Tieren wird biologische Variabilität innerhalb einer gegebenen Spezies immer auffallender, je höher wir auf der evolutionären Leiter steigen. Diese biologische Variabilität ist am größten beim Menschen, und der Mensch zeigt einen höheren Grad biochemischer, struktureller und temperamentbezogener Verschiedenartigkeit als die Angehörigen irgendeiner anderen Spezies. Das ist eine eindeutig nachweisbare Tatsache. Aber was ich den Ordnungswillen genannt habe, das Verlangen, der verwirrenden Mannigfaltigkeit der Dinge und Ereignisse faßbare Einheitlichkeit aufzuzwingen, hat viele dazu verführt, dieses Faktum unbeachtet zu lassen. Sie haben biologische Einzigartigkeit bagatellisiert und ihre ganze Aufmerksamkeit auf die einfacheren und beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens verständlicheren Umweltfaktoren, welche das Verhalten des Menschen mitbestimmen, gerichtet.

»Als ein Ergebnis dieses auf die Umwelt konzentrierten Denkens und Forschens«, schreibt Prof. Williams,

»ist die Theorie der grundlegenden Entsprechung der Kleinkinder untereinander weithin akzeptiert worden und wird von einer großen Gruppe verfochten, welche sich aus Sozialpsychologen, Soziologen, Sozialanthropologen und vielen anderen, darunter auch Historikern, Volkswirtschaftlern, Pädagogen, Rechtsgelehrten und Männern des öffentlichen Lebens zusammensetzt. Diese Theorie ist auch in die vorherrschende Denkweise vieler Leute eingegangen, welche mit der Gestaltung erzieherischer oder regierungspolitischer Richtlinien befaßt waren, und wird oft fraglos von denjenigen hingenommen, die sich wenig eigene kritische Gedanken machen.«

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Ein System der Ethik, das in einer relativ realistischen Einschätzung der Erfahrungswerte gründet, wird eher mehr Nutzen als Schaden stiften. Aber viele ethische Systeme sind auf eine Einschätzung der Erfahrung, eine Ansicht vom Wesen der Dinge gegründet worden, welche hoffnungslos unrealistisch ist. Eine solche Ethik wird eher mehr Schaden als Nutzen stiften. So wurde bis in die jüngste Zeit allgemein geglaubt, daß schlechtes Wetter, Viehkrankheiten und sexuelle Impotenz durch das böswillige Wirken von Zauberern verursacht sein können und in vielen Fällen tatsächlich verursacht seien. Zauberer zu fangen und umzubringen, war daher Pflicht — und diese Pflicht war überdies, im zweiten Buch Moses, von Gott geboten worden: »Du sollst eine Hexe nicht am Leben lassen.« 

Die Systeme der Ethik und des Rechtes, die auf diese irrige Ansicht vom Wesen der Dinge gegründet sind, waren (während der Jahrhunderte, in denen sie von Männern in obrigkeitlicher Stellung sehr ernst genommen wurden) Ursache der entsetzlichsten Übeltaten. Die Orgien von Bespitzelung, Lynchjustiz und Justizmorden, welche gemäß diesen irrigen Ansichten von Zauberei und Magie logisch und höheres Gebot erschienen, fanden nicht ihresgleichen bis auf unsere Tage, wo das kommunistische Ethos, gegründet auf irrige wirtschaftliche, und das nationalsozialistische Ethos, gegründet auf irrige rassische Ansichten, Greuel von noch größerem Ausmaß befahlen und rechtfertigten. Kaum weniger unerwünschte Folgen wird wahrscheinlich die allgemeine Aneignung einer Sozialethik haben, welche sich auf die irrige Ansicht gründet, daß die unsere eine durchaus soziale Spezies sei, daß Menschenkinder als gleichartig geboren würden und Individuen das Produkt des Konditionierens seien, welches durch die kollektive Umwelt und innerhalb ihrer erfolge.

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Wären diese Ansichten richtig, wären die Menschen wahrhaftig Exemplare einer wirklich sozialen Spezies, und wären ihre individuellen Unterschiede geringfügig und könnten durch geeignetes Konditionieren völlig ausgebügelt werden, dann wäre Freiheit offenbar unnötig, und der Staat wäre gerechtfertigt, die Ketzer, welche sie fordern, zu verfolgen. Für die einzelne Termite ist der Dienst am Termitenbau völlige Freiheit. Die Menschen aber sind nicht völlig sozial; sie sind nur mäßig gesellig. Ihre Gesellschaften sind keine Organismen wie der Bienenkorb oder der Ameisenhaufen; sie sind Organisationen, mit anderen Worten, eigens für das kollektive Leben konstruiert. Überdies sind die Unterschiede zwischen den Individuen so groß, daß trotz intensivstem erzieherischem Ausbügeln ein extrem Endomorpher (um W. H. Sheldons Terminologie zu verwenden) seine geselligen viszerotonischen Merkmale beibehalten, ein extrem Mesomorpher durch dick und dünn energetisch somatotonisch bleiben und ein extrem Ektomorpher immer zerebrotonisch, introvertiert und überempfindlich sein wird. 

In der »schönen neuen Welt« meiner Fabel wurde sozial erwünschtes Verhalten durch ein doppeltes Verfahren genetischen Manipulierens und postnatalen Konditionierens gewährleistet. Kleinkinder wurden in Flaschen kultiviert, und ein hoher Grad von Gleichartigkeit des menschlichen Produkts wurde mit Sicherheit dadurch erzielt, daß die Ova einer beschränkten Anzahl von Müttern verwendet und jedes Ovum auf solche Weise behandelt wurde, daß es sich wiederholt spaltete und so identische Zwillinge in Schüben von hundert oder mehr hervorbrachte. Auf diese Weise war es möglich, standardisierte Maschinenbediener für standardisierte Maschinen zu erzeugen. Und die Standardisierung der Maschinenbediener wurde nach der Geburt noch vervollkommnet durch normendes Kinderkonditionieren, Hypnopädie und chemisch herbeigeführte Euphorie als Ersatz für die Befriedigung, sich frei und schöpferisch zu fühlen.

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In der Welt, in der wir leben, treiben uns, wie in früheren Kapiteln ausgeführt wurde, ungeheure unpersönliche Kräfte einer Zentralisierung der Macht und einer zwangsorganisierten Gesellschaft zu. Die genetische Normung der Individuen ist noch nicht möglich; aber Großregierung und Großunternehmertum besitzen bereits — oder sie werden es bald tun — all die Verfahren für Gehirnmanipulation, die in Schöne neue Welt beschrieben sind, und dazu noch andere, welche mir träumen zu lassen ich zu phantasiearm war. Da die Beherrscher der übervölkerten und überorganisierten Welt von morgen noch nicht imstande sein werden, Embryos genetische Uniformität aufzuzwingen, werden sie versuchen, den Erwachsenen und deren Kindern soziale und kulturelle Uniformität aufzuzwingen. Um diese zu erzielen, werden sie (wenn man sie nicht daran hindert) Gebrauch von allen ihnen zur Verfügung stehenden gehirnmanipulatorischen Verfahren machen und nicht zögern, diese Methoden nichtrationaler Suggestion durch wirtschaftlichen Zwang und die Androhung körperlicher Gewalt zu verstärken. 

Soll diese Art von Tyrannei vermieden werden, müssen wir ohne Verzug beginnen, uns selbst und unsere Kinder zu Freiheit und Selbstregierung zu erziehen. Eine solche Erziehung zur Freiheit sollte, wie ich bereits sagte, vor allem ein Unterricht in Fakten und Werten sein — den Fakten individueller Verschiedenheit und genetischer Einzigartigkeit und den Werten der Freiheit, Duldsamkeit und Nächstenliebe, welche die ethischen Korollarien dieser Fakten sind. Leider aber genügen wahres Wissen und gesunde Grundsätze noch nicht. Eine gar nicht aufregende Wahrheit kann durch eine aufregende Unwahrheit verdunkelt werden. Ein geschickter Appell an Leidenschaft ist oft zu stark für die besten aller guten Vorsätze. Die Auswirkungen falscher und verderblicher Propaganda lassen sich nicht anders neutralisieren als durch gründliche Einübung der Kunst, die Verfahrensweisen jener zu analysieren und ihre Sophistereien zu durchschauen. Die Sprache hat den Fortschritt der Menschheit von Tierhaftigkeit zu Zivilisiertheit ermöglicht.

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Die Sprache hat die Menschheit aber auch zu einer beharrlich gepflegten Torheit und einer systematischen, wahrhaft teuflischen Schlechtigkeit inspiriert, die nicht weniger kennzeichnend für menschliches Verhalten sind als die von der Sprache inspirierten Tugenden systematischen Vorbedachtes und durchgehaltenen engelhaften Wohlwollens. Die Sprache erlaubt dem, der sie gebraucht, Dingen, Personen und Ereignissen Aufmerksamkeit zu schenken, auch wenn diese Dinge und Personen abwesend sind und die Ereignisse sich gar nicht ereignen. Die Sprache gibt unseren Erinnerungen feste Gestalt und verwandelt, indem sie Erfahrungen in Symbole übersetzt, die Unmittelbarkeit von Begierde oder Abscheu, von Haß oder Liebe in feste Grundsätze des Fühlens und Handelns. 

Auf eine uns völlig unbewußte Weise wählt das radiäre Flechtwerk des Gehirns aus zahllosen Reizen diejenigen wenigen Erfahrungen, die für uns von unmittelbarer Bedeutung sind. Von diesen unbewußt ausgewählten Erfahrungen machen wir, mehr oder weniger bewußt, eine kleinere Zahl zu abstrakten Begriffen, etikettieren diese durch Wörter aus unserem Wortschatz und klassifizieren sie dann innerhalb eines zugleich metaphysischen, wissenschaftlichen und ethischen Systems, welches aus Wörtern einer höheren Ebene der Begriffsbildung zusammengesetzt ist.

In den Fällen, wo das Auswählen und das Abstrahieren von einem System diktiert wurden, welches als Anschauung vom Wesen der Dinge nicht allzu irrig ist, und wo die verbale Etikettierung verständig gewählt und ihre symbolische Natur klar begriffen wurde, wird unser Verhalten realistisch und leidlich anständig sein. Unter dem Einfluß schlecht gewählter Wörter aber, welche ohne jedes Begreifen ihres bloß symbolischen Charakters auf Erfahrungen angewendet werden, die nach einem System irriger Ideen ausgewählt und abstrahiert wurden, verhalten wir uns meist mit einer Teuflischkeit und einer ausgeklügelten Dummheit, deren stumme Tiere (gerade weil sie stumm sind und nicht sprechen können) begnadet unfähig sind.

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In ihrer antirationalen Propaganda verdrehen die Feinde der Freiheit systematisch die Mittel der Sprache, um ihre Opfer in ein Denken, Fühlen und Handeln zu locken oder zu scheuchen, welches den Gehirnmanipulierern genehm ist. Eine Erziehung zur Freiheit (und zu Liebe und Intelligenz, die zugleich die Bedingungen und die Ergebnisse der Freiheit sind) muß unter anderem eine Erziehung zum richtigen Gebrauch der Sprache sein. Während der letzten zwei oder drei Generationen haben die Philosophen viel Zeit und Denken auf die Analyse von Symbolen und die Bedeutung von Bedeutungen verwendet. In welcher Beziehung stehen die Worte und Sätze, die wir sprechen, zu den Dingen, Personen und Ereignissen, mit denen wir im Alltagsleben zu tun haben? Diese Frage zu erörtern, würde zuviel Zeit erfordern und uns zu weit führen. Begnügen wir uns, zu sagen, daß alles intellektuelle Material für einen gründlichen Unterricht im richtigen Gebrauch der Sprache — einen Unterricht auf jeder Stufe, vom Kindergarten bis zu Kursen für Graduierte — nun zur Verfügung steht. 

Eine solche Ausbildung in der Kunst, zwischen dem gehörigen und dem ungehörigen Gebrauch von Symbolen zu unterscheiden, könnte sogleich ihren Anfang nehmen. Ja sie hätte schon zu jedem Zeitpunkt während der letzten dreißig oder vierzig Jahre eingeführt werden können. Und doch werden Kinder nirgends auf eine systematische Weise gelehrt, wahre von falschen, sinnvolle von sinnlosen Behauptungen zu unterscheiden. Warum ist das so? Weil, sogar in den demokratischen Ländern, die Erwachsenen nicht wollen, daß den Kindern diese Art von Ausbildung zuteil werde. 

In diesem Zusammenhang ist die kurze, traurige Geschichte des Institute for Propaganda Analysis höchst bezeichnend. Dieses Institut wurde 1937, als die nationalsozialistische Propaganda am lärmendsten und wirkungsvollsten war, von Mr. Filene, dem Philanthropen aus Neu-England, gegründet. Unterstützt von diesem Institut wurden Analysen vernunftwidriger Propaganda gemacht, und es wurden Lehrbücher für Mittelschüler und Universitäts-Studenten vorbereitet.

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Dann kam der Krieg — ein totaler Krieg an allen Fronten, den geistigen nicht weniger als den materiellen.

Da alle alliierten Regierungen sich mit »psychologischer Kriegsführung« befaßten, schien ein nachdrücklicher Hinweis darauf, wie wünschenswert das Analysieren von Propaganda wäre, ein wenig taktlos zu sein. Das Institut wurde 1941 geschlossen. Aber schon vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten gab es viele Leute, welchen seine Tätigkeit höchst bedenklich zu sein schien. Gewisse Erzieher, zum Beispiel, mißbilligten die Unterweisung im Analysieren von Propaganda aus dem Grund, daß sie die heranwachsende Jugend ungebührlich zynisch machen würde; sie wurde auch nicht von den Militärbehörden willkommen geheißen, welche befürchteten, daß Rekruten beginnen könnten, die Äußerungen der Drillfeldwebel zu analysieren.

Und dazu kamen noch die Geistlichen und die Inserenten. Die Geistlichen waren gegen Propaganda-Analyse, weil sie den Glauben unterhöhlen und den Kirchgang verhindern könnte; die Inserenten waren dagegen, weil Propaganda-Analyse vielleicht die Treue zu gewissen Handelsmarken untergraben und den Absatz verringern würde. 

Diese Befürchtungen und Abneigungen waren nicht unbegründet. Eine zu eingehende, von zu vielen des gemeinen Volkes vorgenommene Untersuchung dessen, was seine Herren und Hirten sagen, könnte sich als höchst umstürzlerisch erweisen. In ihrer gegenwärtigen Form ist die Gesellschaftsordnung für ihr Fortbestehen darauf angewiesen, daß ohne zu viele — störende — Fragen sowohl die Propaganda hingenommen werde, die von den Machtinhabern losgelassen wird, als auch die Propaganda, die durch örtliche Traditionen geheiligt ist. 

Abermals besteht das Problem darin, den goldenen Mittelweg zu finden. Individuen müssen suggestibel genug sein, um willig und fähig zu sein, ihre Sozialgemeinschaft funktionsfähig zu erhalten, aber nicht so suggestibel, daß sie hilflos dem Zauberbann berufsmäßiger Gehirnmanipulierer verfallen. 

Ebenso sollten sie genug über Propaganda-Analyse belehrt werden, um vor einem unkritischen Glauben an glatten Unsinn bewahrt zu bleiben, aber nicht so viel, daß sie die nicht immer rationalen Ergüsse der wohlmeinenden Hüter der Tradition glattweg zurückwiesen. Wahrscheinlich läßt sich der goldene Mittelweg zwischen Leichtgläubigkeit und völliger Skepsis nicht durch Analyse allein entdecken und einhalten. Dieses eher negative Behandeln des Problems wird durch etwas Positiveres ergänzt werden müssen — die Bekanntgabe eines Fundus allgemein anerkennbarer Werte, welche auf einer festen faktischen Grundlage beruhen. 

Das sind erstens einmal der Wert der individuellen Freiheit, beruhend auf der Tatsache menschlicher Verschiedenheit und genetischer Einzigartigkeit; dann der Wert der Nächstenliebe und des Mitgefühls, gegründet auf die altvertraute, jüngst von der modernen Psychiatrie wiederentdeckte Tatsache, daß, was immer die geistige und körperliche Verschiedenheit der Menschen sein mag, Liebe für sie notwendig ist wie Nahrung und Obdach; und schließlich der Wert der Intelligenz, ohne welche die Liebe machtlos und die Freiheit unerreichbar sind.

Dieser Stamm von Werten wird uns ein Kriterium liefern, nach welchem Propaganda beurteilt werden kann. Diejenige Propaganda, die für unsinnig und auch unmoralisch befunden wird, kann sogleich rundweg zurückgewiesen werden. Diejenige, die bloß unvernünftig, aber mit Liebe und Freiheit vereinbar ist und nicht grundsätzlich dem Gebrauch des Verstandes entgegensteht, kann provisorisch für das, was sie wert ist, akzeptiert werden. 

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