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Einleitung 1930 von Iwan Iljin 

 

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Der Zweck dieses Buches besteht darin, den Lesern ein Gebiet neuer sachlicher Erfahrungen aufzuschließen und sie zu selb­ständiger Betrachtung oder Forschung auf diesem Gebiete anzuregen. Das moderne Rußland, wie es in Wirklichkeit aussieht und lebt, ist wahrlich ein Gegenstand, der geeignet ist, manche alte Ansicht überprüfen und neue Einsicht in das Wesen der menschlichen Kultur gewinnen zu lassen. 

Hier gibt es nur einen Weg: die Tatsachen so festzustellen und zu schildern, wie sie einmal sind; denn die Tatsachen selbst sprechen eine ihnen eigentüm­liche gewaltige Sprache, die an sich schon geeignet ist, den Ernst und den Sinn der Ereignisse ins Licht zu stellen.

Dieses Sammelwerk ist ausschließlich auf Schilderung von Tatsachen eingestellt. Es schöpft aus zwei Erkenntnisquellen: aus authentischen Äußerungen der Schöpfer des modernen Rußland und aus unmittel­barer Erfahrung.

Es ist eine grundsätzliche Forderung der Gerechtigkeit, daß man geschichtlich wirkenden Menschen die Möglichkeit gibt, sich über ihre Zwecke, Ziele und Wünsche, über ihr Wollen und ihre Arbeitsmethoden, sowie über die Resultate ihrer Bemühungen auszusprechen. Allerdings wird nicht jede menschliche Absicht zur Tat; aber bei Willensmenschen — wie es die Kommunisten zweifellos sind — wird der Sinn des Vollbrachten erst durch die authentisch zugegebene Absicht voll erschlossen. 

Was jedoch den objektiven Befund bei der Überprüfung der Erfolge und Mißerfolge betrifft, so ist gewiß kaum zu erwarten, daß leiden­schaftlich kämpfende Menschen — wie es die Kommunisten sicher sind — im Stande wären, die geschichtlichen Ergebnisse ihrer Tätigkeit objektiv zu schildern und zu beurteilen. Die unvermeidliche Subjektivität ihrer Schilderungen und Angaben ist durchaus kein unüberwindliches Hindernis bei der Feststellung der objektiven Wahrheit; im Gegenteil, es gibt methodologische Regeln und Verfahren, deren Befolgung es wie überall, so auch hier ermöglicht, die unwillkürliche Subjektivität der Angaben und auch absichtliche Verschleierungen zu beseitigen. 

In unserem Fall kommen ganz besonders folgende Bedingungen und Forderungen in Betracht:

Erstens  muß der Forscher die russische Sprache gründlich beherrschen. Die gesamte Sowjetliteratur (Zeitungen, Zeitschriften, stenographische Protokolle, Bücher) muß in der Ursprache und in der ursprünglichen, für den eigenen, inländischen Bedarf bestimmten Redigierung gelesen und richtig verstanden werden. Diesem Grundsatz entsprechend werden in dem vorliegenden Sammelwerke fast ausschließlich authentische russische Quellen verwendet und zitiert; dabei sind die Zitate nach bestem Wissen und Gewissen verdeutscht worden.1)

Zweitens  muß der Forscher die Zustände in Rußland vor dem Kriege und vor der Revolution objektiv und richtig beurteilen können. Jede später eingetretene geschichtliche Erscheinung darf überhaupt nur in Verbindung mit früheren Zuständen begriffen, gedeutet und bewertet werden. Das Relativitäts­gesetz beherrscht die Geschichte der Menschheit. Die naive, rein verstandes­mäßige Betrachtungsweise — das Gegebene in einem abstrakten An-sich zu behandeln — untergräbt die Urteilskraft des Menschen und erzeugt nur Mißverständnisse.

Drittens  muß der Forscher voraussetzen, daß ein leidenschaftlich kämpfender Willensmensch in den Schilderungen seiner Erfolge kaum zum Pessimismus neigen wird; er wird die vorliegenden Schwierigkeiten, Unmög­lichkeiten und Mißerfolge unter­schätzen und seine "Eroberungen" und "Erfolge" überschätzen. So geht es auch bei den Kommunisten.

Viertens  muß der Forscher im Auge behalten, daß diese optimistische Betrachtungsweise immer der Gegenwart und der Zukunft mehr gilt als der unlängst erlebten Vergangenheit, die sich bei dem Tempo des revolutionären Lebens sehr rasch in eine eigentümliche Ferne zurückzieht und dann der Kritik leicht und gern unterworfen wird. Hart und unerbittlich bleibt die Realität: das überschätzte "Morgen" wird zum mißlingenden "Heute" und dann zum mißlungenen "Gestern" und schickt den Menschen die reelle Not als eine harte Prämisse für ihre neuen Pläne und Berechnungen. So darf der Forscher sich nicht durch das phantastische "Morgen" und das berauschte "Heute" irreführen lassen; er muß das nüchterne "Gestern" und das unerbittliche "Vorgestern" voller Ruhe betrachten und untersuchen.

1)  Den Stil dieser authentischen Formeln und Redeweisen zu verändern, hielten wir für unrichtig: entsprechend eigenartig und absonderlich klingen sie auch in russischer Sprache.

2)  Noch Lenin klagte über "das süßliche kommunistische Gelüge des Alltags", Werke XVIII. T. 2, S. 38; Tomsky schildert Larins Berechnungen als eine "von der Decke abgeschriebene Statistik", 11.KK,  S.50;  13.KK, S.118; 14.KK, S.44;
- auch Kamenef unterstreicht, daß bei den Kommunisten die Zahlenangaben in den politischen Kampf "hineingezogen sind",  14.KK, S.265; 
- über widersprechende und unsichere Berechnungen klagt auch Rykof. 15.KK. S.762; 
- Dsershinsky schildert die kommunistische Rechen­schafts­ablegung als eine "Phantasterei", als ein "qualifiziertes Gelüge". "Die drei letzten Reden" (Tri poslednije retschi): 1926. S. 40 u.a.

3)  Vgl. bei Stalin die hohe Schätzung der Berufsehre bei den wissenschaftlich geschulten Statistikern im bürgerlichen Staate. 13.KK, S.130-131

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Fünftens muß der Forscher berücksichtigen, daß die Kommunisten selbst nicht allen statistischen Angaben ihrer eigenen Behörden Glauben schenken,2) schon deswegen nicht, weil sie gut wissen, daß sie den vorrevolutionären statistischen Apparat zerstört haben und keinen vollwertigen Ersatz schaffen konnten.3) Lange Jahre hindurch (bis 1929) haben sie sich doch mit den Berechnungen dieses Ersatzapparates begnügt. Als aber die neue Sozialisierung (im Herbst 1929) begann und die Berechnungen der statistischen Zentralbehörde durchaus ungünstig für den großen Sozialisierungsplan ausfielen, entzog man ihr den letzten Anschein der wissenschaftlichen Selbständigkeit, entließ die zu einem unabhängigen Denken und Berechnen neigenden Forscher und schuf ein neues, dem "Gosplan" (Zentralbehörde für Planwirtschaft) untergeordnetes statistisches Amt (Dekret vom 23. Januar 1930).

 

Diese Tatsache ist psychologisch leicht zu erklären; der leidenschaftliche Willensmensch will von Schwierig­keiten wenig wissen; er sucht nicht nur gehorsame Menschen, sondern auch "gehorsame Tatsachen" ... Für den Forscher ist aber in Anbetracht dessen außerordentliche Vorsicht geboten; er darf sich nicht blenden lassen; er muß scharfsichtig die  gehorsamen Zahlen  von den ungehorsamen Tatsachen zu unterscheiden wissen; er muß die Wirklichkeit aus dem Unwahr­scheinlichen herauszuholen verstehen, was allerdings eine ernste, wissenschaftliche Schulung voraussetzt.

Die Kommunisten kommen ihm insofern entgegen, als sie wegen der fehlenden Pressefreiheit und der legalen Opposition im Lande sich genötigt sehen, "Selbstkritik" zu üben und fast alle eigenen Angaben und Berechnungen gegenseitig zu bestreiten. Auch wird der Forscher Recht haben, wenn er das schon hervorgehobene Korrektiv, nämlich die Zeit, für sich in Anspruch nimmt; die "soeben" gebrachten Berechnungen und Zahlen sind fast durchweg leidenschaftliche Berechnungen und Propaganda-Zahlen; oft bringen schon die nächsten Monate nüchternere Angaben und neue Berechnungen; gewöhnlich kommt die Abkühlung nach einem Jahre; aber auch dann nicht immer. Und wenn jemand seine Arbeit im Jahre 1930 abschließt, so hat er guten Grund, den Zahlen vom Jahre 1928-29 (ceteris paribus) etwas mehr Vertrauen entgegenzubringen als den flüchtigen Zusammenstellungen der letzten Monate. 

Die zweite Quelle — die unmittelbaren Lebenserfahrungen im revolutionären Rußland — hat den Mitarbeitern dieses Sammel­werkes die Möglichkeit gegeben, keine oberflächliche oder phantastische Schilderung der Erscheinungen zu bieten. Mehrere von ihnen verbrachten fünf bis zehn Jahre unter der Herrschaft der Kommunisten; sie wissen sicher und genau, wie die angegebenen Zahlen und die geschilderten Tatsachen oder Methoden im Leben aussehen. Im Bewußtsein einer ernsten geschicht­lichen Verantwortung haben sie sich alle bemüht, das wirkliche Wesen der Ereignisse zu erforschen und zu beleuchten.

Das Einzelne ist nie zu erschöpfen. Das Allerletzte ist nie einzuholen und festzulegen. Ein forschendes Buch kann sich solche Aufgaben auch gar nicht stellen. Wer aber das Wesen der Sache erkannt hat, dem wird sich auch das Einzelne und das Allerletzte leicht und richtig erschließen.

Wir suchen Licht in das Wesen der geschichtlichen Tatsachen zu bringen.

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Professor Dr. Iwan Iljin,  November 1930 

 

 

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