Teil 1       Start     Weiter 

6.   Das System des Terrors     

Von Prof. Iwan Iljin  

99-118

  Worin es besteht  

Das politische System des Terrors besteht darin, daß die geistige Autorität der Staatsmacht in einem bestimmten Staate erlahmt und verschwindet, und demzufolge die Gewaltsanktion zu ihrer einzigen Stütze wird. Dann wird das Volk durch Angst beherrscht: die Staatsmacht erzwingt sich Gehorsam durch Drohung, Gewalt und Zwang; der Bürger beugt sich vor der angedrohten Gefahr und gehorcht aus Furcht. Dann achtet der Staat den Bürger nicht mehr: er verdächtigt ihn, verachtet ihn, knechtet ihn und zwingt ihn - den Erniedrigten - auf die Knie, nach dem Prinzip "oderint dum metuant".*

Entsprechend achtet der Bürger seine Staatsmacht auch nicht mehr: geknechtet und erniedrigt, heuchelt er Gehorsam, um der Gewalt zu entgehen; er haßt seinen Unterjocher und späht nach Rache im Innersten seiner eingeschüchterten Seele. Das sittliche Band zwischen Bürger und Staat ist zerrissen. Feindlich steht man sich gegenüber, und die Lohe des Hasses glimmt verborgen unter der Asche der äußeren "Ruhe".

   Der kommunistische Terror  

Daß im kommunistischen Staate ein System des Terrors herrscht, braucht nicht bewiesen zu werden. Einzigartig steht dieser Terrorismus in der Welt­geschichte da; einzig in seiner Art schon deswegen, weil er nach alledem, was die kulturelle Menschheit im Laufe der letzten Jahrhunderte erlebt, gedacht und gelitten hat, aufzutreten und sich zu behaupten wagte. Einzigartig auch in seiner Begründung, in seiner Entfaltung, in seinem Umfange und in seiner Dauer. 

Zum ersten Mal in der Weltgeschichte ist es der kommunistischen Idee gelungen, die Macht in einem großen Staate für längere Zeit zu erobern und sich ein Feld zum freien Experimentieren zu verschaffen; und es muß festgestellt werden, daß die terroristische Verwirklichung dieser Idee für die führenden Männer der westeuropäischen Sozialdemokratie befremdend, anstößig und tadelnswert erschien. 

Kautsky hat sich darüber offen und unzwei­deutig geäußert.1) Verurteilt und isoliert, sahen die Kommunisten sich genötigt, eine ideologische Defensive zu ergreifen. In dieser Selbstverteidigung haben sie ihre Auffassung des Staates und ihre politische Praxis öffentlich formuliert und mit großer Entschlossenheit zu begründen versucht. Wie üblich, wurde bei ihnen die Defensive zur Offensive: in einem gehässigen Ton versuchte Trotzky2) alles anti-terroristische bei Marx, Engels und Kautsky beiseite zu lassen und zu verschweigen, einzelne Sätze herauszugreifen und die Gegner einer Inkonsequenz zu überführen. Dies ist ihm kaum gelungen.

1)  Siehe sein Buch "Terrorismus und Kommunismus", Berlin 1919. 
2)  Trotzky, "Terrorismus und Kommunismus" (auch in Deutsch). 
* (d-2011)   Oderint, dum metuant  - Mögen sie (mich) hassen, wenn sie (mich) nur fürchten 


  Lenin als Urheber  

Lenin persönlich war der Urheber des staats-terroristischen Systems in Rußland:3) er begründete als erster dessen Notwendig­keit, er bestand auf dessen Organisation und Systematisierung — er drängte, er forderte Blut, bis die terroristische Methode wirklich verordnet und eingeführt wurde. Darüber berichtet ausführlich Trotzky in seinen Memoiren <Über Lenin>.

Von Anfang an, noch während der ersten zwei Monate nach dem Oktober-Umsturz (1917), als die berüchtigte Tscheka noch nicht geschaffen war, sann und grübelte Lenin über die Notwendigkeit massenhafter Hinrichtungen und über eine systematische Einschüchterung der antikommunistischen Elemente in der Bevölkerung. Bei jeder passenden Gelegenheit "hämmerte" er seinen Genossen die Idee der Unvermeidlichkeit des Terrors "ein".4)

"Wo haben wir die Diktatur?", sagte er immer, "Zeigt sie uns doch! Einen Mischmasch haben wir und nicht eine Diktatur.""Wenn wir einen sabotierenden Weißgardisten nicht zu erschießen verstehen, — was ist denn das für eine große Revolution? Seht doch, was das bürgerliche Pack bei uns in den Zeitungen schreibt!5) Wo ist denn da eine Diktatur? Lauter Geschwätz und Wirrwarr!"6) — 

"Ihr denkt doch nicht etwa, daß wir ohne aller­grausamsten Terror als Sieger davongehen werden?"7) "Unsinn", wiederholte er immer, "wie kann man eine Revolution ohne Erschießungen vollbringen? Denkt Ihr etwa mit allen Feinden fertig zu werden, indem Ihr Euch selbst entwaffnet? Was für Repressiv­maßregeln gibt es denn noch? Gefängnishaft? Wer nimmt sie ernst während des Bürgerkrieges, wo jede Seite den Sieg davonzutragen hofft?"8)

"Man müßte eigentlich",9) schreibt Lenin einmal später, "alle Wölfe ausrotten, wie es einer vernünftigen, menschlichen Gesell­schaft geziemt. ..." — Jedenfalls muß man "gegen das Bürgertum stärker drängen, damit es in allen Nähten platze und reiße".10) — Das war seine Grundidee; und diese Idee entsprach vollständig seiner Neigung, sich immer in den Feind "tödlich zu verbeißen".11)

3)  Dies feierlich von den späteren Leitern der Tscheka-GPU unterstrichen: "Lenin — der Urheber; Dsershinsky — der Organisator". 
     Siehe die Order von Menshinsky zum 10jährigen Jubiläum der Tscheka. Iswestija 1927. 15. Dezember.
4)  Trotzky, "Über Lenin", S. 74, 75 (russ.).
5)  Damals war die bürgerliche Presse noch nicht unterdrückt.
6)  Trotzky, ebendaselbst, S. 74, 75.
7)  Ebendaselbst.
8)  Trotzky, "Über Lenin", S. 75. Trotzky bringt dasselbe auch als selbständige Meinung in: "Terrorismus und Kommunismus", S. 56.
9)  Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil l, S. 415.
10)  Trotzky, "Über Lenin", S. 45.
11) Russisch: "mörtwaja chwatka", eine bei Bulldoggen angebrachte Redensart. Dies eine Schilderung des Leninschen Charakters aus dem Munde einer ihn gut kennenden russischen Sozialdemokratin, Wera Sassulitsch. Siehe Trotzky, "Über Lenin", S. 15.

100


    Lenin als Begründer   

Zwei Monate waren noch nicht verstrichen, als Lenin selbst das Dekret über die Gründung der Tscheka diktierte.12) "Steinhart und knochen­brecherisch" veranlagt (wie er selbst zugab),13) wurde Lenin auf diese Weise zum Urheber und zum Hauptleiter des terroristischen Systems.

Die politische Begründung dieses Systems war einfach und klar: "Jeder Staat ist eine Anwendung der Gewalt; der ganze Unter­schied besteht nur darin, ob diese Gewalt gegen die Exploitierten oder gegen die Exploitierenden gerichtet ist."14)  "Der Staat ist das Gebiet des Zwanges. Es wäre ein Wahnsinn den Zwang zu verleugnen, besonders in der Epoche der Diktatur des Proletariats."15)

Das ist ja die Zeit des "allerrasendsten Klassenkampfes".16) Und "um der proletarischen Diktatur den Sieg zu sichern, kann man nicht umhin — allen Gegnern dieser Diktatur das Rückgrat zu brechen".17) "Es ist nicht genügend, den Klassenfeind zu töten; man muß ihm noch vollständig den Garaus machen."18)

"Ohne Terror kann man nicht auskommen. Entweder — der weißgardistische, der bürgerliche Terror eines amerikanischen, eines englischen (Irland), eines italienischen (die Faschisten!), eines germanischen, eines ungarischen Zuschnittes, oder aber — der rote, der proletarische Terror."19) "Hier ist Sentimentalität durchaus nicht angebracht; die Sentimentalität wäre hier ein nicht minderes Verbrechen", als etwa Feigheit.20) — "Der proletarische Staat" ist ja überhaupt nichts anderes, als "eine Maschine für die Unterdrückung der Bourgeoisie durch das Proletariat";21) die bürgerliche Barbarei muß ausgerottet werden, und es ist "gar nicht schlimm, die Barbarei auf eine barbarische Art zu bekämpfen".22)

Darum besteht auch, wie gesagt, "die kommunistische Moral" — im "Morden und Vernichten" der Feinde der Revolution.23)

12)  Darüber berichtet ein führender Kommunist, Pokrovsky, zum 10jährigen Jubiläum der Tscheka. Siehe Istwestija 1927, 18. Dez. - Die Behörde hieß "Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution, der Sabotage und der Spekulation". Im Jahre 1921 wurde diese Behörde ausgebaut, bekam ein etwas bestimmteres Statut und eine neue Benennung: GPU ("Staatspolitische Verwaltung"). - Ihr Statut hatte aber von Anfang an, hat auch jetzt — eine rein formelle Bedeutung; in Wirklichkeit ist die kommunistische politische Polizei jedem Nichtkommunisten und auch jedem Ausländer gegenüber allmächtig.

13)  Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil l, S. 569. Siehe meinen obigen Aufsatz über die "Arbeitsmethoden".

14)  Lenin, ebendaselbst, S. 270.

15)  Lenin, ebendaselbst, S. 63.

16)  Ebendaselbst, S. 135.

17)  Zitiert von Kamenef, Stenogr. Bericht des XI. Kommun. Kongresses, S. 351 (russ.).

18)  Zitiert von Kamenef, Stenogr. Bericht des XII. Kommun. Kongresses, S. 2; russisch: "dobitj".

19)  Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil l, S. 227.

20)  Ebendaselbst, S. 379.
21)  Lenin Werke, Bd. XVI, S. 7.
22)  In einer Plenarsitzung d. XIII. Kommun. Kongresses, unter Gelächter, von Sinowjef zitiert, Stenogr. Bericht, S. 255.
23)  Lenins Worte. Zitiert von Sturua, 12. KK, S. 463. Siehe meinen Aufsatz über die "Arbeits­methoden".

101


    Die Tscheka   

Was ist dementsprechend die Tscheka? 

Sie ist "unsere zu Boden streckende Waffe", überaus notwendig für eine "unbarmherzige, rasche, unverzügliche Repression";24) es ist das unmittelbare Werkzeug der proletarischen Diktatur,25) "eine unserer wichtigsten politischen Organisationen",26) die "jeden Tritt des Verschwörers zu kennen und ihn auf der Stelle zu strafen berufen ist"; solange es in der Welt "Ausbeuter gibt, die nicht den Wunsch haben, ihre Gutsbesitzerrechte, ihre Kapitalisten­rechte den Arbeitern und den Bauern auf einem Teller darzureichen", wird diese Behörde bestehen müssen.

Und "Ihr, ihr Herren Kapitalisten, in Rußland und im Auslande, wir wissen schon, daß ihr diese Behörde nicht lieb gewinnen könnt. Selbstverständlich! Diese Behörde hat es wie niemand verstanden, eure Intrigen und eure Ränke zurückzuschlagen, damals, als ihr uns zu erwürgen trachtetet" ...27)

Alles übrige, was die Kommunisten über das System des Terrors zu sagen haben, ist gewöhnlich nur eine Wiederholung oder eine Modifikation Leninscher Gedanken. Einiges klingt aber noch aufrichtiger und entschlossener.28

24)  Lenin, Bd. XVIII, T. l, S. 450.
25)  Vgl. bei Prof. Pokrovsky (seit 1920 Ehrenmitglied der Tscheka), Iswestija 1927, 13. Dez. - Vgl. Lenins Worte. Zitiert vom Tschekisten Moroß, Iswestija 1927. 18. Dez.
26)  Pokrovsky, IswestiJa 1927, 18. Dezember.
27)  Lenin, Bd. XVIII, T. l, S. 450-51.
28)  Hier einige Gemeinplätze: 
"Jeder Staat ist ein Vergewaltigungsapparat", Lazis (ein bekannter Tschekist), <Zwei Jahre Kampf auf der inneren Front> 1920 S. 7 (Ruß.). 
"Die Diktatur ist im genauen Sinne des Wortes eine Macht, die sich auf Vergewaltigung stützt." Stalin: <Noch einmal...> S. 98. 
"Das Einschüchtern ist ein machtvolles Mittel der internationalen und der inneren Politik." Trotzky: <Terrorismus und Kommunismus> S. 56 (russ.). 
"Man muß den Feind unschädlich machen, und im Kriege heißt das — vernichten." Ebendaselbst S. 53. 

102


    Ideologie des Terrors   

Im großen und ganzen handelt es sich darum, ob das Bürgertum ("Die Bourgeoisie") "am Leben bleiben oder zugrunde gehen wird".29)  Nun sind aber die "Konterrevolutionäre von Natur aus durchaus nicht ohne Charakter", und haben sich im langen Kampfe "kräftig abgehärtet"; "die russischen Weiß­gardisten sind den deutschen und allen übrigen darin ähnlich, daß es unmöglich ist, sie zu überzeugen oder zu beschämen; man kann sie nur einschüchtern oder erdrücken".30)

Der Rote Terror könnte aber nur dann ausbleiben, wenn "das Bürgertum auf jeglichen Widerstand verzichtet hätte".31) Dies ist aber nicht der Fall; und das Übrige entwickelt sich von selbst. Eine Revolution "kann nicht in weißen Handschuhen gemacht werden".32)

 

    Zweck und Mittel   

Das menschliche Leben ist aber durchaus nicht "heilig und unantastbar"; wäre dem so, so müßte man nicht nur auf Terror, sondern auch auf Krieg und Revolution verzichten.33) Das könnte vielleicht den Sozialdemokraten passen: sie sind ja "fast Vegetarier".34) Die Kommunisten sind ganz anders eingestellt: "Wer den Zweck will, der kann auf das Mittel nicht verzichten"; und darum muß "die revolutionäre Klasse ihren Zweck mit allen, ihr zur Verfügung stehenden Mitteln erreichen".35)

Kurz — die Kommunisten müssen "nach militärischer Weise verfahren und den Druck noch während einer Reihe von Jahrzehnten" ausüben.36) "Dreimal Verräter ... wäre der Judas und der Heuchler, der dem Proletarier sein historisches Recht auf Verteidigung entziehen möchte!"37) Es ist das "Recht auf Schutz und Rache".38) Nicht nur Recht, sondern auch Sehnsucht, Durst: Die Kommunisten "dursten nach Rache" und zwar im Weltmaßstabe.39) "Mein Wille", sagte einmal Dsershinsky, der berühmte <Führer der Lederjacken>, "besteht darin, erbarmungslos zu sein, um gleich einem treuen Wachthunde den Feind zu zerfleischen." 40)

29)  Trotzky, "Terrorismus und Kommunismus" S. 53 (russ.).
30)  Ebendaselbst  S. 23.
31)  Pokrovsky, Iswestija 1927, 18. Dezember.
32)  Stalin, Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 49/50.
33)  Trotzky, "Terrorismus und Kommunismus", S. 60 (russ.).
34)  Ein merkwürdiges Wort von Sinowjef, das den unbewußten Kannibalismus der Terroristen zum Vorschein bringt und bestätigt. 11.KK, S. 201.
35)  Trotzky, "Terrorismus und Kommunismus", S. 22, 56. 
36)  Beschluß des XI. Kommun. Kongresses, siehe Stenogr. Bericht S. 492-493 (russ.)
37)  Prawda 1927, 18. Dez. Leitartikel. 
38)  So der offizielle Dichter des Kommunismus und der Sänger des Terrors, Demjan Bedny. Prawda 1927, 18. Dez. (Ein Gedicht zu Ehren der Tscheka.)
39)  Buchstäblich bei Bucharin. Prawda 1927, 18. Dezember. 
40)  Zitiert von Bucharin. Prawda 1927, 18. Dezember. Von Bucharin stammt auch der Ausdruck "Führer der Lederjacken".

103


    Wer sind die Feinde    

Diese Formeln sind den Kommunisten und besonders den Tschekisten ganz geläufig, wenn sie über die Ziele und die Aufgaben der Tscheka (alias GPU) sprechen. Einen "unbarmherzigen Kampf", ein "erbarmungsloses Fertigwerden",41) predigte noch Lenin. Dsershinskys Nachfolger in der GPU, Unschlicht, spricht von "schonungsloser Liquidation" der Feinde.42) Ein anderer leitender Tschekist, Menshinsky, verordnet das "Ausroden", das "endgültige Ausbrennen" der Gutsbesitzer und der Kapitalisten im Lande.43) 

Das Bürgertum muß durch Terror "an Händen und Füßen gebunden, vergewaltigt, zerdrückt und restlos zerschlagen werden", lehrt Bucharin.44) Im Bürgerkrieg, erklärt noch ein verdienstvoller Tschekist, Lazis, "werden keine Gefangenen gemacht, dem Feinde wird der Garaus gemacht", und "die strafende Hand des Volkes verfolgt alle früheren Henker und Blutsauger", nämlich: die Junker, die Offiziere, die früheren Beamten, die Gutsbesitzer, die Fabrikanten, die Kaufleute, die Hausbesitzer, die reicheren Bauern (genannt "Kulaki"), die Pfaffen, teilweise auch die Gymnasiasten und die Studenten.45)

 

   Wort und Tat   

Um die Lebensbedeutung dieser Formeln richtig einzuschätzen, muß man im Auge behalten, daß die Kommunisten ihre zerstörenden Versprechen immer sehr ernst nehmen und dem Worte die Tat sofort folgen lassen.46) So geschah es auch in Wirklichkeit. Nur derjenige kann das Temperament, die Unerbittlichkeit und Unermüdlichkeit der Kommunisten in der Durchführung des Terrors richtig beurteilen, der die ersten 4-5 Revolutionsjahre in Rußland und zwar als Russe, als reichsangehöriger "Bourgeois" (nicht etwa als exterritorialer Diplomat) verbracht hat.

Alles wurde im Leben absolut unsicher, prekär, der Gunst und Ungunst der Kommunisten preisgegeben: Vermögen, Wohnung, Anstellung, Freiheit, Gesundheit und Leben. So war es von Anfang an; so bleibt es auch jetzt, so wird es auch überall werden und bleiben, wo der kommunistische Terror eingeführt wird. Denn es gehört zum Wesen des Terrors, daß der reale oder angebliche Feind in allen seinen Rechten getroffen und entrechtet wird (capitis deminutio maxima), die tatsächliche Vollstreckung dieser a priori festgesetzten Entrechtung aber Tag und Nacht, vielleicht jahrelang zu erwarten hat. Hat er Immobilien oder Kapitalien besessen, so wurde er schon von Anfang an enteignet.

41)  Russisch "rasprawa", Lenin, Bd. XVIII, Teil I, S. 210, 336.
42)  Iswestija 1927, 15. Dezember.
43)  russsich: "do tla". Order zum 10jähr. Jubiläum der Tscheka-GPU. Iswestija 1927. 15. Dezember.
44)  "Das ABC des Kommunismus", S. 56-58 (russ.). Russisch "podawljatj", "dobiwatj", "nassilije".
45)  Alles im Urtext aufgezählt. Lazis, "Zwei Jahre ..." S. 14, 15 (russ.).
46)  Dem ist indes durchaus nicht so, wenn sie etwas positiv zu leisten, zu schaffen oder aufzubauen vorgeben.

104


Hat er eine eigene Wohnung, so kann er jeden Augenblick einer zwangsweisen "Wohnungs­verdichtung" oder einer Hinaussetzung unterworfen werden. Als Angestellter wird er von heut auf morgen abgebaut; Broterwerb, wenn er ihn überhaupt findet, ist für ihn nur auf dem niedrigsten Niveau möglich. Eine Haft von unbestimmter, vielleicht lebenslänglicher Dauer, kann ihn jeden Augenblick, im Hause und auf der Straße erreichen. Ein Tscheka-Gefängnis, eine Deportation, ein Konzentrationslager (Ssolowki)47) bedeuten aber grundsätzlich ein langsames oder rasches Dahinsterben. 

Die Tscheka-GPU durfte von Anfang an und darf auch jetzt, nach eigenem Ermessen und Gutdünken, ohne jegliche gerichtliche Garantie und ohne Appellation, einen beliebigen Menschen (auch einen beliebigen Ausländer)48) auf die eine oder die andere Weise ums Leben bringen.

 

    Die Zahl der Opfer   

Die Zahl der Hingerichteten wird kaum jemals geschichtlich und statistisch sicher festgestellt werden können. Vieles wurde von den Kommunisten bekannt­gegeben und registerweise veröffentlicht, vieles wurde verschwiegen und verhehlt, auch nachträglich entstellt oder abgeleugnet.49. 

In vielen Tscheka-Abteilungen gab es einen besonderen Angestellten für die Registrierung der Leichen; daneben gab es in der Provinz sogenannte "brüderliche Gruben" und Erdklüfte, wo die Opfer ungezählt hinabgeworfen wurden. Einige vaterländische Organisationen haben sich bemüht, die Opfer der ersten fünf Jahre nach offiziellen Angaben und nach bester Erkundigung zusammenzuzählen.

47)  Im Konzentrationslager Solowki (eine Insel im Weißen Meere) sind laut zuverlässiger Nachrichten vom Herbst 1929 bis 40.000 Menschen untergebracht, darunter 22.000 der Konterrevolution verdächtigt, und 6000 Frauen. Die Lebensbedingungen sind entsetzlich: ewiger Hunger, schwere Arbeit, elende Wohnung, Mißhandlung und Erniedrigung. Zur Verfolgung eventueller Flüchtlinge sind große Jagdhunde vorhanden. Die 22.000 Verdächtigten werden als Geiseln behandelt; die entsprechende Verordnung lautet dahin — beim Ausbruch von Unruhen im inneren Lande, sie alle sofort zu erschießen.
48)  z.B. den Finnen Elvengrän, den Engländer Railly, mehrere Franzosen usw. Das wird auch viel öfter gemacht als bekanntgegeben: der Mensch verschwindet spurlos, und damit ist es aus. Es wird aber von den Kommunisten wohl beachtet, daß eine Verallgemeinerung dieser Methode durchaus unzweckmäßig und unvorteilhaft für die internationalen Beziehungen werden könnte.
49)  Als z.B. im August 1928 der Tschekist Uritzky in Petersburg getötet wurde und die Sozialistin Dora Kaplan ein Attentat gegen Lenin verübte, wurde ein Massenterror im ganzen Lande angeordnet. Menschen wurden in alphabetischer Ordnung oder zimmerweise hingerichtet. In Moskau wurden in einer Nacht 1000 Verhaftete ohne weiteres erschossen. Der Tschekist Lazis schreibt: "In Petersburg allein wurden bis 500 Mann erschossen." "Zwei Jahre ..." S. 24. - Das hindert aber den Ehrentschekisten Prof. Pokrovsky nicht, die Zahl dieser Opfer im ganzen Lande auf 600 Menschen zu veranschlagen. Iswestija 1927. 18. Dezember.

105


Die Zahl stieg auf rund 1.860.000 umgebrachte Menschen, darunter 28 Bischöfe, bis 1200 Priester und Kleriker usw.50) Sicher ist nur, daß es sich um Zahlen handelt, die für Rußland einem zweiten europäischen Krieg gleichkommen; um Zahlen, die von der menschlichen Einbildung nicht konkretisiert werden können.  

Und dann ist noch im Auge zu behalten, daß meistenteils Menschen hingerichtet wurden, welche den Mut hatten, ihren religiösen Glauben, ihre Vaterlands­liebe und ihre bürgerliche Weltanschauung durch Tat oder Wort zu bekennen und im Antlitz des Todes nicht zu verleugnen. 

 

    Die Verdächtigen   

Die Zahl der Verhafteten und Verbannten ist überhaupt nicht anzugeben: es gehört nämlich zum Wesen des Terrors — sehr breite Kreise der Bevölkerung einzuschüchtern und die Verhaftung als eine Präventiv­maßregel zu handhaben. Die Verhaftung gilt nicht dem Feinde, sondern dem Verdächtigen; im Verdacht stehen aber jedenfalls alle Nichtkommunisten. Auch haben die Kommunisten die Methode, das Netz der Haussuchungen und Verhaftungen sehr weit auszubreiten, um ein paar wirkliche Feinde gefangen zu nehmen: "besser mehr, als weniger".

Dazu dient auch die übliche Maßnahme, in der Wohnung des Verhafteten mehrere Tage hintereinander einen Hinterhalt zu legen und alle zufälligen Besucher ohne Ausnahme zu verhaften. Auch die Methode, Geisel in längere Haft zu nehmen, um sie evtl. hinzurichten, ist gang und gäbe. In den letzten Jahren wird diese Methode ganz besonders gegen Ausländer angewendet, um den kommunistischen Propaganda-Emissären im Auslande Sicherheit zu verschaffen, usw. So gibt es jetzt kaum noch einen Stadteinwohner in Sowjetrußland (die Kommunisten abgerechnet), der kein einziges Mal in Haft gewesen wäre und die Läuse- und Wanzenlöcher der Tscheka nicht besucht: hätte. Die Menschen aber, die mehrere Haussuchungen oder Verhaftungen zu verzeichnen haben (auch über 20), sind nicht zu zählen.51)

50)  Die Liste lautet etwa folgendermaßen (in runden Zahlen): über 6000 Lehrer und Professoren, 8800 Ärzte, 54.000 Offiziere, 260.000 Soldaten, 105.000 Polizeioffiziere, 48.000 Gendarmen, 12.800 Beamte, 355.000 andere Intellektuelle, 192.000 Arbeiter-Proletarier, 815.000 Bauern.

51)  Es hat sich in den letzten Jahren im Auslande die Ansicht verbreitet, der Terror in Sowjetrußland hätte "nachgelassen" oder wäre jedenfalls "milder geworden". Das entspricht nicht der Wahrheit, wird aber von Kommunisten behauptet und verbreitet. Es wird wohl weniger erschossen, weil 1. die Hauptmasse der temperamentvollen Feinde im Laufe der ersten zehn Jahre hingerichtet oder in Hunger und Not ausgestorben ist; 2. weil die bürgerlichen Elemente Vorsicht und Mimikrie gelernt haben; 3. weil der Widerstand im Lande schleichend geworden ist; 4. weil die Tscheka jetzt nicht mehr die entschlossenen Feinde, sondern die Verdächtigen bearbeitet, die früher (aus Mangel an Zeit und Platz) freigelassen wurden, jetzt aber im Konzentrationslager oder in arbeitsloser Verbannung einem verhältnismäßig langsameren Tode preisgegeben werden.

Mit anderen Worten: Die Feinde sind umgebracht; jetzt werden die Verdächtigen langsam zu Tode gequält. Nur von einem sehr oberflächlichen Standpunkte aus kann hier von einem "Nachlassen" oder von einer "Milderung" gesprochen werden; denn in Wirklichkeit bedeutet diese "Milderung" für die zahllosen unglücklichen "Verdächtigen" — eine ungeheure systematische Verschärfung des Terrors. Im Laufe des letzten Jahres (Oktober 1929 bis November 1930) sind die Hinrichtungen auf dem Lande und in den Städten wieder so zahlreich geworden, wie in den ersten Jahren: der folgerichtige Kommunismus ist ja wieder im Aufmarsch.

106


    Die Frage der Folter    

Es wurde viel über die Folter in der Tscheka erzählt und geschrieben. In dieser Hinsicht kann man annehmen, daß die Folter von den Tschekaleitern kaum jemals offiziell angeordnet wurde, obwohl deren prinzipielle Zulässigkeit und Anwendbarkeit in der Tscheka-Presse eine Zeitlang besprochen und diskutiert wurde.52) Diese naive Besprechung hörte bald auf; selbstverständlich, um einer entschlossenen Praxis Platz zu machen. 

Was heißt eigentlich "foltern"

Foltern heißt einen verhafteten und zu verhörenden Menschen psychisch peinigen und physisch quälen. Nun ist das ganze System des Terrors nichts anderes, als ein absichtlich oder planmäßig geführtes Regime der psychischen Peinigung. Ein schuldlos bedrohter Mensch ist schon gepeinigt; ein Verhafteter, der monatelang in Schmutz und Elend, von seiner Familie getrennt, mit fremden Menschen eingesperrt, durch Gefängnisse geschleppt wird, immer des Nachts aus dem Schlafe ins Verhör genommen wird und unter Schimpf und Drohung der Verurteilung und des Todes harrt — erlebt schon ein Martyrium.

Was aber die physische Quälerei anbetrifft, so wurde sie vielfach durch nachträgliche ärztliche Prüfung festgestellt, beschrieben und photo­graphiert (in der Provinz), besonders an Leichnamen, da ja die moderne Wissenschaft sicher feststellen kann, ob die betreffende Wunde (eine Skalpierung, ein ausgestochenes Auge, ein in die Schulter eingeschlagener Nagel und dgl. mehr) vor dem Tode oder nach dem Tode zugefügt wurde.53)

52) Näheres darüber bei dem russischen Sozialisten Aronsohn: "Die Morgenröte des roten Terrors" ("Na sare krasnago terrora"). Berlin 1929, S. 68 (russ.). Er beruft sich auf die Zeitschrift "Wochenschrift der Wetscheka ("Eshenedelnik Weceka") vom Jahre 1918.
53) Näheres darüber in den veröffentlichten Schilderungen. Hier nenne ich nur einiges von dem, was in westeuropäischen Sprachen erschienen ist: 
1. "Das wahre Gesicht des Bolschewismus". Tatsachen, Berichte, Bilder aus den baltischen Provinzen. — 2. "Unter der Herrschaft des Bolschewismus." Gesammelt von Erich Köhrer, Pressebeirat der Deutschen Gesandtschaft. — 3. A Collection of Reports on Bolschewism in Russia. Abridged Edition of Parlamenters Paper. Russia N1. — 4.  S. Melgunof, "Der rote Terror." — 5. "Das schwarze Buch" (Die Bestürmung des Himmels). — 6.  Nilostonsky, "Der Blutrausch des Bolschewismus." — 7.  Katharina Haug-Haough, "Hinter den Kulissen des Bolschewismus." — 8.  Joseph Douillet, "Moskau ohne Maske. — 9.  Raymond Duguet, "Un bagne en Russie rouge".

107


Damit sind nicht die physischen Quälereien gemeint, die im ersten Jahre der Revolution hier und da von einer aufgebrachten Menge zugefügt, sondern diejenigen, die häufig in verschiedenen Tscheka-Gefängnissen angewandt wurden. Es ist nicht schwer zu verstehen, wie es dazu kam: die führenden Kommunisten predigten das "Recht auf Rache" und verordneten Mord und Blut. Es wäre sogar erstaunlich, wenn diese Predigt, in sadistisch veranlagte Seelen gelangend, die Lust des Folterns nicht geweckt hätte. Denn die Folter ist nichts anderes, als Rach­sucht mit Blut gestillt.

 

    Die Tschekisten   

Schon daraus ist zu ersehen, daß nur Menschen von ganz besonderer Veranlagung, das System des Terrors durchzuführen, imstande sind. Die Kommunisten selbst bezeichnen diese Menschenart, lobsingend, als "Menschen mit Nerven aus Stahl".54) Ein erfahrener Tschekist, Lazis,55) unterstreicht, daß die Tscheka-Genossen oft als "Fanatiker ihres Werkes" arbeiten.56)  

Es ist auch hochinteressant, Lenins eigene Winke auf diesem Gebiete zu sammeln. Es müssen nämlich "starkhändige" Menschen sein;57) "Überzeugtheit, Ergebenheit und die übrigen vortrefflichen Herzensqualitäten sind etwas auf politischem Gebiete durchaus nicht ernst zu Nehmendes."58) (Sic!); dafür müssen aber die Menschen gut gezüchtet werden. 

Es gilt, Feinden nachzusetzen, sie zu fangen; und "zu diesem Fange müssen wir — ich sage nicht Spitzbuben,59) aber doch etwas derartiges vorbereiten; und auch besondere, schlaue Tricks erfinden, um unsere Kampfmaßnahmen, Vorbereitungen usw. zu verhehlen".60)

Auf Grund dieser Winke, auf Grund einer "evolutionistischen Moral", die von den Tschekisten selbst so bezeichnet wird; und auf Grund des Prinzips "der Zweck der Weltrevolution gestatte und gebiete alle Mittel" hat sich schon seit Jahren eine eigenartige Mentalität und Schulung in der Tscheka gebildet, unter deren Einfluß ein entsprechender Nachwuchs herangezüchtet wird.

Es wäre vollständig falsch, sich die berufsmäßigen Tschekisten äußerlich als grobe Wüstlinge oder plumpe Tölpel vorzustellen. Der Typus der ersten Jahre ist schon veraltet.

54)  Iswestija 1927, 18. Dezember, Leitartikel.
55)  Oben genannt und zitiert.
56)  Lazis, "Zwei Jahre . . ." S. 81.
57)  Russisch "rukastyje". Trotzky, "Über Lenin", S. 76.
58)  Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil 2, S. 38 (russ.).
59)  Russisch bei Lenin: "ne skashu moschennikow, no wrode towo".
60)  Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil 2, S. 122 (russ.). 

108


Im Dienst streng und einfach, oft in schwarzes oder gelbes Leder gekleidet ("die Lederjacken"), erscheint der Tschekist im alltäg­lichen Leben peinlich angezogen, rasiert, oft mit gepflegten Händen und polierten Nägeln, meist auf schweigendes Hören oder auch auf Ausfragen eingestellt und seinen eigentlichen Beruf sorgfältig verheimlichend.

Er versteht es, seine unerbittliche Härte hinter süßer Liebenswürdigkeit zu verstecken und den rasenden Tiger aus der schlummernden Katze hervorspringen zu lassen. Kalt und ruhig überlegt er eine neue Falle; treuherzig zuredend schleicht er sich in fremdes Vertrauen ein; provozierend und verstrickend, insinuierend und verleumderisch arbeitet er im Dickicht der Feinde, um abends einem für die Tschekisten extra bestellten Beethoven-Konzerte beizuwohnen. Der Sold dieser Menschen und ihr Vermögen sind unbekannt. Ihre eigenen Ansichten sind in tiefstes Dunkel gehüllt. Ihr künftiges Schicksal liegt in der Hand des Allmächtigen.

 

    Der innere Nachrichtendienst   

Wie straff und peinlich diese politische Polizeizentrale auch organisiert sein mag, nie wird es ihr leicht fallen, ein Land mit 150 Millionen Einwohnern, mit einem Flächenraum von 21 Millionen Quadratkilometern und einer so geringen Bevölkerungsdichte61) zu überwachen. Dabei ist in Rußland — wie überall — die Stadt das eigentliche Feld der politischen Ereignisse; zudem ist das Stadt­wesen in Rußland unendlich schwächer entwickelt als in Westeuropa. Beide Umstände erleichtern die Aufgabe der kommunistischen Polizei ganz bedeutend. Und dennoch sieht sie sich gezwungen, ihr Agentennetz immer mehr zu erweitern. 

Schon Lenin trug sich mit dieser Sorge. Er versuchte, das Problem zu lösen, indem er jeden Kommunisten als solchen verpflichten wollte, als Agent der Tscheka zu fungieren, d.h. "zu beobachten und zu denunzieren".62) Bald stellte es sich aber heraus, daß die Masse der Bevölkerung den Kommunisten gegenüber sich teilweise ironisch, teilweise verächtlich verschließt und immer steigende Vorsicht übt. 

Dann versuchte die Tscheka, die Wohnungsverdichtung auszunützen, und jedes Haus bekam mehrere Kommunisten zwangsweise einquartiert. Immer verschlossener, immer umsichtiger wurde die Einstellung des Sowjetbürgers; er gewöhnte sich immer stärker an — den indifferenten oder sogar den wohlwollenden Nichtswisser zu spielen, und verschanzte sich hinter diesem Spiel. 

So fing das GPU an, das System der geheimen Agentur auszubauen.  

61)  Europäisches Rußland nicht über 25 Menschen, Mittelasien nicht über 5 Menschen, Sibirien nicht über 0,7 Menschen pro Quadrat­kilometer.
62)  Diese Ansicht Lenins wurde öffentlich vom Kommunisten Gussew zitiert. Siehe 14. KK, S. 600, 601; auch von Jaroslawsky wurde sie offen formuliert und vertreten. "Na antireligiosnom fronte." S. 17-21, 43, 44.

109


Schon im Jahre 1920 schrieb Lazis folgende Zeilen: "Jeder Bürger muß zum Krieger und zum Wächter der Sowjetmacht werden. Jeder Bürger muß nicht nur Rotsoldat, sondern auch Mitarbeiter der Tscheka sein. Nur unter dieser Bedingung werden wir den Sieg davontragen. Schutz der Sowjetmacht, Schutz der Revolution ist die Sache aller und eines jeden."63)

Seitdem wird dieses Prinzip systematisch verwirklicht und durchgeführt. Das gegenwärtige System der kommunistischen politischen Überwachung baut sich folgendermaßen auf: 

 

    Die Geheimagentur   

Es ist ohne weiteres klar, daß die große Masse der Bevölkerung nur auf solche Weise gründlich bespitzelt werden kann; ferner daß die Zahl dieser Agenten allerdings sehr groß sein muß und daß kein einziger Mensch, der sein moralisches Gleichgewicht bewahrt hat, sich zu dieser geheimen Bespitzelung seiner Mitbürger freiwillig hergeben wird.

63)  Lazis, "Zwei Jahre ..." S. 82. Diese Schlußworte des Büchleins sind, als Hauptthese, durch Schrägschrift hervorgehoben.
64)  15. KK, S. 497. Auch Zwischenrufe während der Rede von Jaroslawsky. Vgl. auch ganz besonders die Zeitungsnummern d. "Prawda" und "Iswestija" vom 18.12.1927.
65)  In Sowjetrußland gibt es nur kommunistische Parteizeitungen.
66)  Eine Bezeichnung des führenden Kommunisten Molotoff.
67)  Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 62 (russ.).

110


Diese Geheimagenten werden daher seitens des GPU durch Terror für den Terror systematisch geworben. Schwache Menschen lassen sich, ohne ein schlechtes oder böses Herz zu haben, zu manchen Kompromissen bewegen, die, einmal angenommen, zermürbend und erniedrigend wirken; besonders die Angst vor einem langsamen Dahinsterben oder vor einer sofortigen Hinrichtung kann sie ohne weiteres niederstrecken.

Es gehört zum System des kommunistischen Terrors, den Menschen, besonders den Familienvater, vor die tragische Wahl zu stellen: ehrloses Leben oder Tod. Um eine entsprechende Entscheidung herbeizuführen, besitzen die Tschekisten ausgiebige Mittel: langwieriger, nerven­zerrüttender Aufenthalt im Gefängnis; Vorführung der in Elend verhungernden Familie; Vorlegen eines unterschriebenen Todesurteils mit wochenlanger Verschiebung der Hinrichtung; gutes Essen und Rauchen nach monatelanger Entbehrung; sehr geschickte Simulierung eines "so wie so" tadellosen Allwissens; Ausspielen der bösen Leidenschaften (Haß, Ehrgeiz, Eifersucht, Rachsucht), die durch Vorlegung von falschen oder vielleicht auch echten Dokumenten aufgereizt werden können usw...

Es gibt auch eine ganz eigentümliche Methode, die, wie die Tschekisten behaupten, immer zweckmäßig wirkt: es werden nämlich dem betreffenden Menschen wirkliche Erschießungen vorgeführt, und diese erschütternden Szenen brechen seine Nerven und sein geistiges Rückgrat. Daneben gibt es auch viel mildere Mittel, die zur Versklavung des Bürgers führen können: z.B. dem Müden wird Ruhe versprochen, dem Ehrgeizigen ein hoher Posten, dem Habsüchtigen — Geld. Oder das betreffende Menschenopfer wird unter entsprechenden Vorschlägen vielleicht mehrmals schonungslos "abgebaut" und in einen "Arbeitslosen ohne Unter­stützung" verwandelt usw., da sich der kommunistische Staat als solcher ein fast vollständiges Monopol im Arbeitgeben vorbehält.

Jedes Übereinkommen mit der Tscheka wird dann, als freiwillig eingegangener Vertrag, protokolliert und unter­schrieben: diese Unterschrift dient zur Einklemmung und weiteren Erpressung; und auf diese Weise wächst die Zahl der Agenten. Nach einigen Angaben soll die Zahl der geheimen Tscheka-Agenten im jetzigen Moskau auf ein Drittel der gesamten Bevölkerung gestiegen sein.

Was in den zermürbten Seelen dieser durch den Terror und für den Terror versklavten, unglück­lichen Menschen vor sich geht, kann nur durch das Wort "Hölle" gekennzeichnet werden. Die Kommunisten wissen es selbst; kaltblütig beobachten sie den steigenden Hang zum Selbstmord unter dem Drucke des Terrors. Sie haben sogar eine treffende und erklärende Formel für diese Erscheinung geprägt: "Besser ein schreckliches Ende als Schrecken ohne Ende."68)

111


    Der Umfang des Terrors   

Um das System des Terrors sich richtig vorstellen zu können, wäre es wichtig, sich den Umfang seiner Wirkung zu vergegen­wärtigen. Der Terror trifft nicht nur die Reste der bürgerlichen Schichten des vorrevolutionären Rußlands, sondern auch alle übrigen Klassen, also auch die Bauernschaft und die Arbeiterklasse. 

Zur Zeit der Proviantkriege (1918 bis 1920) hat es die Bauernschaft zuerst einsehen und fühlen müssen. Die "wohlhabenden" Bauern, von den Kommunisten "Kulaki" genannt,69) leben unter fortwährender Bedrohung, Enteignung und Denunziation; die übrigen Bauernschichten, sowie die Fabrikarbeiter, verfallen dem Terror, sobald sie einer anderen Partei zu huldigen wagen oder versehentlich antikommunistische Äußerungen fallen lassen.

Die Ausländer werden von dem GPU ganz besonders überwacht, isoliert und von Zeit zu Zeit durch Provokationen, Verhaftungen und Prozesse einge­schüchtert.70) — Das ganze System ist nicht gegen eine bestimmte Klasse gerichtet, sondern gegen alle Unzufriedenen, alle Verdächtigen, alle anders Eingestellten, wer sie auch sein mögen, und wie sie diese ihre Unabhängigkeit auch äußern mögen. Jeder Schritt kann dem Menschen schaden; jedes Wort ist gefährlich; denn, wie ein leitender Kommunist sich ausdrückt, nur "Träume und verschwiegene Überzeugungen werden bei uns nicht bekämpft".71)

 

   Terror gegen die Sozialisten   

Fast von Anfang an sind dem Terror auch die sozialistischen Parteien verfallen, besonders nachdem die Sozialisten mehrere Attentate gegen die komm­unist­ischen Führer gewagt hatten.72) Seit 1921-22 sind viele Sozialisten in die Kommunistische Partei eingetreten, ohne aber dadurch Vertrauen erlangt zu haben. Was aber die Unabhängigen und Getreuen aus beiden sozialistischen Parteien anbetrifft,73) so werden sie nach wie vor mißhandelt.74)

68)  Siehe die Rede des Kommunisten Mirsojan. 15. KK, S. 283 (russ.).
69)  "Kulak" ist kein bestimmter Begriff, sondern eine vollständig vage Vorstellung, deren Inhalt je nach Zeit und Ort stets variiert und demagogisch ausgenützt wird. Siehe den aufschlußreichen Aufsatz von Kritsky.
70)  Vgl. z.B. den Lockart-Prozeß, den Prozeß der drei deutschen Studenten, den Donez-Becken-Prozeß u. a.
71)  Tomsky, Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 301 bis 302.
72)  Kannegießer gegen Uritzky, Dora Kaplan gegen Lenin, die Bombe im Leontjevsky Pereulok u. dgl. mehr.
73)  Die marxistisch eingestellten Sozialdemokraten, "Menschewiki" genannt, und die sozialistische Agrarpartei, bekannt unter dem Namen "die Sozialisten Revolutionäre".

112


Noch im Jahre 1922 bezeichnete Lenin die Behandlung der Sozialisten seitens der Kommunisten als einen "dreifachen Terror"75) und versprach, diesen Terror gegebenenfalls zu erneuern.76) "Die Menschewiken und die Sozial-Revolutionäre haben ihren Platz im Gefängnis";77) ihre öffentlich vorgetragene Kritik ist nicht zu dulden: sie müssen "an die Wand gestellt werden" (terminus technicus der Tscheka für "Erschießen") und "unsere revolutionären Gerichte müssen sie zur Erschießung verurteilen" als "die schlimmsten und schädlichsten Elemente des weißgardistischen Lagers".78)  

Wohl wird diese harte Drohung "an die Wand zu stellen", gar nicht oder sehr selten ausgeführt, aber die Gefängnisse wimmelten von Sozialisten noch in den letzten Jahren.

Was aber noch lehrreicher erscheint, ist die Anwendung des terroristischen Systems auf die Kommunisten selbst: alles, was der führenden radikalen Strömung in der Kommunistischen Partei nicht entspricht, sich abzusondern anfängt, und, ohne aus der Partei auszuscheiden, eine selbständige "Gruppierung"79) oder eine "Opposition" zu bilden versucht, wird bekämpft, kompromittiert, verboten und aufgelöst. 

Seit 1921 ist schon eine lange Reihe solcher "Gruppierungen" aufgetreten, und alle haben dasselbe Schicksal erlebt; die stenographischen Berichte der Kommunistischen Kongresse sind seit 1922 schon auf das dreifache angeschwollen in dem Bemühen, das innere Parteigezänk wörtlich wiederzugeben. Je schärfer die Auseinander­setzungen werden, desto härter werden die Oppositionäre behandelt — beschimpft,80) kaltgestellt,81) aus der Partei ausgeschlossen,82) verbannt oder gar, wie Trotzky, ausgewiesen. Man behandelt den Beschuldigten wie einen "Aussätzigen".83) Zu Hinrichtungen ist es bis jetzt noch nicht gekommen.84)

74) Tatsachenmaterial ist im Buch von Aronsohn zu finden.
75)  Lenins Werke, Bd. XVIII, T. 2, S. 11.
76)  Ebendaselbst.
77)  Lenin, Bd. XVIII, T. l, S. 232 (russ.)
78)  Lenin, XVIII, T. 2, S. 55.
79)  Dies — ein terminus technicus des kommunistischen Partei-Jargons.
80)  "Gaunerei", "Falschspieler", "spitzbübisch" usw. 15. KK., S. 204, 372 u. a.
81)  z.B. Sinowjef, Kamenef, unlängst Bucharin usw.
82)  Wie z. B. 98 Parteigenossen in den Sitzungen d. XV. Kommun. Kongresses, Stenogr. Bericht S. 1247.
83)  Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 408, 566. 
84) Dunkle Gerüchte über Frunses Tod konnten bis jetzt nicht beweiskräftig bestätigt werden.

113


Auch die innere Parteibespitzelung ist in vollem Gange: die Kommunisten belauschen und denunzieren einander, sei es bei dem Diktator Stalin oder bei dem GPU. Kaum "haben zwei vertraulich gesprochen", so "schreibt schon sicher einer von ihnen an das Zentralkomitee der Partei";85) wo es nur eine politische Auseinandersetzung gibt, da gibt es schon eine "Denunzierung"; und "keine Freundschaft" darf den Kommunisten davor zurückhalten.86)

Die führenden Kreise vertreten sogar die Ansicht, daß ein Kommunist überhaupt als "Denunziant" nicht bezeichnet werden darf: er macht nur bestimmte "Mitteilungen" dem Partei­zentrum und erfüllt damit seine "Parteipflicht";87) auch dann, wenn er persönliche Briefe beifügt88) usw. Kurz: es herrscht "ein Terror innerhalb der Partei",89) und jeder Kommunist, der etwas zu sagen hat, überlegt zuerst, "was er eigentlich dafür kriegen wird"?90)

Dieses System hat sich nach Ansicht der Kommunisten im ganzen vollauf bewährt; nur vielleicht, daß es nicht entschlossen und hart genug durchgeführt wurde: "wir sind immerfort zu weich, zu großmütig gegen den besiegten Feind gewesen!"91) Diesen "Großmut" abgerechnet, wird das terroristische System als die "richtige Methode" gepriesen und entsprechend für andere Länder vorbereitet: die ganze Welt muß auf ein riesiges Blutbad gefaßt sein.

 

    Ein Weltterror in Vorbereitung   

Wo es den Kommunisten nur gelingt, eine revolutionäre Bewegung zu entfesseln, da wird sofort zielbewußt ein systematischer Terror ins Werk gesetzt. So z.B. in China, wo "an der Tagesordnung die Vernichtung der Gutsbesitzer steht".92) Das geschieht auch: frohlockend erzählt Bucharin in einer Sitzung des 15. KK im Dezember 1927, wie die neuentstandene Bauernsowjetmacht in China "einen ausrottenden Krieg gegen die Gutsbesitzer führt. Es sind schon, ungefähr 3-400 Gutsbesitzern die Köpfe abgehauen worden" (Applaus. Zwischenruf: "zu wenig, man müßte mehr!" ...)93)

85)  Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 612.
86)  Ebendaselbst, S. 601.
87)  Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 570, 615. 617, 624.
88)  Ebendaselbst, S. 651 u.a.
89)  Ebendaselbst, S. 404.
90)  Ebendaselbst, S. 614.
91)  So Lazis. Siehe bei Melgunof, S. 56, 57. Vgl. bei Trotzky die Drohung, "einen noch schonungsloseren Terror" ins Werk zu setzen als den früheren. 11. KK., S. 122.
92)  Bucharin im Dezember 1927. Stenogr. Bericht d. XV. Kommun. Kongresses, S. 759.
93) Die spöttische Ironie der russischen Ausdrücke ("Ussetscheny glavy") ist leider nicht zu übersetzen, 15. KK., S. 604.

114


Erfolgreich bemühen sich auch die Kommunisten, die führenden chinesischen Generäle "physisch niederzumetzeln".94) Auch in Indien wird genau dasselbe vorbereitet.95) Das gilt auch für die ganze Welt. "Es werden die Stunden der großen Schlachten kommen, und wir müssen fertig sein, unsere Schwerter wieder zu schwingen, die nicht nur der häuslichen, sondern auch der internationalen Konterrevolution die Köpfe abhauen werden."96) "Er naht, dieser Tag, möge die Kanaille der Weltbourgeoisie sich auch noch so große Fristverlängerung erpressen"; es naht die Stunde, "wo die Massen, geführt von ihren eigenen Dsershinskys, den widerlichen Kopf des konter­revolutionären Ungeheuers abschlagen werden".97)"Die Weltbourgeoisie verwünscht das GPU — es lebe das GPU !" 98)

 

    Psychologie der Terrorristen   

Es bleibt nur noch übrig, einige Hauptwinke zum Verständnis der Psychologie der Terroristen zu geben. — Wie gesagt, ist der Terror nicht nur als ein Exzeß, oder als eine Art von emotionaler Explosion, auch nicht als eine nur zeitweilige Psychose zu verstehen, sondern als ein gut und gründlich durchdachtes System. Es ist eine Methode, sich die Staatsgewalt durch Einschüchterung und durch geistige Zermürbung der Gegner zu sichern. Eine psychologische Analyse kann die Grundmotive dieses Systems am besten ins Licht rücken.

 

   Angst   

Ein furchtloser Mensch, der kein Gruseln kennt, wird sich nie zu einem systematischen Einschüchtern herablassen; die erste Quelle des Terrors — ist die Furcht in der Seele des Terroristen selbst. Er versucht einzuschüchtern, weil und in welchem Maße er selbst Angst hat; deswegen verschärft sich der Terror in Sowjetrußland immer dann, wenn objektive Gefahren oder subjektive Befürchtungen sich den kommunistischen Führern nähern. Im kalt geführten System des Terrors gibt es dann aufbrausende Wellen der Wut, die in der Angst ihre Quelle hat. 

Diese Angst aber entsteht ihrerseits aus dem sicheren Gefühl — etwas über alle Maßen Entsetzliches und absolut Unverzeihliches begangen zu haben: die Schiffe im Rücken sind verbrannt; es gibt weder Bekehrung, noch Besinnung, noch Evolution, noch Pardon; es gibt kein Umschwenken; man sieht sich gezwungen, weiter vorzudringen, sich durchzusetzen, auszuharren, und Blut auf Blut fließen zu lassen. 

Gefahr bringt Unruhe und Angst; die Angst wird durch neues Einschüchtern, beruhigt. Daraus ist das übrige schon leicht einzusehen.

94)  Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 605.
95)  Ebendaselbst, S. 729.
96)  Bucharin, Iswestija, 20. Dezember 1927. Vgl. 12.KK, S. 482/83, 506.
97)  Bucharin, Prawda, 18. Dezember 1927.
98)  Dies stand auf einem Plakat während der Feier des 10jährigen Jubiläums der Tscheka. Siehe Prawda vom 20. Dezember 1927.

115


   Todeskampf    

Die Kommunisten werden bis ans Ende mit Terror arbeitenerstens darum, weil sie große Menschen­schichten enteignen und ins Verderben stürzen. Durch Enteignung bringen sie Verelendung zustande; dadurch schaffen sie sich erbitterte Feinde, deren Zahl durch die Bedrohung und Untergrabung der ganzen bürgerlichen Welt immer weiter wächst. Sie haben das Prinzip des Kampfes auf die Spitze getrieben und die Differenzierung so verschärft, daß eine Hoffnung auf friedlichen Ausgleich, auf Abtretung und Kompromiß nicht mehr besteht. Diese Zuspitzung ist von ihnen bewußt angenommen worden und wird beibehalten, um den ganzen Kampf auf die Intensität der Verzweiflung einzustellen. Todeskampf und Terror bedingen sich gegenseitig.

 

   Der Kitt   

Zweitens wird das System des Terrors bis ans Ende bestehen müssen, weil Blut die heimliche Macht besitzt — Menschen auf eine unheimliche Weise auseinander zu bringen und zusammen zu schweißen. Eine Weltverschwörung braucht aber einen ganz besonderen Kitt. Daß Menschen zusammen durch lange Zeit eigenes Blut riskieren und fremdes Blut fließen lassen, macht sie nicht nur zu "Streitgenossen", sondern schweißt sie gewissermaßen zu einer Einheit zusammen: im Falle eines edlen Kampfes ist es eine geistige Verbrüderung; im Falle eines bösen Unternehmens ist es eine eigenartige Verbrecher­genossenschaft, wo jeder den anderen braucht, um die Last des gemeinsamen Fluches zu tragen und ertragen zu können. Wie gemeinsame Ketten klirren dann die Missetaten der Vergangenheit in den Seelen und zwingen sie zu einer weiteren Zusammenarbeit. Weltverschwörung und Terror gehören zueinander.

 

  Die bürgerliche Einstellung  

Drittens werden die Kommunisten das System des Terrors deswegen immer weiter fortführen müssen, weil sie für eine Wirtschafts­ordnung und Lebens­einrichtung kämpfen, welche der Natur des bürgerlich eingestellten Menschen grundsätzlich widersprechen. Wenn eine Staatsmacht versucht, in einem zu 9/10 bürgerlichen Lande die Privatinitiative abzuschaffen und das Privateigentum zu unterdrücken — so darf sie nicht auf ein allgemeines freiwilliges Entgegenkommen seitens der Bevölkerung rechnen; nein, sie ist auf Zwang angewiesen; mit Gewalt und Blut wird sie ihr System ins Leben hineinzwingen müssen. Dann hat sie vor sich das grundsätzliche Dilemma: die Selbsttätigkeit des Individuums und seine Privatinitiative entweder frei zu lassen, oder zu brechen und zu vergewaltigen. Das Bezwingen der bürgerlichen Einstellung und der Terror sind Lebenskorrelate.

116/117

  Die Macht der Zeit  

Viertens wird sich der kommunistische Terror immer "zu einem System verdichten müssen",99 besonders darum, weil der Kommunist als Revolutionär auftritt und umstürzend zu schaffen sucht. Er verkennt gänzlich die Macht der Zeit; er will das Unmögliche in kürzester Frist herbeiführen; eigensinnig und ungeduldig will er nichts von "nach und nach" wissen; er rechnet nur mit einem "sofort". Darum wird er immer zu einem "Ausrotten" und "Vergewaltigen" greifen und das Ungehorsame der Natur und der Zeit durch Zwang und Blut einzuklemmen und zu bewältigen suchen. Revolution und Terror gehen Hand in Hand.

 

 Der Despotismus  

Fünftens werden die Kommunisten den Terror deswegen immer benötigen, weil sie einem absolut über­triebenen Etatismus huldigen. In Wirklichkeit "kann" die Staatsmacht nicht nur nicht "alles", sondern verhältnismäßig sehr weniges; die Hauptsache aber — das Leben des Instinktes und des Geistes — ist ihr am allerwenigsten unterworfen. Dagegen brauchen die Kommunisten für ihre zentralistisch-bürokratischen Experimente ein absolut widerstandsloses, soziales Milieu, einen psychischen Lehm, Menschen ohne geistiges Rückgrat, kommunistisch eingestellte Automaten. Der Kommunist ist despotisch veranlagt; er gebietet und sucht unbedingten Gehorsam. Er muß einschüchtern. Darum bleiben Suggestion, Hypnose und Angstpsychose seine auserkorenen Methoden und Werkzeuge. Knochenbrecherischer Despotismus und Terror sind ein und dasselbe.

    Der Materialismus  

Sechstens endlich ist der Kommunist deswegen wesentlich auf das System des Terrors angewiesen, weil er nie und nirgends die der gesunden Staatsmacht gebührende geistige Autorität genießen kann und wird. Das geistige Prinzip als solches verachtend, zermürbend und zertretend, sieht er die menschliche Bestie und Kanaille sich gegenüber stehen und kriechen; und sieht sich selbst auf die nackte Gewalt angewiesen. 

Geistig kann die kommunistische Staatsmacht nur ganz ungebildeten, ganz naiven, ganz leichtgläubigen, schwärmerisch-sentimentalen Kommunisten imponieren, deren es überhaupt ungeheuer wenige gibt. Für die übrigen 99,9 % der Bevölkerung hat sie nur materielle Vorteile (solange sie reichen) und ..... die Einschüchterung. Darum sind geisteswidriger Materialismus und Terror als Lebenskorrelate zu verstehen.

Wo der Kommunismus den Sieg davontragen wird, da wird er auch das System der Terrors einführen und verwirklichen; und überall, wo dies geschehen wird, werden etwa dieselben Folgen ins Leben treten: Verelendung und Aussterben der antikommunistischen Elemente im Lande, Zerknirschung und verbissener Ingrimm in den Seelen der terrorisierten und geknechteten Menschen; eine eigenartige Anabyose des unterdrückten und verstümmelten politischen Lebens; eine wirtschaftliche Erlahmung der gesunden wirtschaftlichen Elemente. 

Und alle diese Folgen sind in soziologischer Hinsicht gesetzmäßig und unumgänglich. 

118

#

99)  Trotzkys Ausdruck, "Terrorismus und Kommunismus", S. 53 (russ.).

 

www.detopia.de     ^^^^