Teil 1    

  Start    Weiter

8. Die Nationalitätenpolitik in Sowjetrußland   

 

Von  A. P. Demidow 

Der Verfasser dieser Abhandlung, Herr A. Demidoff, hat zehn Jahre lang in Sowjetrußland gelebt und befindet sich augenblicklich im Ausland. Er verbrachte viele Jahre im Kaukasus und in Mittelasien und beherrscht eine ganze Reihe von Orientsprachen. Er ist ein guter Kenner der nationalen Frage in Rußland und der wirt­schaft­lichen Verhältnisse in der Sowjetunion. Im übrigen spricht die Abhandlung des Herrn Demidoff für sich selbst.  # Die Redaktion.

 

 

143-164

   Lenins Grundidee  

Wer sich die Mühe geben würde, Lenins Schriften und Reden aufmerksam zu lesen, der würde feststellen müssen, daß Lenin noch vor der Revolution und vor dem Kriege der Ansicht war, die nationale Befreiung der Völker fördere mächtig die wirt­schaftliche Differenzierung der Massen, das Aussondern des Proletariates, die Radikalisierung und Revolution­ierung der befreiten nationalen Minderheiten.1)

Diesem Standpunkt blieb er treu bis zu seinem Tode,2) und von diesen Gesichtspunkten aus baute er daher die National­itäten­politik in Sowjetrußland auf. Eine nationale Minderheit muß die Möglichkeit bekommen, ihre Sprache frei zu reden; dann erst werden ihre sozialen Widersprüche sich ausspielen und austoben können. Die Volkspsyche, befreit von der sprachlichen Hemmung, verfällt dem Gesetze des Klassenkampfes, der geschickt seitens der Kommunisten genährt und angefacht werden muß; das Proletariat, geführt von den Kommunisten, rafft sich dann zusammen, enteignet die Bourgeoisie der nationalen Minderheit, streift die nationalen "Vorurteile" ab, denationalisiert die von ihm geführte Nation und schließt sich dem großen internationalen Mischmasch der Weltrevolution an. 

Kurz: die nationale Unterdrückung hemmt die kommunistische Revolutionierung der nationalen Minderheiten. Befreien ist hier so viel wie revolutionieren, proletarisieren, zermürben und denationalisieren.  

Das war Lenins Grundgedanke. Die nationale Kultur als solche wollte und konnte er nie anerkennen.

 

1)  Siehe z.B. seinen großen Aufsatz "Kriticeskije Sametki po nationalnomu woprosu" vom Jahre 1913. Werke B. XIX, insbes.  S. 53-55, 59
2)  Siehe z.B. seine Rede auf dem VIII. Kongreß der Kommun. Partei, März 1919. Werke B. XIX, S. 230, 232 u.a.

 

"Marxismus und Nationalismus sind unversöhnlich" ... "Jeglichen Nationalismus sucht der Marxismus durch einen Internationalismus, durch das Verschmelzen aller Nationen in einer höheren Einheit zu ersetzen" ... "Der Kampf gegen jegliche nationale Bedrückung — wird unbedingt anerkannt, bejaht. Der Kampf um jegliche nationale Entwicklung, für die 'nationale Kultur' überhaupt — wird unbedingt abgelehnt, verneint" ... "Nicht nur verspricht das Proletariat nicht — die nationale Entwicklung jeder Nation zu schützen, ... sondern es begrüßt jede Assimilierung der Nationen."3)

Dementsprechend führte ein angesehener Kommunist, Tomsky, in den Sitzungen des VIII. Kommunist­ischen Kongresses aus:4  

"Ich setze voraus, daß in diesem Saal kein einziger Mensch zu finden wäre, der gesagt hätte — die Selbstbestimmung der Nationen, die nationale Bewegung wäre etwas Normales und Wünschenswertes. Zu solchen Sachen verhalten wir uns wie zu einem unvermeidlichen Übel."

Die Kommunisten sehen sich aber genötigt, die nationalen Minderheiten — nicht nur in Rußland, sondern nach und nach überall — für sich zu gewinnen. "Eine richtige Lösung der nationalen Frage — bedeutet zu 50 % die erfolgreiche Lösung der Aufgaben der Revolution",5) denn "es gibt nichts Schlimmeres, als das Mißtrauen einer Nation".6) Die "richtige Lösung" ist also diejenige, welche das Vertrauen der nationalen Minderheiten gewinnt, um sie dann der revolutionären Zermürbung und der internation­alistischen Auflösung entgegen­zuführen.

Die nationale Politik der Kommunisten besteht also darin, daß sie die eigentliche nationale Frage (Sprache, Kultur, Selbst­verwaltung) durch eine national-soziale ersetzen, um sie dann im kommunistischen, internationalistischen und antinationalistischen Sinne zu lösen. Die nationale Politik muß mit einem "Klasseninhalt" erfüllt werden.7) Es handelt sich hier nicht um die "Freiheit" und "Gleichheit" der nationalen Gruppen, sondern um die "Freiheit" und "Gleichheit" der werktätigen Klassen8) verschiedener Nationen.

 

3)  Lenin, Werke, B. XIX, S. 52-53. Aufsatz vom Jahre 1913. 
4)  März 1919. Siehe den Stenogr. Bericht.
5)  Sinowjew, Stenogr. Bericht des XIII. Kommun. Kongresses. S. 46.
6)  Lenin, Werke, B. XIX, S. 232.
7)  Siehe den entsprechenden Aufsatz von Ischan-Chodshajef in der Prawda 1930, 2. Juli: "Der Klasseninhalt der Nationalpolitik".
8)  Siehe z. B. in der Prawda 1930, 26. Juni, Aufsatz von Tabolof

144


"Frei" und "gleich" muß nicht die nationale Minderheit als solche werden, sondern das Proletariat der nationalen Minderheit ihrer eigenen "Bourgeoise" gegenüber. Das heißt, daß jede kommunistisch "befreite", nationale Minderheit vor allem revolutioniert und durch allgemeine Enteignung proletarisiert werden muß; was auch entsprechend durchgeführt wird.9) Die proletarisierten Minderheiten werden dann nach und nach als kommunistisches Proletariat in Staatsbetrieben untergebracht werden.

 

Autonomie oder Diktatur  

Vorläufig gilt es aber, sie für die Sowjetregierung zu gewinnen. Um dies zu erreichen, fingen die Kommunisten mit einer besonders auffälligen Lockerung der politischen und sprachlichen Zentralisation an; es wurde deklariert, daß "die Macht an die Lokal-Sowjets überwiesen wird", d.h., daß auch die nationalen Minderheiten Selbstverwaltung erhalten, und daß die Revolution einen weitgehenden und folgerichtigen Förderalismus mit sich bringe.

Gleichzeitig aber suchten die Kommunisten in Rußland eine konsequente und strenge Diktatur zu schaffen; sie waren sich dessen vollauf bewußt, daß der Kommunismus einen wirtschaftlichen und kulturellen Zentralismus bedeutet, und daß ein wirtschaftlicher und kultureller Zentralismus nur unter der Bedingung einer politischen Zentralisation denkbar ist.

Aus diesem Grunde suchten sie den angeblichen Föderalismus mit verkapptem Zentralismus zu durch­tränken, und entfesselten die zentrifugalen Kräfte des Landes nur, um den zentripetalen Knoten auf eine neue Weise zu schlingen. Den kleinen Nationalitäten gaben sie "die Freiheit", nur um sie zu bestechen und zu unterwerfen; sie suchten die nationalen Minderheiten zu revolutionieren, um sie dann klein zu kriegen. Sie wollten die Illusion einer Selbständigkeit und einer Selbstbestimmung erwecken, um ihrer Diktatur im Auslande das Aussehen eines neuen, von revolutionärtriumphierenden russischen Völkern frei geschaffenen Gebildes zu geben; auf diese Weise sollten die nationalen Minderheiten der ganzen Welt für den Kommunismus gewonnen werden.

9)  Siehe im selben Aufsatz: "Die russische Bourgeoisie bremste mit allen Mitteln den Prozeß der Bildung des nationalen Minder­heits­proletariates"; dagegen schafft die nationale Politik der Kommunisten "eine feste Grundlage für die Bildung des nationalen Proletariates". Prawda, 1930, 26. Juni. 

145


Ihre ganze Taktik bestand darin, die Idee "des einheitlichen, ungeteilten Rußlands" zu verspotten und an deren Stelle unauffällig die Idee "der einheitlichen, ungeteilten kommunistischen Partei" zu setzen; die allrussisch-nationale Großmacht durch eine kommunistisch-internationale Großmacht zu ersetzen. Darin sind die Kommunisten konsequent: so bedeutet bei ihnen "Glaubensfreiheit" ein gewaltsames Aufoktroieren der Religionslosigkeit, eine Liquidation des Glaubens überhaupt; "gerechte Neuverteilung des Eigentums" bedeutet ihnen Abschaffung des Privateigentums; die "Befreiung der nationalen Minderheiten" bedeutet überhaupt Zersetzung und Liquidation des nationalen Prinzips.

 

Die Sprachenfreiheit  

Die Kommunisten sind aggressive Internationalisten [deto: im Original: Internatiolisten] und Antinationalisten. Das Einführen "der Sprachenfreiheit" ist für sie nur eine Methode, das nationale Prinzip anzugreifen, es zu untergraben und aufzulösen. Durch das Gewähren der Sprachen­freiheit suchen sie:

  1. die nationalen Minderheiten in Rußland zu bestechen und für sich zu gewinnen;

  2. den Zugang zu den nationalen Seelen der Minderheiten für ihre Propaganda zu finden und die Völker in ihrer eigenen Sprache zu bearbeiten;

  3. in jeder nationalen Minderheit eine neue Zelle von einheimischen kommunistischen Agitatoren und Führern zu schaffen,10) diese Zelle der einheitlichen unteilbaren kommunistischen Partei auf Grund einer strengen Disziplin einzuverleiben und der jeweiligen Zelle eine entsprechende nationale Minderheit zur weiteren Bearbeitung unterzuordnen;11)

  4. die Aufmerksamkeit aller zur Enteignung, also zur Verelendung und zur Internationalisierung, verdammten Völker von der bevorstehenden Zersetzung aller religiösen, patriarchalisch-volkstümlichen und privatwirtschaftlichen Grundlagen ihrer nationalen Kultur abzulenken und jeder auf diese Weise "beglückten" nationalen Minderheit gleichsam während des Schlafes Gift ins Ohr hineinzuträufeln.12)

 

10)  Siehe ausführliche Berichte über diese Arbeit in den kommunistischen Zeitungen und Zeitschriften. Z. B. für die Republik Aserbeidschan. Prawda, 1930, 10. Mai.
11)  Siehe z. B. die Erklärung von Stalin im Jahre 1923: "Die Kommunistische Partei Georgiens enthält die Säfte, die besten Elemente des georgischen Volkes, ohne die es unmöglich ist, Georgien zu beherrschen". 12.KK, S. 186. Stalin ist selbst Georgier und heißt Dshugaschwili.
12)  Es ist sehr bezeichnend, daß die Kommunisten jetzt fast alle nationalen Minderheiten des Sowjetstaates wegen "Chauvinismus" anklagen. So z. B. tritt in der Weißrussischen Republik angeblich ein jüdischer und ein weißrussischer "Groß-Macht-Chauvinismus" zutage. In Wirklichkeit steht es so, daß die nationalen Minderheiten dort ihre bürgerlich-nationale Kultur und Lebensweise zu behaupten und zu verteidigen suchen: ein "aktiver Widerstand" gegen die "sozialistische Rekonstruktion der Wirtschaft" geht vor sich und wird ständig schärfer. "Die Synagoge ist zum Zentrum der chauvinistischen Aktivität bei den jüdischen Werktätigen geworden". Siehe Prawda, 1930, 21. Mai. Aufsatz von A. Senkewitsch; Prawda, 1930, 27. Juli. Aufsatz von Tabolof; ganz besonders die Berichte in der Prawda, 1930, 27. Juli, von Klevakin, Le und anderen.

146


Man kann diese Methode auch folgendermaßen veranschaulichen; Die Freiheit der Muttersprache — diese Anfangsstufe einer nationalen Kultur — wird gewährt, damit dem Volke die nationale Seele und somit auch die nationale Sprache sicher und endgültig genommen werde. Grundsätzlich führte Stalin in den Sitzungen des XVI. Kongresses dazu aus: 

"Was aber die späteren Aussichten der nationalen Kulturen und der nationalen Sprachen betrifft, so war ich immer und bleibe auch jetzt der Leninschen Meinung, daß zu der Zeit, wo der Sozialismus im Weltmaßstabe siegen wird, wo der Sozialismus erstarken und die Daseinsweise durchdringen wird, — die nationalen Sprachen unbedingt zu einer gemeinsamen Sprache werden verschmelzen müssen; allerdings wird diese Sprache weder die großrussische, noch die deutsche sein, sondern etwas Neues."... (13)

So ist die in Sowjetrußland gewährte "Sprachenfreiheit" — was in Europa und zum Teil auch in Asien vollständig mißverstanden und überschätzt wird — nichts anderes, als der Anfang eines tiefdurchdachten und meisterhaft durchgeführten Zermürbungs- und Denationalisierungs­prozesses der kleinen Völker, also der Anfang ihrer Auflösung in dem national-indifferenten, proletarischen Massiv der Kommunistischen Partei und der zu revolutionierenden Welt.

 

Die siegreiche Diktatur  

Es ist nun selbstverständlich, daß im weiteren Verlauf der Revolution an Stelle des zentrifugalen Scheins die zentripetale Realität getreten ist. Immer mehr und mehr wurde die Staatsmacht wieder vom Zentrum aufgenommen, und die Peripherie wurde zum schweigenden Gehorsam gebracht; die führenden Schichten der nationalen Minderheiten wurden immer stärker durch "Genossen aus dem Zentrum" durchsetzt und teilweise ersetzt;14)

 

13)  Stalins Schlußwort. Prawda, 1930, 3. Juli.
14)  Es sei hier einer markanten Formel des Kommunisten Schochin gedacht: "Es macht nichts, es ist kein Unglück, wenn der betreffende Genosse — Petroff aus Moskau oder aus Leningrad heißen wird: in einem halben Jahre werden wir aus ihm einen Petrenko" (für die Ukraine) "und im Kaukasus einen Petroschwili gemacht haben". 12. KK, S. 497. 
Das bedeutet, daß ein aus dem Zentrum zugeschickter Kommunist — an Ort und Stelle bei den nationalen Minderheiten systematisch für einen einheimischen Kommunisten ausgegeben wird. 
Die Sowjetbürokratie in der türkischen Republik Aserbeidschan wies z.B. im Jahre 1930 nur 28,8 Prozent Türken durchschnittlich auf, in den Trust-Verwaltungen sogar nur 9 Prozent. Siehe den oben zitierten Bericht in der Prawda vom 10. Mai 1930. Dieser Prozentsatz ist, wie aus dem Bericht folgt, weiter im Fallen begriffen.

147


der Eigenwille der kleinen Nationalitäten wurde mit Feuer und Schwert bekämpft;15) und sogar lokale Parteiorganisationen der Kommunisten, die aus Naivität den Föderalismus ernst nahmen, wurden aufgelöst oder einer allgemeinen Versetzung unterworfen, Jedenfalls aber des Besseren belehrt und vom Zentrum unschädlich gemacht.16)

Dadurch werden nun die auf einem kommunistischen Kongreß laut gewordenen Klagen verständlich, daß nämlich in der Nationalitätenpolitik der Kommunisten kein einheitliches System herrsche; man hätte immer Schwankungen und Änderungen zu verzeichnen: zuerst wird ein Staatenbund auf wirtschaftlicher und nicht auf administrativer Grundlage angestrebt; dann ein Bundesstaat in der Art einer ziemlich lockeren Föderation; und schließlich ein Zentralismus, überhaupt keine Föderation, sondern nur eine Autonomie.... "Laßt doch diese ewig schwankende Politik", rief einst ein naiver und nicht genügend einsichtiger und unterrichteter Kommunist, Mdivani, aus, "und sagt uns, welche Nationalitätenpolitik führt ihr denn eigentlich?!"17)

In Wirklichkeit waren diese "Schwankungen" durchaus nicht zufällig: es war ein verkapptes, aber systematisches Durchführen der kommunistischen Staatszentralisation. "Gestern traf ich einen Genossen", erzählt auf demselben Kongreß Bucharin, "der vor kurzem aus einem Grenzgebiet gekommen war. ,Na, habt ihr was Neues?', frage ich ihn. ,Ach was, nichts Neues; wir würgen die Minderheitsnationalisten ab!' (Lachen im Saal)"18)

Dieses Wort "würgen" sprechen die Kommunisten nie in den Wind aus, und alle vertrauensseligen Nationalitäten werden es vielleicht einmal am eigenen Leibe verspüren müssen.

 

15)  z.B. in Georgien; auch in der Ukraine; man gedenke auch der entsprechenden Versuche in Finnland, Lettland und Estland.
16)  Vgl. die interessanten Stellen in der Rede des Kommunisten Medwedjew auf dem XIV. Kommun. Kongreß (Dez. 1925): "In der Ukraine gab es bis zur letzten Zeit ,Ukapisten'" (d. h. Anhänger einer selbständigen ukrainischen Kommunistischen Partei mit chauvinistisch-ukrainischem Anstrich), "welche dem Schein nach unsere Parteitendenzen, in Wirklichkeit aber ihren eigenen nationalistischen Standpunkt durchführten. . . . Jetzt hat das Zentralkomitee diese Frage gelöst: die Ukapisten sind nun mit unserer Partei verschmolzen und arbeiten im Einvernehmen mit uns". 14. KK, S. 177.
17)  Stenogr. Bericht des XII. Kommun. Kongresses, S. 152.
18)  Ebendaselbst, S. 169; russisch: "wot, nazionalow duschym". Die Kommunisten Ordshonikidse und Maharadse bezeichnen diese Behandlung der nationalen Minderheiten seitens der Kommunisten mit anderen Worten: "Ja, wir unterdrücken" (russisch: "da, prishimajem"). Ebendaselbst, S. 474.

148


Obwohl die Kommunisten ihre Macht immer mehr festigten und die Grenzen der USSR so fixierten, wie wir sie augenblicklich sehen, so wurde doch die nationale Frage nicht endgültig gelöst; der Prozeß der Aufteilung und Wiederverteilung der unzähligen Republiken auf dem Territorium des ehemaligen Russischen Reiches, ebenso wie auch der Prozeß der Zentralisierung ist noch immer nicht zum Abschluß gekommen.19) Fast Jedes Jahr bringt etwas Neues, sowohl in der nationalen Frage, als auch in der Nationalitäten-Politik. 

Es ist selbstverständlich, daß die Politik der langsamen kommunistischen Zersetzung und zentralistischen Knechtung der nationalen Minderheiten von einer andauernden und energischen kommunistischen Propaganda inmitten der "ärmsten" Schichten derselben20) und von demagogisch-bestechenden Maßnahmen begleitet wird. Es ist auch zu verstehen, daß im Auslande die Kommunisten in ihrer Parteipresse ebenso wie in der übrigen Weltpresse ausschließlich die "Befreiungspolitik", die Politik der "Selbstbestimmung", die "Sprachen- und Kulturfreiheit", die ökonomischen Erleichterungen und die wirtschaftliche Hebung der Grenzgebiete hervorzuheben verstehen.

Die Kommunistische Partei weiß ausgezeichnet die schwachen Seiten und die Nachgiebigkeit der Volks­massen auszunutzen, und zwar stets für ihre eigenen, internationalen. kommunistischen Zwecke. Den Prosaikern und Fanatikern des kommunistischen Programms, den Anhängern der III. Internationale, waren stets alle Mittel recht, vorausgesetzt, daß sie zum Ziele führten. Die Leichtigkeit, mit welcher die Bolschewiken zur Gründung einer föderativen Staatsverfassung — oder zur sogenannten "schwarzen Neuverteilung" des Grund und und Bodens schritten, ist dadurch zu erklären, daß sie darin die Möglichkeit erblickten, die passenden, die populären Losungen anderer Parteien für sich politisch auszunutzen. In gleicher Weise versuchten sie auch in der Nationalitäten-Frage die verschiedenen Losungen und Programme auszunutzen, die von dem radikal und nationalistisch eingestellten Teil einzelner Nationalitäten ausgingen und seitens der demokratischen Parteien überhaupt anerkannt und befürwortet wurden.

 

19)  So wurde z.B. noch vor einem Jahre, als die Kollektivierung der Landwirtschaft beschlossen wurde, — die landwirtschaftliche Verwaltung im ganzen Lande zentralisiert und vereinheitlicht.
20)  Siehe Stenogr. Bericht des XII. Kommun. Kongresses, S. 465 bis 466.

149


Die Mitläufer  

Dementsprechend wurde auch die Politik der Kommunisten in der Nationalitäten-Frage in Übereinstimmung mit den lokalen Eigenheiten und mit den Jeweiligen Forderungen der nationalistisch eingestellten, gebildeten Kreise aufgebaut. Die Kommun­istische Partei suchte immer, die Arbeitsmöglichkeit für alle Andersgesinnten auf das Äußerste zu erschweren und auf jede Weise die führenden Persönlichkeiten der nationalen Minderheiten heranzuziehen, ohne Rücksicht darauf, ob die letzteren mit der Kommunistischen Partei zusammenfühlten und -dachten oder nicht.

In den Minderheitsgebieten, wo es fast gänzlich an erforderlichen Trägern der kommunistischen Idee fehlte, sahen sich die Bolschewiken genötigt, um neue, arbeitsfähige, sei es auch halbintelligente Menschen zu werben. Die dunklen Massentriebe wurden angefacht und ausgespielt, und dadurch wurden Mitläufer gewonnen, die nach bestem "Wissen und Gewissen" der Kommunistischen Partei unschätzbare Dienste in den Kreisen der nationalen Minderheiten leisteten, also da, wo der kommunistische Einfluß nicht durchdringen konnte, oder wenigstens sehr gering war.

In solchen Gebieten wurde das politische Leben oft durch Feindseligkeiten zwischen den einzelnen nationalen Minderheiten erschwert und vergiftet. Dieses gegenseitige Anfeinden, dieser Haß und Kampf, erschöpfte die Kräfte der in Fehde stehenden kleinen Nationalitäten, legte ihren Widerstand gegen die Kommunisten lahm und verstärkte auf diese Weise die Kräfte der erobernden Sowjetmacht. Der Hauptzweck der Kommunisten war die Festigung ihrer eigenen Position; dementsprechend wurden von ihnen alle nationalen Minderheiten ausschließlich als Werkzeug ihrer Politik betrachtet, ohne Rücksicht auf die von diesen Minderheiten getragenen Opfer und Leiden.

 

Die Eroberung  

Wenn die Minderheitsgebiete ohne Kampf in bolschewistische Hände gerieten, wandten die Kommunisten zum Heranziehen der nationalen Kräfte verhältnismäßig friedliche Mittel an, wie z.B. in den Hauptgebieten des Turkestan. In anderen Fällen wiederum eroberten sie das Land mit Waffengewalt, so z.B. Georgien; und dann flossen Ströme von Blut. Sie sparten schließlich nicht mit Mitteln für die Durchführung ihrer groß angelegten Provokation, um in geschickter Weise einen bewaffneten Aufstand anzuzetteln.

Das Jahr 1920 ist in dieser Hinsicht besonders bemerkenswert. Kurz vor ihrem Angriff auf Buchara statteten zwei Mitglieder der "Türkenkommission", die führenden Kommunisten Frunse und Eliawa, dem Emir einen freundschaftlichen Besuch ab, wobei sie ihm die Erhaltung seiner Souveränität zusicherten.

150


Dabei beabsichtigten sie, in wenigen Tagen die Buchara zu überfallen, zu welchem Zwecke Truppen aus dem zentralen Rußland schon herbeigeschafft waren, die sofort einen bewaffneten Aufstand des "revolutionären" bucharischen Volkes gegen den Emir zu inszenieren hatten. Ungefähr das gleiche Los traf auch die Republik von Aserbeidschan und namentlich die von Georgien. Nachdem ein Übereinkommen bezüglich der Achtung und Nichtverletzung der gemeinsamen Staatsgrenzen in Georgien getroffen worden war, drangen die in georgische Nationaltracht verkleideten kommunistischen Truppen in Georgien ein, inszenierten einen Aufstand der "georgischen Kommunisten", bemächtigten sich der Städte und stürzten die sozialistische Regierung des Landes.

Aus dem oben Gesagten tritt die Aufgabe, die sich die Kommunisten in der Nationalitätenfrage nach der Oktoberrevolution gestellt hatten, deutlich hervor; aber auch die Wege, die sie zur Durchführung ihrer Politik einschlugen, sind damit schon angedeutet.

 

Die Propaganda nach außen  

Da aber die Kommunisten davon ausgehen, daß das Bestehen der Sowjetunion nur unter der Voraussetzung einer sozialen Welt­revolution möglich sei, so versuchen sie auf die kolonialen und halbkolonialen Länder einzuwirken und sie zu einer nationalen Befreiungs­revolution aufzumuntern. Jede revolutionäre Bewegung, als solche, ist ihnen erwünscht, sei es auch eine politische oder nationale Bewegung: das "Soziale" und "Kommunistische", hoffen sie, wird dann von selbst auflodern. 

Wenn nun die wirtschaftlichen Experimente in Zentralrußland den fortschrittlich eingestellten Staaten die Verwirklichung des sozialen Ideals vor Augen führen sollen, so will die in extremen Losungen gehaltene Nationalitätenpolitik den kolonialen und halbkolonialen Ländern der Welt als Musterbeispiel gelten. Das Prinzip, nach dem die USSR aus den zahlreichen "selbständigen" Gebieten, "autonomen" Republiken und "Freistaaten" aufgebaut wird, müßte also der ganzen Welt zeigen, in welchem Maße es den einzelnen Völkern Rußlands möglich geworden ist, eine politische Selbständigkeit zu erreichen und zu verwirklichen.

Das alltägliche Leben und die materielle Lage, in welcher sich die einzelnen Völker der Grenzgebiete befinden, zeigen jedoch, wie wenig diese Losungen und diese Prinzipien der wahren Sachlage entsprechen.

Wenn wir z.B. Mittelasien nehmen, so werden wir etwa folgendes feststellen müssen. Auf dem Territorium Turkestans wurden zwei neue Sowjetrepubliken errichtet: "Usbekistan" und "Turkmenistan". Noch vor kurzem gehörte der "Tadschikistan", als autonome Republik der Republik "Usbekistan" an; jetzt ist er aber zu einer selbständigen Staatseinheit geworden und von Usbekistan vollkommen unabhängig.

151


Außerdem gibt es noch "autonome Gebiete", z.B. das Kara-Kirgisische, welches zu der RSFSR (Innerrußland) gehört, und das autonome Gebiet der Karakalpaken, welches einen Teil der Kasakschen Republik ausmacht, wobei die letztere einen Teil des Turkestan, des südwestlichen Sibirien und des europäischen Rußland einnimmt und ebenfalls der RSFSR angehört.

Die internationale Bedeutung dieser überaus komplizierten Kombination wurde sehr treffend auf einem Kongreß in Moskau anläßlich der Jahresfeier des Bestehens der Turkmenischen Republik von Trotzky charakterisiert: die USSR will nämlich der ganzen Welt zeigen, wie weit sie in ihrer Nationalitäten-Politik gegangen ist, indem sie den einheimischen Völkern die volle Freiheit gegeben hat, indem sie dieselben zur politischen Selbständigkeit anregt und nun ihre seit Jahrhunderten gehegten Hoffnungen erfüllt hat. Doch die Aufgabe beschränkt sich nicht nur darauf. Die Nationalitäten-Politik der Kommunisten, ihre höchste fortschrittliche Leistung in dieser Hinsicht, soll eine ungeheure agitatorische Wirkung ausüben, die anderen kolonialen und halbkolonialen Länder zur Bekämpfung der "imperialistischen und kapitalistischen Ausbeuter" anspornen und sie gleichzeitig zur "nationalen Selbständigkeit" anregen. Dies alles führte Trotzky öffentlich aus.

Dieses Geständnis erlaubt uns, wieder einen Blick in die wirklichen Absichten der Dritten Internationale zu werfen, indem es uns noch einen bestätigenden Beweis dafür bringt, daß die Sowjetmacht die nationalen Minderheiten wohl ernst nimmt, aber es durchaus nicht gut mit ihnen meint. Die Interessen dieser Völker, ihre Wünsche und Hoffnungen werden nur als ein Übel in Betracht gezogen, das nun einmal berücksichtigt werden muß. Die radikalen Formeln und auch die radikalen Änderungen der politischen Karte der Grenzgebiete Rußlands sind ihrem Wesen nach nur äußere Erscheinungsformen, nur ein Agitationsmittel, welches in der internationalen Politik ausgespielt wird, um auf die anderen Völker einzuwirken, die noch als Mitläufer für die Kommunisten in Betracht kommen.

 

Die territoriale Differenzierung  

Indem die Kommunisten diese Politik folgerichtig durchführten, wußten sie genau, daß die auf einer politischen Karte deutlich aufgezeichnete geographische Abgrenzung und "Selbständigkeit" der einzelnen Völker am ehesten und am anschaulichsten der ganzen Welt bekannt werden kann und wird, daß also solche Karten ein überaus wirksames Agitationsmittel unter den kleinen und

152


unterdrückten Völkern abgeben, denen dadurch Vertrauen zur kommunistischen Partei eingeflößt wird, und die infolgedessen, früher oder später den Weg der geistigen und nationalen Selbstzermürbung zu beschreiten, gewillt sein werden. Darum suchten die Kommunisten eine möglichst vollständige territoriale Absonderung der einzelnen Völker auf ethnographischer Basis herzustellen. In dieser Beziehung sind sie tatsächlich sehr weit gegangen: sie haben die Zersplitterung des Landes bis ins Äußerste durchgeführt. Man könnte annehmen, daß es auf diese Weise wirklich gelingen könnte, die einzelnen Nationalitäten von einander abzugrenzen; doch das Leben hat gerade das Gegenteil erwiesen. Man hat sich überzeugen müssen, daß selbst die größte Zersplitterung des Landes es nicht ermöglicht, solche Gebiete zu schaffen, die nur von einem Volke bewohnt werden.

Die Erfahrung hat gezeigt, daß z.B. in Mittelasien oder im Kaukasus die allergrößte Differenziertheit der geographisch-politischen Neubildungen, der sogenannten "Republiken" und "autonomen Gebiete" noch lange nicht der faktischen Ansiedlung und den angeblichen Interessen der einzelnen Nationalitäten gerecht wird. Die Bevölkerung eines beliebigen autonomen Gebietes ist nie vollkommen einheitlich, sondern besteht immer zu einem gewissen Prozentsatz aus fremden Völkerschaften. Um nun eine noch weitergehende Zersplitterung zu verhüten, mußten die Kommunisten zu ganz willkürlichen Entscheidungen, zu Zwangsmaßnahmen, greifen und von der Berücksichtigung aller kleineren nationalen Interessen absehen. Diese Inkonsequenz bedeutet ein vollkommenes Mißglücken des Versuchs, die Nationalitäten-Frage auf eine radikal folgerichtige und doktrinäre Weise zu lösen.

Es wäre zu erwarten gewesen, daß die Gründung unzähliger einzelner Republiken und verschiedener autonomer Gebiete endlich die Streitigkeiten und die Feindschaft zwischen den nationalen Minderheiten beilegt und zu einem friedlichen Zusammenarbeiten der Völker führt. Wir sehen jedoch das Gegenteil.

 

Ihre Unmöglichkeit  

Noch lange vor der Aufteilung des Turkestan in selbständige Republiken und autonome Gebiete entbrannte zwischen den einzelnen Nationalitäten der Streit, wem wohl die verschiedenen Gebiete und Wertobjekte zufallen sollten. Man scheute in dessen Verlauf vor keinen Mitteln zurück, auch nicht vor der Fälschung statistischer Angaben. Nach der Aufteilung erwies es sich, daß die einzelnen Republiken doch eine ganze Reihe fremdstämmiger Nationalitäten in sich einschließen. In den Gebirgs­gegenden von Usbekistan waren erhebliche Gruppen von Tadschiken und Kasak-Kirgisen, in Turkmenistan eine ganze usbekische Stadt, Tschardshuj, und große usbekische Ansiedlungen am Flusse Amu-Darja sowie in Kasakstan wichtige Punkte und Städte mit überwiegend usbekischer Bevölkerung eingeschlossen.

153


Dasselbe sehen wir auch in Transkaukasien, wo armenische Bevölkerung in die Gebiete Georgiens und Asarbeidschans eingegliedert wurde, und wiederum andere Nationalitäten zu den benachbarten Republiken gezählt wurden. Die Schwierigkeit bestand jedoch nicht allein in der Undurchführbarkeit einer auf ethnographischer Basis vorgenommenen Abgrenzung. Auch das Stromsystem und die Bewässerungs­anlagen mußten so geteilt werden, daß von Gerechtigkeit gar nicht zu sprechen war, und ein Grund zu ewigen Streitigkeiten und gegenseitiger Feindschaft geschaffen wurde. Die Bauten des Ausgangspunktes der Bewässerungskanäle und die Oberläufe der Flüsse im Ferganschen Gebiet befinden sich z.B. auf dem Territorium der Kara-Kirgisischen Republik, dagegen die mittleren Teile und die Schlußteile dieser Kanäle in der Usbekischen Republik. 

In kritischen Zeiten, wo das Wasser aus diesen Anlagen dringend benötigt wird, kommt es oft zwischen beiden Republiken zu erbitterten und blutigen Kämpfen, da die Kasak-Kirgisen die nötigen Wassermengen an die Usbeken nicht abgeben wollen. Im Gebiet des unteren Laufes des Amu-Darja trägt der Kampf ums Wasser zwischen den Usbeken und den Turkmenen traditionell einen blutigen Charakter, ein Zustand, welcher dank den von der Sowjetregierung getroffenen Maßnahmen, statt behoben zu werden, sich noch verschlimmert hat. Für Turkestan wäre es möglich, noch mehr solcher Beispiele anzuführen. —

In Transkaukasien hat die Bewässerungsfrage diesen akuten Charakter noch nicht angenommen, doch wird sie sich unvermeidlich zuspitzen müssen, sobald man zu den im großen Maßstabe geplanten Bewässerungsarbeiten schreiten wird. Hier durchqueren nämlich die wasserreichsten Hauptströme die Staatsgebiete von verschiedenen Republiken, und schon das Besprechen dieser Bewässerungsprojekte allein hat unlängst zu erbitterten Kämpfen zwischen den kommunistischen Vertretern der einzelnen Republiken geführt. Sobald eine Nationalität überhaupt eine Möglichkeit oder Veranlassung bekommt chauvinistisch aufzutreten, legt sie denkbar hartnäckigen Chauvinismus an den Tag. Wenn dann noch ein Streit zwischen verschiedenen Nationalitäten historische Grundlagen und Quellen hat, so nimmt er kaum jemals ein Ende, und nur unter dem Einfluß von äußeren Faktoren können die Feindseligkeiten eine verkappte Form annehmen.

154


Die nationalen Kämpfe 

Erst dadurch, daß der Turkestan dem Russischen Reiche angegliedert wurde, hörte der Kampf zwischen den nomadisierenden Kasak-Kirgisen und den ansässigen Usbeken vollständig auf. Durch Autorität und Strenge gelang es der russischen Staatsmacht, den seit Jahrhunderten andauernden Streit der Nomaden mit dem kokandischen Chanenreich beizulegen. Die Revolution und namentlich die Sowjetpolitik entfachten die nationalen Feindseligkeiten aufs neue. Wohl ist es noch nicht zum offenen Kampf gekommen, doch ist schon wieder ein allmähliches Anwachsen kriegerischer Gelüste zu verzeichnen. Die Beziehungen zwischen den Usbeken und den Turkmenen im Gebiet des unteren Laufes der Amu-Darja tragen den Charakter eines noch nicht beendeten Krieges. Beide Völker warten nur auf den günstigen Augenblick, um in offenen Kampf treten zu können, da ja der Streit um das Recht, auf den bewässerten Gebieten leben zu dürfen, für beide Seiten eine Existenzfrage ausmacht und kein befriedigendes Ende gefunden hat.

 

Auch der nationale Kampf zwischen Armeniern und Tataren ist durchaus nicht beigelegt. Nur die Anwesenheit der Sowjettruppen vermag beide Völker von einem offenen Kriege zurückzuhalten. Ein einziger Blick auf die Karte genügt, um einzusehen, inwiefern die territoriale Einteilung und Abgrenzung der Armenischen und Asarbeidschanschen Republiken ihr "friedliches Zusammenleben" gewährleistet. Das Autonome Gebiet der Asarbeidschanschen Republik: Nachitschewan — ist von ihr durch ein der Armenischen Republik gehörendes, ziemlich großes Gelände getrennt. Dieses Gelände wird von einer gemischten Bevölkerung — Armeniern und Tataren — bewohnt, wobei beide nationalen Bestandteile sich gegenseitig hassen und befeinden.

Asarbeidschan und Nachitschewan haben große Neigung zu einem einheitlichen Staatsgebilde zusammen­zuschmelzen, was jedoch durch das Dazwischenliegen der Armenischen Republik verhindert wird. Zur Asarbeidschanschen Republik gehört dagegen das autonome Hochland von Karabach, welches zum größten Teil von Armeniern bewohnt ist. Hier bleiben die Armenier und die Tataren in einen feindlichen Knoten geschlungen, da wieder ein Teil der Bevölkerung territorial von dem anderen getrennt ist. Das gleiche beobachten wir bei den Armeniern und Georgiern. Das Verhältnis dieser Völker zueinander spitzt sich ganz besonders in der Hauptstadt Georgiens zu einem Problem von außerordentlicher Wichtigkeit zu, da hier die Einwohnerzahl der beiden Nationalitäten fast die gleiche ist, und außerdem die Armenier die wirtschaftliche Übermacht besitzen.

155


Durch die bis zur äußersten Gefühlsgrenze gesteigerte und getriebene nationale Politik trat noch so manches zutage, was bis dahin unbekannt war, oder kaum zum Vorschein kam. Es bedurfte nur eines Anlasses, und den bot, wie wir sehen, die Nationalitätenpolitik des Sowjetstaates.

Bei Erörterung vieler, wichtiger, die Kasak-Kirgisen betreffender Fragen, stellte es sich z.B. heraus, daß dieses Volk im eigentlichen und üblichen Sinne des Wortes noch nicht existiert. Bei der Auswahl einer geeigneten Hauptstadt konnte lange Zeit keine Einigung erzielt werden, da jeder kasak-kirgisische Volksstamm seinen eigenen Ort durchsetzen wollte; hier trat auf einmal das Gefühl der Stammes­zugehörigkeit in den Vordergrund und es stellte sich heraus, daß diese nationale Minderheit der vereinheitlichenden und zusammenschweißenden Macht des gemeinsamen Zweckes und Willens und damit der prinzipiellen Grundlage eines einheitlichen Volkes entbehrt. Der ausschlaggebende Einfluß dieser Stammeszugehörigkeit macht sich auch in der eigentümlichen Organisation der kasakschen Sowjetregierung, nämlich des Zentralkomitees (ZIK.) und des Rates der Volkskommissare (Sownarkom), bemerkbar: beide Behörden werden nach dem Prinzip der Stammeszugehörigkeit aufgebaut.

Etwa das gleiche sehen wir auch bei den Turkmenen, wo sich aber die einzelnen Stämme noch mehr von einander unterscheiden, und dementsprechend auch die Feindseligkeiten noch ausgesprochener sind. Die gleichen Stammesinteressen können auch bei den Usbeken verzeichnet werden. So ist z.B. Faidsulla-Chodschajew, der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, — ein Buchare; Achun-Babajew — der Vorsitzende des Zentralkomitees — ein Fergane; — der erste Vertreter des Vorsitzenden des Zentralkomitees — ein Taschkenter usw. So haben auch die gespannten Beziehungen zwischen den einzelnen georgischen Volksstämmen zur Bildung der Georgischen Republik, der Adscharischen und der Abchasischen autonomen Republiken geführt.21)

 

Der Chauvinismus  

Noch vor kurzem gehörte Tadschikistan als besondere autonome Republik der Usbekischen Republik an. Diese Zeit wird durch das Vorherrschen eines überaus typischen und nackten Chauvinismus gekenn­zeichnet. Die Usbeken, die in alle maßgebenden republikanischen Behörden eingedrungen waren, versuchten, sich überall zu behaupten, und auf jede Weise die Kultur und Selbständigkeit des armenischen, von den alten Persern abstammenden und persisch sprechenden tadschikischen Volkes, nicht aufkommen zu lassen.

 

21) Eigentlich muß noch eine "autonome Republik" dabei aufgezählt werden — das sogenannte "Jugo-Osetinische autonome Gebiet".

156


Die Leiter des usbekischen Volkes, eines türkischen Stammes, suchten ihre Stellung auszunutzen, und führten gegen die Tadschiken einen harten Kampf, hauptsächlich auf der "kulturellen Front". Schullehrer tadschikischer Nationalität wurden aus den Schulen vertrieben und Verfolgungen jeder Art ausgesetzt. Das usbekische Kommissariat für Volksaufklärung versuchte auf jede Weise, den Bücherdruck in tadschikischer Sprache zu verhindern, und ging so weit, daß die Bücher in einem vollständig verdorbenen, unverwendbaren Zustande verlegt wurden.22)

Ein so markanter Chauvinismus wurde auch von der Sowjetregierung schließlich bemerkt und gebrandmarkt.23) Der Vorsitzende des Usbeker Rates der Volkskommissare, V. Chodschajew, hat darauf folgendes zugeben müssen: "So wie die Usbeken den Russen nicht trauen, so ist es auch möglich, daß in Usbekistan die Kirgisen und die Tadschiken kein Vertrauen zu den Usbeken haben; denn in ihren Augen sind die letzteren eine unterdrückende Nation."24)

So sprach der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare auf dem II. Kongreß der usbekistanschen Kommunistischen Partei. Es genügt, von der vorsichtigen Redeweise des offiziellen Vertreters der Regierung Kenntnis zu nehmen, um deutlich zu sehen, daß die Völker in Wirklichkeit sich gegenseitig hart bekämpfen.

Beim Entstehen der Turkestanschen Republiken hat sich des weiteren ein ganz sonderbarer Vorfall ereignet. Wir meinen nämlich das plötzliche "Verschwinden" der Tadschiken von einem erheblichen Teil des von ihnen früher bewohnten Gebietes. Die ganze Umgegend der Stadt Buchara, sowie der Norden des Chanen-Reiches und der westliche Teil des Gebietes von Samarkand, waren seit jeher von Tadschiken bewohnt; doch nun, nachdem die Grenzen gezogen und festgesetzt worden waren, waren die Tadschiken von diesem ganzen Gebiete spurlos "verschwunden".

Wie konnte so etwas geschehen? Um der Usbekischen Republik eine Einheitlichkeit und eine Homogenität zu geben, wurden ihr ganze Gebiete mit einer durchweg tadschikischen Bevölkerung, die der Usbekischen Republik vollkommen fremd gegenüber standen, einfach angegliedert. Hätte man dies nicht getan, so würde die Usbekische Republik die höchst sonderbare Form eines "Inselreiches" angenommen haben; denn die Republik würde sich aus kleinen, isoliert liegenden Teilen zusammensetzen.

 

22) Dies alles wurde genau in der Sowjetpresse geschildert; siehe die entsprechenden Aufsätze in der "Wahrheit des Ostens".
23)  Auch noch unlängst z.B. Prawda, 1930, 10. und 21. Mai usw. 
24)  Siehe die in französischer Sprache erschienene, überaus interessante und lehrreiche Broschüre von M. Tschokajef "Chez les Sowjets en Asie Centrale", Paris 1928. Die angeführten Worte F. Choilschajews sind der einheimischen Zeitung "Ksyl Usbekstan" entnommen. 1927, 29. März.

157


Solche Maßnahmen können natürlich nicht spurlos an den gegenseitigen Beziehungen der nationalen Minder­heiten vorbeigehen, und die Völker werden die Folgen dieser extremistischen Lösung des nationalen Problems bis ans Ende auskosten müssen.

 

Die wirtschaftlichen Probleme

Der Zwist und die Kämpfe zwischen den einzelnen Nationalitäten beschränken sich Jedoch nicht auf die territorialen Ansprüche oder auf die nationalen Kultur-Probleme. Der Kampf um die Vorrechte, sowie das Verlangen, immer mehr zu haben, dringt besonders stark in der Sphäre des wirtschaftlichen Aufbaues durch.

Eine gute Wirtschaftspolitik setzt immer die höhere Zweckmäßigkeit voraus, bei der man nach dem Prinzip des minimalen Kraftaufwandes und des maximalen Gewinnes handelt, oder wenigstens versucht, es annähernd zu erreichen. Nun gibt es tatsächlich in den nationalen Republiken Sowjetrußlands keine einzige Wirtschaftsfrage, um die nicht heftig gestritten worden wäre. Infolgedessen entstehen immerfort völlig unnötige und nicht gerechtfertigte Ausgaben, welche die breiten Volksmassen und auch das Budget der Republiken schwer belasten.

So wird z.B. der seit langem gehegte Wunsch der Usbeken, eine eigene Baumwollspinnerei und Weberei zu besitzen, erfüllt. Sofort erhebt den gleichen Anspruch Turkmenistan. Diesem Wunsche muß auch entsprochen werden, denn eine Ablehnung würde als nationale Beleidigung und größte Ungerechtigkeit aufgefaßt werden. Nun aber muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß eine Baumwollfabrik im Ferganschen Gebiete fast gar keine Lebensmöglichkeit hat; das gilt auch ganz besonders für den Turkmenistan, der in einem kontinentalen Klima liegt. So werden Millionen verschwendet werden, ohne jegliche Aussicht auf Erfolg.

Noch ein Beispiel aus Transkaukasien. Asarbeidschan — der Hauptproduzent von Baumwolle — erhält die Genehmigung, eine Fabrik zur Bearbeitung von Baumwolle zu bauen. Das genügt, damit auch Armenien dieselben Forderungen stellt; Armeniens Forderung wird auch befriedigt, obwohl das Land einer derartigen Fabrik gar nicht bedarf. Sei es nun eine Bewässerungsangelegenheit oder irgend ein anderes Wirtschafts­problem, das gelöst werden muß, — es werden sofort "nationale Forderungen" gestellt, und die anfangs benötigten bescheidenen Summen wachsen ins Ungeheure.

158


Der wirtschaftliche Rückgang  

Hier könnte vielleicht eine durchaus gerechtfertigte Frage von denen gestellt werden, die das Prinzip einer gerechten. wenn auch unzweckmäßigen Verteilung der Gaben trotz alledem befürworten möchten; sie könnten sagen, es käme gar nicht auf die unnütz verschleuderten Millionen Volksvermögen, sondern lediglich auf das Maß an, in welchem die freien nationalen Republiken wirtschaftlich gedeihen und aufblühen; es handle sich nur darum, ob in dieser Hinsicht der Stand der Vorkriegsjahre überholt sei oder nicht?

In dieser Hinsicht gibt es in der Literatur eine überaus lehrreiche Zusammenstellung, ich meine das obengenannte und zitierte Buch Tschokajefs, welches so gut und treffend das wahre Wesen der kommunistischen Nationalitätenpolitik in Turkestan, und zwar auf Grund authentischer Quellen, aufdeckt. Auf der letzten Seite dieser Broschüre ist eine Tabelle angeführt, welche die wirtschaftlichen "Errungenschaften" der Sowjetepoche auf Grund eines offiziellen Berichtes der Kasakschen Sowjetregierung an den Rat der Volkskommissare der USSR zeigt.

In Kasakstan wurde nach den damals letzten Angaben (1927) im Vergleich zu den Vorkriegsjahren hergestellt und ausgebeutet:25)

 

Nach Angaben des Baumwollausschusses der USSR nimmt die Saatfläche, alle Kulturen einberechnet, im Jahre 1927 in Turkestan, in einem Lande der Landwirtschaft und Kleinproduktion, nur 4/5 der Vorkriegsfläche ein; die Gesamtproduktion, nach dem Preise berechnet (? Red.), beträgt 90 % des Vorkriegsquantums; Vieh aller Art — weniger als 90 %. Die Baumwoll­produktion in ganz Zentral-Asien und Transkaukasien erreicht überhaupt nur 65-70 %.26) 

Nur in der Naphtaausbeute ist ein bedeutender Erfolg zu verzeichnen: im Jahre 1915 wurden 572,5 Mill. Pud ausgebeutet und im Jahre 1926/2727) stieg dieselbe auf 612 Mill. Pud. Doch dieser Erfolg verliert bedeutend an Effekt, wenn man die Gesamtlänge der Bohrungen in Betracht zieht. Im Zeitraum derselben Jahre (1915-1927) ist die Länge der Bohrungen von rund 101 tausend Sashen28) auf rund 185 tausend Sashen gestiegen, d.h. um 80 Prozent, wogegen der Ertrag bedeutend weniger zunahm.29)

 

25)  M. Tschokajef "Chez les Sowiets en Asie Centrale". Paris 1928.
26)  Nach Angaben der kominunistischen Universität.
27)  Dieselbe Quelle.
28)  Ein russischer Sashen ist nicht ganz 2 Meter.

159


Aber auch dieses letzte bißchen Effekt schwindet dahin, wenn man in Betracht zieht, daß die Naphta-Gewinnung (zwecks möglichst schneller Erlangung von ausländischer Valuta) als Raubwirtschaft betrieben wurde, indem nur die oberen Horizonte ausgebeutet wurden.

Die schwierige Lage der Manganerzindustrie in Georgien ist allgemein bekannt, namentlich nach dem Zusammenbruch der Konzession von Hariman. Es ist auch unmöglich, als "positive Errungenschaft" die vor kurzem erbauten hydroelektrischen Werke in Semo-Awtschal (Transkaukasien) und auf dem Bochu (Mittelasien) anzuführen, da ja die Energie nicht ausgenützt werden kann — aus Mangel an Verbrauchern! Wahrlich — ein Kuriosum der Unwirtschaftlichkeit und Kapitalverschwendung.

Auch die Bewässerungspläne können unmöglich als reelle Leistung gelten: oft wird hierbei mit geradezu astronomischen Zahlen gerechnet, und die Leiter der Irrigations-Anlagen kommen auf die Anklagebank (der Prozeß der Mittelasiatischen Wasser­wirtschaft in Taschkent und die Unterschlagungen in Transkaukasien); — oder aber es werden für etliche Millionen Rubel Kanäle von ein paar Werst Länge gebaut. Die schwere wirtschaftliche Lage dieser einst blühenden Grenzgebiete ließe sich noch durch weitere Beispiele und Zahlen erläutern, doch genügt das bereits Gesagte wohl vollkommen, um zu demselben Ergebnis zu gelangen, wie der Korrespondent einer deutschen Zeitung, der nach einer Reise durch den Kaukasus von der schweren Lage dort, wie auch im übrigen Rußland berichtete.

Das kommunistische Verwaltungssystem hat dahin geführt, daß infolge der allgemeinen Verarmung Rußlands auch die Grenz­gebiete stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Und so kommt es. daß die Länder der nationalen Minderheiten, statt den progressiven Aufstieg der Vorrevolutionsjahre fortzusetzen. Jetzt einen schweren landwirtschaftlich-kulturellen Rückschritt erleben; dies gilt besonders von der Produktion der hochwertigen, sogenannten technischen Kulturen, wie z.B. des Baumwoll-Anbaues, welcher den zur Ernährung dienenden Saaten, wie Weizen, Gerste usw., Platz machen muß.

Die unbedingte wirtschaftliche Zusammengehörigkeit der einzelnen Gebiete Rußlands kann selbst nach Jahren der schwersten Erschütterungen des Landes durch das kommunistische System nicht weggeleugnet werden.

 

29)  Dieselbe Quelle. 

160


Dies ist eine Erkenntnis von größter Wichtigkeit und Tragweite, die alle zu objektivem Nachdenken zwingen müßte; diejenigen, die ihre eigenen engen nationalen Interessen über alles stellen, und auch solche, die nicht nur glauben, sondern mit Bestimmtheit wissen, daß aus dem schweren Leiden des russischen Volkes ein neues Rußland, das wahre Vaterland aller in Rußland ansässigen Völker, geboren wird.

Vielleicht sind aber in den zwölf Jahren der Revolution Fortschritte auf anderen Gebieten zu verzeichnen, welche die wirtschaftlichen Niederlagen doch ausgleichen könnten?

 

Die Freiheit

Die nationalen Minderheiten in Sowjetrußland genießen keine Freiheit: sie sehnen sich erst nach ihr. Und diese Sehnsucht ist groß. Dies hat ein führender usbekischer Kommunist, K. Alimof, ohne es jedoch zu wollen, treffend in folgenden Worten ausgedrückt (1927): "Es wird von einigen das Gerücht verbreitet, daß es mit unserer Sache in China schlecht steht, daß die englische Regierung die Beziehungen mit uns abgebrochen hat, und daß, wenn mit Gottes Hilfe (sic!) ein Krieg ausbricht, die Möglichkeit für das usbekische Volk entstehen kann — nationale Freiheit zu erlangen .... Die Verbreiter solcher Gerüchte befinden sich in den Schulen und auch in unserer eigenen Mitte (d.h. in der Kommunistischen Partei).30)

Diese Äußerung ist übrigens keine Ausnahme, kein einzelner Fall, sondern eine Erscheinung, die überall in den Grenzgebieten vorkommt, weil nämlich unter der kommunistischen "nationalen Freiheit" alle nationalen Minderheiten zu leiden haben.

 

Die Kultur

Fortschritte in der Volksaufklärung sind nicht zu verzeichnen, im Gegenteil, sie ist im Vergleich mit den Vorkriegsjahren stark zurückgegangen. Zwar rühmen sich die Kommunisten, daß nun die Zahl der Schulen bedeutend größer als in den Vorkriegsjahren ist. Bei näherer Betrachtung jedoch stellt es sich heraus, daß die Sowjetstatistik bei weitem den Tatsachen nicht entspricht. So betrage z.B. in Kasakstan die Zahl der Schulen jetzt 1600, in den Vorrevolutionsjahren aber nur 560. Nun erweist es sich aber, daß nur 40 von diesen Schulen wirkliche Schulgebäude besitzen. Weiter: die für Aufklärungszwecke bestimmten Geldmittel sind bedeutend geringer als in der Vorkriegszeit. Alle diese Angaben sind der Sowjetpresse entnommen.31)

 

30)  Siehe bei Mustafa Tschokajef, S. 32. 
31)  Siehe bei Mustafa Tschokajef, S. 32. Vgl. Prawda, 1930, 2. Juni.

161


"Wir Baschkiren", so führte eine baschkirische Kommunistin in den Sitzungen des XV. Kommunistischen Kongresses aus, "haben über 2000 Schulen: wenn wir aber die qualitative Seite dieser Schulen in Betracht ziehen, so kommen wir zu sehr traurigen Schlüssen;" wir besitzen "sehr wenig Schulgebäude, Möbel. Bücher und Lehrmittel"; und "35-90% der baschkirischen Bevölkerung, je nach der Gegend, leidet an Trachom, an Krätze und allen möglichen Geschlechtskrankheiten."32)

Wie überall, so auch hier, kann der statistische Optimismus der Kommunisten nicht ernst genommen werden.33) Übrigens hat unlängst ein Vertreter des Kommissariats für Volksaufklärung in einer Tagung berichtet, daß "bis 50 Prozent der Schulen der nationalen Minderheiten in RSFSR den gesamten Unterricht in russischer Sprache führen",33a) ein wahrlich bescheidener Erfolg der kommunistischen "Befreiungs-Politik".

Man muß auch ganz objektiv feststellen, daß der Kampf der Kommunisten gegen die mohamedanische Weltanschauung und Lebensordnung zu den allertraurigsten Resultaten führt und vollkommen fehlschlägt. Die "Enthüllung" der Frau (die Abschaffung des Schleiers) führte zu blutigen Zusammenstößen zwischen den Getreuen und denen, die dieser Aufforderung Folge leisteten. Die meisten kehrten wieder zum Tragen des Schleiers (Tschadra oder Paraudscha) zurück. 

Das Eindringen der europäischen Kultur zeigte sich in der alten Buchara, nachdem das Land von den Kommunisten erobert war. darin, daß Bier- und Weinstuben mit allen ihren demoralisierenden Folgen sich in den zentralen Stadtteilen auftaten, wo niemand früher auch nur den Geruch von Bier und Wein kannte. ...

 

Der Sittenverfall  

Die schlechtesten Seiten der europäischen Zivilisation dringen in die Abgeschlossenheit der mohamedan­ischen Welt, um sie zu zermürben. Das russische Reichsgericht war von der Revolutionswelle weggeschwemmt worden, und wurde nun von dem proletarischen, alles niederreißenden und nichts als Klassenrache kennenden Klassengericht ersetzt. Der Verfall der Sitten und des allgemeinen moralischen Niveaus — ist jetzt eine allgemeine Erscheinung, von der weder die Städte, noch die Dörfer und die kleinsten Flecken verschont geblieben sind. Die schlimmen Zeiten kehren zurück.: — das ehemalige Räuberunwesen nimmt zu, in den Steppen blüht wieder die "baranta", d.h. das Stehlen und Wegtreiben von Vieh.

 

32)  Frau Schafiewa. Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 154-155.
33)  So z.B. wenn die kommunistische Presse, laut über den Mangel an Schulen, Lehrern, Lehrbüchern klagend, daneben berichtet, daß in der Tatarischen Republik die Zahl der lernenden Analphabeten im Laufe eines Jahres von 20.000 auf 249.000 gestiegen sei, also um 1245 Prozent zugenommen hätte...... Prawda, 1930, 2. Juni.
33a)  Siehe "Soxialistitscheskoje Semledelije", 1930. 15. November.

162/163

Die kasakische Bevölkerung, welche unter dieser Plage schwer zu leiden hat, denkt mit Wehmut an die alten ruhigen Zeiten zurück, als Eigentum und Vieh gut geschützt wurden und Sicherheit genossen.

Am schwersten jedoch wurde die Religion und die mit ihr verwachsene mohamedanische Lebensweise getroffen. Die mohamedanische Religion, welche jahrhundertelang die breiten Volksschichten im Geiste der mohamedanischen Moral erzog, hatte in den Grenzgebieten Rußlands eine selbständige, eigenartige Kultur geschaffen.

Vor dem Kriege erfreute sich die mohamedanische Religion und die mohamedanische geistige Bildung einer vollständigen Freiheit. Die in den Geschlechtsbeziehungen herrschende große Reinheit war bis zur Revolution erhalten geblieben. — Das Entstehen des Komsomol, die Entwicklung des kommunistischen Parteiwesens und das fortwährende Bekämpfen der mohamedanischen Lebensweise34) — zerrütteten in erheblichem Maße die althergebrachten Grundlagen der moralischen Weltanschauung und drückten das sittliche Niveau stark herunter.

Die Kommunisten versuchten ihre zermürbende Politik so vorsichtig wie möglich durchzuführen, da ihnen der Fanatismus der mohamedanischen Bevölkerung wohl bekannt war; und gerade dadurch hatten ihre Bemühungen Erfolg.

 

34)  Es ist z.B. überaus lehrreich, festzustellen, daß die Gesetzgebung und die Politik der Kommunisten in den christlichen Sowjetrepubliken die monogamische Ehe und Familie aufzulockern und zu zermürben sucht, in den mohamedanischen Sowjetrepubliken dagegen das Prinzip der Harem-Ehe verbietet und bekämpft. -- Siehe darüber "Sbornik statej i materialow po bratschuomu i semejnomu prawu". redigiert vom Volkskommissar Kursky, Moskau 1926. Besonders die beigelegten stenographischen Protokolle der Sitzungen. -- "Die Vielweiberei zu bestrafen, ist Unsinn". - "Wohl bekämpfen wir die Polygamie durch Repressivmaßregeln in der Republik des Kasakstan; in der Baschkiren-Republik, da haben wir ein Gesetz, welches die Polygamie bestraft. Ebenso in Aserbeidschan, in Armenien, aber da drüben ist es eine Frage der Politik, der Befreiung der Frau, die aus dem Haremzustand noch nicht ausgetreten ist." Aufsatz von Krylenko. Ebendaselbst, S. 67 u.a. -- Die Idee ist klar: "befreien" ist so viel, wie die vorhandenen festen Formen der Sittlichkeit und des Familienlebens zerstören und eine geschlechtliche Promiscuität einleiten. -- Vgl. bei der Kommunistin Lilina (Sinowjews Frau) "Von der kommunistischen Familie zur kommunistischen Gesellschaft". Leningrad, 1924, S. 10, 14 u. a., wo das Leben "gleich Affen" als "kommunistische Form der Familie" geschildert wird.

163/164

Zusammenfassung  

Diese bitteren Erfahrungen haben nun die nationalen Minderheiten in den Grenzgebieten davon überzeugt, daß die nationale Politik der Kommunisten nichts als verlockende Worte, vielversprechende Losungen und Formeln bringt, die mit den Tatsachen und Folgen durchaus nicht übereinstimmen.

Es gibt etwas, eine bestimmte Grenze, die nicht überschritten werden darf; wenn dies dennoch geschieht, so hört jede weitere Entwicklung und Vervollkommnung auf, und es tritt eine Zerstörung und Zuspitzung der nationalen Beziehungen ein, die in einen schweren und langwierigen Kampf überleitet — als diese Grenze kann die national-kulturelle Autonomie bezeichnet werden. 

Die Kommunisten überschreiten diese Grenze indes absichtlich, planmäßig und systematisch; sie lockern und zermürben die lebendigen Bande des Volksorganismus. Daraus entsteht bei den Nationalisten der betroffenen Gebiete ein Separatismus, ein maßloser Chauvinismus, eine übertriebene und aggressive Einstellung den Nachbarvölkern gegenüber. Die Erfahrung lehrt, daß eine derartige Politik aus einer ganzen Reihe von äußeren und inneren Gründen nicht lebensfähig ist, und nur eine materielle und geistige Degradierung nach sich zieht

164

 # 

 

 

  ^^^^ 

www.detopia.de