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Teil 2:   Wirtschaft

1. Das Schicksal des russischen Bauern

      Von Prof. Iwan Iljin  

 

 

183-218

Es ist unmöglich, eine richtige Einsicht in Rußlands Schicksal zu gewinnen, ohne ausreichende Kenntnis und genügendes Verständnis der Agrar­verhältnisse und der aus ihnen entstehenden Agrarfrage. Hier gilt es vor allem, die Tatsachen richtig festzustellen und ihren pragmatischen Zusammenhang zu erkennen; denn, wahrlich: Erkennen geht hier, wie überall, vor Beurteilen und Verurteilen.

  Revolution und Agrarkrise 

Die ungeheure Krise, welche Rußland seit 1917 durchlebt, ist nicht nur aus dem Kriege und der voran­gegang­enen politischen Bewegung entstanden; sie ist auch nicht lediglich auf die allgemeine geistig-religiöse und wirtschaftlich-soziale Weltkrise zurück­zuführen, an der Rußland bedeutend weniger litt, als die übrigen, aufgeklärten und industrialisierten Kulturländer; — sondern sie ist noch als der Auswuchs einer inneren, einer einheimischen Agrarkrise zu verstehen und zu erklären. 

Diese Agrarkrise konnte ruhig und schöpferisch einer gesunden Lösung entgegengeführt werden, was in den letzten 10 Vorkriegsjahren auch tatsächlich eingeleitet wurde und sich günstig entwickelte; sie konnte aber auch zur Katastrophe führen, wozu der munitions­lose Krieg, der politische Zusammenbruch des Landes und der Sieg der Kommunisten genügend Veranlassung boten.

Die alte sozial-wirtschaftliche Wunde, die schon zu heilen anfing, wurde dadurch aufgerissen und aufgewühlt. Das ungeheure Bauernmeer kam ins Kochen und verhalf — teils aktiv, teils passiv — der rücksichtslosesten Partei der Weltgeschichte dazu, die Staatsmacht zu erobern und festzuhalten.

Die kommunistische Partei ist nie eine Bauernpartei gewesen; sie hat sich aber die Losungen der sozialistisch-revolutionären Partei angeeignet, um die Gefolgschaft der Bauern zu gewinnen, um sie dann zu unterwerfen, und das kommunistische Programm in der Agrarfrage zwangsmäßig durchzusetzen. Der erste dahinzielende Versuch (1918-1921, Lenin) war gescheitert; der zweite Versuch ist jetzt (1928-1930, Stalin) in vollem Gange.

 Von dem Gelingen oder Mißlingen dieses Versuches hängt das Schicksal der Kommunistischen Partei und der Ausgang der gesamten Revolutionskrise in Rußland ab; in engstem Zusammenhange damit steht auch so manches andere in der weiteren Entwicklung der Weltgeschichte.

Damit ist also gesagt, daß es im vorrevolutionären Rußland eine sozial-wirtschaftliche Wunde gab, deren Aufreißen und Aufwühlen für das ganze Land und ganz besonders für den Wohlstand des russischen Bauerntums so verhängnisvoll werden sollte. Diese alte Wunde, — zugleich erblich-seelischer und äußerlich-wirtschaftlicher Natur — hat eine lange Vorgeschichte, auf die hier in schematischer Kürze hingewiesen sei.


Die Vorgeschichte 

Auf einer breiten flachen Ebene situiert, der schützenden Naturgrenzen bar, den Razzien der mongolischen Nomaden (Osten, Süd-Osten, Süden) und den Angriffen der seßhaften Kulturvölker (Westen, Nord-Westen) dauernd ausgesetzt, war Rußland (zuerst als Gesamtheit einzelner Fürstentümer, dann als Großfürstentum, als Zarenreich und schließlich als Kaiserreich) genötigt, sich die Existenzmöglichkeit mit bewaffneter Hand zu erkämpfen und zu sichern. Bis zum Tode Peters des Großen (1725) verzeichnet Rußlands Geschichte 85 Prozent Kriegsjahre; nach dem Tode Peters des Großen — 47 Prozent Kriegsjahre.1

Die ganze Geschichte des Landes besteht aus kurzen Atempausen und dauernden Kriegsanstrengungen. Rußlands Expansion auf der breiten Ebene war aber eine riesige Kolonisationsangelegenheit. Bei dieser Erschließung des Landes mußten Pflug und Schwert immer in die gleiche Hand gelegt werden, und jeder Fußbreit Erde wurde Jahrhunderte hindurch mit Blut erkauft. Es galt — entweder defensiv und offensiv die Kolonisation zu sichern und bis zu den Naturgrenzen langsam vorzudringen (sie gegebenen­falls durch feste kulturelle und ethnographische Staatsgrenzen ersetzend), oder — unter der Wucht der feindlichen Plünderungen unterzugehen. 

Durch Jahrhunderte mußte das ganze Leben auf Kampf eingestellt bleiben, und das Land entwickelte sich in einer Art von Belagerungszustand. Der Staat hatte keine Möglichkeit, für "das schöne Leben" (Aristoteles) zu sorgen; es galt nur irgendwie durchzuhalten, fertig zu werden, überhaupt am Leben zu bleiben. Das soziale Leben blieb im Zeichen der Not und der Anstrengung; und die Aufopferungsfähigkeit des Individuums wurde stets bis aufs äußerste in Anspruch genommen.

Bei dieser Kolonisationsarbeit, die stets mit der christlichen Propaganda Hand in Hand ging, wurde Rußland 250 Jahre lang vom Tatarenjoch (1237-1480) und weitere 100 Jahre von den wiederholten Tatareninvasionen (1480-1591)2 gehemmt und gestört. Eine Tatareninvasion bedeutete aber immer Verheerung des Landes, Entführung von Gefangenen und Rabengekrächz über den Leichen der Gefallenen.  

1)  Vgl. bei General Suchotin <Der Krieg in der Geschichte der russischen Welt>, Petersburg 1894 (russ.).
2)  Noch im Jahre 1591 drang aus der Krim der Chan Kasy-Girey bis nach Moskau vor, wurde aber abgeschlagen. Mit dem Südtatarenreiche mußte noch im 17. und im 18. Jahrhundert gekämpft werden.

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Daraus mußte ein erbliches Seelentrauma3 entstehen und die Neigung zu einer pessimistisch verzögerten Investierung, zu einer extensiven Angstwirtschaft; daraus konnte jedoch kein Sicherheitsgefühl, kein gesundes Eigentumsbewußtsein, kein intensiver Ackerbau und keine freie Rechtsordnung erwachsen. 

Die gesamte Kultur des Landes wurde mächtig zurückgeworfen und dann aufgehalten. Wohl hat das Russentum im Kampfe mit den Tataren eine unerschöpfliche Zähigkeit erworben und die Kunst des Ausharrens erlernt; die Fähigkeit — das Leben auf einem allerbescheidensten Niveau ertragen zu können, den Aufbau von einem Nichts immer wieder anzufangen, im Ausweichen zu siegen, jede Niederlage schöpferisch auszunutzen, im Zerfall den Mut nicht zu verlieren, im Unglück Kräfte zu sammeln. ... In wirtschaftlicher Hinsicht haben diese Fähigkeiten aber bestimmt auch ihre gefährliche Kehrseite.

 

  Die Standesordnung  

 

Im Anfang des 17. Jahrhunderts war die Lage in Rußland ganz besonders schwierig. Der Staat hatte es einerseits mit einem seelisch und wirtschaftlich zerrütteten und politisch desorganisierten Lande zu tun — dem tragischen Erbe der Tatarenpogrome, der ewigen Kriege und des großen von polnischer Seite angefachten Bürgerkrieges (die "Smuta" 1601 bis 1613); andererseits stand er vor der harten Notwendigkeit, weiter zu kämpfen, die ungeheure Last des nationalen Schicksals und des Staatswesens zu tragen, zu verteilen und sicherzustellen.

Bei einer neuen und noch schwachen Dynastie (Romanof, ab 1613); bei einer desorganisierten Armee und einem aufgelösten Staatsmechanismus; bei leerem Staatsschatz und einer bis auf 1/23 zurückgegangenen Ackerbaufläche — brauchte der Staat um jeden Preis — feste, schöpferische Ordnung, klare Übersicht und sichere Berechenbarkeit seiner Möglichkeiten. Der Bauer mußte wieder an die Scholle gefesselt und an Abgaben gewöhnt werden; der Adel mußte an den Wehrdienst und den Zivildienst gebunden und wirtschaftlich versorgt werden; die übrigen Stände mußten das ihrige in Geld beitragen. Kurz, das Land brauchte ein neues Gesetzbuch und eine feste Standesordnung, als Kompromiß zwischen Wehrnot, Wirtschaft und Raum (die Entfernungen!). Diese feste Standesordnung entstand gegen Mitte des 17. Jahr­hunderts als eine Art dezentralisierter Kriegswirtschaft.

3)  Ein Begriff der Psychopathologie, etwa gleichbedeutend mit "Wunde", aus leidenden Affekten der Empörung, des Widerwillens, der Enttäuschung, der Rache und der Angst, aber auch des Triebes zur Nachahmung bestehend und die Seele zu einem entsprechenden Abreagieren veranlagend.

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Der adlige Gutsbesitzer, selbst lebenslänglich einer Staatsdienstpflicht unterworfen, hatte die ihm vom Staate anvertrauten Bauern administrativ zu verwalten, wirtschaftlich anzustellen und für ihre Abgaben dem Staate zu bürgen: ihm gehörte der Boden, der aber den Bauern nicht verweigert werden durfte; als Gläubiger und Richter stand er inmitten seiner Bauern, ihre Wirtschaft organisierend, aus ihrer Arbeit entschädigt und versorgt; außerdem noch sein Amt im Krieg und im Frieden verwaltend.

Dies war der ursprüngliche Sinn der "Bauernbefestigung": befestigt wurden alle Stände; der Bauer galt aber als ein standesuntergeordnetes, arbeitspflichtiges Mitglied des Staates.4) Die privilegierte Stellung des Adels entsprach seiner ewigen Dienstfesselung und der Last seiner Pflichten, die von Peter dem Großen noch bedeutend vergrößert wurde. Diese "alte Moskauer Ordnung", bemerkt ein tiefsinniger und liberal eingestellter Historiker, Professor Klütschewsky, "war schwer, aber gerecht'"; lind wenn wir "bedenken, was nämlich der Adel für die Gesamtheit leistete, so sind wir geneigt, die von ihm genossenen Privilegien zu vergessen".5)

 

  Die Leibeigenschaft  

Es muß noch eines hervorgehoben werden. Die Standesunterordnung der Bauernschaft ist nicht mit der Leibeigenschaft zu verwechseln. Die Standesunterordnung hat sich im ganzen administrativ und wirtschaftlich bewährt; es genügt festzustellen, daß sie zum mächtigsten Werkzeug des allgemeinen Fortschritts in den Händen Peters des Großen wurde; daß Rußland auf diesem Wege mit seiner geschichtlich gegebenen Wehrnot fertig wurde und daß im Laufe des 18. Jahrhunderts die gesamte Anbaufläche des Landes sich mehr als verdoppelte. 

Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts hat sich die Leibeigenschaft aus der Standesunterordnung nach und nach entwickelt, indem der adlige Gutsbesitzer sich die Vollmacht über das Vermögen und über die Person des Bauern aneignete und damit sein öffentliches Recht und seine öffentliche Pflicht gewohnheits­rechtlich zum "Eigentumsrecht" umstempelte.

4)  Übrigens hat diese Standesunterordnung nie die gesamte Bauernschaft umfaßt; es gab immer eine bedeutend freiere Bauernschicht — nämlich die dem Staate und der Krone unterstellten; diese Schicht umfaßte zu verschiedenen Zeiten von 20 bis 50 Prozent der gesamten Bauernschaft. Siehe z.B. bei Klütschewsky. Lehrbuch der russischen Geschichte, B. IV, S. 180, 428; B. V, S. 270 u. a. (russ.). 
5)  Siehe Klüschewski, op. cit, B. V, S. 141. 115.

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Die Leibeigenschaft als solche hat sich aber weder administrativ noch wirtschaftlich bewähren können: nach rund hundert  Jahren (1861) abgeschafft, hinterließ sie schädliche Wirkungen in allen Schichten des Volkes und ganz verhängnisvolle Reminiszenzen im Bauernstand, die im Gange der revolutionären Ereignisse, gleich einer alten psychischen Wunde, aufgerissen wurden und sich nun ausgetobt haben.

Die feste Standesordnung wurde im XVIII. Jahrhundert zuerst für den Adel aufgehoben. Wegen des Mangels einer festen Thronfolge und im Kampfe des Adels für seine Standesfreiheit wurde fast jede Thronbesteigung im 18. Jahrhundert zu einem adligen Staatsstreich; diese sogenannten "Palast­umwälzungen" stärkten jedesmal die Machtstellung des Adels und kürzten immer mehr die Machtstellung der Krone, die tatsächlich fast prekär wurde. Und so kam es, daß der Adel die Standesfreiheit erwarb, die Standesunterordnung der Bauern aber endgültig in Leibeigenschaft verwandelte.

Seit der Einführung der Standesordnung hatte Rußland zwei große Bauernaufstände zu verzeichnen. Der erstes geführt von Stephan Rasin (1670-1671), galt der Staatslast überhaupt und hatte einen egalitaristisch-anarchistischen Anstrich. Der zweite, geführt von Jemeljan Pugatschoff (1773-1774), galt der Standesunterordnung der Bauern und der Leibeigenschaft und hatte einen egalitaristisch-monarchistischen Anstrich: Pugatschoff gab sich nämlich für Peter III. aus, der angeblich nach der Befreiung des Adels (1762) auch das Bauerntum befreien wollte; sicher ist, daß er von seiner Frau, Katharina II., entthront und von ihren Anhängern ermordet wurde (1763); das Volk wollte ihn aber am Leben wissen und von seiner Hand eine radikale Befreiung ohne weiteres entgegennehmen. Beide Aufstände waren im Angriff recht grausam geführt und wurden auch recht grausam niedergekämpft.

 

   Die Folgen der Leibeigenschaft  

Nach der Befreiung des Adels bestand die Leibeigenschaft noch ein volles Jahrhundert (1762-1861), in dessen Verlauf sie, allen Bemühungen der Krone zuwider, auch inhaltlich bedeutend härter wurde. Wohl schwebte die Idee einer Bauernbefreiung manchem edlen und politisch weitsichtigen Manne vor (Fürst Wassilij Golitzin 1680, Pososchkoff 1720, Graf Peter Panin und Fürst Dimitrij Golitzin 1760). Die Schädlichkeit dieser Ordnung bestand darin, daß sie die Antriebe zur schaffenden Arbeit beim Adel lähmte und beim Bauern hemmte: dem Adel galt sein Einkommen mehr als das Gedeihen seiner Wirtschaft, und dieses Einkommen wurde mehr dem Bauern, als der Natur bzw. dem Ackerboden abgekämpft;6) der Bauer aber verlernte, das Eigentum in selbständigem Wirtschaften zu handhaben, und verlor das unmittelbare Interesse an seiner Arbeit.

6)  Vgl. z.B. bei Klütschewsky, Op. cit. B. V. S. 80-137; besonders 107, 117.

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Die harte, aber fördernde und erziehende Macht der gesunden Privatwirtschaft und des freien Marktes wurde gleichsam ausgeschaltet: der Gutsbesitzer wurde von ihr künstlich geschützt und dadurch verwöhnt; dem leibeigenen Bauern wurde ihr Einfluß vorenthalten. Dies alles — von den kulturell und sittlich schädlichen Auswirkungen der Leibeigenschaft ganz abgesehen. Die Agrarwirtschaft des halben Landes blieb gleichsam in einem künstlichen Treibhaus eingesperrt,7) was natürlich die ganze Wirtschaft, auch die Industrie, den Warenaustausch und den Verkehr, die Rechtsverhältnisse und die allgemeine Kultur auf dem Niveau einer primitiven Naturalwirtschaft niederhielt.

Die Leibeigenschaft in Rußland wurde im Jahre 1861 aufgehoben, und zwar auf dem friedlichen Wege einer Reform von oben, durch ein feierliches Manifest des Kaisers Alexander II.8)  Wer aber diese verhältnismäßige Verzögerung objektiv und pragmatisch erklären wollte, der müßte folgendes zu erwägen suchen.

 

  Ihre verzögerte Aufhebung  

Geschichtlich ist die russische Kultur auf einer kulturlosen Ostebene erst vor einem Jahrtausend entstanden: sie hat weder die römische Vorarbeit, noch das römische Recht erben können; auch hat sie kein Mittelalter gehabt und die Kultur des privatrechtlichen Elementes nicht genießen können. Hieraus war ein urwüchsiges, und noch dazu, wie gesagt, in seiner Entwicklung unterbrochenes und gehemmtes Rechtsbewußtsein, bzw. ein unkultivierter Privateigentumsinstinkt entstanden; auch die Bildung kam verspätet (die erste Universität zu Moskau wurde erst im Jahre 1755 gegründet).

Dies alles mußte vom Volke in den oben bezeichneten schweren Verhältnissen des Nationalkampfes irgendwie eingeholt werden. Die Zeit drängte auf allen Gebieten; ein beschleunigtes Nachkommen läßt sich aber überhaupt kaum erzwingen.

Die Abschaffung der Leibeigenschaft mußte zu einer riesigen, tief eingreifenden und alles erschütternden Reform werden: das Volk mußte wirtschaftlich der Wirkung des freien Marktes, also auch des internationalen Marktes, ausgesetzt, in der Rechtspflege dem freien bürgerlichen Rechtsbewußtsein anheimgestellt, politisch — einer Selbstorganisation und Selbstverwaltung entgegengeführt werden. Der Staat wird aber immer und überall von seiner gebildeten Schicht reformiert, organisiert und geführt.

7)  Das Wort "Treibhaus" soll hier eine künstliche Schutzvorrichtung versinnbildlichen, in der die Pflanze (hier — der wirtschaftende Mensch) nicht abgehärtet, sondern durch das zu viele und künstliche Schützen und Pflegen verwöhnt wird. 
8)  Also etwa 30-50 Jahre später als in Deutschland.

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Reichten damals (1750-1850) die Kräfte der gebildeten Schicht in Rußland aus (sei es auch nur zahlen­mäßig), um die gewaltige Reform in Gang zu bringen?

War diese Reform ohne Intelligenz oder gegen die damalige Intelligenz überhaupt möglich? Mußte die damalige Intelligenz nicht selbst erst von Speransky, Karainsin, Shukowsky, Puschkin, Gribojedof, Gogol, Lermontof und Belinsky geweckt, zum Selbstbewußtsein gebracht und erzogen werden? War damals die wirtschaftliche Unzulänglichkeit der Standesunterordnung schon ans Tageslicht gekommen, und worin hatte sie sich geäußert? Konnte die Gutsbesitzerschaft unter den damaligen Verhältnissen des Getreidemarktes ohne die unentgeltliche Arbeit der Leibeigenen fertig werden, wo in Westeuropa noch viele Länder sich mit Fronarbeit durchhalfen? War das überlieferte Chaos in der Gesetzgebung schon gemeistert? Gab es schon einen für so eine Reform geeigneten Gesetzgebungsapparat? War die Epoche der konsolidierenden Kriege schon zu Ende? War die klägliche Lage der Staatsfinanzen schon bewältigt?

Eine radikal gesinnte Gruppe des Hochadels, die zum letzten Mal bei der Thronbesteigung Nikolaj I. einen mißlungenen Staatsstreich versucht hatte (die "Dekabristen" 1825), gedachte, die Bauern ohne Versorgung mit Ackerboden zu befreien, woraus bestenfalls ein proletarisiertes Land ohne Industrie9) und eine adlige Verschwörer-Republik hätte entstehen können; schlimmstenfalls aber ein alles zerrüttender Aufstand, ein neuer Bürgerkrieg.

Puschkin und Gogol hatten vollauf recht, wenn sie behaupteten, daß in Rußland nur ein unumschränkter Monarch eine richtige Abschaffung der Leibeigenschaft durchsetzen könnte (was auch nach 25 Jahren richtig geschah). War aber in der letzten Hälfte des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahr­hunderts die Machtstellung der Krone (erschüttert von den Staatsstreichen in den Jahren 1725, 1730, 1740, 1741, 1763, 1801 und 1825) stark genug, unabhängig und über die Interessen der Stände erhaben, um so eine gewaltige Reform im Sinne einer wahren Staatsraison durchführen zu können? 

Die Macht der russischen Krone mußte noch eine Emanzipationsperiode erleben, um sich den weitgehenden Ansprüchen eines verschwörerisch und eigensüchtig eingestellten Adels frei gegenüberstellen zu können; der Adel mußte selbst erst in staatspolitischer und kultureller Hinsicht heranreifen, um die Bauernbefreiung führen und bedienen zu können.

 

9) Die russische Industrie datiert als wirtschaftlich bedeutender Faktor der Kultur erst seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts.

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Die Historiker stellen fest, daß Kaiser Nikolaj I. (1825-1855) die sittliche und die politische Notwendigkeit dieser Reform wohl einsah und sie auch vorbereitete (Einberufung der Komitees in den Jahren 1826, 1835, 1839, 1840, 1846, 1848, 1849), und zwar unter Versorgung der Bauern mit Ackerboden; er schilderte die Leibeigenschaft als eine Art Sklaverei; er nannte sie "das Prinzip des Übels", und klagte über seine staatspolitische Einsamkeit.

Indessen blieb die Leibeigenschaft mit ihren großen Folgen und Begleiterscheinungen bis 1861 bestehen und befestigte in der Massenseele erstens den Gefühlskomplex eines entrechteten und übervorteilten Menschen; zweitens die wirtschaftliche Einstellung eines ha1binteressierten und ziemlich verantwortungs­losen Pächters;10) und drittens das Vorurteil — es gäbe in Rußland einen ungeheuren Vorrat an geeignetem Ackerboden, und dieser ganze Vorrat gehöre den Gutsbesitzern (quantitative Deutung der Agrarkrise). Diese eingewurzelte Bauernmentalität hat nachträglich dauernd schlimme Folgen gezeitigt, und tobte sich in der enteignenden Revolution aus.

 

Die Bauernbefreiung

Der unglückliche Krieg von 1854-1855 (Krim) wurde zur öffentlichen Probe für die ganze sozial-politische Ordnung; und die Unzulänglichkeit des Systems lag auf einmal auf der Hand. Die Stunde hatte geschlagen: das Examen war nicht bestanden. Der neue Kaiser Alexander II. (1855-1881) konnte ans Werk gehen, denn das Land verfügte über einen Vorrat an Intelligenz. Binnen einiger Jahre bekam Rußland: die Aufhebung der Leibeigenschaft; die Aufhebung der Prügelstrafe; eine neue Organisation der lokalen Selbstverwaltung; eine neue städtische Verwaltung; ein neues Gerichtswesen, eines der besten in der Welt; und eine allgemeine und gleiche Wehrpflicht. Die feste Standesordnung wurde abgeschafft.

Zur Zeit der Reform verzeichnete Rußland rund 10½ Millionen eingetragener, in Leibeigenschaft stehender Bauern (die sogen. "Revisionsseelen", männlichen Geschlechts); rund 1½ Millionen Bauern waren der Krone und den Apanagen zugeteilt; und rund 10 Millionen galten als Staatsbauern. Alle wurden befreit und mit Ackerboden versorgt (der sogen. "Anteil").

Alle Bauern erhielten unentgeltlich persönliche Freiheit, blieben aber zu einem besonderen sozialen Stande zusammen­geschlossen, der eine eigentümliche Organisationsweise und Gerichtsordnung behielt, unter einer gewissen Bevormundung seitens besonderer Beamter stand, aber auch mit einigen Standesvorrechten (beschränkte Haftung für Schulden, Unveräußerlichkeit des Bodenanteils, das Recht des Gemeinde­ostrakismus etc.) bedacht war.

 

10) Diese Einstellung wurde auch besonders durch das Institut der bodenbesitzenden Dorfgemeinde aufrechterhalten und gestärkt.

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Im Durchschnitt bekamen die früheren Leibeigenen 3,2 Deßjatinen11) pro Kopf, oder fast 10 Defijatinen pro Familie. Die Staatsbauern bekamen rund das Doppelte, also etwa 6 Deßj. pro Kopf und fast 18 Defij. pro Familienwirtschaft.12) Die Bauern der dynastischen Güter bekamen fast anderthalbmal soviel, wie die früheren Leibeigenen. Um die letzteren zu befriedigen, mußten die Gutsbesitzer etwa ein Drittel ihres Bodens hergeben, was damals rund 35 Millionen Deßj. ausmachte. Es gab Gouvernements, wo der Bauernanteil etwas größer ausfiel im Vergleich mit dem früheren; und andere, wo die Bauern etwas Ackerbaufläche verloren. Im ganzen machte der Verlust nicht über 4 Prozent des früheren Anteils aus.

Für den hergegebenen Boden wurden die Gutsbesitzer vom Staate entschädigt; die Bauern aber mußten dem Staate ein auf lange Sicht berechnetes Lösegeld auszahlen. Der zugrunde gelegte Bodenpreis, pro Deßjatine gerechnet, stand etwas über dem Niveau der Marktpreise. Die Auszahlung des Lösegeldes wurde seitens des Staates im Jahre 1907 freiwillig abgestellt. Die Staatsbauern schlossen günstiger ab.

 

Die Dorfgemeinde

Diese ganze Reform bedeutete vor allem die Erschließung des ganzen Landes für die Zusammenhänge und die Gesetze der Privatwirtschaft, des Weltmarktes und folglich des in Westeuropa schon damals riesig vorgeschrittenen Kapitalismus. Um aber dem möglichen Chaos einer wirtschaftlichen Individualisierung und Proletarisierung gewissermaßen vorzubeugen, wurde der Boden nicht jedem einzelnen Bauernhof als Privateigentum, sondern ganzen Gemeinden zum Kollektivbesitz zugewiesen. Weideplatz, Wiese und Wald blieben in den Gemeinden meist unaufgeteilt, die Ackerbaufläche aber wurde pro Kopf und Haus aufgeteilt, indem jeder Einfamilienhof zum Nutznießer seines Anteils wurde, ohne Erbrecht, prekär, d.h. bis zu einer neuen Bodenumteilung in der Gemeinde.

 

11)  Ein Hektar macht neun Zehntel einer Deßjatine aus.
12)  Siehe das Buch eines kompetenten Fachmanns B. Brutzkus "Agrarentwicklung und Agrarrevolution in Rußland". Osteuropa-Institut in Breslau. Ein zusammenstellendes kommunistisches Lehrbuch gibt 3,5 Deßj. und 5,9 Deßj. für die entsprechenden Bauernkategorien an. Siehe Cernyschoff "Selskoje chosjajstwo dowojennoj Rossii i SSSR", S. 26—32. Prof. A. 1. Cuproff, ein ausgezeichneter Kenner der Frage, gibt im Durchschnitt 4,8 Dess. pro Kopf an. "Melkoje Semledelije i ego osnownija uushdy (russ.), Berlin 1921, s. %.

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In ihren Abgaben und Verpflichtungen blieb die Gemeinde durch eine gegenseitige Bürgschaft zusammen­geschweißt, was die Verwaltung und das Erheben der Abgaben bedeutend erleichterte, den Gemeindemitgliedern aber eine gegenseitige Kontrolle aufoktroyierte.

In wirtschaftlicher Hinsicht hatte dieser administrativ-fiskalische "Kollektivismus" gewisse Anpassungs­vorteile, aber auch bedeutende national-ökonomische Nachteile zu verzeichnen: die Möglichkeit, die Bodenanteile der einzelnen Höfe wieder neu zu verteilen, und zwar nach einem gespannten inneren Kampfe um die verteilende Gerechtigkeit, steigerte die wirtschaftliche Geräumigkeit der Gemeinde und des ganzen Landes, und hielt gewissermaßen die rasche Proletarisierung auf; dagegen aber fesselte diese Ordnung den ganzen Ackerbau an die extensive Dreifelderwirtschaft, hemmte die freie Initiative und die Entwicklung des gesunden Instinktes für Privateigentum, und begünstigte das Entstehen einer relativen Agrarübervölkerung.13)

Kurz, der Gemeindebesitz, der rund 80 Prozent der Bauernschaft gefangen hielt — beugte manchem Schaden vor, hemmte aber den wirtschaftlichen Fortschritt des Ackerbaues und also den des ganzen Landes. Er war wieder eine Art von wirtschaftlichem Treibhaus, welches, bestimmten Verwaltungszwecken und national-konservativen Erwägungen entsprach, aber den privatwirtschaftlich und kapitalistisch unvermeidlichen Differenzierungsprozeß künstlich verschob und die gefährliche Illusion aufrecht erhielt — die auf dem Lande sich aufstauende Bevölkerung wäre wirklich in wirtschaftlicher Hinsicht untergebracht.

Alle Bemühungen der kaiserlichen Regierung, die schädlichen Auswirkungen des Dorfgemeinderechts zu beseitigen,14) blieben nur Palliative. Eine intensive, wohlhabende Bauernwirtschaft auf Grund des Privateigentums konnte in genügendem Ausmaße unter den gegebenen Bedingungen nicht aufblühen, und das künstliche Treibhaus blieb noch 45 Jahre lang bestehen (1869 bis 1906).

 

13)  Vgl. das grundlegende Werk von Prof. Dr. W. A. Kossinsky, "Osnownija tendenzii w mobilisazii semelnoj sobstwennosti", Prag, 1925.
14)  Ich meine z. B. das Gesetz von 1886 über die Beschränkungen der wirtschaftlichen Familien-Aufteilungen bei den Bauern; das Gesetz von 1893 über die mindestens zwölfjährige Frist zwischen den Bodenumteilungen in den Gemeinden; das Gesetz über die Abschaffung der gegenseitigen Bürgschaft in der Dorfgemeinde usw.

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Merkwürdig war es zu beobachten, wie alle linksgesinnten Parteien des vorrevolutionären Rußland (die Sozialdemokraten ausgenommen) einen systematischen Kampf für das Dorfgemeinderecht führten, indem sie das ganze Institut als die Erscheinung eines "ursprünglichen" Agrarsozialismus, als die Verkörperung eines nationalen Gerechtigkeitsgefühls, als die Keimzelle des zukünftigen Glückes, als das stärkste Gegengift für den heranschleichenden Kapitalismus deuteten. Die "herrschende" öffentliche Meinung neigte zu sentimentalen Illusionen, zu einem reaktionären Utopismus und zu einer quantitativen Deutung der Agrarkrise.

Für die weitere wirtschaftliche Entwicklung des Landes waren drei Tendenzen charakteristisch: erstens, die Entstehung einer kapitalistischen Privat­wirtschaft; zweitens, die langsame Auflösung und das langsame Eingehen des Großgrundbesitzes; drittens, die steigende relative Übervölkerung auf dem Lande und der Drang der extensiven Bauernwirtschaft zur Erweiterung ihrer Anbaufläche.

 

Die Anfänge des Kapitalismus

Die erste Tendenz entstand von selbst aus der großen Reform. Die Privatinitiative war befreit; die Entschädigung der Gutsbesitzer durch den Staat brachte freies Geldkapital auf den Markt; im Eisenbahnbau wurde dem inländischen und dem ausländischen Kapital ein breites Feld aufgeschlossen. In rund 15 Jahren (1861-1876) wurden im Privatbau über 20.000 Kilometer Eisenbahnen hergestellt; 50 Jahre hintereinander baute Rußland jährlich 1387 Kilometer Schienenwege.

Eine riesige Belebung herrscht nun im Lande. In den 80er Jahren fängt die russische Industrie an, mächtig zu wachsen. In den neunziger Jahren beginnt der Bau der großen Sibirischen Bahn (über 6000 Kilometer); im selben Jahrzehnt beginnt das industrielle Aufblühen im Donezbecken. Das Bankwesen macht Fortschritte. Die Naphtaschätze im Kaukasus werden erschlossen. Einfuhr und Ausfuhr kommen in die Höhe. Eine feste und sichere Goldvaluta wird geschaffen. Das ganze Land atmet auf und erlebt den Aufschwung eines jugendlichen Kapitalismus.15)

 

15)  Die verhältnismäßige Bescheidenheit dieses russischen Kapitalismus tritt kraß hervor, wenn man mit Woytinsky (Welt in Zahlen B. I) das bescheidene Niveau des Jahreseinkommens mit 3000 Mark annimmt und in Betracht zieht, daß im Jahre 1910 in den Vereinigten Staaten 47 Prozent der Bevölkerung Einkommen über diesem Niveau hatten, in England 12 1/2 Prozent der Bevölkerung, in Preußen 6 Prozent und in Rußland nur 1,2 Prozent. Auch in Bezug auf Volksreichtum und Volkseinkommen pro Kopf blieb Rußland an letzter Stelle.

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Das Eingehen des Gutsbesitzes

Parallel zu dieser kapitalistischen Tendenz, aber von ihr stimuliert, verläuft der Prozeß der Auflösung und des Eingehens des adligen Großgrundbesitzes. Dieser Prozeß hatte schon vor der großen Reform angefangen, da die offizielle Statistik in den vierziger und fünfziger Jahren (1836-1858) ein sichtbares Überwiegen des mittleren Besitzes über den latifundialen feststellte. Die große Reform zerrüttete die Grundlagen der autarkischen, geschlossenen Naturalwirtschaft; nun hieß es: Austausch und Markt. 

Die unentgeltliche Fronarbeit kam nicht mehr in Betracht; der Staatsbodenkredit stockte (bis 1885). Der Grundbesitz mußte sich ganz umstellen, was ihm schwer fiel und eine Menge Boden auf den Markt brachte. Die große Agrarkrise der neunziger Jahre und das entsprechende Sinken der Getreidepreise versetzte dem Grundbesitz den zweiten, heftigen Schlag, der ganz besonders den mittleren Grundbesitz und die wirtschaftlich schwächeren Einheiten traf. Die großen Bauernunruhen der Jahre 1903-1906 mit Brandstiftungen und Plünderung der Güter beschleunigten diesen Prozeß ganz gewaltig; die Linksparteien eiferten für die Idee einer unentgeltlichen Massenenteignung des Ackerbodens, und der Bodenmarkt verzeichnete eine großartige Belebung.

In diesem Mobilisierungsprozeß entstand langsam aber sicher der Typus des wirtschaftlich neu eingestellten, intensiven Grundbesitzes. Die Bodenfläche der Gutsbesitzer wurde nach und nach veräußert und schrumpfte quantitativ ein; was aber nachblieb, erlebte eine qualitative Konsolidierung. Dies ist daraus zu ersehen, daß z. B. nach den Befunden der landwirtschaftlichen Zählung vom Jahre 1916 die Gutsbesitzer 11 Prozent der gesamten Saatfläche besorgten,16) davon 32 Prozent des gesamten Kornquantums lieferten und 48 Prozent des in- und ausländischen Marktbedarfs deckten; dagegen besorgten die Bauern 89 Prozent der Saatfläche, lieferten 68 Prozent des gesamten Kornquantums und deckten 52 Prozent des Marktbedarfs.17)

 

Die Überbevölkerung auf dem Lande

Die dritte Tendenz charakterisierte die Entwicklung der Bauernwirtschaft. Rußland verzeichnete überhaupt einen hohen Bevölkerungszuwachs, nämlich im Durchschnitt + 17 Menschen pro Tausend jährlich (1,7 Prozent). Dementsprechend stieg die Bevölkerung auf dem Lande in den Jahren 1861-1900 von 50 Millionen auf 86 Millionen Menschen, also um 72 Prozent. Da aber die "Bodenanteile" als solche nicht zunehmen konnten, so entfiel im Jahre 1900 pro Kopf nur noch 0,58 Prozent des früheren "Bodenanteils". Die extensive Dreifelderwirtschaft blieb aber bestehen, was im Durchschnitt 36 Prozent des Ackerbodens jährlich zum Brachfelde machte.18)

 

16) Die Angabe gilt für 49 Gouvernements des europäischen Rußland.
17) Siehe die Zusammenstellung bei Graf A. A. Saltykoff in seiner Vorrede zu Mendelejews Buch "K posnaniju Rossii", München, Milavida-Verlag, 1926 (russ.).

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Die wirtschaftliche Geräumigkeit der Dorfgemeinde leistete ihren gefährlichen Dienst und dehnte sich weiter aus. Hieraus entstanden eine verhältnismäßige Übervölkerung auf dem Lande und der Drang der Bauern nach Erweiterung ihrer Anbaufläche: die Weideplätze und die Wiesen wurden immer mehr aufgeackert.

Es galt nun, den Grundbesitzern den nachgebliebenen Boden abzukaufen, was auch in einem immer zunehmenden Tempo vor sich ging. Dieser Abkauf wurde entsprechend seitens der Regierung begünstigt (Errichtung der Bauernbank), und die ganze krampfhafte Bewegung der Jahre 1903-1906 konnte nur den Bodenpreis herabdrücken und das Tempo noch mehr beschleunigen. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts berechneten die russischen National­ökonomen, daß in 30 bis 40 Jahren Rußland überhaupt keinen Gutsbesitz mehr zu verzeichnen haben würde. Es wurde auch darauf hingewiesen, daß eine totale Auflösung des Gutsbesitzes, als des gesamten kapitalistischen Ackerbaues, das Problem zu lösen, nicht imstande sein würde: unter den gegebenen Verhältnissen mußten jede weiteren 10-20 Jahre genau dieselbe Agrarübervölkerung zeitigen.

Unter der Massensuggestion der Bauern wurde das ganze Problem und die Not als "Mangel an Boden" bezeichnet. Indessen wurden auch schon damals nüchterne Stimmen laut, die darauf hinwiesen, daß Rußland durchschnittlich "ziemlich viel Boden" pro Kopf der gesamten Bevölkerung zu verzeichnen habe, mehr z.B. als Frankreich, England, Deutschland und Belgien; daß diese tatsächlich vorhandene Menge nur, pro Kopf der zu zahlreichen Agrarbevölkerung berechnet, geringer erscheine; und daß in Rußland "der Boden günstiger für die Bauern verteilt sei als in anderen Ländern".19)

Um diesen ganzen Knoten zu lösen, brauchte Rußland also eine neue "Bauernemanzipation" und einen einsichtigen, willenskräftigen Staatsmann. Da trat Stolypin auf (1906-1911 als Minister-Präsident tätig). Er verwarf die quantitative Auffassung der Agrarfrage und stellte sich auf den qualitativen Standpunkt einer zweiten Bauernbefreiung.

 

Die Reform Stolpins

Stolypins Hauptidee war folgende. Rußland müsse sich zu einem gesunden, privatwirtschaftlich eingestellten Staate aufschwingen; es brauche nicht einen armen, schwachen, durch die Bevormundung der Dorfgemeinde gelähmten Bauernstand, sondern einen starken, wohlhabenden und freien Ackersmann.

 

18) Vgl. bei Prof. A. I. Cuprof, Op cit., S. 96-97.
19) Vgl. z.B. das Buch des Sozialdemokraten P. Maslof "Agrarnij wopros w Rossii", 1908, B. I, S. 201-209.

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Die geschichtlich vererbten seelischen Wunden des Bauern müßten geheilt werden; so der geschädigte Eigentumsinstinkt, das wankende Rechtsbewußtsein, die Neigung zu schüchterner Investierung, zu einer extensiven Angstwirtschaft usw. Der Bauer bedürfe erstens einer endgültigen zivilen und öffentlich-rechtlichen Gleichheit, einer Eingliederung in das allgemeine Staatswesen; er müsse als gleiches Rechtssubjekt der Rechtsordnung einverleibt werden. Zweitens bedürfe er der wirtschaftlichen Freiheit, einer Ungehemmtheit in seiner schaffenden Privatinitiative und einer intensiven Bodenkultur. 

Das Dorf müsse eine Differenzierung durchmachen; eine künstlich erhaltene Parzellenwirtschaft könne weder sich selbst nützen, noch dem ganzen Lande dienen. Kurz, das lebensfähige Element in der Landwirtschaft müsse befreit und gefördert werden; das lebensunfähige würde dann das Dorf verlassen müssen, um anders verwertet zu werden. Der Abkauf des Bodens wäre zwar nicht zu hemmen, aber davon wäre keine Rettung zu erwarten. Freier Austritt aus der Dorfgemeinde, Übergang zum Privateigentum und zur Privatinitiative, systematische Flurbereinigung, Förderung und Herstellung selbständiger Einzelhöfe, breit angelegte Kolonisation in Sibirien und billiger Bodenkredit für das Bauerntum — bezeichneten den einzuschlagenden Weg. Die Agrarfrage wäre also nur im Zusammenhang mit einem allgemeinen Aufblühen der produktiven Kräfte des Landes zu lösen.20)

 

Im November 1906 ist das Stolypinsche Gesetz über den freien (aber organisatorisch zu regulierenden) Austritt aus der Dorfgemeinde erschienen. Zu der Zeit verzeichnete Rußland21) rund 11.900.000 Millionen Bauernhöfe mit rund 118.721.000 Deßjatinen "Anteilboden";22) darunter 67,8 Prozent Bauernhöfe und 82,7 Prozent Bodenfläche im Besitz der Dorfgemeinde.23) Auf das Gesetz hin entstand schon in den nächsten Jahren eine große Bewegung in der Bauernschaft: man wollte freie Wirtschaft auf eigenem Boden; man meldete sich zum Austritt aus der Dorfgemeinde. Ein Teil der Austretenden suchte seine Streuländereien zu konsolidieren, um, ohne das Dorf zu verlassen, zum freien Bodeneigentümer zu werden. Ein anderer Teil wollte ausscheiden und eine eigene Meiereiwirtschaft führen.

 

20) Vgl. Stolypins Grundidee mit der Diagnose und den Forderungen des oben genannten Sozialdemokraten P. Maslof, Op. cit, S. 208-209. 
21)  Angabe für 50 Gouvernements des europäischen Rußland.  
22)  Der seit 1861 zugekaufte Boden kommt hier nicht in Betracht.  
23)  Siehe bei einem der besten Kenner der Frage A. Kofod, Russkoje semleustrojstwo, St. Petersburg, 1914, S. 15 (russ.).

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Schon im Laufe der ersten fünf Jahre meldeten sich 3 Millionen Bauernhöfe (also rund 93 Proz.) zum Austritt aus der Dorfgemeinde. Zu Beginn des Jahres 1916 stieg diese Zahl auf 6.174.500 Bauernhöfe oder auf 47 Proz. der Gesamtzahl.24) Zum 1. Januar 1916 verzeichneten die zuständigen Behörden folgende Arbeitserfolge: a) zu Privateigentum konsolidierte Streuländereien — rund 17 Millionen Deßjatinen; b) den ausgeschiedenen Bauern wurde für Einzelhöfe angewiesen — 12,7 Millionen Deßjatinen; c) außerdem wurde noch den Bauern vom Anteilboden zugewiesen und von ihnen noch hinzugekauft — rund 4 Millionen Deßjatinen. 

Im ganzen wurden im Laufe von 9 Jahren über 35 Prozent des Anteilbodens vom Banne der Dorfgemeinde befreit. Da ist es interessant festzustellen, daß Lenin noch im fahre 1912 diese ganze Reform als einen "absolut notwendigen Bruch" und als die "Beseitigung der Überreste der Leibeigenschaft" schilderte.26) Nur wollte er diesen Bruch im Geiste einer bäuerlich-revolutionären "Nationalisierung" durchgeführt wissen.26) Und noch im Jahre 1925 mußte ein Sowjetwirtschaftler zugeben, daß Stolypins Reform "in wissenschaftlich-ökonomischer Hinsicht" eine progressive Bedeutung hatte.27)

 

Die Volkswirtschaft während der letzten 25 Jahre

Wenn wir nun, bevor wir zur landwirtschaftlichen Politik der Kommunisten greifen, versuchen, die Bilanz der letzten 20-25 Jahre der russischen Vorkriegswirtschaft zu ziehen, so werden wir folgendes feststellen müssen.28)

Im Zeitabstand 1894-1914 verzeichnete Rußland folgende Bewegung in Wirtschaft und Kultur (in abgerundeten Zahlen und teilweise in Durchschnittszahlen für 1891-1895 und 1911 bis 1914):

Bevölkerungszuwachs +40 Proz.; Getreideernte (im europ. Rußland) + 78 Proz.; Pferdezucht + 37 Proz.; Rindviehzucht + 64 Prozent; Steinkohle + 300 Prozent; Manganerz + 364 Prozent; Kupfergießerei + 375 Prozent; Gußeisen + 250 Prozent; Naphta + 65 Prozent; Gold + 43 Prozent; Salz + 42,5 Prozent; Zuckerrübe (Anbaufläche) + 50 Prozent; Zucker + 245 Prozent; Baumwolle (Anbaufläche) + 350 Prozent; Baumwolle (Ernte) + 388 Prozent; Eisenbahnnetz (in Kilometer) + 103 Prozent; Telegraph (Linien) + 68 Prozent; Handelsflotte (in Tonnage) + 59 Prozent; Staatsgoldfond + 146 Prozent; Jahresbudget des Kultusministeriums + 628 Prozent; Zahl der Studenten + 180 Prozent; Zahl der Gymnasialschüler + 227 Prozent; Zahl der Volksschüler + 96 Prozent; Ausfuhr (meistens Lebensmittel und Rohstoffe) + 150 Prozent (im Werte von 1600 Millionen Goldrubel); Einfuhr (meist Fabrikate) + 150 Prozent (im Werte von 1160 Millionen Goldrubel, darunter aus Deutschland für eine halbe Milliarde).

 

24)  Siehe bei Prof. Kossinsky, "Osnownija tendenzii", S. 11.
25)  Lenin Werke, B. XII, T. 1, S. 148 (russ.).
26)  Lenin, Agrarnaja programma s. d. partii, S. 83 (russ.).
27)  Karpof, Agrarnaja politika Stolypina, Leningrad, S. 147—151.
28)  Vgl. die in einer objektiv-neutralen, aber gut unterrichteten suschen Quelle angeführten Zahlen: The Statesmen Jearbook.

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Das bedeutet, daß der wirtschaftliche Wohlstand Rußlands, das nationale Einkommen und der Kapital­vorrat des Landes, nicht nur absolut genommen, mächtig stiegen, sondern auch dem Wachsen der Bevölkerung bedeutend voraneilten. Eine feste Goldwährung; eine aktive Handelsbilanz; ein verhältnismäßiger Rückstand und doch ein gewaltiger Fortschritt der Industrie; und ein reformatorisch ausgelöster, in vollem Gange befindlicher Umbau der Landwirtschaft — wären noch hervorzuheben. Das Proletariat zählte nicht über 7 v. H. wirtschaftlich selbständiger Menschen,28) wobei auch diese 7 Prozent den Zusammenhang mit dem übervölkerten Dorf noch nicht verloren hatten, und fast alle insgesamt einer kleinbürgerlichen Mentalität huldigten.

 

Die landwirtschaftliche Zählung von 1916

Im Jahre 1916 hat Rußland die letzte, genaue landwirtschaftliche Zählung gehabt. Einer der besten Forscher gibt danach folgende, unbestrittene Zusammenstellung in der Bodenbesitzfrage, und zwar für Ackerboden.

Im Europäischen Rußland30) gab es öffentlichen Grundbesitz (Staat, Apanagen, Klöster, Kirchen, Städte, Staats-Bauernbank) und Privatgrundbesitz. Der Besitz der öffentlichen Hand machte nur 5,5 Prozent des im Privatbesitz befindlichen Ackerbodens aus.

Der Ackerboden des Privatbesitzes verteilte sich aber folgendermaßen: 154 729 035 Deßjatinen gehörten dem Kleinbesitz31) aller Stände;32) und 41767 782 Deßjatinen — dem sogenannten kapitalistischen Grundbesitz.33) Mit anderen Worten besaß der werktätige Kleinbesitz 78,74 Prozent der ganzen Ackerbaufläche des Privatbesitzes, und der kapitalistische Grundbesitz die übrigen 21,26 Prozent.

 

29)  Dagegen in England z. B. 77 pro 100, die Schweiz 66 pro 100, Oesterreich 63, Deutschland 61, Frankreich 48 usw. Siehe bei Woytinsky, "Die Welt in Zahlen", B. I.
30)  In Sibirien gab es überhaupt keinen Großgrundbesitz.
31)  D. h. nicht über 50 Deßjatinen pro Wirtschaft — für Rußland die Quote einer werktätigen Einfamilien-Wirtschaft.
32)  Nach 1861 erscheint es als wissenschaftlicher Fehler, die wirtschaftliche Differenzierung nach "Ständen" zu erforschen und zu berechnen.
33)  Über 50 Deßjatinen pro Wirtschaft, also ein Auskommen ohne Mietknechte und Tagelöhner unmöglich.

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Prof. W. Kossinsky, der diese Zahlen angibt, kommentiert sie folgendermaßen: das vorrevolutionäre "Rußland hatte seinen Grundbesitz stärker zerkleinert als irgendein anderes Land der Welt".34)

Von den rund 155 Millionen Deßjatinen Kleinbesitz gehörte den Bauern im Jahre 1916 über 70 Millionen Deßjatinen als Privateigentum; das übrige steckte noch im Dorfgemeinderecht.35)

Wenn also die genauesten Berechnungen der modernen wirtschaftlichen Statistik die gesamte Fläche des Anteilbodens, im Jahre 1861 auf rund 119 Millionen Deßjatinen,86) und die Gesamtfläche des Kleinbesitzes im Jahre 1916") auf rund 155 Millionen Deßjatinen veranschlagen,38) so erscheint die grundsätzliche Tendenz der 55 Jahre klar und deutlich.

Es war in der Landwirtschaft ein mächtiger Dekapitalisierungsprozeß im Gange, oder, wenn man will, eine wirtschaftliche Demokratisierung des Ackerbaues. Das Prinzip der Standesangehörigkeit war sehr stark zurückgetreten: es gab nicht nur wohlhabende Bauern, sondern auch Großgrundbesitzer aus dem Bauernstande; und daneben viele adlige Parzellenwirtschaften. Die harten Gesetze der Produktion und der Konkurrenz brachten eine beschleunigte, neue Differenzierung und einen großen Umbau in der Verteilung des Grundbesitzes zustande: das Lebensunfähige mußte nach und nach ausscheiden und einer intensiven Wirtschaftsführung den Platz einräumen. Das Leiden der Schwächeren war gewissermaßen unvermeidlich; aber gegen Elend und Verelendung schützte der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung des Landes. Die Dekapitalisierung der Landwirtschaft war nämlich eine Folge und eine Begleiterscheinung des kapitalistischen Fortschrittes der übrigen Volkswirtschaft in Rußland.

Der Weltkrieg 1914—1918 brachte manche ernste Schwierigkeit in die nationale Wirtschaft; aber erst mit der Revolution setzten allgemein Not und Elend ein.

Die Revolution in ihrer gesamten Entwicklung zerfällt in drei verschiedene Perioden: der sogenannte "Kriegskommunismus 1917-1921; die sogenannte "Neue ökonomische Politik" (Nöp) 1922-1928; und die Rückkehr zum integralen Kommunismus (der sogenannte "Fünfjahrplan") 1929-1930.

 

34)  Vgl. sein grundlegendes Werk: "Osnownija tendenzii w mobi-usazn zemelnoj sobstwennosti", Prag 1925, S. VIII-IX, 308-309.
35)  Kossinsky, Op. cit., S. IX.
36)  Siehe bei Kofod, Op. cit., S. 14.
37)  Waldfläche nicht inbegriffen.
38)  Kossinsky, siehe die Zeitschrift "Russkij Kolokol", Nr. i, S- 27. Berlin.

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Der Kriegskommunismus

Die erste Periode wird durch die allgemeine Enteignung, den Bürgerkrieg, die Neuverteilung des Bodens, die Inflation, den Zusammenbruch der sozialisierten Industrie und der Eisenbahnen, und schließlich durch den Proviantkrieg der Kommunisten gegen die Bauern charakterisiert. Damals glaubten die Kommunisten an ein sofortiges Scheitern der gesamten bürgerlichen Weltwirtschaft und an eine rasche Verbreitung der Revolution; sie berauschten sich an den "gelungenen" Putschen in Bayern und in Ungarn und suchten, den Bürgerkrieg in Rußland siegreich durchzukämpfen. 

Die enteignete Industrie kam immer mehr ins Stocken, so daß sie nach Lenins eigener Berechnung durchschnittlich nur 6 Prozent des gesamten Vorkriegsquantums zu produzieren imstande war.39) Der neuorganisierte Apparat der Tscheka arbeitete mit seiner ganzen Rücksichtslosigkeit. Papiergeld wurde zur einzigen Finanzierungsquelle; die hungernde Stadt floh zum Dorfe,40) hatte aber dem Dorfe nichts zu geben außer entwertetem Papiergeld.

Für das Dorf war es die Zeit der sogenannten "schwarzen Neuverteilung" (cornij peredel). Der ganze Boden wurde durch ein Dekret nationalisiert, und, mit Ausnahme der sogenannten "Staatsgüter", einer unentgeltlichen Verteilung ausgeliefert. Viele Güter wurden noch 1917-1918 geplündert; die übrigen, sofern sie nicht direkt zu Staatsgütern gemacht waren, wurden aufgelöst. Um die industriell lahmgelegte Stadt, die Rote Armee und die Kommunistische Partei zu versorgen, mußten die Kommunisten zu einer Zwangseintreibung des Getreides und der Produkte greifen. 

Alles was den kommunistischen Provianttruppen ein "Überschuss" zu sein schien, wurde einfach, oft unentgeltlich, nach einer im Voraus bestimmten Bezirks- und Dorf-Quote konfisziert. Die Bauern wehrten sich ihrer Haut; es entstand ein Proviantkrieg, der in Blut und Brand durch das halbe Land tobte, und die Bauern veranlaßte, ihre Saatfläche bedeutend zu kürzen. Sie suchten sich auf den eigenen Bedarf einzustellen. So verzeichnete die Saatfläche im Jahre 1922 nur 76 Proz. des Vorkriegsquantums.

 

39) Lenin Werke, B. XVIII, T. 1. S. 444. Im Vergleich mit den 100 Prozent des Jahresdurchschnitts 1911—1914 brachte das Jahr 1920 den Kommunisten an Steinkohle — 24 Prozent, an Eisenerz 1,4 Prozent, an Gußeisen 0,3 Prozent, an Kupfer 0 Prozent, an Gold 2,6 Prozent, an Piatina 7,7 Prozent, an Schwefelsäure 3,8 Prozent, an Baumwolle 5 Prozent, an Leinen 8 Prozent, an Leinengarn 24 Prozent, an Zündhölzchen 16 Prozent, an Papier 13 Prozent, an Zucker 6,9 Prozent.
40)  In den Jahren 1918-1920 verlor Moskau 45 Prozent seiner Einwohner, Petersburg — 71 Prozent, Jaroslawl — 43 Prozent u.s.w.

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1920 ist das letzte Jahr des Bürgerkrieges gewesen. Die Sowjetregierung bemächtigte sich des ganzen umstrittenen Territoriums, und bekam Getreide aus Sibirien und dem Kubanjgebiet, Baumwolle aus Turkestan, Naphta aus Baku. Das Loch im Sack war aber schon so groß, daß alles in einigen Monaten wie verschwunden war. 1921 brach die Katastrophe an: Mißernte im Osten, an der Wolga und im Süden. Die Speicher mit den Vorräten für Dürrejahre — der notwendigste Schutzwall in Trockenheitsgebieten (Joseph und Pharao!) — standen aber nach dem Proviantkriege leer. Da kam das Elend des Hungers: ganze Gouvernements aßen Moos; ganze Bezirke starben aus an Hunger und Flecktyphus; es gab Gegenden, wo Leichen gekocht und verzehrt wurden.....

Das ganze Land war zusammengebrochen und erlebte eine Verelendung sondersgleichen.

 

 Die NÖP-Periode  

Die zweite Periode 1922-1927 ist durch gewisse Zugeständnisse an das privatwirtschaftliche Element und an das Bauernmeer gekennzeichnet. Daraufhin setzte eine langsame Erholung in der bäuerlichen Landwirt­schaft, im Warenaustausch, in der Industrie, in Einfuhr und Ausfuhr ein. Diese Zugeständnisse durften aber die Privatinitiative nur insofern und nur so weit befreien, als der Kommunismus sie ausnutzen konnte: es hieß — die Revolution brauche eine Atempause; es hieß frei lassen, um gut zu überwachen und wieder einzuklemmen. Das kommunistische Programm blieb für ewig und für die ganze Welt bestehen; nur für eine Zeitlang sah man sich genötigt, sich taktisch anzupassen.41)

"Wir müssen", sagte Lenin, "mit den persönlichen Interessen des Bauern rechnen",42) dieses "persönliche Interesse wird die Produktion heben";43) "der freie Umsatz — ist eine Anregung, ein Anreiz, ein Stoß für den Bauern"...44) Das einzige Mittel, aus der "verzweifelten Not" herauszukriechen,45) heißt Rückzug. Aber "dieser Rückzug wird nur so lange dauern, bis wir gelernt haben werden, bis wir fertig sein werden, eine gesicherte Offensive wieder zu ergreifen".48)

 

41) Lenin Werke, B. XVIII, T. 2, S. 38 u. a.
42)  Lenin Werke, XVIII, T. 1, S. 377; vgl. 440.
43)  Ebendaselbst S. 370.
44) Lenin Werke, XVIII, T. 1, S. 146. 
45) Ebendaselbst, S. 159, 167 u. a. 
46) Ebendaselbst, S. 408 u. a.

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Die NÖP-Jahre brachten den Bauern eine Reihe von Erleichterungen. Die Eintreibung der Produkte wurde durch eine einheitliche, progressive landwirt­schaftliche Steuer ersetzt; das Getreide wurde zu festen Preisen abgekauft; ein neuer Agrar-Kodex (1922) ging sogar so weit, daß dem Bauern (wenigstens auf dem Papier) das Recht, aus der Dorfgemeinde auszuscheiden und sich einen Lohnknecht zu mieten, gewährt wurde. Die Bauern, besonders die damals mit größerer Nachsicht behandelten Mittelbauern, atmeten auf und schickten sich an — ihre Wirtschaft zu flicken, und auf privatwirtschaftlichem Wege dem kommunistischen Staate und seinen erneuten Angriff einen loyalen Trotz zu bieten. Eine Erholung trat ein.

Die Nöp-Periode dauerte etwa bis 1927/28. Ab 1928/29 hat die neue Offensive angefangen. Bevor wir diese Offensive kurz schildern, versuchen wir, die revolutionäre Bilanz des russischen Bauern auf das Jahr 1927/28 nach authentischen Quellen zu ziehen.47)

 

Die revolutionäre Bauernbilanz

Im Laufe der 10 Jahre der kommunistischen Revolution hatte die russische Bauernschaft folgende Eroberungen zu verzeichnen.

1. Eine unentgeltliche Zugabe an Boden. Die Zugabe ist ganz gering gewesen: sie hat zwei Fünftel einer Deßjatine pro Kopf nicht übersteigen können;48) allerdings ein für die Bauern enttäuschendes Quantum. Fast der ganze Boden wurde aufgeteilt: der Privatbesitz, der Staatsboden, die Apanagen usw.49) Die Staatsgüter behielten im Jahre 1925 im ganzen nicht über 2.300.000 Deßjatinen.50) Die gewesenen Gutsbesitzer, wo sie sich noch hatten retten können, behielten winzige Parzellen, die sie eigenhändig bearbeiteten.

2. Die gesamte Bodenverschuldung an die Gutsbesitzer, an die Banken, an den Staat, an die Inhaber der Pfandbriefe — wurde annulliert. Damit gingen auch alle Rechtstitel der Vergangenheit zugrunde. Das Prinzip des Privateigentums wurde grundsätzlich abgeschafft;51) mit der Festigkeit und Sicherheit des Besitzes war es auch zu Ende: alles wurde prekär.

3. Die Bauern bekamen einen gewissen Teil des lebenden und des toten Inventars der enteigneten Güter; wohl nicht viel, denn manches wurde während der Plünderungen vernichtet, das andere wurde den Staatsgütern, später den Kollektivwirtschaften zugewiesen usw.

 

47)  Eine genaue Analyse der revolutionären Bauerndifferenzierung siehe im Aufsatz von M. Kritsky. 
48)  Das berechnet ein gut unterrichteter Kommunist, Knipo-witsch, für 29 Gouvernements des europäischen Rußland; so berechnet nach authentischen Quellen auch Prof. Bruzkus, Op. cit.; Prof. A. Markof berechnet die Zugabe noch niedriger. 
49)  Tschernyschoff Op. cit., S. 51. 
50)  Leschnew-Finkofsky, Sowchosy i kolchosy, Moskau 1928, S. 4. 
51)  Lenin, XVIII, 1, S. 378: "Wir haben Privateigentum auf Grund und Boden abgeschafft"; es besteht gleichsam nur eine Pacht. "Der Boden gehört dem Staate." B. XVIII, T. 2, S. 89.

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Damit wäre der aktive Teil der Bilanz abgeschlossen. Der passive Teil gestaltete sich im Jahre 1927 etwa folgendermaßen:

1. Ein gewaltiger Verlust an gekauftem Ackerboden.

Die Gutsbesitzer verloren, wie schon festgestellt wurde, rund 40 Millionen Deßjatinen.52) Den wohlhabenden Bauern wurde aber bis 50 Millionen Deßjatinen unentgeltlich enteignet.63) In die "schwarze Neuverteilung" wurde auch der Böden der Einzelhöfe (gleich 21-83 Prozent) und der von einzelnen Bauern selbständig gekaufte Boden (gleich 40-69 Proz.) reworfen.54) 

Oft wurde jede Bauernwirtschaft mit über 10 Deßjatinen einer teilweisen Enteignung unterworfen. Schon im Jahre 1919 gab es fast gar keine Bauernwirtschaften mehr mit über 10 Deßjatinen Saatfläche.55) Im Jahre 1924 gab es nur 6 Prozent Bauernwirtschaften mit über 6 Deßjatinen Saatfläche. Das heißt, daß die wohlhabende Bauernschicht durch die schwarze Neuverteilung mächtig getroffen und enteignet war. Oder, wie Lenin sich ausdrückte: "Wir haben ein kleines und ein allerkleinstes Bauerntum geschaffen."56)

Daraus geht hervor, daß die Revolution den Bauern weder von der relativen Überbevölkerung, noch vom "Bodenmangel" befreien konnte. Im Gegenteil, die Lage hatte sich nur verschärft. Im Jahre 1924 hatte die Sowjetregierung eine landwirtschaftliche Zählung in zwölf verschiedenen, aber typischen Gouvernements durchgeführt und dabei festgestellt, daß die durchschnittliche Versorgung einer Bauernwirtschaft mit Ackerboden im Jahre 1924 schlechter geworden war als sie im Jahre 1905 gewesen: damals rund 8,5 Deßjatinen als Durchschnittsquote, jetzt (1924) nur 7,4 Deßjatinen. 

"Also", lautete der Bericht buchstäblich, "das Ergebnis der Agrarrevolution und der Auflösung des Gutsbesitzes besteht darin, daß eine mittlere Bauernwirtschaft schlechter mit Ackerboden versehen ist als vor 19 Jahren."

 

52)  Siehe bei Molotof, Sten. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 1050-1051.
53)  "Vgl- die Zusammenstellungen des ehemaligen Kommissars Jur Landwirtschaft, Smirnoff, Iswestija 1927, XI, 3.
54)  Tschernischoff, Op. cit., S. 52; vgl. bei Molotof, Sten. Ber. des -*-V. Kommun. Kongresses, S. 1051.
55)  Deren gab es vor der Revolution bis 11 Prozent; nach der Devolution verzeichnete man in 25 Gouvernements nur 1,51 Prozent solcher Wirtschaften.
56)  Lenin, XVIII, T. 2, S. 125.

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Dieses Ergebnis hat manche Ursachen gehabt: erstens, haben die Bauern in den ersten Revolutionsjahren den aus der Stadt geflohenen einheimischen Halbproletariern auch einen Bodenanteil zuweisen müssen (dies in 87 Proz. der Dörfer);57) zweitens, ist ein riesiger Bevölkerungszuwachs im Lande zu verzeichnen — nicht weniger als 2—2% Millionen Menschen jährlich; drittens, haben die zu hohe Besteuerung der Bauern und der im Laufe der Revolution entstandene wirtschaftliche Individualisierungsprozeß einen Hang zur inneren Aufteilung der einzelnen Wirtschaften ausgelöst,58) — die Zahl der Bauernwirtschaften ist von 16 Millionen (1916) auf 24 Millionen (1927), also um 50 Prozent gestiegen59) (1930 über 26 Mill.) usw.

2. Durch die revolutionäre Inflation haben die Bauern alle Spareinlagen verloren. Zum 1. Januar 1914 hatten die Bauernersparnisse die Summe von 427 Millionen Goldrubel erreicht; zum 1. Januar 1926 betrugen sie etwas über 2 Millionen Sowjetrubel.60)

3. Der Bürgerkrieg, die Epidemien, der Proviantkrieg, die Hungerjahre, der Terror — haben vom Dorfe unzählige Menschenleben gefordert. Ein durch seinen revolutionären Optimismus bekannter Sowjetstatistiker61) berechnet, daß das russische Dorf in den Jahren 1914—1920 über 10 Millionen Männer und etwa 4 Millionen Frauen verloren hat.62). Dazu kommen noch die Opfer der Hunger jähre (1921—1922), deren Zahl von der Sowjetstatistik auf 5,2 Millionen Menschen veranschlagt wird.

4. Einen gewichtigen Posten des passiven Bilanzteiles bildet die allgemeine revolutionäre Verarmung der Bauernschaft. Noch Lenin stellte fest (1922—1923), daß "das Bauerntum einen entsetzlichen Ruin" erlebt, und daß "die Produktivität der Volksarbeit jetzt bedeutend niedriger geworden ist, als vor dem Kriege".63) Seitdem haben die Kommunisten folgende Beobachtungen und Berechnungen gebracht.

Die Bruttoeinnahme der Landwirtschaft betrug im Jahre 1913 pro Bauernkopf 113 Rubel; im Jahre 1926 — 83 Rubel, also nur 73 Prozent der Vorkriegszeit.64)

 

57)  Tschernischoff, Op. cit., S. 52.
58)  Siehe Sten. Ber. des XV. Kommun. Kongr., S. 1187.
59)  Siehe Molotofs Bericht auf dem XV. Kommun. Kongr., Sten. Ber., S. 1066.
60)  Ekonomitscheskaja Shisn, 1926, X. 30. Bericht von Rykof. Es ist hier die Kaufkraft eines Sowjetrubels zu berücksichtigen.
61)  Oganowsky, Ekonomitscheskoje Obosrenije, 1927 Oktober.
62)  Die abzurechnenden Opfer des Weltkrieges betragen nicht über 2K Millionen Menschen aller Stände nach einer genauen Berechnung der Kriegsstatistik.
63)  Lenin, Werke, XVIII, T. 1, S. 13, 125.
64)  Berechnet vom Kommissariat der Landwirtschaft.

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Die Ernte, pro Deßjatine gerechnet, ist durchschnittlich um 36 Prozent zurückgegangen.65) Die Getreidevorräte der Bauern machen etwa zwei Drittel des Vorkriegsquantums aus.86)

Während der Revolution haben in Rußland, besonders in den Überschußgebieten, eine Menge Bauernwirtschaften ihre Zugtiere verloren (auch sind neue Wirtschaften ohne Vorspann entstanden). Schon im Jahre 1924 stieg die Zahl der pferdelosen Wirtschaften auf 40 Prozent der Gesamtzahl. In einzelnen Gouvernements stieg dieser Satz auf 50 Prozent (Nordkaukasus), 5il Prozent (Tambof), 61 Prozent (Woronesch), 70 Prozent (Dongebiet), 89 Prozent (Samara). Im Jahre 1926 zählten die Kommunisten nur auf dem Territorium der RSFSR 4,6 Millionen pferdelose Wirtschaften.67)

Damit stieg auch die Anzahl der Wirtschaften mit geringer Saatfläche oder ganz ohne Saatfläche. Schon im Jahre 1925 berechneten die Kommunisten, daß solche Wirtschaften (mit unter 2 Deßjatinen Saatfläche) 37 Millionen Menschen, also etwa ein Drittel der gesamten Bauernbevölkerung,68) umfassen.

Dazu kommt noch eine dauernde Inventarkrise. Das tote Inventar wurde seit 1915 meist nicht erneuert.69) Das von der Sowjetregierung hergestellte Gerät ist von schlechter Qualität und sehr teuer (150—200 Prozent der Vorkriegs jähre).70) Aus Mangel an Zugvieh und Inventar verpachten die Bauern ihren Boden zu Bedingungen, die einer Knechtung und Ausbeutung gleichkommen,71) oder werden zu Lohnknechten, und zwar für den halben Preis der Vorkriegszeit,72) oder lassen den Boden brachliegen, und ziehen in die Städte.

 

5. Hohe Besteuerung, niedrige Getreidepreise und unerschwingliche Preise für die schlechten Sowjetfabrikate vollenden die Not. Die Kaufkraft des Getreides liegt bedeutend unter der Vorkriegszeit.73) Die Bauernschaft hat jährlich etliche Milliarden Rubel an die Sowjetregierung auf dem Wege

 

65)  Ekonomitscheskaja Shisn, 1926, 14. März und 3. November. 68) Prawda, 1926, 28. November.
67)  Siehe das Bulletin des Statistischen Zentralamtes N. 89, S. 26; auch "Bednota" 1927 XL 27; vgl. Sten. Ber. des XV. Kommun. Kongr., S. 915, Bogdanof.
68)  Ekonomitscheskoje Obosrenije, 1925, N. 1.
69)  In einzelnen Gegenden wurden nur 50 Prozent des Vorkriegsquantums an Inventar verzeichnet. Sten. Bericht des XV. Kommun. Kongr., S. 915 (Dezember 1927).
70)  Ekonomitscheskaja Shisn, 1926 6. Mai.
71)  Ekonomitscheskaja Shisn, 1926 13. August; Bednota, 1926 26. September.
72)  Na agrarnom fronte, N. 4-5, S. 11.
73)  Ekonomitscheskaja Shisn, 1926 3. September.

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über die hohen Fertigwarenpreise abzugeben.74) Hieraus folgt ein Rückgang der gesamten Konsumtion: die Kommunisten haben berechnet,76) daß die Bauern durchschnittlich nur 65 Prozent des Vorkriegsquantums an Textilware konsumieren, an Leder nur 54 Prozent, an Zucker 82 Prozent, an Glas 57 Proz., an Eisen, Blech, Gußeisen nur 10-25 Proz. usw. usw.

Diese gesamte Bilanz ist unzweideutig: ein steigendes Elend herrschte in der bäuerlichen Landwirtschaft Sowjetrußlands. Es ging so weit, daß der Unterhalt eines Pferdes bei 2 Deßjatinen Saatfläche sich nicht mehr rentieren konnte: "das Pferd verschlingt gleichsam den Bauern."70) Solcher Wirtschaften gab es 8 Millionen,77) d.h. ein Drittel der Gesamtzahl der Bauernwirtschaften war wirtschaftlich lahmgelegt und zur Hälfte proletarisiert. Etwa 16 Prozent der ohne Saatfläche gebliebenen Bauern verließen jährlich das Dorf und zogen in die Stadt, in der Hoffnung, in die Listen der Arbeitslosen eingetragen zu werden.78)

Sie werden von den Kommunisten "als überflüssige Bevölkerung bezeichnet. In einzelnen Gouvernements betrug der Prozentsatz dieser "überflüssigen Menschen" bis 20 Prozent (Tambof)78) und 25 Prozent (Brjansk)80) der gesamten Gouvernements-Bevölkerung.

Dies war ungefähr das Bild der Agrarlage Sowjetrußlands bei Beginn des Jahres 1928.

 

Der Kulak

Um die Ereignisse der letzten zwei Jahre richtig verstehen und beurteilen zu können, muß man im Auge behalten, daß das, was vom bürgerlichen Standpunkt aus — Unglück und Elend bedeutet, nämlich die Proletarisierung des Volkes, vom kommunistischen Standpunkte — den notwendigen Weg zum sozialistischen Glück darstellt. Aus der marxistischen Prognose, laut derer dem Kleinbauern wirtschaftlich keine günstige Zukunft bevorsteht, sondern eine langsame Verelendung, haben sich die Kommunisten ein Willensprogramm gemacht.81)

 

74)  Siehe den Aufsatz von Dr. Höffding über das Finanzwesen. 
75)  Bericht des Stellvertreters des Kommissars für Landwirtschaft, Swidersky.
76)  Rosit, Sten. Ber. des XV. Kommun. Kongr., S. 1127.
77)  So Molotof, der offizielle Berichterstatter der Kommunist. Partei, Sten. Ber. des XV. Kommun. Kongr. (Dez. 1927), S. 1066.
78)  Prawda, 1924, 4. November, Ekonomitscheskaja Shisn, 1926, N. 264.
79)  Sten. Ber. des XV. Kommun. Kongr., S. 1120; Dezember 1927.
80)  Sten. Ber. des XV. Kommun. Kongr., S. 1025.

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Dementsprechend handeln sie auch in Sowjetrußland.82) Schon während der "schwarzen Neuverteilung" der ersten Jahre haben sie verstanden, den wohlhabenden Bauern (den Kulaken) zu "unterwühlen und zu expropriieren" und ein "kleines und allerkleinstes Bauerntum zu schaffen", — einen "Ruin der Bauern".83) Lenin bezeichnete die Kulaken als die "rohesten Ausbeuter, Leuteschinder, als Spinnen, Blutegel, Vampyre".84) Nun wurde diese Bauernschicht während der Nöp-Periode einer kalten Enteignung unterzogen, was die Kommunisten offen zugaben und ideologisch begründeten.85) 

Der wohlhabende Bauer blieb für sie immer die Stütze des Privateigentums auf dem Lande, des Kapitalismus, der Kirche, der Reaktion; kurz, er galt als "der Klassenfeind".86) Wohl hatte dieser Klassenfeind von seinen 40 Millionen Deßjatinen nur noch 4 Millionen behalten;87) wohl wurde dieser landwirtschaftliche Kapitalismus als "außerordentlich armselig, als nichtig" bezeichnet:88) "unser Kulak" ist oft "nur ein Bettler im Vergleich mit einem amerikanischen Farmer"89) ... Er wurde doch weiter enteignet, oft nach den Methoden des Proviantkrieges, was noch im Jahre 1925 offen festgestellt und zugegeben wurde.90)

 

81) Auch bei Marx und Engels suchen sie gerne die Aeußerungen heraus, die auf eine entsprechende Wertschätzung der Proletarisierung hindeuten. So finden wir z. B. in der "Prawda" die Stelle von Engels herangezogen, wo der letztere gegenüber Dr. Mülberger die progressive Bedeutung der Enteignung des kleinbürgerlichen Handwerkes durch die Großindustrie, seine Vertreibung aus dem Hause usw. mit Pathos hervorhebt, als etwas unbedingt Notwendiges, als die erste Bedingung des Fortschrittes zum Sozialismus usw. Prawda, 1930, 1. Mai. Aufsatz von Kolzoff. 
82) Siehe den Aufsatz: "Ziele und Hoffnungen" im vorliegenden Sammelwerk; ganz besonders den programmartigen Wunsch, den Stalin als Ehrengast ins "rote Buch" des Betriebes "Dynamo" im Jahre 1924 eingetragen hat. 
83) Lenin Werke, Bd. XVIII, T. I, S. 138; T. II, S. 15, 125.  
89) Vgl. das Zitat im sten. Protokoll des XIV. Komm. Kongr., S. 123.  
85) Vgl. z.B. die sten. Berichte der komm. Kongresse: XI, S. 277; XII, 410; XIII, 100, 500; XIV, 123, 151, 175, 161, 235, 303, 701; XV, "544, 773.  
86) Sten. Bericht des XIV. Kommun. Kongreß, S. 175.  
87) Molotof, Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 1051.  
88) Kritzmann, Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 1197.  
89) Das Vermögen eines Kulaken beträgt nur 1/e bis 1/io des Vermögens eines Farmers. Smionof. Stenogr. Bericht des XlV. Kommun. Kongresses, S. 437. 
90) Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 161, 235.

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Jeder Bauer, der sein Einkommen nicht nur aus eigener Muskelarbeit bezieht, wurde als Kulak bezeichnet;91) darüber hinaus wurde aber zugegeben, daß der Begriff "Kulak" einen ganz relativen Inhalt besitzt (Sinowjew) und daß nur die "individuelle Geschichte der jeweiligen Bauernwirtschaft" einen Aufschluß über ihr Wesen geben kann (Lenin).92) Der "Wohlstand" des "Kulaken", den man zu zerstören suchte, blieb dementsprechend auch eine relative Größe.

Kurz — die nächste, verhältnismäßig reichere Schicht die am Privateigentum festhielt und dem Kommunismus nicht huldigen wollte, wurde zum Kulakentum gerechnet. In Wirklichkeit handelte es sich also darum, nach und nach, von oben nach unten, eine allgemeine Enteignung der Bauernschaft in Rußland durchzuführen. Daraufhin wurde auch das kommunistische Beamtentum und die kommunistische Jugend gedrillt. Bereits im Jahre 1925 meldete Stalin dem Parteikongreß, — alles wäre fertig: "man brauche nur zu befehlen, und die Kulaken würden in einem Augenblick enteignet werden."93) 

Schon im Jahre 1927 behauptete er, es wäre die Zeit gekommen, die Landwirtschaft zu kollektivieren; schon damals berechnete Molotof, daß die Zahl des landwirtschaftlichen Proletariats jährlich um 17—18 Prozent zunimmt, und Rykof führte aus, daß die revolutionäre Parzellierung notwendiger Weise zur Kollektivierung führt.94)

 

Die kalte Enteignung

Dieser wohlüberlegte und vorbereitete Enteignungs- und Kollektivierungsplan wird aber ganz besonders klar, wenn man das Wesen der "einheitlichen landwirtschaftlichen Steuer" in Betracht zieht. Diese progressive Steuer, im Jahre 1923/1924 eingeführt, suchte alle Quellen des Bauerneinkommens zu erfassen, und hatte nicht die Landwirtschaft, sondern den Bauern im Auge. Das nicht zu besteuernde Minimum des Einkommens wurde bedeutend niedriger angesetzt als in der Stadt. Die Staffelung stieg auf dem Lande bedeutend schärfer als in der Stadt, und wurde nachträglich noch von Jahr zu Jahr gesteigert.

Im Jahre 1927/1928 hatten die höheren Gruppen der betreffenden Steuerzahler schon 28-30 Prozent des gesamten Einkommens jährlich herzugeben. Im Jahre 1928/1929 wurde ein neues Gesetz erlassen, dem zufolge (§§ 27, 28) die "reicheren" Bauern (300-400 Rubel Jahreseinkommen) noch einer besonderen Steuer nach "individuell" festzustellenden Normen unterzogen werden mußten:

 

91)  Begriffsbestimmung eines rechts-stehenden Kommunisten, Rykof. Stenogr. Bericht des XIII. Kommun. Kongresses, S. 500; vgl. bei Milütin, XV, S. 1191 u. a.
92)  Stenogr. Bericht des XIII. Kommun. Kongresses, S. 100, 466.
93)  Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 48; russisch: "daj tolko — i migom rasdenut kulaka".
94)  Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 57, 1055, 777.

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es kam zuweilen soweit, daß die Mittelbauern das Zwanzigfache und die reicheren Bauern das Zweiundsiebzigfache des niedrigsten Satzes hergeben mußten.95) Somit mußte die wohlhabendere Bauernschicht (12-13 Prozent der Landbevölkerung) im Jahre 1928/1929 rund 47 Prozent der Gesamtsumme der landwirtschaftlichen Steuer decken98) und im Jahre 1929/1930 rund 60 Prozent.97) 

Es wurde also systematisch eine kalte Enteignung auf dem Lande durchgeführt, oder, wie Kamenew sich ausdrückte, "die Steuer schnitt alles weg, was auf dem Lande zum Element einer bourgeoisen Anhäufung wurde": das gesamte Bauerntum sah sich immer weiter nach unten herabgedrückt; die Proletarisierung stieg und erfaßte immer neue Kreise und Schichten; es wurde geradezu ein "Verfall der landwirtschaftlichen Produktion" verzeichnet,98) und Hoffungs­losigkeit bemächtigte sich der Bauernseelen.

 

Der Angriff

Im Jahre 1929 (Frühling-Sommer) endlich wurde von dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei die Losung ausgegeben: "Die Einschränkung und Verdrängung der Kulaken müsse von nun an durch eine Liquidierung des Kulakentums auf der Grundlage einer durchgehenden Kollektivierung ersetzt werden."99)

Die Losung war erlassen, und man ging ans Werk. Es galt, die obere Bauernschicht vollständig zu liquidieren, bei der übrigen proletarisierten oder halbproletarisierten Bauernschaft aber die Hoffnungslosigkeit in ausgesprochene wirtschaftliche Verzweiflung und Panik zu verwandeln, so daß die ganze Bauernmasse sich bereit erklärte, "freiwillig" in die geplanten Kollektivbetriebe einzutreten. Die Enteignung der angeblichen "Kulaken" wurde teilweise nach vorher zusammengestellten Listen ohne Umstände durchgeführt; teilweise mit Hilfe der "individuellen Umlage", die jedesmal nach dem Gutdünken der enteignenden kommunistischen Beamten festgestellt wurde; teilweise auch nach der Methode einer "freiwilligen Selbstumlage" der Dorfgemeinde: d.h. die ärmeren Schichten der Dorfgemeinde faßten auf Anforderung der lokalen kommunistischen Zelle den Beschluß, "freiwillig" so und so viel Getreide dem Staate auszuliefern, legten das auszuliefernde Quantum auf die politisch entrechteten und wirtschaftlich zu enteignenden reicheren Bauern um, — und die Exekution wurde durchgeführt.

 

95) Großmann: "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 1, S. 19.
96) Kalmin, "Bednota", 1928, 20. April.
97) Brüchanow, "Iswestija", 1929, 24. Januar.
98) Kritzmann, "Na agrarnom fronte", 1930, Nr. 6, S. 15.
99) Diese Losung besteht auch weiter, z.B. "Prawda", 1930, 7. Mai. Aufsatz von Loginof, 1930, 15. Mai, Leitartikel usw.

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Dem "Kulaken" wurde hie und da gestattet, "sich selbst zu liquidieren"; meistens wurde sein Vermögen ohne weiteres versteigert, er selbst aber, mit seiner Familie auf die Straße gesetzt oder per Eisenbahn nach Norden und Osten "als frei gewordene Arbeitskraft" abtransportiert.100)

 

Die Kollektivierung

Die an Ort und Stelle bleibende Bauernschaft, die aus Angst oder Neid teilweise bei dieser Enteignung mithalf und nun dasselbe Schicksal für sich befürchtete — wurde auf verschiedene Art überredet oder durch Drohungen soweit gebracht,101) daß sie sich massenhaft in die neu zu errichtenden. Kollektivbetriebe eintragen ließ. Teilweise "kollektivierte" man den Ackerboden und das Vieh; teilweise alles bis zur Nähmaschine und bis zum letzten Huhn.102)

Das ganze riesige Land kam in eine ungeheure Bewegung, die etwa im September 1929 anfing und bis Februar-März 1930 andauerte. Die kommunistische Beamtenschaft, welche diese Kollektivierung auf Grund besonderer Parteiverordnungen (also nicht Sowjetverordnungen) führte und teilweise direkt aus der Stadt zu diesem Zwecke abkommandiert wurde (z.B. im Januar 1930, 25.000 bevollmächtigte Arbeiter), wetteiferte, um die Zahl der kollektivierten Bauernwirtschaften in die Höhe zu treiben. 

Überall, wo diese Wettbewerbsstimmung herrschte, "wurde eine Besprechung der Probleme der Kollektivierung gar nicht zugelassen"; protestieren durfte man nicht, denn "die Bevollmächtigten der Parteikomitees forderten zur Erfüllung der Richtlinien auf, und den Ungehorsamen wurden die Partei-Mitgliedskarten weggenommen.",103) was einer Ausschließung aus der Partei gleich kam. Es herrschte allgemein die feste Überzeugung, daß das Moskauer Parteizentrum jeden quantitativen Fortschritt in der Enteignung der Kulaken und in der Kollektivierung der Bauern anempfiehlt und begrüßt;103a) und daß das offiziell empfohlene Prinzip der "Freiwilligkeit" in dieser Angelegenheit nicht anders behandelt werden darf, als es in jeder anderen Hinsicht im Sowjetstaate behandelt wird, nämlich: der Schweigende legt seine freiwillige Zustimmung an den Tag.

 

100) Darüber näheres in den Aufsätzen von Kritzky und Bunge. Siehe auch besonders das im Eckart-Verlag erschienene, auf Grund authentischer Dokumente zusammengestellte Buch "Ein deutscher Todesweg".
101) Der Aufsatz von Kritzky schildert diese Methoden nach authentischen Quellen.
102) Vgl. z.B. "Bolschewik" 1930, Nr. 10, S. 39.
103) "Prawda", 1930, 22. Mai, Aufsatz von Bachtamof.
103a) Siehe "Prawda", 1930, 27. Juni.

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Im ganzen Lande, besonders aber in den Republiken der nationalen Minderheiten, im Osten und in den sogenannten "konsumierenden Gebieten"104) — führten die Kommunisten eine "Hurra-Offensive"105) nach dem Prinzip, "wir können alles, für uns gibt es keine Schwierigkeiten".106) ... Es wurde ein "rasendes Tempo"107) eingeschlagen. 

"Wir wurden wahnsinnig, wir setzten der Quantität nach, wir suchten nur so viel wie möglich Mitglieder108) zu sammeln und sie wie in einem Kartoffelsack zusammenzubinden."108) ... Die Kollektivierung wurde von den Beamten einfach vorgeschrieben und mit Zwang durchgesetzt.110) Nach oben wurde aber die ganze Bewegung "fast regelmäßig" verschönert,111) und die Zahlen stiegen immer weiter. In vielen Gegenden suchte man die "durchgehende Kollektivierung" zu 100 Prozent durchzuführen.112) 

Zum 10. Februar 1930 galten in einzelnen Gegenden als "kollektiviert": im Nord-Kaukasus 71,5 Prozent Bauernwirtschaften; im Zentralgebiet der Schwarzerde 65,8 Prozent; in Baschkirien 63,4 Prozent; im Gebiet der unteren Wolga 61,5 Prozent; in der Tataren-Republik 60,1 Prozent; im Ural-Gebiet 58,9 Prozent; im Moskauer Gebiet 57,9 Prozent; im Gebiet der mittleren Wolga 52,2 Prozent; in Weißrußland 51,3 Prozent; in der Ukraine 42,8 Prozent, usw.

Dementsprechend stieg auch die Aufregung bei den Bauern und in der gesamten vom Bauerntum beeinflußten Bevölkerung. In einer ganzen "Reihe von Gebieten" verzeichneten die Kommunisten nicht nur eine offene Bewegung gegen die Kollektivbetriebe, sondern auch eine sowjetfeindliche Bewegung, die selbstverständlich auf den Einfluß der Kulaken zurückgeführt wurde.113) Eine entsprechende Gährung wurde auch in der Roten Armee festgestellt.114)

Das ganze Regime ging, wie Stalin sich später ausdrückte, "im rasenden Tempo dem Abgrund entgegen".115) ...

 

104)  Siehe Jakowlews Bericht im XVI. Kommun. Kongreß. Thesen in der "Prawda", 1930, 19. Mai. Als "konsumierende Gebiete" werden die Gebiete bezeichnet, die nicht genügend Getreide produzieren und deswegen genötigt sind, Getreide einzukaufen; ihnen werden gewöhnlich die Ueberschußgebiete gegenübergestellt. 
105)  "Prawda", 1930, 7. Mai, Aufsatz von Loginow. 186) "Prawda", 1930, 16. Mai, Aufsatz von Lebedew.  
107)  "Prawda", 1930, 13. Mai, Aufsatz von Browarsky.  
108)  D. h. für die Kollektivbetriebe.  
109)  Sachariew, "Prawda", 1930, 7. Mai.  
110)  Russisch: "goloje administrirowanije", "Sashim". Lebedew, "Prawda", 1930, 16. Mai. Siehe auch das von Karawajew und Schumsky geschilderte Material "Na agrarnom fronte", 1930, Nr. 7/8, S. 90—94.  
111)  Taiz, "Prawda", 1930, 21. Mai. 
112)  Z.B. "Prawda", 1930, 26. Mai. Aufsatz der Frau Popowa; dies ist später auch von Stalin offen zugegeben worden: "Antwort an die Genossen der Kollektivbetriebe". 
113)  Siehe Jakowlews Thesen, "Prawda", 1930, 19. Mai: russisch "antikolchosnija wystuplenija", "antisowjetskija wystuplenija". 
114)  Siehe Näheres im Aufsatz "Die Rote Wehrmacht" im vorliegenden Sammelwerke.

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Aus dieser ganzen Bewegung wäre noch folgendes hervorzuheben. Erstens, daß nicht nur der reichere Bauer angegriffen und enteignet wurde, sondern oft auch der Mittelbauer: auch er wurde, wie Stalin sich später ausdrückte, "gewaltsam" "entkulakisiert" und "expropiiert".116) Zweitens, daß die kollektivierenden Kommunisten oft die folgerichtigste und radikalste Organisationsform des Kollektivbetriebes, nämlich "die Kommune", bevorzugten und somit den gesamten Besitz der Bauern zu kollektivieren suchten.117) Drittens, daß die Bauern die ganze Kollektivierung als einen regelrechten Angriff der Partei und der Regierung auf ihr Privateigentum ansahen und "sich gewaltsam in die Kollektivbetriebe hineingejagt fühlten."118) ..... Die "späterhin angewandten Methoden haben diesen Eindruck nur verstärkt"119) und bestätigt.

Der künftige Revolutionshistoriker wird noch feststellen müssen, daß die Leitung der Kommunistischen Partei der ganzen Kollektivierung gegenüber eine doppelte Einstellung bewahrte. Einerseits war sie die Quelle der ganzen Kollektivierungswut und der Enteignungs-Psychose; Stalin, als Parteisekretär (und als Diktator), wußte, was auf dem Lande vor sich ging, und suchte den Angriff ideologisch zu begründen.120) 

"Um das Kulakentum als Klasse zu verdrängen", führte er aus, "muß man den Widerstand dieser Klasse im offenen Kampfe brechen und ihm die produktiven Quellen der Existenz und der Entwicklung entziehen. ... Ohne dies ist jede ernste und, ganz besonders, eine durchgreifende Kollektivierung unmöglich. Dies haben die ärmeren Bauern und die Mittelbauern bei uns auf dem Lande gut verstanden, die das Kulakentum in Trümmer legen und eine durchgehende Kollektivierung verwirklichen."121) 

Es wurde also offen zugegeben, daß es sich hier um einen "offenen Kampf", um eine systematische Enteignung und um einen Pogrom handelt; nur wurde dieser Pogrom wie üblich den "Massen" zugeschrieben.

 

115)  Russisch "beschennij beg k propasti". Der Ausdruck wurde später oft wiederholt, z. B. "Prawda", 1930, 6. Mai.
116)  Stalin, "Otwet towarischtscham kolchosnikam". Seperat-abdruck vom 6. April 1930.
117)  Stalin, ebendaselbst.
118)  "Prawda", 1930, V. 21, Aufsatz von Taiz.
119)  Ebendaselbst.
120)  Erstens in seiner Rede auf der "Konferenz der marxistischen Landwirtschaftler" vom 27. Dezember 1929; zweitens in seinem Aufsatz in der "Prawda" vom 21. Januar 1930.
121)  "Prawda", 1930, 21. Januar. Russisch "gromitj". Die Sperrung stammt vom Verfasser.

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Daneben wurde aber in einem Beschlüsse des Zentralkomitee-Plenums (November 1929) betont, daß bei der Kollektivierung "die Initiative und die Selbsttätigkeit der Massen allseitig zu fördern wären"; und in einem anderen Erlasse des Zentralkomitees (6. Januar 1930) wurde darauf hingewiesen, Jaß als "Hauptform" der Kollektivierung die mildere Artelform anzusehen wäre, und daß es unrichtig wäre, die gesamte Kollektivierung "von oben verordnen" zu wollen.122) Die geheimen Partei-Instruktionen liegen uns leider nicht vor. Aber nachträglich hat die kommunistische Parteiopposition doch manches aus der Schule geplaudert; sie hat das Zentralkomitee der Partei offen eines Doppelspieles beschuldigt: das Zentralkomitee hat es gewußt, daß "Übertreibungen" und "Übertretungen" der sogenannten Parteirichtlinien geschehen; es hat diese Übertreibungen geduldet, und beabsichtigte, mit diesen Methoden die Kollektivierung durchzusetzen123) usw. Dies alles und dergleichen mehr wird der Historiker der Zukunft feststellen müssen.

 

Die Atempause

Wie dem auch sein mag, dicht vor dem "Abgrund" haben Stalin und das Zentralkomitee der Partei umgeschwenkt und die ganze Kollektivierung provisorisch abgebrochen.124) Es wurde auf einmal "eingesehen", daß die Kollektivierung in einem rasenden Tempo Riesenkollektive, und zwar nur auf dem Papier, schafft; daß sie mit Gewalt durchgeführt wird; daß auch die Mittelbauern massenhaft enteignet werden; daß bei den Eintragungen in die Kollektiv­betriebe von einer "Freiwilligkeit" nicht gesprochen werden kann und daß die kommunistischen Beamten auf dem Lande meist nicht die mildere Form der "Artel", sondern die das gesamte Privateigentum erfassende und radikale Form der "Kommune" zu verwirklichen suchen. 

Dies alles wurde auf "Übertreibungen" und "Übertretungen" der festen, "Leninschen" Parteirichtlinien zurückgeführt, mißbilligt und verworfen; ganze Scharen von "Übertreibern" und "Übertretern" wurden abgesetzt und "vor Gericht gestellt".125) Es galt, das Land irgendwie zu beruhigen; und die kleinen, eifrigen Beamten, die dem Winke der Herren durch ihr grausames Vorgehen nachzukommen dachten, mußten jetzt ihren Eifer verantworten.

 

122) Außer den authentischen Erlassen siehe die Kommentare von Postyschew. "Prawda", 1930, 8. Mai.
123) Siehe die polemischen Aufsätze gegen die Opposition in der Sowjetpresse, z.B. "Prawda", 1930, V. 31, Aufsatz von Loginof; 1930, VI. 3; 1930, VI. 18 usw.
124) Siehe Stalins Aufsätze "Golowokrushenije ot uspechow" und "Otwet towarischtscham kolchosnikam"; siehe auch die Erlasse des Zentral-Komitees vom 10. und 15. März und vom 2. April 1930.
125) Vgl. ganz besonders die Berichte in der Zeitschrift des Justiz-Kommissariats "Sowjetskaja Justizija", 1930. Nr. 10, S. 3-5; Nr. 14, S. 3-6; Nr. 20, S. 12-13.

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Von den Bauern gehaßt, verfolgt, häufig ermordet, von der eigenen Parteileitung abgesetzt und beschuldigt, haben sich viele von ihnen aus Angst und Verzweiflung das Leben genommen. Andere waren durch die neue Schwenkung des Diktators so verblüfft und erschüttert, daß sie den neuen Verordnungen gar nicht Glauben schenken wollten, die Zwangskollektivierung weiter führten und die "Übertreibungen" gar nicht "ausbessern" wollten. Noch andere ließen ihren "kommunistischen Mut" sinken und versuchten das Geschehene rückgängig zu machen, die Kollektivbetriebe aufzulösen und das Enteignete zurückzuliefern, was alles später wieder mißbilligt wurde.126) Im ganzen Lande herrschte Wirrwarr, Haß, Angst und Verzweiflung.

 

Der Austritt

Nun hieß es, die "unfreiwillig" kollektivierten Bauern "dürfen zurücktreten"; und siehe da — eine Masse Bauernwirtschaften meldeten sich zum Austritt aus den Kollektivbetrieben. Der Rückstrom war gewaltig.127) Es gab Gegenden, wo man eine "durchgehende Kollektivierung" anstrebte und wo der Prozentsatz der schließlich kollektivierten Bauernwirtschaften auf 9 Prozent zurückging (Wolokolamsk) ;128) es gab Gegenden, wo 85 Prozent Bauernwirtschaften als kollektiviert galten und wo fast alle zusammengekneteten Kollektivbetriebe sich auf einmal auflösten (Kasakstan) ;129) im Gebiete des Nord-Kaukasus trat die Hälfte der Bauern zurück;130) im Zentralgebiet der Schwarzerde sank der Prozentsatz von 65 auf 18,5 ;131) im Gouvernement Wologda (Norden) — von 64,8 Prozent (1. März) auf 8 Prozent (Juni). ("Prawda", 1930, 19. Juni.) 

Im großen und ganzen blieb in den Kollektivbetrieben nur ein Drittel der eingetragenen Bauern (Frühling 1930) oder nur rund 24,1 Prozent der gesamten Bauernwirtschaffen132) (jedoch in den Getreide-Hauptgebieten angeblich 30-50 Prozent der gesamten Wirtschaftseinheiten,133) und 28-61 Prozent der Saatfläche).134)

 

126) Vgl. "Prawda", 1930, V. 13; V. 21.
127) "Massenebbe", "Prawda", 1930, V. 22, Nikulichin.
128) "Prawda", 1930, 26. Mai, Aufsatz der Frau Popowa.
129) "Prawda", 1930, 13. Mai, Browarsky.
130) "Prawda", 1930, 21. Mai.
131) "Prawda", 1930, 3. Juni.
132) Siehe "Bolschewik", 1930, Nr. 14, 31. Juli. Aufsatz von Wermenitschew, S. 35.
133) "Prawda", 1930, 6. Mai, Leitartikel; 15. Mai; siehe auch den Bericht des Volkskommissars für Landwirtschaft, Jakowlew, "Prawda", 1930, 19. Mai.
134) "Bolschewik", 1930, Nr. 14, ebendaselbst. Lehrreich ist es festzustellen, daß die Kommunisten in ihren optimistischen Berechnungen den "Warenüberschuß" des Getreides folgendermaßen berechnen: im Jahre 1913 — 100 Prozent; 1927 — 37 Pro-zent; 1928 — 36,8 Prozent; 1929 — 58 Prozent; 1930 — 75 Prozent. (Ebendaselbst.) Dieser Überschuss wird durch zwei Koordinate bestimmt: Ernte und Erfolg des enteignenden Angriffs der Kommunisten auf die Bauernwirtschaft.

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Dies ist um so bezeichnender, als der Austritt der Eingetragenen durchaus nicht begünstigt wurde; im Gegenteil: z.B. wurde der enteignete und kollektivierte Ackerboden beim Austritt nicht zurückerstattet, er galt als "dem Massive des neuen Betriebes einverleibt", und dem Zurücktretenden mußte ein neuer, anderweitiger Bodenanteil (meist unbequemes und schlechtes Land) zugewiesen werden, was aber auch wochen- und monatelang verschoben wurde.135) j)en enteigneten Mittelbauern wurde ihr Vermögen gar nicht,136) oder nur ungern, langsam und nicht in vollem Werte restituiert;137) vieles war verschleudert worden, zugrunde gegangen, und konnte nicht zurückerstattet werden. Es gab auch Fälle, wo die Bezirksverwaltungen einfach bekanntgaben, daß wer Ware und Brot kriegen will — in den Kollektivbetrieben zu bleiben hat",138) usw. Kurz, der Austretende kam in eine zerrüttete Wirtschaft zurück, und sah sich bedeutend ärmer als zuvor.

 

Erfolge und Aussichten

Das Ganze bildet aber nur erst den Anfang der integralen Bauernenteignung und der Kollektivierung der Landwirtschaft. Der großartig gedachte Plan wird weiter und bis ans Ende geführt. Das gesetzte Ziel wurde ja erreicht: die reicheren und produktiven Bauernhöfe sind jetzt zum großen Teil liquidiert; ein Drittel der gesamten Bauernwirtschaften ist grundsätzlich enteignet und ein Viertel in die Kollektivbetriebe hineingeschoben; ein weiteres Drittel wurde erfaßt, erschüttert, wirtschaftlich um und um getrieben und schließlich mit großem Verlust auf schlechte Bodenanteile hinausgesetzt; die gesamte Bauernschaft ist um ihre Sicherheit gebracht, terrorisiert und vor die Aussicht gestellt, der heranrückenden Enteignung zu verfallen. Der Sommer 1930 brachte den Bauern nur eine kurze Atempause, und wurde von den Kommunisten zur Vorbereitung des weiteren Angriffs ausgenutzt.

 

135) Vgl i)prawda", 1950, V. 6; Y. 21, Aufsatz von Taiz; V. 22, Nikulichin; V, 24: neue Bodenanteile wurden "nicht zugewiesen"; oder es wurden "ganz untaugliche Bodenstücke gewährt, im besten Falle winzige Parzellen im Ausmaße einer 'Grabnorm'." V, 25, Panförof.
136) Z.B. "Prawda", 1950, V. 16, Aufsatz von Lebedew; V. 50.
137) "Prawda", 1930, V. 15; V. 21, Taiz; V. 24, Nikulichin; siehe auch ganz besonders die Zeitschrift "Sowjetskaja Justizia" Nr. 18, S. 4-6, Aufsatz von Wolkof.
138) "Prawda", 1930, V. 50.

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Das Geschehene wird von den Kommunisten selbst und ihren Mitläufern folgendermaßen bewertet.

"Wenn der erste Schritt der Oktoberrevolution auf dem Lande in der Konfiskation des Bodens bei den Gutsbesitzern bestand, so erscheint der Übergang zu den Kollektivbetrieben als der zweite und ausschlaggebende Schritt, der die wichtigste Etappe im Aufbau des Fundamentes der sozialistischen Gesellschaft kennzeichnet." ... "Die riesige Umwälzung im Leben von mehreren Zehnmillionen Menschen" ... "ist unumgänglich mit einer Verschärfung des Widerstandes der Klassenfeinde im inneren Lande verbunden". — "Dem Kulaken haben wir noch nicht den Garaus gemacht, und er wird dem siegreichen Aufmarsch der Kollektivierung noch einen rasenden Widerstand leisten." "In den Kollektivbetrieben werden aber die Bauern ihre kleinbürgerliche, auf Privateigentum eingestellte Mentalität, ihr Streben nach der privat-wirtschaftlichen Anhäufung, die sie von ganzen Generationen kleiner Privateigentümer ererbt haben — endgültig abstreifen."139) ... "Ein in der menschlichen Geschichte nie dagewesener Bruch der bisherigen sozialen Verhältnisse geht vor sich":150) "eine übergroße kapitalistische Wirtschaft wird auf den Knochen der Bauernwirtschaft entstehen, nachdem sie die letztere von der Erde vertilgt haben wird."141) ...

Dementsprechend lautet der Beschluß des XVI. Kommunistischen Kongresses dahin, die durchgehende und allgemeine Kollektivierung der Bauernwirtschaft im Laufe der nächsten zwei Jahre (1930-1931-1932) durchzuführen;142) und im Oktober-November 1930 wird schon wieder eine steigende Kollektivierungswelle verzeichnet.113)

Dies sind die Grundtendenzen und die Aussichten der letzten zwei Jahre. 

 

Die Enttäuschung des Bauern

Wenn wir nun die Ergebnisse der kommunistischen Revolution vom Standpunkt des russischen Bauern kurz zusammenfassen, so werden wir folgendes feststellen müssen.

Die Revolution brachte den Bauern vor allem eine große Enttäuschung in der Quantität des greifbaren Ackerbodens. Die Idee des "unendlichen Vorrats" hat sich nicht bewähren können; sie hat sich als Illusion erwiesen, und ist nun in der Massenseele kompromittiert, und entschwunden.

 

139)  Volkskommissar für Landwirtschaft, Jakowlew. Thesen zum XVI. Kommun. Kongreß. "Prawda", 1930, V. 19.
140)  "Ekonomitscheskaja Shisn", 1929, X. 13.
141)  So Professor Tschajanof. "Ekonomitscheskoje Obosrenije", 1929, September, S. 50-51.
142)  Siehe die Reden von Stalin, Kaganowitsch und Jakowlew in der "Prawda" (Ende Juni - Anfang Juli 1930).
143)  Vgl. z.B. "Iswestija", 1930, 2. Oktober, 3. Oktober, 11. November. "Sozialisticekoje Semledelije", 1930, 23. Oktober.

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Die zweite von der Revolution gebrachte Enttäuschung betrifft den erwarteten und nicht eingetretenen, allgemeinen und freien Wohlstand. Die aus der Zeit des Tatarenjochs geerbte Anschauung — man könne durch quantitative Enteignung des Nachbarn reicher werden und1 zu Wohlstand gelangen — hat sich ebenfalls als tragische Illusion erwiesen. Die immanenten Gesetze der Wirtschaft weisen auf andere Quellen hin: auf Investierung, intensive Wirtschaft, Sicherheit, Fleiß.

Die dritte Enttäuschung liegt in der Unmöglichkeit, unter der kommunistischen Führung zu eigenem Boden zu gelangen. Der russische Bauer hängt, genau wie jeder andere Bauer, am Privateigentum: er will "freie Wirtschaft auf eigenem Boden" führen, wie die authentische Losung der russischen Bauern jetzt lautet. Dagegen hat die Nationalisierung und Kollektivierung des Bodens alles prekär gemacht : nicht nur enttäuscht die angefangene radikale Enteignung den animus sibi habendi, sondern sie nimmt auch das corpus habendum weg.

Diese gesamte revolutionäre Enttäuschung, die ihre wirtschaftlichen und politischen Folgen noch zeitigen wird, bildet gleichsam das letzte Glied in der Schicksalskette des russischen Bauern.

 

Das Schicksal des russischen Bauern 

Die Revolution ist daraus entstanden, daß der munitionslose Krieg die geistige Widerstandskraft und die Aufopferungsfähigkeit des russischen Bauern erschöpfte und lahmlegte. Der politische Zusammenbruch des Landes und die Propaganda brachten sein Rechts- und Eigentumsbewußtsein ins Wanken und rissen in seiner Seele die noch nicht geheilte Wunde der Leibeigenschaft auf: das Gefühl des Entrechteten und Übervorteilten und die Idee des unendlichen Vorrats an Gutsbesitzerboden veranlaßten den Bauern, der extremen Linkspartei zur Staatsmacht zu verhelfen, um von ihr sofort den "Frieden" und den "Boden" zu erhalten.

Wer aber die Staatsmacht in rücksichtslose Hände legt, der darf nicht hoffen, daß der Rücksichtlose nur ihn selbst und seine Interessen (als Ausnahme) mit Rücksicht behandeln wird. So sah sich die russische Bauernschaft schon in den ersten Jahren genötigt, ihr Recht gegen die Kommunisten zu verteidigen (Proviantkrieg 1919/1920). Ihr Schicksal mußte aber noch viel härter werden.

Durch Jahrhunderte kämpfte der russische Bauer auf der flachen Ebene für seine Nationalität und für seine Kolonisation. In diesem Kampfe hatte er unendlich viel zu leiden und zu dulden.

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Aus diesem Kampfe holte er sich nicht nur seine ungeheure Zähigkeit im Selbstbehaupten und die Kunst des Ausharrens, sondern auch eine rückständige Treibhaus­wirtschaft und ein geschwächtes Eigentumsgefühl. An diese zwei Wunden, die im Laufe der letzten 50 Vorkriegsjahre erst langsam zu heilen anfingen, anknüpfend und von ihnen gespeist, setzte sich die Revolution durch.

Das Wesen der letzteren ist also zwiefach zu verstehen: 

National-ökonomisch ist sie als eine zeitweilige, geschichtlich vorbereitete, aber durchaus nicht unvermeidliche, wirtschaftliche Erkrankung der Massenpsyche zu verstehen, der Massenpsyche, die aus einem extensiven Treibhaus (Leibeigenschaft, Dorfgemeinde) an die rauhe Luft der Privatwirtschaft und des kapitalistischen Weltmarktes befördert, sich zu rasch umstellen mußte, darunter zusammenbrach und auf die Abwege und die Versuchungen eines neuen, diesmal kommunistischen Treibhauses sich zurückgeworfen sieht. Durch diese Enttäuschungen und Versuchungen wird sie sich nun durchkämpfen müssen. 

In politischer Hinsicht aber ist die Revolution ein Versuch, die geschichtlich vererbten Wunden und den Nachkriegszusammenbruch der Massenpsyche für kommunistische Zwecke und Absichten auszunützen, und die in ein neues, diesmal kommunistisches Treibhaus eingesperrte russische Bauernschaft zum Träger der internationalen Weltrevolution zu machen.

Wahrlich, ein hartes Schicksal, dessen letzte Stunde im übrigen noch nicht geschlagen hat ..... 

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