2. Die wirtschaftliche Differenzierung der Bauernklasse
Von M. Kritsky
219-265
Der Bauer
Die Bauernschaft aller Länder ist in wirtschaftlicher Hinsicht keine einfache, sondern eine recht komplizierte Erscheinung. Zwischen einem wirtschaftlich fast lahmgelegten Parzellenbauer, welcher dem Markte kaum noch etwas zu liefern hat, und einem reichen Bauern, der in vieler Hinsicht einem Gutsbesitzer gleichkommen kann, gibt es eine ganze Reihe von Abstufungen und sozialen Schichten, die man in theoretischer Hinsicht verschiedenartig klassifizieren kann, die aber im wirklichen Leben keine festen Grenzen aufzeigen und sich ineinander verlieren.
Es gibt aber doch eine feste Grenze, die einen Bauern von einem Proletarier trennt und unterscheidet: die Bauernwirtschaft ist nämlich ein wirtschaftlich freies Unternehmen, welches auf Grund der Privatinitiative über Boden und Inventar verfügt. Verschwinden diese Grundlagen, diese notwendigen Existenzbedingungen — so gibt es keinen Bauern mehr.
Nun sucht die kommunistische Revolution diese Existenzbedingungen dem Bauern zu nehmen: die wirtschaftliche Freiheit zu schmälern, die Privatinitiative zu erdrosseln, Inventar und Boden dem Bauern zu enteignen. Somit sucht sie den Bauern als solchen zugrunde zu richten, und aus ihm einen Proletarier der Staatsgüter und der Kollektivbetriebe zu machen.
Es ist leicht zu verstehen, daß der Bauer diese Erdrosselung und Umwandlung nicht hinnehmen kann, daß er sich seiner Haut wehrt. Die ganze kommunistische Revolution in Rußland kann somit als ein harter und langwieriger Kampf betrachtet werden zwischen dem Kommunisten, der den Bauern zu proletarisieren sucht, und dem Bauern, der sein Recht auf Boden, Privatinitiative und freie Selbstbereicherung (Kapitalanhäufung) behauptet und verteidigt.
In diesem Kampfe vertritt der russische Bauer eine große Idee — die Idee des freien Privateigentums, oder, wenn man will, zwei große Ideen: die des Privateigentums und die der persönlichen Freiheit.
Diesen Sinn des großen und tragischen Kampfes, der schon 13 Jahre im riesigen Lande geführt wird — muß die ganze Welt sich zum Bewußtsein bringen; sie muß verstehen, daß die Leiden des russischen Bauern, seine Tränen und sein Blut, nicht nur seinem kleinen Vermögen und seinem kleinen Einzelleben gelten, sondern dem von den Kommunisten verachteten und zertretenen allgemein-menschlichen Rechte - frei zu sein und frei zu arbeiten.
Im Kampfe um dieses Recht hat die russische Bauernschaft schon viel gelitten und viel gelernt. Die Revolution verzeichnet drei verschiedene Perioden: den sogenannten "Kriegskommunismus", die "NÖP-Periode" und die Periode des "Fünfjahrplanes".1) Im Laufe dieser drei Perioden, von denen die letzte noch nicht abgeschlossen ist, hat die russische Bauernschaft einen merkwürdigen Differenzierungsprozeß durchmachen müssen, der allerdings in vollem Umfange hier nicht geschildert und erörtert werden kann, dessen Wesen wir aber doch kurz skizzieren möchten. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, werden wir gleichsam zwei vertikale Schnitte dem Leser vorzuführen suchen: den ersten vom Jahre 1927-1928 (also vor dem großen Kollektivierungs-Angriff) und den zweiten vom Jahre 1929-1930 (nach der Kollektivierung). Dadurch wird die sozial-wirtschaftliche Schichtung des russischen Bauerntums nicht nur in ihrem morphologischen Wesen geklärt, sondern auch in ihrem pragmatischen Werdegang und Zusammenhang verwertet werden können.
Im Jahre 1927-1928 sah die wirtschaftliche Differenzierung der Bauernklasse im Sowjetstaate folgendermaßen aus. Die bei den Kommunisten üblichen Kategorien bedingterweise annehmend und zugrunde legend, kann man vier Hauptschichten unterscheiden: den landwirtschaftlichen Proletarier, den ärmeren Bauern ("Bednjak"), den Mittelbauern ("Serednjak") und den reicheren Bauern ("Kulak").
Diese abstrakten Kategorien hatten in Wirklichkeit etwa folgende sozial-wirtschaftliche Bedeutung.
Die Landarbeiter, das landwirtschaftliche Proletariat
Die Zahl der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter erreichte im Jahre 1927 nahezu die Höhe von 6 Millionen. Die Hauptquelle für ihre Existenz besteht im Verkauf ihrer Arbeitskraft.2)
Ungeachtet dieser bereits sehr hohen Anzahl des landwirtschaftlichen Proletariates rechnen die Nationalökonomen des Sowjetstaates damit, daß "das landwirtschaftliche Proletariat sich unaufhaltsam aussondern und anwachsen wird".3
1) Siehe die Aufsätze: "Das Schicksal des russischen Bauern, "Aufstieg und Ende des Privathandels" und "Der Fünfjahrplan und die Voraussetzungen seiner Erfüllung".
2) "Bednota", 1927, V, 21, Aufsatz von Kuibyschew.
3) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 11/12, Aufsatz von Dubrowsky.
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Und in der Tat gibt Larin, — ein führender Kommunist und gebildeter Wirtschaftler — für den rein proletarischen Teil der landwirtschaftlichen Bevölkerung nachfolgende Zahlen an:4)
1924-1925 4,9 Millionen Menschen,
1925-1926 5,4
1926-1927 5,8
Dieses ständige Anwachsen des landwirtschaftlichen Proletariats ist sehr bezeichnend, da es auf die fortschreitende Umschichtung der Landbevölkerung hindeutet. Wie wir im Nachfolgenden sehen werden, steht die Aussonderung überschüssiger Arbeitskräfte auf dem Lande im Zusammenhang mit dem Ruin der leistungsschwachen Wirtschaftseinheiten.
Dieses riesige Heer des landwirtschaftlichen Proletariats wird von der Sowjetmacht als der "Vorposten des proletarischen Einflusses, als der Vorkämpfer für das neue Sowjetdorf" gepriesen und behandelt.5) In Wirklichkeit handelt es sich immer um eine vollkommen kulturlose, rechtlose Masse, die schonungslos ausgebeutet wird.6)
Es ist im Sowjetstaat eine große Anzahl von Gesetzen zur Regelung der Lohnarbeit veröffentlicht worden; aber "die Arbeitgeber und die Lohnarbeiter, in ihrer Masse, kennen die geltenden Arbeitsgesetze gar nicht", und "diejenigen, die an der Interpretation der Gesetzgebung arbeiten, kennen sie viel zu schlecht".')
Die Arbeitszeit beträgt 12-13 Stunden, häufig auch 14-15 Stunden;8) in der Zeit der schweren Feldarbeit — von Sonnenaufgang bis -untergang.
"Die Jahreseinnahme eines Lohnarbeiters im laufenden Jahr (1927) beträgt — nach der Angabe Molotofs9) — 81 Rubel", was 6 Rubel 75 Kopeken im Monat ausmacht.10)
Auch in den eigentlichen Staatsackerbaubetrieben ("Sowchos") ist die Lage des Landarbeiters um gar nichts besser. In der "Beratung der Land- und Forstarbeiter" äußerten sich die Delegierten folgendermaßen: "Die Untersuchung der Arbeiterbudgets auf den Sowjetgütern ("Sowchos") im Gouvernement Moskau und im Uralgebiet hat ergeben, daß der Arbeitslohn der Hauptgruppen der Arbeiterschaft auch die minimalen Bedürfnisse derselben bei weitem nicht zu decken vermag .... Vergleicht man aber diesen Arbeitslohn mit demjenigen auf den ehemaligen Gütern der Großgrundbesitzer, so stellt es sich heraus, daß der Sold auf den Sowjetgütern um 25-30 Prozent geringer ist."
4) "Ekonomitscheskoje Obosrenije", Aufsatz von Larin.
5) "Bednota", 1927, III. 4.
6) "Prawda", 1927, II. 2.
7) "Bednota", 1927, V, 21.
8) Aufsatz von Kukschtel, "Bednota", 1927, V, 21.
9) Bericht in den Sitzungen des XY. Kommun. Kongresses.
10) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 5; Klujew, S. 123; "Bednota", 1927 X. 29; XI. 12; "Iswestija", 1927, XI. 25. Ein Rubel = 100 Kop., «acht al pari etwa 2 Reichsmark aus; nach seiner jetzigen Kaul-Kraft nicht über 40-50 Pfennige.
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Der Lohn wird den Arbeitern in den "Sowchos" bis zu 3 oder gar 6 Monaten vorenthalten, so daß die Arbeiter infolgedessen oft in den Dienst örtlicher Bauern übertreten, sogar um noch geringeren Lohn.11)
Die folgenden ganz ernsthaft als Trost gemeinten Worte eines Sowjetökonomen, Dubrowski, müssen dem landwirtschaftlichen Proletariat unter diesen Umständen wie Hohn und Spott klingen: "Vor der Revolution wurden die Bauern, die in Lohndienste traten, vom Privatkapital ausgebeutet; heute aber werden sie durch den Eintritt in staatliche industrielle oder landwirtschaftliche Unternehmungen zu Gliedern der Arbeiterklasse, welcher alle Produktionsmittel, alle Fabriken und Sowjetbetriebe gehören."12)
Die ärmere Schicht
Obgleich also das Dorf alljährlich ein riesiges Heer von Landarbeitern ausscheidet, verbleiben in ihm immer noch gewaltige Bestände an unbeschäftigter Arbeitskraft. Es handelt sich hier um die "Dorfarmut", die, obgleich sie Ackerboden besitzt, sich trotzdem dauernd in dem Zustande einer verkappten Arbeitslosigkeit befindet, weil ihr das lebende und tote Inventar entweder gänzlich fehlt oder teilweise mangelt.
Der kommunistische Wirtschaftler Larin behauptet, auf Grund der letzten großen Volkszählung der Sowjet-Union, die Zahl der Dorfarmen betrage 22,4 Millionen Menschen.13)
Dem Dekret des Zentral-Exekutiv-Komitees vom Jahre 1928-1929 zufolge mußten nicht weniger als 35 Prozent aller Bauernwirtschaften von der landwirtschaftlichen Steuer befreit werden; damit wird über ein Drittel aller Bauernbetriebe offiziell als "Armenwirtschaften" anerkannt. Da aber die Zahl aller bäuerlichen Einzelwirtschaften auf 25-27 Millionen geschätzt wird, so wurden also etwa 8.750.000 Einzelwirtschaften von der Sowjetregierung zu den Armenwirtschaften gerechnet.
Wenn wir auf jede Armenwirtschaft auch nur 5 Personen rechnen, so wird die Zahl der "Dorfarmen" in der USSR 25.250.000 Menschen betragen; dies ist eine Zahl, die die Larinsche Berechnung wohl übersteigt.
Das Vorhandensein dieser gewaltigen Menge von Armenwirtschaften wird auch durch die vom Zentral-Statistischen Sowjetamt (Z. S. U.) vorgenommenen Zählungen der pferde- und inventarlosen Wirtschaften zur Genüge bestätigt.
11) "Bednota", 192?, XI, 8.
12) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 11/12, S. 28.
13) "Prawda", 1927, Nr. 255.
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44,8 Prozent aller Wirtschaften in der USSR haben sich im Jahre 1928 ohne jegliches Zugvieh durchschlagen müssen.14) Um die pferdelosen Wirtschaften zu versorgen, müßte man demzufolge ungefähr 9 Millionen Pferde anschaffen, wobei diese Zahl als ein Minimum anzusehen ist, da in manchen Gegenden Rußlands, besonders in Sibirien und im Kaukasus die "einpferdigen" Wirtschaften zur Durchführung der Feldarbeit sich unbedingt ein zweites Pferd hinzumieten müssen.
Eine fast ebenso bittere Not entsteht für die Armenwirtschaften aus dem Mangel an totem landwirtschaftlichem Inventar. Auf je 100 Armenwirtschaften kommen, nach den Berechnungen von Liebkind, in Sibirien durchschnittlich 21 Pflüge, im Kaukasus 9,1 Pflüge und im zentralen Landwirtschaftsgebiet 5,2 Pflüge.15)
Die Zahl der Wirtschaften ohne Zugvieh und ohne Pflüge ist in stetem Steigen begriffen. Dieser Prozeß ist in allen Teilen des Sowjetreiches zu beobachten. Z. B. im Schwarzerdegebiet des westsibirischen Bezirks von Kamensk betrug die Anzahl der inventarlosen Betriebe im Jahre 1920 17 Prozent, im Jahre 1926 39,9 Prozent usw.
"40 Prozent inventarloser Betriebe im Bezirk Kamensk!", ruft Bricke aus, der Verfasser des Aufsatzes "Das westsibirische Dorf":16) "diese Zahl ist wohl den wenigsten bekannt; den meisten wird sie vielleicht phantastisch und unwahrscheinlich klingen; man könnte annehmen,' daß die Dinge sich nur im ominösen Bezirk von Kamensk so verhalten ... In Wahrheit hat die Zählung des sibirischen statistischen Büros, die in den umliegenden Bezirken durchgeführt wurde, dieselben Verhältnisse in ganz Westsibirien feststellen müssen."
Ein ähnlicher Verelendungsprozeß der Kleinbetriebe ist, wie Gaister behauptet, auch irn zentralen Schwarzerdegebiet zu beobachten.17)
Die Mehrzahl der Armenwirtschaften hat entweder überhaupt keine Saatfläche, oder nicht über 2 Deßjatinen.18)
Die Ertragfähigkeit des Ackerbodens ist nichtig. Getreidevorräte gibt es hier überhaupt keine. Nach den aus der Arbeit Lossitzkys "Die Verteilung der Getreidevorräte bei den Bauern"19) entnommenen Angaben sind 36 Prozent aller Bauernwirtschaften in der Getreide-Überschuss-Zone darauf angewiesen, mehr oder weniger Korn hinzuzukaufen, um bis zur nächsten Ernte durchhalten zu können.20)
14) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 11/12, Dubrowskij, S. 27.
15) Ebendaselbst, 1927, Nr. 8/9, S. 45.
16) Ebendaselbst, 1927, Nr. 6, S. 121.
17) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 11/12.
18) Ein Hektar macht 9/io einer Defijatine aus.
19) "Statisticeskoje Obosrenije", 1927, Nr. 4.
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Den wirtschaftlich schwachen Betrieben ist es nicht einmal möglich, auch nur eine geringe Ackerfläche zu bebauen; ein großer Teil der kleinsten, mit Inventar nicht versehenen Wirtschaftseinheiten ist daher gezwungen, ihr Land zu verpachten. In der Getreide-einkaufenden Zone wird für die kleinsten Betriebe die Verpachtung ihres ganzen Ackerbodens zur Notwendigkeit; so lauten die Angaben von Gaister.21) In der Überschuss-Zone dagegen sind auch die Betriebe mit mittelgroßer Ackerfläche dazu genötigt.
Die Pachtbedingungen haben sich für die Armenwirtschaften "im Vergleich zu der vorrevolutionären Zeit wesentlich verschlechtert"; dies wird nicht nur im Aufsatze von Gaister festgestellt, sondern auch in allen statistischen Ermittelungen und wirtschaftlichen Schilderungen bestätigt.
Alle üblichen Pachtverhältnisse sind auf dem Lande gleichsam auf den Kopf gestellt. Man begegnet häufig einer Pachtform, wo als arbeitender Tagelöhner der wohlhabende Landwirt und Besitzer der Produktionsmittel auftritt, als Arbeitgeber dagegen der wirtschaftlich lahmgelegte Bauer dasteht, der weder über Zugvieh, noch über Gerät verfügt. So ein "Lohnknecht", gestützt auf die ihm zur, Verfügung stehenden Produktionsmittel, stellt seinem notleidenden "Arbeitgeber" die schwersten Bedingungen und sucht ihn auszubeuten. Die Armenwirtschaften bestehen als eigene Wirtschaftseinheiten nur dem Scheine nach; ihre Eigentümer sind es nur im Sinne eines abstrakten Rechtes.22)
Die Angaben der Zentral-Statistischen Verwaltung verzeichnen ein ununterbrochenes Anwachsen des von den wirtschaftlich schwachen Betrieben in Pacht abgegebenen Ackerbodens.23)
Wie groß ist nun der durchschnittliche Ertrag in solchen schwachen Wirtschaftseinheiten, deren Gesamtzahl nahezu 9 Millionen ausmacht?
Auf dem XV. Kommunistischen Parteikongreß, im Dezember 1927, berechnete Molotof in seinem Bericht "die Einnahmen der Dorfarmen auf 78 Rubel pro Jahr und Kopf", das sind 6 Rubel 50 Kopeken monatlich, um 25 Kopeken weniger als das Monatseinkommen eines Lohnarbeiters.24)
20) "Iswestija", 1927, XI, 15.
21) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 6.
22) Bricke, "Na agrarnom fronte", 1927; Kritzmann, "Klassowoje rasslojenije derevni", S. 53.
23) "Prawda", 1927, Nr. 185.
24) "Iswestija", 1927, XII, 22.
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Besondere Ermittlungen in einer Reihe von Dörfern erben aber, daß der tatsächliche Ertrag der Armenwirtschaften sich um 11-15 Prozent unter dieser von Molotof angenommenen Norm bewegte.26)
Ganz trostlos sehen auch die konkreten Schilderungen der Armenwirtschaften aus, die man von einzelnen kommunistischen Führern in der Sowjetpresse lind von den Bayern selbst zu hören bekommt.
Vor dem vereinigten Plenum des Partei-Zentral-Komitees und des Kontroll-Ausschusses sagte Stalin in seinem Bericht am 15- April 1928: "Wir sind ein Land mit ganz und gar kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Was ist aber so eine kleinbäuerliche Wirtschaft? Es ist die allerungesichertste, allerprimi-tivste und unentwickeltste, und als Warenwirtschaft die hoffnungsloseste Wirtschaftsart. Düngung, landwirtschaftliche Maschinen und Kenntnisse, sowie alle sonstigen Mittel zur Vervollkommnung der Wirtschaft — das sind alles Dinge, die mit Erfolg nur in Großbetrieben angewandt werden können, in kleinbäuerlichen Betrieben jedoch ganz oder fast gänzlich unbrauchbar bleiben."
Ein noch grelleres Bild der Armenwirtsehaften entwarf Molotof auf dem XV. Kommunistischen Kongresse. Er behauptete, daß "sogar die Verwendung eines Pferdes in den 8 Millionen der schwächsten Bauernbetriebe unrentabel bleibt . . Der Unterhalt eines Pferdes, ja sogar die Anschaffung eines Pfluges mache sich hier nicht bezahlt, ganz abgesehen davon, daß beides für die schwächsten Wirtschaften unerschwingliche Dinge sind."26)
Die Sowjetpresse wimmelt von derartigen Schilderungen. Die Dorfkorrespondenten schreiben: "Die Lage der Bauern ohne Zugvieh ist hoffnungslos .... Sie leben in Bettelarmut, in Kälte, Schmutz, zerfressen von Ungeziefer, geschlagen mit Krätze — verkümmerte, unglückliche Märtyrer .... Das Leben eines Armen ist eine ununterbrochene Qual .... Eine Armut, die in nacktes Bettlertum ausläuft, durchzieht das ganze tägliche Leben des Dörflers. In einer Reihe von Gegenden ist die Entwicklung des Dorfes, grob gesprochen, um 1000 Jahre zurückgeworfen. Das ist die klassische Naturalwirtschaft mit urzuständlichem Ackerbau und barbarischer Nutzungsart der Naturreichtümer."
Die Bauern selbst sagen: "Wir haben zwar Ackerboden, benutzen ihn jedoch nur so etwa, wie man Thee trinkt, der allein vom Zucker-Angucken süß ist."
25) Vgl. Frumkins Rede in der dritten Session des ZIK., April 1928.
26) "Iswestija", 1927, XII, 22.
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Die Armenwirtschaften winden sich im Todeskampf. Ein verzweifeltes Wehklagen klingt aus einem Brief, den Molotof im Dezember 1927 dem XV. Kommunistischen Kongreß vorgelesen hat: "Nehmt unser Land, organisiert große Landgüter und macht uns dort zu Lohnknechten: wir haben uns genug mit unsern nichtsnutzigen Wirtschaften gequält."27) Trotz der alleräußersten Kürzung ihres Budgets enden die Armenwirtschaften schließlich doch mit dem Ruin; die Armen legen dann sozusagen "das Land von sich ab", d.h. sie verlassen es.
Sseliwanof berichtet, "daß der Bedarf an Arbeitskräften in der Industrie in einem Maße vom Dorf gedeckt wird, das die Bedürfnisse weit übersteigt".28)
Nach den Berechnungen Larins lösen sich jährlich im Sowjetstaat bis 280.000 Bauernwirtschaften auf.29)
Die Kommunistische Partei hält aber die Dorfarmut für den Grundpfeiler ihrer Macht auf dem Lande. Sie ist gezwungen, einen von Jahr zu Jahr steigenden Prozentsatz der Bauernwirtschaften von der landwirtschaftlichen Besteuerung gänzlich zu befreien. "Im Jahre 1925-1926 wurden 12 Prozent aller Bauernwirtschaften von der Besteuerung vollständig befreit, im Jahre 1926-1927 23 Prozent, im Jahre 1927-1928 35 Prozent" ..... 30)
Die reicheren Bauern
Bevor wir uns der Untersuchung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Hauptmasse der Bauernschaft, nämlich der Mittelbauern, zuwenden, versuchen wir erst den andern äußersten Pol des Dorfes zu betrachten, nämlich seine Oberschicht. Wir werden hierbei festzustellen haben, wie groß die Anzahl der wohlhabenden "Kulaken"-Wirtschaften im Sowjetstaat, und wie groß ihre Wirtschaftskraft ist.
"Nach den Ermittlungen zum 1. Mai 1927" — schreibt Larin — "beträgt die Gesamtmenge der Kulaken-Wirtschaften in der ganzen U. S. S. R. rund 800 000 Höfe mit einer Bevölkerung von etwa 5 Millionen Menschen. Das macht 4 Prozent aller Bauernhöfe und rund 5 Prozent der ganzen Landbevölkerung aus."31)
Die Kennzeichen, nach denen eine Bauernwirtschaft von den Kommunisten in die Kategorie der Kulaken-Wirtschaften eingereiht wird, sind vollständig unbestimmt und willkürlichem Ermessen überlassen.
Nach der Definition Lenins ist derjenige Bauer ein "Kulak", der von fremder Arbeit lebt, — der fremde Arbeit "räuberisch ausbeutet".
27) Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 1067—1068.
28) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 5. 2") "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 4.
30) Zdanowitsch, "Prawda", 1927, XI, 25.
31) "Na agrarnom fronte", 1928, Nr. 3.
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Sinowjew schildert den Kulak als "den gröbsten Ausbeuter, als den Blutsauger, den Vampyr".32)
Die Führer der lokalen Behörden bezeichnen jedoch als einen "Kulaken" — jeden wirtschaftlich halbwegs gesicherten Landwirt. Eine genaue, juristisch unzweideutige Definition des Begriffes "Kulak" gibt es in der kommunistischen Gesetzgebung nicht; nur in verschiedenen Instruktionen kann man Versuche finden, diesen Begriff zu fassen. Deswegen ist es kein Wunder, daß man in der kommunistischen Presse gelegentlich solche Feststellungen zu lesen bekommt: "die Kommunisten haben vielfach die Neigung, jede kräftige und wohlhabende Bauernwirtschaft auch dann als Kulaken-Wirtschaft zu bezeichnen, wenn diese sich ausschließlich auf die eigene Arbeitsleistung stützt";33) oder noch: "die lokalen Sowjetangestellten tappen im Dunkeln herum bei der Frage, wen man eigentlich für einen Kulaken halten soll".34)
Die Bezirksbehörden rechnen zu den Kulaken nicht nur die "wirtschaftlichen" Kulaken, — eine Bezeichnung, die von den sogenannten "Dorfkorrespondenten" geprägt wurde, — sondern auch die sogenannten "ideologischen" Kulaken, d. h. diejenigen Bauern, deren wirtschaftlicher Wohlstand vielleicht schon zerschlagen ist, die aber dennoch ihrer ganzen Gesinnung nach dem Kommunismus feindlich gegenüberstehen.35)
Früher wurde die Wirtschaftskraft eines Bauernbetriebes in erster Linie durch die Größe seiner Saatfläche auf "eigenem" oder auf dem "Anteilboden"36) bestimmt. Gegenwärtig sind die Wirtschaften mit großer Saatfläche infolge der allgemeinen Umteilung des Grund und Bodens ("schwarze Neuverteilung") so gut wie verschwunden. Die wiederholten Umteilungen des Ackerbodens, die Teilungen innerhalb der einzelnen Familien, ferner die Steuerpolitik der Kommunisten, die jeden wohlhabenden Bauern nach einer jeweiligen individuellen Abschätzung belastet, und alle möglichen Verfolgungen und Vergewaltigungen der Großbauern — alles das hat die Bauernwirtschaft überhaupt und ganz besonders die wohlhabenden Wirtschaften herabgedrückt. Jetzt sieht ein Sowjetbauer den Grund seines Wohlstandes nicht mehr in seinem Boden, nicht in dessen Melioration oder in dessen fleißiger Bearbeitung, sondern in dem ihm zur Verfügung stehenden toten und lebenden Inventar, ganz besonders aber in den landwirtschaftlichen Maschinen. Diese Maschinen exploitiert er, indem er sie vermietet oder auf gepachtetem Boden verwendet. Der wohlhabende Bauer treibt auch Handel, verleiht Geld auf Zinsen usw.
32) "Iswestija", 1926, Nr. 146.
33) Smirnoff, "Iswestija", 1925, II, 23.
34) "Prawda", 1925, IV, 18.
35) "Kommunist", 1926, II, 12.
36) Anteil-Boden ("nadelnaja zemlja") — heifit der Boden, den <ue Bauern bei der Aufhebung der Leibeigenschaft bekommen hatten.
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Die Sowjetmacht bekämpft mit allen Mitteln die sogenannte "Kulaken-Übermacht" (Sassilije); es muß aber festgestellt werden, daß sie den echten Kulaken-Typ gerade durch ihre Politik erst eigentlich erzeugt hat. Und je härter sie ihn schlägt, desto zäher und verschlagener wird der Kulak selbst.
Der Kulak oder wohlhabende Bauer sucht sich vor allem durch die Maschine zu bereichern. Die Maschinen werden gegen Zins vermietet. Hierbei werden die wirtschaftlich Schwachen "ausgebeutet". "Die Maschine wird zum Mittel- und Knotenpunkt aller hinter dem Rücken der Sowjetmacht zustandekom'menden Hörigkeitsverhältnisse .... Die wirtschaftliche Differenzierung innerhalb der Dorfbevölkerung vollzieht sich in verschleierter Form. Deswegen gewinnt sie aber noch nicht einen harmlosen Charakter", schreibt ein führender Kommunist, Safarof.37)
Alle Berichte aus der Provinz weisen darauf hin, daß die wohlhabenden Bauern nicht so sehr danach trachten, ihre Saatfläche zu vergrößern, als vielmehr — eine Dreschmaschine, eine Mähmaschine, eine Getreidemähmaschine zu kaufen. Dies ist auch leicht zu erklären: seit Jahren ist der Bodenbesitz, als solcher, unsicher geworden; man sucht nach anderen Investierungen, und legt das ersparte Geld in Maschinen an, um den Mietzins leicht und spurlos einkassieren zu können.
Ein Kommunist, Pawlunowsky, schreibt in seinem Berichte: "Bauern, die über Maschinen verfügen, vermieten sie für bares Geld oder für noch zu leistende Arbeit. Das tun alle, die Kommunisten nicht ausgenommen. Im Durchschnitt kann ein Bauer, der eine Dreschmaschine im Besitz hat, bis 500 oder 600 Pud Getreide verdienen; eine Mähmaschine bringt bis 300 Pud Getreide ein . . . Aus solchen Maschinen-Wirtschaften wächst ein Kulak hervor . . ."
Diese ungleichmäßige Verteilung des Inventars wird auch in der Ukraine überall beobachtet, wo sie ebenfalls günstige Bedingungen für eine verschärfte Bauerndifferenzierung schafft.38)
"Bei dem furchtbaren Mangel an Betriebsmitteln geraten die Kleinbauernwirtschaften natürlich in wirtschaftliche und persönliche Abhängigkeit von denjenigen Bauernbetrieben, die über die notwendigen Betriebsmittel verfügen und diese vermieten können."39)
37) "Bolschewik",1927, Nr. 15/16.
38) "Na argrarnom fronte", 1927, Nr. 8/9, S. 51.
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Die Versorgung der Landwirtschaft mit Maschinen und insbesondere mit Traktoren soll nun, nach der Meinung der (Kommunisten, neben der Kollektivierung das wichtigste Mittel gein, um die landwirtschaftlichen Verhältnisse in sozialistischem Sinne zu regulieren. Die sogenannte "Maschinisierung" der Landwirtschaft muß nicht nur die Dorfarmut zum Aufschwung bringen, sondern auch eine kollektivistische Organisation der Landwirtschaft schaffen helfen. Die landwirtschaftlichen Kreditorganisationen sind beauftragt, diesen Prozeß mit allen Mitteln zu fördern.
Diese von der Sowjetregierung durchgeführten Maßnahmen zeitigten aber häufig ganz unerwartete, ja geradezu entgegengesetzte Folgen. Die Kulaken haben sich den neuen Lebensbedingungen dermaßen angepaßt, daß sie sich in den regulierenden Sowjetapparat einschleichen oder hineinschieben, ganz besonders in die "unteren Genossenschaften", und dadurch die Vorteile, die ausschließlich der Dorfarmut zugedacht waren, zu ihren eigenen Gunsten auswerten.
"Das Kulaken-Element bemächtigt sich der niederen Behörden, welche die Aufgabe haben, die Verteilung der Maschinen und Kredite zu besorgen, und benutzt dies zur Förderung seiner eigenen Interessen, wodurch die Entwicklung eines landwirtschaftlichen Kapitalismus erfolgt. Man sollte annehmen, daß eine von der Sowjetregierung zur Verfügung gestellte Maschine, wenn sie ins Dorf kommt, wie ein Magnet wirken sollte, der die zurückgebliebene Masse zur sozialistischen Vorwärtsbewegung heranzieht. In Wirklichkeit stellt es sich aber heraus, daß diese Maschine in die Hände des Kulaken gerät, und sich gegen die Diktatur der Arbeiterklasse, gegen das Bündnis der Arbeiter und der Bauern wendet. Hier einige Beispiele: Im Jahre 1925-1926 kaufte sich die Dorfarmut durch die Genossenschaft in Jarulsk 5,17 Proz. einfacher Maschinen, und erhielt überhaupt keine komplizierten Maschinen; die Wohlhabenden erwarben dagegen 53,09 Prozent der einfachen und 66,7 Prozent der komplizierten Maschinen ..... Die Kulaken und die Wohlhabenden haben schon längst die Taktik der Nichtanerkennung der Sowjetordnung verworfen. Ganz im Gegenteil: sie erkennen diese Ordnung an — um sie auf den Kopf zu stellen. Es geht soweit, daß sogar die Kollektivierung bei ihnen 'Anklang' findet ..... Die Kxüaken und die Wohlhabenden klammern sich an die kollektivistische Wirtschaftsform, die sie als ein Mittel zur Verschleierung ihrer ausbeuterischen Absichten benutzen.
39) Chomenko, "Das Mieten und Vermieten des toten und lebenden Inventars in der Ukraine".
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Ihre Hauptaufgabe bestellt aber natürlich darin, — ihre Wirtschaft zu <maschinisieren> ... Wenn es darauf ankommt, durch das Nadelöhr der Kollektivierung zu kriechen, um in den Besitz einer Maschine zu gelangen, — wird das Kulaken-Kamel vor diesem Hindernis nicht Halt machen. Der Kulak ist bereit, die Kollektivierung, die Kooperation, überhaupt das hineinwachsen in den Sozialismus' anzunehmen — als einen Anhaltspunkt, eine legale Möglichkeit und Brücke zur Weiterentwicklung des Agrarkapitalismus. Er ist nicht naiv genug zu glauben, daß die Form den Inhalt bestimmt."40)
Ein Korrespondent, der den Prozeß der "Maschinisierung" auf dem Dorfe gründlich beobachtet und studiert hat, kommt zu dem Schluß, daß ein großer Teil der Traktoren "dem Sozialismus den Rücken kehrt und vor den Kulaken Front macht".41)
Kredit und Kooperation
Auch der landwirtschaftliche Kredit und die Kooperation kehren "dem Sozialismus den Rücken" und fangen an — vor dem Kulaken "Front zu machen".
Die Kommunistische Partei war der Ansicht, daß die Kredit-Genossenschaften, wie auch jede andere Kooperationsform, den Kleinbauernbetrieben den Weg zum Sozialismus öffne. In. Wirklichkeit stehen aber die Dinge so: "je wohlhabender und; wirtschaftlich vermögender die Dorfschicht erscheint, desto mehr wird sie in die Kooperation hineingezogen. Nicht nur die Kreditgenossenschaften sind diesem Geschick verfallen, sondern auch andere Kooperationsformen, wie etwa die Molkereiwirtschaft und der Flachsanbau, Wirtschaftszweige, an denen doch alle Höfe, die Milch und Flachs absetzen, ein Interesse haben sollten. . . . Auch diese Kooperative sind in den Prozeß der Differenzierung hineingezogen. Das kann auch gar nicht Wunder nehmen, denn die Bauernschaft ist ja selbst differenziert, und es ist nur zu verständlich, daß die Wohlhabenden früher und schneller in das Genossenschaftswesen hineingezogen werden als die Armen."42)
Interessant ist noch die Tatsache, daß die Zahl aller Mitglieder der Kreditgenossenschaften im kapitalistischen, vorrevolutionären Rußland 8 Millionen betrug, nach der Revolution aber nur 3,6 Millionen; und daß der Etat aller Genossenschaften in Summa von 1 Milliarde Goldrubel auf 240 Millionen Sowjetrubel gefallen ist.43)
40) Safarof, "Bolschewik", 1927, Nr. 15/16.
41) "Iswestija", 1927, IV, 5.
42) Dieses Zitat ist dem Aufsatz einer überaus einsichtigen und erfahrenen Forscherin auf dem Gebiete der Landwirtschaft, Frau Chrjaschoff, entnommen. "Ekonomiceskoe Obosrenije", 1927, Oktober, S. 42.
43) Scheffner. Bericht in der kommunistischen Akademie. "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 3.
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Pacht
Nach der sogenannten "schwarzen Neuverteilung,, behielt p der Großbauer durchschnittlich nicht viel mehr Land als die anderen, so daß die eigene Saatfläche des Wohlhabenden jetzt kaum größer ist als die des Mittelbauern. Dieser bescheidene Umfang der Kulaken-Saatfläche scheint aber den Kommunisten nichts anderes zu sein, "als ein feldgraues Hemd oder eine Proletariermütze auf dem Schädel eines Nöp-Bürgers",44) nur dazu bestimmt, die Kommunisten irre zu führen.
Tatsächlich vergrößert der wohlhabende Bauer seine Anbaufläche meistens auf Pachtländereien.
Die Pachtverhältnisse unterscheiden sich heute grundsätzlich von den in der vorrevolutionären Zeit üblichen. Früher, vor der Revolution, konnte das Land von Gutsbesitzern oder Großbauern verpachtet werden. Gegenwärtig ist diese Art der Verpachtung vollständig verschwunden. Heute verpachten ihre Landstücke fast ausschließlich die Armenwirtschaften und zum Teil auch die Mittelbauernwirtschaften unter dem Drucke des Mangels an Inventar. Vor der Revolution beteiligten sich an der Pacht fast alle Schichten der Dorfbevölkerung, da die zu verpachtenden Grundstücke meist von den Dorfgemeinden als solchen gemeinsam in Pacht genommen wurden. Jetzt dagegen wird Land hauptsächlich von reicheren, wirtschaftlich vermögenden und mit lebendem und totem Inventar versehenen Wirtschaften gepachtet.
In Anbetracht der herrschenden Unsicherheit in der Landnutzung und der starken Verfolgung der wohlhabenden Bauern durch die Sowjetmacht wird auf dem gepachteten Boden Raubbau getrieben. Das Pachtland wird sehr schlecht beackert.55) Der Pachtvertrag wird in den meisten Fällen nur auf je ein Jahr abgeschlossen, obgleich seitens der Regierung eine Pachtzeit bis zu 6 Jahren freigegeben war. "Zunächst mal aus dem Pachtlande etwas herausschinden — was weiter wird, wird man schon sehen" — das ist heute die Einstellung der Pächter. Diese Erscheinung wird von allen Sowjet-Wirtschaftlern bestätigt.46)
Die Bedingungen der Verpachtung haben sich "im Vergleich zur vorrevolutionären Zeit wesentlich verschlechtert". Dafür sprechen wiederum alle statistischen Ermittlungen und einzelne Schilderungen.47) Die Mehrzahl der Pachtverträge zeigt, daß "der Arme von der Bodenverteilung nichts gewonnen hat".48)
44) Bricke, "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 7.
45) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 5. Klüjew, "Bednota", 1927,
46) Jakowlew, "Bolschewik", 1927, Nr. 15—16. 4?) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 6.
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Nach den im Sowjetstaat geltenden Bestimmungen muß die landwirtschaftliche Steuer vom Pächter entrichtet werden; tatsächlich wird sie aber "in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle vom Verpächter bezahlt, was die Abwälzung der Steuerlasten auf die Schultern der Armen bedeutet; das kommt besonders häufig bei nicht angemeldeten Pachtverträgen vor". Diese Erscheinung ist durch die Untersuchungen der Arbeiter- und Bauerninspektion festgestellt worden.49)
Handel und Wucher
Kapitalbildung erfolgt im Dorf auch auf dem Wege des Handels. Schon im Jahre 1926 berichtete Ossowski: "In unseren Verhältnissen übersteigt der Ertrag des Handeiskapitals (im Privateinzelhandel) stellenweise bis um das Zehnfache die Gewinne der Industrieunternehmungen. Selbstverständlich können die Banken, die Sparkassen und die Kreditgenossenschaften keine höheren Zinsen zahlen, als der mittlere Prozentsatz der industriellen Gewinne beträgt. Wenn sich der Bauer nun einige zehn Rubel zurückgelegt hat, sieht er sich vor die Frage gestellt, ob er sein Geld in die Sparkasse bzw. in die Kreditgenossenschaft für 6—8 Jahresprozent tragen, oder ob er in die Stadt fahren soll, um für seine Nachbarn Industrieprodukte mitzubringen, an denen er beim Absatz sofort bis zu 50 Prozent verdienen könnte; ob er nun Mittel- oder Großbauer ist — er wird meistens das letztere wählen. Es fehlt ihm ja der Beweggrund, anders zu handeln...."50)
Die Kulaken treiben auch Wucher. Konowalof schreibt unter anderem: "Der Wucher entsteht und erblüht nicht nur aus der ungenügenden Versorgung . . . mit Produktionskredit, sondern auch infolge der schlecht organisierten Erfassung der verschiedenen Zweige der Landwirtschaft und der Warenproduktion durch die Kooperative und Kreditorganisationen."51) — Der Verfasser führt einige krasse Beispiele des Wuchers an; es seien.beispielsweise von einigen Wirtschaften "zur Tilgung einer Schuld in Höhe von 3200 Rubeln — 9250 Rubel allein als Verzinsung ausgezahlt worden". "Das ist ein Zinssatz, der an die Zeiten des Mittelalters erinnert", bemerkt Konowalof.
48) Prawda, 192?, Nr. 183; VIII. 28.' Angaben des Kofrespou-dentennetzes des Volkskommissariats für Landwirtschaft.
49) "Bolschewik", 1927, Nr. 15.
50) "Bolschewik", 1926, Nr. 7-8.
51) "Na agrarnom fronte", 1928, Nr. 1.
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Getreidevorräte
Das natürliche Wachsen der wohlhabenden Bauernwirtschaften hat natürlich eine bestimmte Kapitalanhäufung zur Folge. Über ein Viertel der freien Getreideüberschüsse, das sind 28,8 Prozent der gesamten auf den Markt kommenden Produktion, befindet sich in den Händen der Großbauern.52) Die Bruttoeinnahme einer starken Großbauernwirtschaft beträgt, nach den Berechnungen Larins, rund 3000 Rubel, cl. i. 58,5 Mal mehr als die Bruttoeinnahme des Armen.53)
Der wohlhabende Bauer paßt sich, um den Verfolgungen der Sowjetmacht zu entgehen, den kommunistischen Lebensbedingungen an, versucht von seiner Umgebung möglichst wenig abzustechen; gibt sich oft für einen Armen oder für einen Arbeiter aus; meist aber ist er bestrebt, sich für einen Mittelbauern auszugeben. Trotzdem hängt die Gefahr der gewaltsamen Enteignung (genannt "raskulaciwanije") dauernd über ihm, wie das Schwert des Damokles. Jedes Mal, wenn die Sowjetmacht bei der Aufbringung der Getreidevorräte zu den Methoden des Kriegskommunismus zurückgreift, leiden zunächst natürlich die reicheren Wirtschaften. Der ukrainische Volkskommissar, Schlichter, berichtete z. B. in einer Versammlung des WUZIK. (Allukrainisches Zentral-Exekutiv-Komitee), daß im Laufe eines Jahres "bis zum 1. Januar 1928 — schon 15 726 Hektar Land den Kulaken enteignet worden sind."54) Die Zeitung "Iswestija" berichtete gleichzeitig, daß innerhalb der vorangehenden drei Monaten auf Anordnung desselben Volkskommissars, Schlichter, rund 4000 Kulaken ins Gefängnis geworfen wurden, während ihre gesamten Getreidevorräte konfisziert und ihr Land zur Verteilung an die Dorfarmut enteignet wurde.
Die Mittelbauernwirtschaften
Die Kommunistische Partei hält den Mittelbauern für die ..zentrale Figur in der russischen Landwirtschaft"; sie spricht von einem "Massiv der Mittelbauern", und stellt die Frage von dessen Beziehungen zur Arbeiterklasse "in den Mittelpunkt aller Fragen".55)
Auf Grund der Ergebnisse der letzten großen Volkszählung im Sowjetstaat gibt es dort 76,7 Millionen Mittelbauern; das wären 68,6 Prozent der ganzen Bauernbevölkerung.56) Wenn man jedoch die "Kontrollzahlen" des Gosplan für 1927-1928 in die Hand nimmt,57) in denen die Dorfbevölkerung in fünf soziale Gruppen eingeteilt ist, — die proletarische (Landarbeiter), die halbproletarische (Dorfarmut), die Mittelbauern, die Dorf Unternehmer und die Kleinkapitalisten,
52) Lossitzky, "Die Verteilung der Bau ein Vorräte" (russ.: "Ras-predelenije krestjanskich sapassof").
53) "Na agrarnom fronte". 1927, Nr. 4. M) Prawda, 1928, III. 21.
55) Iswestija, 1927, XI. 4. 50) Prawda, 1927, Nr. 255.
57) Eine groß angelegte statistische Zusammenstellung der Höchsten Sowjetbehörde für Planwirtschaft (Gosplan).
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— so "wird die zentrale Figur der Landwirtschaft kaum bemerkbar", wie Molotof das in den Sitzungen des XV. Kommunistischen Kongresses formulierte.58) Um sich der peinlichen Lage zu entziehen, alle Behauptungen der Partei von dem Bestehen eines "Massivs der Mittelbauern" auf Grund dieser Ergebnisse entkräftet zu sehen, sah Molotof sich genötigt, diese Einteilung als "allzu professorenhaft" zu verwerfen, und die Gruppe des "Unternehmertums" ohne weiteres dem Mittelbauerntum zuzuzählen.
Allein daraus ist schon zu ersehen, wie unbestimmt der Inhalt ist, den die Kommunisten im Begriff "Mittelbauer" zu erfassen suchen. Nach der als offiziell maßgebend angenommenen Definition Lenins ist der Mittelbauer ein Bauer, dessen Produktionsmittel demUmfange seines eigenen Betriebes entsprechen, wobei der Betrieb auf die eigene Arbeitskraft der Bauernfamilie angewiesen bleibt, und keine Ausbeutung fremder Arbeitskraft vorkommt. Jedoch behaupten viele Sowjetökonomen, daß der "Mittelbauer die allerbunteste, die allerwiderspruchsvollste Bauernfigur sei" (Kretof, Kritzmann, Molotof).
Wenn sich sogar in der führenden Schicht der Kommunistischen Partei eine so unbestimmte Auslegung des Begriffes "Mittelbauer" vorfindet, so erscheint die Auslegung desselben an Ort und Stelle gänzlich willkürlich und mit inneren Widersprüchen belastet. Eine ganz besonders willkürliche Auslegung des Begriffes "Mittelbauer" ist in den Dörfern bei Neuwahlen in die Sowjets, bei der Verteilung der Steuerlasten und bei den auf Grund außerordentlicher Maßnahmen durchgeführten Getreideumlagen zu beobachten. Die Berichte vom Lande melden ständig "Verdrehungen" dieser Art. "Es genügt, daß ein Mittelbauer in seinem Wohlstande sich nur ein klein wenig über die anderen Mittelbauern erhebt, — sogleich wird er zum Kulaken gestempelt und des Wahlrechtes beraubt."59) Wenn wir aber an die trostlose Bettelarmut der Armenwirtschaften denken, von denen der kommunistische Nationalökonom Bricke treffend bemerkt, sie seien "auch trotz ihrer verzweifeltesten Sträflingsarbeit zum Untergange prädestiniert",60) — so erstrahlt auf dem dunklen Hintergrunde dieser "Bettelwirtschaften" jede halbwegs geordnete Wirtschaft in so blendendem Lichte, daß sie von den örtlichen Sowjetbehörden sofort unbedenklich als Kulakenwirtschaft registriert wird. Weder der persönliche Unternehmungsgeist des Besitzers, noch etwaige günstige Umstände, weder der Fleiß des Bauern, noch die Größe seiner Familie wird hierbei in Rechnung gezogen . . .
58) "Bednota", 1927, XII. 24.
59) "Bednota", 1927, IL 6.
60) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 7, S. 137.
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Die wirtschaftlichen Vorgänge in den Mittelbauern-Wirtschaften
Das Zentral-Komitee der Kommunistischen Partei stellte auf dem XV. Parteikongresse (1927) fest, daß 1.) "die Dorfarmut unter der Diktatur des Proletariats eine ständig wachsende Möglichkeit zum Aufstieg und Uebergang in die mittleren Kategorien der Bauernschaft hat", und daß 2.) "der wirtschaftliche Wohlstand bei der Masse der Mittelbauern im Wachsen begriffen ist".
Die zahlenmäßigen Unterlagen zur Bestätigung dieser Behauptungen von der Erstarkung der "Mittelbauernwirtschaften", wurden von den Sowjetökonomen erbracht. Aus diesen Zahlen ist ersichtlich, daß in der ganzen U. S. S. R. im Verlaufe des einen Jahres 1924 15 Prozent aller Armenwirtschaften "das Land von sich abgelegt haben", daß dafür aber im Durchschnitt 31,3 Prozent dieser Wirtschaften, also mehr als das Doppelte der aufgelösten Einheiten, in die höheren Wirtschaftsgruppen übergegangen ist.
Diese Zahlen könnten diskutabel erscheinen, wenn man nicht auf nachfolgende Überlegungen stieße.
Wenn sich ein Drittel, d.h. also 9 bis 10 Millionen Armenwirtschaften, zu Mittelbauernwirtschaften entwickelt haben sollte, dann müßten sich wenigstens die Inventarvorräte entsprechend vergrößert haben. In Wirklichkeit aber erweist es sich, daß die Zahl der Wirtschaften ohne Zugvieh sich in derselben Zeitspanne nur um 0,8 Prozent verringert hat.61)
Aber auch diese unbedeutende Verringerung der pferdelosen Wirtschaften ist noch keineswegs ein Beweis dafür, daß der Prozeß der fortschreitenden Verarmung der Armenwirtschaften sich verlangsamt oder gar aufgehört hat. Das Tempo der Proletarisierung dieser Wirtschaften wird durch die angeführten Zahlen nur verschleiert; denn diese Zahlen werden ohne Rücksicht auf das starke Zusammenschmelzen der Anzahl der Armenwirtschaften angegeben und gedeutet.
Wenn wir aber noch berücksichtigen, daß im Jahre 1925 die Verpachtung des Ackerbodens freigegeben wurde, so wird es ohne weiteres klar, daß die armen Bauern, insofern sie ihr Grundstück wegen Mangel an Gerät verpachteten, sofort zu den "nicht notleidenden", also den Mittelbauern zugezählt wurden: denn das Verpachten des Bodens gilt bei den Kommunisten, ganz abstrakt, als Kennzeichen des Wohlstandes.
Die These des Zentralkomitees der Partei, wonach "der bedeutendere Teil der Dorfarmen sich zu Mittelbauern entwickle", wird außerdem durch die speziellen Untersuchungen einzelner Teilgebiete Sowjetrußlands widerlegt.
61) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 11—12, S. 28, 50.
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Es gibt nämlich Angaben für bestimmte Gebiete Sowjetruß-lands, die auch für andere Gebiete bezeichnend sein dürften denen zufolge die Anzahl der Wirtschaften ohne Zugvieh in der Sowjetunion vom Jahre 1917 an bis einschließlich 1926 sich um 5,5 Prozent erhöht hat. Die Untersuchung eines anderen Gebiets ergibt eine eineinhalbfache Erhöhung (von 24,5 Prozent auf 36,6 Prozent) der Anzahl der pferdelosen Wirtschaften innerhalb eines einzigen Jahre s.62)
Eine ebenso stürmische Entwicklung läßt sich bei den Armenwirtschaften auch in der Verminderung des Inventars beobachten, worunter häufig nur ein einfacher Pflug zu verstehen ist. So hat sich nach den Ergebnissen einer speziellen Untersuchung die Anzahl der landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen in den Armenwirtschaften in zwei Jahren um die Hälfte vermindert.03)
Alle diese Angaben widerlegen die Behauptung von der angeblich "für die Dorfarmut sich ständig verbessernden Aufstiegsmöglichkeit in die mittleren Bauernschichten".
Versuchen wir jetzt die zweite These des Zentral-Komitees auf ihre Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Diese zweite These lautet: "Der wirtschaftliche Wohlstand bei der Masse der Mittelbauern steigt."
Bei der Prüfung dieser Behauptung müssen wir vor allem im Auge behalten, daß diese sogenannte "Masse der Mittelbauern" keineswegs eine wirtschaftlich gleichartige Menge darstellt. Man kann dabei kaum von "Uebergangsstufen" reden, sei es "nach unten hin zur Schicht der Dorfarmen, oder nach oben hin zur Schicht der Großbauern", sondern in Wirklichkeit besteht die "Masse der Mittelbauern" zu ihrem größeren Teil aus Inhabern genau so bettelarmer Wirtschaften, wie die Armenwirtschaften es sind, und zum geringeren Teil aus verhältnismäßig wohlhabenden Bauern. Es läßt sich bei jenen eine fortschreitende Verarmung beobachten, bei diesen entweder ein Stillstand in der Entwicklung oder ein Aufschwung zu offensichtlichem Großbauerntum.
Zu solchen Schlußfolgerungen, — welche die kommunistische These von der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung der Mittelbauern im ganzen vollständig über den Haufen werfen, — kommen wir bei der Analyse des von der Zentral-Statistischen Verwaltung (ZSU.) angegebenen Zahlenmaterials über die Differenzierung der Dorfbevölkerung vom Standpunkt des landwirtschaftlichen Inventars.64)
62) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 6. Aufsatz von Bricke.
63) Safaroff, "Der Bolschewik", 1927, Nr. 15—16.
64) Liebkind, "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. S—9.
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Nach diesen Angaben erweist es sich, daß sogar Betriebe ohne Pflug und mit ungenügender Anzahl von Pferden den Mittelbauern wirtschaften zugezahlt worden sind. Dies sind aber Wirtschaften, in denen ein offensichtliches Mißverhältnis zwischen Produktionsmitteln und Saatfläche herrscht. Können wir danach zustimmen, daß es im Zentrallandwirtschaftsgebiet ein "Massiv der Mittelbauern" gibt, wenn 73 von 100 dieser mittleren Betriebe nicht einmal einen Pflug besitzen?
In Sibirien scheinen die Dinge auf den ersten Blick besser zu stehen. Dort fehlt nur in 11 Wirtschaften von 100 der Pflug. Dafür macht die "Masse der Mittelbauern" dort nur 26,8 Prozent aller Bauern aus; die restlichen 70 Prozent sind der Dorfarmut zugezählt.
Ein sehr ähnliches Bild finden wir im nördlichen Kaukasus: ein geringes, offiziell den Mittelbauern zugezähltes "Massiv" (37,2 Prozent), davon über die Hälfte Wirtschaften ohne Pflug.
Was nun die Frage anbetrifft, wieweit die Mittelbauernbetriebe mit Zugvieh versehen sind, so erfahren wir aus dem Munde eines Sowjetwirtschaftlers, Chomenko, daß in der Ukraine "eine gewaltige Anzahl von Wirtschaften darauf angewiesen ist, sich das nötige Zugvieh zu mieten".65)
Infolge des sehr ungleichmäßigen wirtschaftlichen Zu-standes der Mittelbauernbetriebe ist bei ihnen eine doppelte Entwicklung zu beobachten. Ein Teil verarmt immer mehr, der andere erstarkt wirtschaftlich, wobei jedoch die aufsteigende Gruppe bedeutend geringer ist als die herabsinkende.
Unsere Behauptung, daß ein großer Teil der Mittelbauernwirtschaften sich in ihrem Wohlstande von den Armen-wirtschaften fast gar nicht unterscheidet, findet auch in dem Bericht Molotofs auf dem XV. Kongresse der Kommunistischen Partei (1927) ihre Bestätigung. In seiner Polemik gegen die Opposition berief sich Molotof auf den Bericht eines Ausschusses des Sownarkom,66) in dem man, wie er sich ausdrückte, "drei bedeutungsvolle Zahlen finden wTird, nämlich über die Jahreseinnahmen der Dorf armen, der Mittelbauern und der Landarbeiter". Es erweist sich, daß das Jahreseinkommen des Armen pro Kopf und Jahr 78 Rubel ausmacht, des Landarbeiters — 81 Rubel und des Mittelbauern 92 Rubel." Somit ist der wirtschaftlich gedeihende Mittelbauer um 1 Rubel 16 Kopeken pro Monat reicher als der Arme. 67)
65) "Na agrarnom fronte", 192T, Nr. 8—9, S. 192.
66) Rat der Volkskommissare.
67) Stenogr. Bericht des XV. Kornmun. Kongresses, Seite 1091.
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Am Schluß seines Berichtes gibt Molotof zu, daß "die wirtschaftlichen Vorteile gegenwärtig auf Seiten der wohlhabenden Kulak-Elemente des Dorfes liegen, während die Hauptmasse der Mittelbauern und der Dorfarmen sich wirtschaftlich in einer hoffnungslosen Lage befindet."68)
Dementsprechend müßten aus dem "Massiv der Mittelbauern", dem in der Sowjetunion offiziell über 68 Prozent aller Wirtschaften angehören, alle diejenigen ausgeschieden und der Gruppe der Dorfarmen hinzugezählt werden, die sich aus Mangel an Inventar "in einer hoffnungsvollen Lage befanden". Nach kommunistischen Berechnungen war aber über die Hälfte der Mittelbauern in solcher Lage; im sogenannten "Massiv der Mittelbauern" würden somit nur noch 20—25 Prozent aller Bauernhöfe verbleiben. Diese Wirtschaften waren vorläufig noch genügend mit Inventar versorgt und daher wirtschaftlich "unabhängig". Hier ließ sich ein wirtschaftliches Emporstreben tatsächlich beobachten.
Es fragt sich nun aber, ob diese Mittelbauern eine Grundlage für den "sozialistischen Aufbau" abgeben können, ob sie wirklich dem Ideal jenes Mittelbauern entsprechen, der vor allen Dingen keine fremde Arbeitskraft ausbeuten darf, und dessen Produktionsmittel nicht den Bedarf des eigenen Betriebes übersteigen sollen, damit er nicht die Möglichkeit habe, sich durch Miete und Pachten Ueberschüsse zurückzulegen, die sich weiterhin "in Kapital umsetzen würden"? . . .
Wenn wir die Dinge genau ins Auge fassen, zeigt es sich, daß der Mittelbauer, den wir meinen, von dem "K ulaken" überhaupt nicht zu unterscheiden ist.
In den Mittelbauernwirtschaften werden rund 40 Prozent der Saisonarbeiter beschäftigt.69) Ihre Produktionsmittel, namentlich die Zahl der landwirtschaftlichen Maschinen, übersteigen den Bedarf der eigenen Wirtschaft. Nach den Unterlagen des Sibirkraykom (Sibirien) befinden sich 37,1 Prozent aller komplizierten landwirtschaftlichen Maschinen im Besitze der Mittelbauern;70) dasselbe Bild finden wir auch im Kaukasus.")
68) Vgl. auch "Bednota", 1927, XII. 22.
69) Larin, "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 4-5.
70) "Bolschewik", 1927, Nr. 15—16. Aufsatz von Safaroff.
71) Liebkind, "Na agrarnom fronte", Nr. 8-9.
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Obgleich sich die komplizierten landwirtschaftlichen Maschinen nur bei verhältnismäßig großer Saatfläche rentieren, so z.B. eine Dreschmaschine erst bei 50-70 Defijatinen, — werden diese, nach den Angaben Liebkinds, "auch von Wirtschaften mit 6 Deßjatinen Saatfläche verwendet", d.h. also von "Wirtschaften, die offiziell als "Mittelbauerwirtschaften" gelten.72)
Gaister bemerkt, daß die wohlhabenden Mittelbauern bestrebt sind, ihre Anbaufläche möglichst zu reduzieren, um nicht den "Kulaken" zugezählt zu werden; gleichzeitig sind sie aber bemüht, sich landwirtschaftliche Maschinen anzuschaffen, um sie dann weiterzuvermieten.73) Es ist genau dieselbe Erscheinung, die wir auch bei den Großbauernwirtschaften beobachtet haben.
Diejenigen Mittelbauernwirtschaften, die über landwirtschaftliche Geräte und Lohnarbeiter verfügen, haben die Möglichkeit, ihre Saatfläche zu vergrößern, was sie denn auch tun, jedoch hauptsächlich auf gepachtetem Boden, um nicht für Großbauern ausgegeben und gehalten zu werden. Das würde beim Anwachsen ihrer auf eigenem Boden angelegten Saatfläche sicher geschehen. . . .
Die Sowjetpresse selbst muß zugeben, daß die Pachtung von Land durch manche Mittelbauern "den Charakter einer unternehmerischen, kapitalistischen Pacht annimmt".74)
In allen derartigen "Mittelbauerwirtschaften" finden sich natürlich gewisse Getreideüberschüsse, die auf den Markt geworfen und in Kapital verwandelt werden können. Nach den Forschungen von Lossitzki befinden sich die größten Vorräte an überschüssigem Getreide in den Händen solcher Mittelbauern. Bei diesem kleineren Teil der Mittelbauerwirtschaften finden wir also, nach der bolschewistischen Terminologie, alle "sozial-antagonistischen Merkmal e". Daher werden derartige "Mittelbauern" von der Sowjetmacht praktisch als Klassenfeinde angesehen und behandelt.
Das mußte Rykof in der Versammlung des Aktivs der Moskauer Organisation am 13. Juli 1928 auch feststellen. Er sagte: "Die Interessen der Mittelbauern sind in einer Reihe von Fällen stark in Mitleidenschaft gezogen worden, insofern die gegen die Kulaken und Spekulanten gerichteten außerordentlichen Maßnahmen bei der Getreideeintreibung praktisch auch auf die Mittelbauern ausgedehnt Verden mußten." Die Tatsache von "Uebergriffen auf die Mittelbauern" sei nicht in Abrede zu stellen, erklärte Rykof und berichtete anschließend, daß nach Angabe eines
72) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 8—9.
73) "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 10.
74) "Prawda", 1927, Nr. 133. Asijan, "Na agrarnom fronte", 1927, Nr. 5. Klüjew.
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Bezirksgerichts (Bezirk Tjumen) 64 Prozent von der Gesamtzahl aller, auf Grund des § 10? Verurteilten, — Mittelbauern gewesen sind. Der § 107 sieht die Strafen für Spekulation mit Getreide vor, d.h. für den Verkauf von Getreide zu freien Marktpreisen in Privathand, statt zu vorgeschriebenen Preisen an die staatlichen Getreideeintreibungsstellen. Die Preise im Freihandel sind um das 3- bis 4-fache höher als die staatlich festgesetzten Preise.75) So betrug z. B. in der Stadt Simferopol der Staatspreis für Weizen je Pud76) 1 Rubel 35 Kop., im Privathandel dagegen 6 Rubel 80 Kop. bis 7 Rubel 60 Kopeken usw.
Die Kommunisten suchten nun einen Ausweg aus dieser Sackgasse. Molotof rechnete dem "Mittelbauerntum" den ganzen "unternehmerisch" eingestellten Teil der Dorfbevölkerung zu; Liebkind führte eine neue Gruppe der "Wohlhabenden" in die Einteilung der Bauernschaft ein. Bei Steuer- und Getreide-Eintreibungen und bei Neuwahlen wurden diese "Wohlhabenden" und "Unternehmer" zu den Kulaken gerechnet, zu den Feinden des "sozialistischen Aufbaues"; im Kampfe gegen die Opposition und bei öffentlichen Kundgebungen der "Arbeiter- und Bauernmacht" wurden diese Gruppen dem "M ittelbauerntu m" zugezählt. Der wirkliche "Mittelbauer" wird aber durch diese "dialektischen Methoden" noch immer nicht zu jenem halb-sozialistisch eingestellten "Mittelbauern", den die Kommunisten so gerne haben möchten.
Zusammenfassung
Was stellte nun in Wirklichkeit die "zentrale Figur der sowjetistischen Landwirtschaft" dar?
Auf Grund unserer Analyse der kommunistischen Quellen, (soweit sie die verschiedenen Schichten im Sowjetdorf schildern), behaupten wir, daß es vor der großen Kollektivierung' überhaupt kein "M assiv der Mittelbauer n" g a b, da selbst die Gestalt des "Mittelbauern" in der Landwirtschaft fehlte.
Der "Mittelbauer", d. h. nach bolschewistischer Begriffsbestimmung, der Bauer, "dessen Produktionsmittel dem Umfange seiner eigenen Wirtschaft entsprechen und der auch keine fremde Arbeitskraft ausbeutet", — ist ein rein abstrakter Begriff, eine "n ackte Forme 1".
So, wie das früher in der russischen Sprache unbekannte Wort "Sserednjak" (Mittelbauer) erkünstelt ist, ist auch der diesem Worte beigelegte Inhalt theoretisch ersonnen und irreal. Das ganze Leben des Sowjetdorfes wird von der kommunistischen Macht in das Schema dieser leeren Vorstellung mit Gewalt hineingezwängt.
75) Kurbatof, "Na agrarnom fronte", 1929, Nr. 5, S. 81.
76) Ein Pud — 16,4 Kilogramm.
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In Wirklichkeit teilt sich die Bauernschaft der Sowjetunion in zwei ungleiche Hälften. Der eine Teil — fast zwei p r j. 11 e 1 — sind die Dorf armen; der andere — ein Drittel - sind die mehr oder weniger produktiven Wirtschaften mit einer dünnen Oberschicht wohlhabender Bauern. Vom Standpunkt der kommunistischen Doktrin besitzt aber schon der Bauer von mittlerem Wohlstande alle Kennzeichen des Kulaken als solchen behandelt ihn auch die Sowjetmacht in der Praxis.
Für den Dorfarmen ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine wirtschaftliche Expansion schon darum nicht möglich, weil dazu die genügende Menge an freiem Ackerboden fehlt; eine intensivere Bewirtschaftung ist für ihn aber gleichfalls unmöglich, weil es sich hier um eine riesige Anzahl "kleiner und kleinster" Wirtschaftseinheiten mit einer Jahreseinnahme von nur 78 bis 92 Sowjetrubel handelt. Die Zahl der Wirtschaften wächst immer weiter infolge des Steuerdruckes, der die "Mittelbauern'" veranlaßt, ihre Wirtschaften aufzuteilen, um dem Druck zu entgehen. Beim Anwachsen der Zahl der Kleinwirtschaften verringert sich entsprechend ihre Rentabilität. Ein Teil der Armenwirtschaften löst sich schließlich auf, und "legt das Land von sich ab"; der gewesene Dorfarme geht auf die Arbeitssuche in die Stadt, oder wird zum proletarisierten Landarbeiter, deren Zahl daher in einem raschen Tempo wächst. Ein anderer Teil der Bauern mit ihren "hoffnungslosen" Wirtschaften "verwandelt sich unabwendbar" — nach dem Worte des Vorsitzenden der Akademie der Wissenschaften, Karpinski ■— "in eine Art Zwergwirte, die nur mit Mühe ihr Dasein fristen, in Bettler, die biologisch zwar zeugungsfähig, wirtschaftlich jedoch als völlig impotente 'Pauperi', in ihren winzigen Nest-Parzellen sitzen."77) Diese Zwergwirtschaften sind natürlich nicht in der Lage, irgendwelche Überschüsse an Getreide auf den Markt zu bringen; sie sind im Gegenteil gezwungen, sich lange vor der nächsten Ernte Brot einzukaufen. In den produzierenden Gegenden Rußlands gibt es 56 Prozent derartiger Wirtschaften; daneben decken noch 27 Prozent aller Armenwirtschaften bestenfalls den eigenen Nahrungsbedarf notdürftig.78)
Beinahe zwei Drittel der viele Millionen starken Bauernbevölkerung sehen sich auf ein Bettler-Niveau herabgedrückt und in elender "Gleichheit" dastehen, und nur ein Drittel hat die Aussicht, sich allmählich aus diesem Zustande herauszuschlagen. Die Wirtschaften dieses Drittels gehören, wenn man die kommunistische Bezeichnung gebrauchen will, dem
77) Vgl. Maretzky, "Prawda", 1928, VI. 30.
78) "Vgl. bei Lossitzky. Op. cit.
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Typ der "wohlhabenden", der "unternehmungslustigen" Kulak-Wirtschaften an. Die Besitzer dieser Höfe haben jedoch den Charakter des früheren russischen Großbauern verloren, der seinen Wohlstand an den Besitz des Ackerbodens knüpfte. "Das Land an sich ist für sie nicht mehr ein Selbstzweck, wie früher" — bestätigen die Sowjetökonomen. Diese Veränderung hat auch der "allrussische Dorfschulze", Kalinin, bemerkt. Er sagt: "Der Bauer hat aufgehört, seine Saaten so liebevoll wie früher zu pflegen. Der Stand des Winterkorns, das Aufsprießen des Sommerkorns interessiert ihn nicht mehr so sehr. Auch die Bearbeitung des Ackers ist schlechter geworden" . . Warum?
Die Sowjetmacht mit ihrer Agrar- und Steuerpolitik, mit ihrer Enteignung und Sozialisierung, hat dem Bauern eine eigenartige Vorsicht in bezug auf Ackerboden -Bearbeitung beigebracht. Sie schürt den Haß der Armen gegen die "Kulaken"; sie "schert" jeden wohlhabenden Bauern mit ihrer Steuerpolitik, hemmt seinen Aufstieg und das Aufblühen seines Betriebes, und sucht ihn mit allen Mitteln in die Gruppe der halbenttäuschten "Mittelbauern" zu pressen.
Der Kulak wehrt sich
Der reichere Bauer wehrt sich dagegen. Er führt seine Wirtschaft stets mit lauernder Vorsicht, er mäßigt seine Unternehmungslust und treibt in der lichtlos grauen Umgebung eine schleichende Mimikry. Sein ganzes Vermögen und auch sein Leben sind immer einem drohenden Risiko ausgesetzt. In allen seinen Unternehmungen sucht er deswegen, als Prämie für die übergroße Unsicherheit und für das Risiko, einen so hohen Gewinn zu erzielen, wie er unter normalen Verhältnissen unmöglich wäre. Wenn es ihm wirklich gelingt, sich zu bereichern, so gleicht er einem Hasardspieler. Alle "sozialistischen" Reformen sucht er geschickt für sich auszunützen: er sucht sich in die Verwaltungsorgane niederer Stufe einzuschleichen; er sucht die Kredite und die kooperativen Genossenschaften in seinen Dienst zu stellen; er treibt Schleichhandel und Geldverleih; er schafft sich totes Inventar an, um es zu vermieten; er vergrößert seine Saatfläche auf gepachtetem Boden; ja, er versucht sogar, Scheinkollektive herzustellen und die den Kollektiven gewährten Vorteile auf diese Weise aufzufangen.
In diesem Kampfe legt die obere Bauernschicht, also auch der etwas reichere Mittelbauer, eine ungeheure Gewandtheit und Zähigkeit an den Tag. Der Bauer kämpft auf Leben und Tod; es scheint, daß er den tragischen Ernst seiner Lage verstanden hat: er hat nämlich verstanden, daß die Sowjetregierung ihn klein kriegen will und daß sie alles macht und noch machen wird, um ihn zu enteignen. Schon die Steuerpolitik der Kommunisten klärt ihn in dieser Hinsicht auf.79)
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Dieselbe Tendenz herrscht in der Preispolitik: die kommunistische Regierung zahlt nämlich dem Bauern für sein Getreide nur 40—50 Prozent des Weltmarktpreises;80) dieser Preis deckt, laut der Feststellung des damaligen Gosplan-Leiters, \fyf. Gromann, nicht einmal die Produktionskosten, wogegen der Bauer für die schlechten Erzeugnisse der "sozialistischen Industrie", nach sehr vorsichtigen Berechnungen des Sowjetwirtschaftlers Basarof, einen um 100 Prozent höheren Preis, im Vergleich zum Kleinhandelspreise der Vorkriegszeit, zu bezahlen hat.81) Die letzten Jahre brachten der oberen Bauernschicht immer neue Lasten und Schwierigkeiten. So ermächtigte das Gesetz vom 28. Juni 1929 die Dorfgemeindeversammlungen, über die vom "ganzen Dorf" zu leistenden Getreidebereitstellungen zu beschließen und die festgestetzte Getreide-Quote bei den reicheren Bauern einzutreiben; der Bauer, der dieser Anordnung des Dorfsowjets nicht nachkommt, wird durch Geldstrafe, Gefängnis, Enteignung und Verbannung bestraft. Damit wurde die obere Bauernschicht der Willkür der kommunistischen Dorfzellen und der sogenannten "Armen-Gruppen" ausgeliefert. So stieg der Druck von Jahr zu Jahr. Dagegen wurden den durchaus nicht zahlreichen Kollektivbetrieben die besten Landstücke zugewiesen; ihnen wurde Kredit gewährt; ihnen wurden Steuervergünstigungen versprochen; ihnen wurden landwirtschaftliche Maschinen geliefert und Traktoren in Aussicht gestellt usw.
So wurde der neue, großartig gedachte Kollektivierungs-Angriff auf die gesamte Bauernschaft "vorbereitet".8111) Die wirtschaftliche Differenzierung der Bauernklasse wurde von den Kommunisten in der Richtung gefördert, daß die Mehrzahl der Einzelwirtschaften in eine Verelendung und Verzweiflung geriet und nur die Minderheit den Kampf ums Dasein noch fortsetzen konnte. Schon im Jahre 1928 hatte dieser Kampf bedeutend an Schärfe gewonnen. "In letzter Zeit", meldete die Sowjetpresse, "steigt ganz bedeutend die Zahl der Fälle, wo Mitglieder der kommunistischen Zellen, der Sowjets, der landwirtschaftlichen Genossenschaften sowie verschiedene ,Sozial-Aktivisten' erschlagen werden."82) "Die Welle der Verfolgungen gegen die .Arbeiter-Korrespondenten'83) ist noch gestiegen und der Kampf hat in letzter Zeit einen erbitterten Charakter angenommen."84)
79) Siehe den Aufsatz "Das Schicksal des russischen Bauern".
80) Siehe das Geständnis im "Westnik Finansow". 1927. Nr. 9.
81) "Ekonomitscheskoje Obosrenije", 1927, Nr. 4.
81a) Von Stalin einfach zugegeben. Siehe seine Rede Prawda, 1930, 29. Juni.
82) Iswestija. 1928. X. 30.
83) Siehe den Aufsatz "System des Terrors".
243
"Infolge von Brandstiftungen hat es im letzten Jahr" (1927) "allein in der RSFSR 25.000 Feuerschäden gegeben."85) Frumkin, der Stellvertreter des Volkskommissars für Finanzen, schilderte kurz und zusammenfassend die Stimmung der Bauernschaft in einem Brief, der im Zentral-Komitee der Partei von Stalin vorgelesen wurde: "Das Dorf mit Ausnahme eines geringen Teils der Armen ist uns feindlich gesinnt."86)
Demgegenüber könnte die Stimmung des kommunistischen Lagers am besten mit Stalins Worten gekennzeichnet werden: "Die bäuerliche Landwirtschaft ist eine Kolonie für die Ausbeutung des proletarischen Staates."87)
Die Kollektivierung
Diese sozial-politische Atmosphäre herrschte im Lande, als im Sommer 1929 die große Kollektivierung der Landwirtschaft begann.87a) Es ist ohne weiteres klar, daß die Kollektivierung, die das Programm des Fünfjahresplans auf dem Gebiete der Landwirtschaft in Angriff nahm, für den Prozeß der wirtschaftlichen Differenzierung der Bauernschaft ausschlaggebend werden mußte. Die neue stürmische Enteignung stellte sich die Aufgabe, die Kulaken nicht nur "einzuschränken und zu verdrängen", sondern "das Kulakentum als Klasse zu liquidieren auf der Grundlage einer durchgehenden Kollektivierung .. ."88) Mit anderen Worten — die obere Bauernschicht wirtschaftlich auszurotten und die unteren Bauernschichten, womöglich die gesamte übrigbleibende Bauernschaft,89) in Kollektivbetriebe hineinzutreiben. Es galt also die schon vorhandene Bauerndifferenzierung in einem rasenden Tempo zu verschärfen und die tragische Auswirkung dieses Prozesses — die steigende Verelendung der Masse — dem "kommunistischen Sektor" der Landwirtschaft gutzuschreiben.
Um diese neue Wendung der Bauerndifferenzierung richtig zu klären, müssen wir vor allem feststellen, daß diese Kollektivierung keine freiwillige oder spontane Bewegung der Bauernschaft darstellte, sondern von oben mit Gewalt durchgeführt wurde.
84) Prawda. 1928. VIII. 30.
85) Bednota. 1928. Nr. 2969.
86) Iswestija. 1928. XI. 24.
87) "Krasnaja Gaseta", 1926. XI. 6.
87a) Siehe die Aufsätze "Das Schicksal des russischen Bauern' und "Die deutschen Kolonisten".
88) Dies die grundlegende Parteilosung. Siehe z. B. Prawda. 1930. V. 15. Leitartikel; vgl. bei Jakowlew. Prawda. 1930. 19. Mai. Vgl. in Kalinins Rede: "Wir vernichten das frühere Bauerntum als Klasse . . ." Prawda. 1930. 23. Juli.
89) Vgl. z. B. die Losung im Kuban Gebiete: "Zum 1. März (1930) keinen einzigen Rain, keine einzige Individual-Wirtschaft". Iswestija. 1930. 11. Januar u. dgl. mehr.
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Prinzip der Freiwilligkeit
Von einer "Freiwilligkeit" wäre hier schon deswegen nicht zu sprechen, weil die von uns zur Genüge geschilderte landwirtschaftliche Politik der Sowjetregierung dem freien ^jllen, also dem spontanen und ungestörten wirtschaftlichen Gutdünken des Bauerninstinktes — kein freies Feld übrig ließ- Ein fiskalischer, administrativer, politischer und religiöser Druck lastete von Anfang an auf dem Bauern und allf seiner gesunden Privatinitiative: die bürgerliche Wirtschaftsform wurde ihm sauer, oder gar unmöglich gemacht; die sozialistische Wirtschaftsform wurde ihm als einziger Ausgang vor Augen gestellt. Diese Politik herrschte schon seit Jahren und zeitigte die schlimmsten Folgen. Dann kam der kollektivierende Angriff.90)
Man ging ans Werk nach einem breit angelegten und ausgearbeiteten Plane.81) Es hieß: "Die sozialistische Offensive gegen die kapitalistischen Elemente hat auf der ganzen Front angefangen."92) Nach den authentischen Angaben der Kommunisten, die allerdings zu spät, aber doch ausführlich den ganzen Angriff schilderten, — wurde das Prinzip der Freiwilligkeit beim Eintragen in die Kollektivbetriebe nicht beachtet.93) Es gab Fälle, wo gar nicht abgestimmt wurde; es gab andere Fälle, wo die Abstimmung "durchgedrückt" wurde: der Kollektivbetrieb galt als gegründet bei 20 bejahenden Stimmen, 18 verneinenden Stimmen und 160 Stimmenenthaltungen,94) oder auch bei 13 bejahenden Stimmen und 400 Stimmenenthaltungen.95) Die "Bevollmächtigten", die kleinen Diktatoren, suchten die Sache zu vereinfachen:96) es wurden z. B. den Bauern zwei Listen vorgelegt — die eine bedeutete Eintritt in den Kollektivbetrieb, die andere — Verbannung nach Sibirien.97) Die Bauern wurden vor die Wahl gestellt: entweder sich der Kollektivierung anzuschließen, oder enteignet zu werden.98) Hie und da wurde bekanntgegeben: "Wer sich in den Kollektivbetrieb einträgt, der gilt als sowjetfreundlich gesinnt, wer nicht — der erklärt sich gegen die Sowjetregierung; eingetragen werdet ihr aber sowieso; wir werden euch den Boden sowieso enteignen und dann eintragen . . ."") usw. Es wurde auch mit einer hohen Besteuerung, mit einem
90) Siehe den Aufsatz "Das Schicksal des russischen Bauern".
91) Vgl. z.B. Ekonomitscheskoje Obosrenije Nr. 7. 'S. 6-7.
92) Loginof. Prawda. 1930. 7. Mai.
93) Siehe Stalins Aufsatz "Otwet Towarischam Kolchosnikam", Als Extra-Beilage von der Zeitung "Proletarij" abgedruckt. Beantwortung der zweiten Frage. Punkt 1.
94) Prawda. 1930. 25. Mai. Aufsatz von Panferof. 85) Prawda. 1930. 20. März.
96) Siehe z.B. bei Taitz. Prawda. 1930. 21. Mai.
"*) Prawda. 1930. 17. März; vgl. Iswestija. 1930. 24. März.
m) Prawda. 1930. 21. März; 12. März; 14. März usw.
") Prawda. 1930. 15. März.
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Ausschließen aus den Konsum-Genossenschaften usw. gedroht.100) Alle Mittel waren gut, um "das Dorf in einem Kurzgalopp in den Sozialismus hineinzutreiben".101) Man ging sogar so weit, daß die Gründung des Kollektivbetriebes weder besprochen, noch abgestimmt wurde: jeder, der sein Pferd zu der verordneten tierärztlichen Untersuchung brachte, galt als "freiwilliges" Mitglied des Kollektivbetriebes.102) Kurz, man suchte die Kollektivierung auf einmal, "mit Druck und Stoß" durchzuführen . . .103) Und dieser Druck stammte nicht von den kleinen Kommunisten, sondern von den oberen Parteischichten.104) Maßgebend äußert sich dazu Kalinin, wenn er ausführt, daß "die bolschewistische Auffassung der Freiwillig. keit" einen "sozialen Druck" voraussetzt und einschließt.1043)
Sturm und Drang
Die Idee und die Aufgabe der Kollektivierung wurde von den bevollmächtigten Parteimitgliedern so verstanden, daß man in kürzester Zeit eine möglichst radikale Enteignung der Bauernschaft und eine möglichst integrale Sozialisierung in der gesamten Landwirtschaft durchzuführen hätte.105) Aus diesem Grunde wurde oft das gesamte Vermögen der Bauern enteignet und sozialisiert: Pferde, Kühe, Kleinvieh, Hühner, Futter, Inventar, Gerät, Nähmaschinen . . .106) Sogar bei den nomadisierenden Kasaken107) in Mittelasien wurden die Pferde und die Gewehre "sozialisiert"; man versuchte sie aus ihren Nomadenzelten ohne weiteres in kleinen Häuschen anzusiedeln und ein kommunistisches Speisehaus für sie zu bauen: das gehörte auch zur Kollektivierung. Die Kasaken aber zerstörten die Häuser, lösten die Kollektivbetriebe auf, holten sich ihre Pferde und kehrten in ihre Zelte (Kibitka) zurück . . .108)
100) Prawda. 1930. 4. Juni.
101) Prawda. 1930. 4. Juni.
102) Prawda. 1930. 16. Mai. Aufsatz von Lebedew.
103) Russisch: "s pletscha, s nashimom, w udarnom porjadke". Prawda. 1930. 14. Mai. Tretjakoff.
104) Siehe z. B. Prawda. 1930. 22. Mai; weitere Angaben im Aufsatz "Das Schicksal des russischen Bauern".
104a) Siehe seine Rede in der Prawda. 1930. 23. Juli.
105) Bezeichnend ist folgende Schilderung: Der Vorsitzende: "Wieviel Mitglieder hast du (für den Kollektivbetrieb) angeworben?" Mitglied des Dorf Vorstandes: "Drei." — Vorsitzender: "Sekretär! Trage ein! Er kommt vors Gericht!" Prawda. 1930. 14. Mai.
106) Vgl. z. B. Prawda. 1930. 13. Mai, 19. Mai, 23. Juni usw.
107) Die Kasaken, ein türkisch-tatarisches Nomaden-Volk, sind nicht mit den ansässigen Kosaken und ihren territorialen Heerorganisationen (verschiedener Nationalitäten) zu verwechseln.
108) Prawda. 1930. 13. Mai. Erzählt von Browarsky.
109) Prawda. 1930. 16. und 30. Mai usw.
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In Hast und Eile dachte man gar nicht daran, den neuen Kollektivbetrieben eine bestimmte Form, eine rechtliche Unterlage, eine innere Organisation zu geben.109) Man schuf auf dem Papier110) große, immer größere, ja, Riesenbetriebe, die mehrere zehntausend Hektar umfaßten, "unlebensfähig"111) blieben und sehr bald zusammenbrachen.112) nas kollektivierte Vieh und Futter wurden den Bauern sofort genommen und zusammengebracht: "Das Vieh wurde in schlecht eingerichteten Ställen in so einer Anzahl untergebracht, daß die Kühe sich des Nachts nicht hinlegen konnten, Vieh und Geflügel durcheinander, in abscheulicher Pflege und Behandlung . . .""3) Das mißhandelte Vieh krepierte in Massen; "wenn aber das Pferd krepiert", meinten die Führer der Kollektivbetriebe, "so hol' es der Teufel, es gehört ja nicht dir, sondern dem Kolchos . . ."114) Das wußten die Bauern im voraus; sie waren von Anfang an der Überzeugung, "daß die sozialisierten Pferde zugrunde gehen werden".115)
In den Sowjet-Zeitungen findet man oft höhnische Berichte, in denen dramatisch gespannte Szenen geschildert werden: man sieht, wie die Bauern ihre Pferde nicht hergeben wollen oder sie mit Gewalt zurückholen; man sieht wie Frauen in Tränen, das Kind im Arm, das Pferd am Zaum im Dorf herumlaufen und sich zu wehren versuchen; man sieht wie ein ganzes Menno-niten-Dorf die enteigneten Pferde von der Steppe zurückholt und sie in Ketten legt, um die kollektive Arbeit zu verhindern . . .116) Wer aber von den Bauern sein kollektiviertes Pferd eigenmächtig zurückholte, der wurde als "Dieb" vors Gericht gestellt und bekam Strafe: bis zul^ Jahre Gefängnis, bis zu 1 Jahr Zwangsarbeit.117)
Kurz, — um mit Kalinin zu reden — "die Menschen wurden buchstäblich auf den Kopf gestellt".117a)
Die Opfer
In diesem großen Kollektivierungs-Prozesse wurde die reichere Bauernschaft (die angeblichen Kulaken) enteignet und "liquidiert". In Wirklichkeit galt diese Enteignung nicht nur den reicheren Bauern, sondern oft auch den Mittelbauern und sogar den Armen: jeder, der sein Getreide nicht hergeben wollte; jeder, der gegen die Kollektivierung auftrat; jeder, der wegen Privathandel usw. denunziert wurde — galt als "Kulak" oder "Kulakenmitläufer" und wurde enteignet.118)
110) Z. B. Prawda. 1930. 13. Mai "bumashnije Kolchosy ...".
111) Jakowlew. 1930. 19. Mai.
112) Loginof. Prawda. 1930. 7. Mai.
113) Taiz. Prawda. 1930. 21. Mai.
114) Belikof. Prawda. 1930. 30. Mai.
115) Prawda. 1930. 14. Mai.
116) Siehe authentische Schilderungen. Prawda. 1930. 14. Mai; 29. Mai.
117) Lebedew. Prawda. 1930. 16. Mai; vgl. 23. Juli.
117a) Russisch: "perewörtywajutsa wwerch nogami". Prawda. 1930. 23. Juli.
118) Es wurde ein neues häßliches Wort "podkulatschnik" geprägt.
247
Dies war eine Maßnahme gegen "die Widerspenstige n", die "entfernt" werden mußten.119) Die Enteignung selbst wurde mit dem häßlichen Wort "raskulatschiwanije" bezeichnet ("Ent-kulak-isierung"). "Die Entkulakisierung aus der Epoche des Bürgerkrieges war wieder ins Leben gerufen", stellte ein Kommunist fest.119a)
Daß zahlreiche Mittelbauern enteignet wurden, ist von den Kommunisten selbst zugegeben worden.120) Dasselbe Los traf vielfach auch die ärmeren Bauern: der mit Hilfe der Aermeren enteignete Mittelbauer wollte sich an ihnen rächen und suchte seinerseits sie zu denunzieren; die Kommunisten aber (die dafür später als "Uebertreiber" bezeichnet wurden) kamen ihm entgegen.121) Einer armen Frau ("bed-njatschka") enteigneten die Kommunisten das Heu und vertranken es; sie erhob Klage und bekam zur Antwort: "Wir haben dich entkulakisiert."122) Hier wurde ein widerspenstiger Dorfschullehrer zu den Kulaken gezählt und enteignet;123) dort ein "Ausbeuter", dessen Vergehen darin bestand, daß er, durch die schwere Krankheit seiner Frau veranlaßt, eine Aufwartung für das kleine Kind nehmen mußte124) usw.
Die Bauern suchten ihr Getreide zu verstecken, — im Pferdestall, auf dem Boden, im Kehricht, im Heu; oder in die Erde zu vergraben — dann wurde das Loch als "Getreidegrab" bezeichnet und von den Kommunisten aufs eifrigste gesucht: sie gingen herum und stießen mit der Stockzwinge in die Erde hinein; wo die Erde aufgelockert zu sein schien, da wurde gegraben.125) Dabei denunzierten die Bauern einander und der gegenseitige Haß wurde auf diese Weise geschürt. Die Rückständigen oder die böswilligen Hehler wurden ohne weiteres versteigert, ganz unabhängig davon, ob sie zur Kulaken-Gruppe gehörten oder zu den Aermsten.126) Die Enteigneten wurden auf die Straße gesetzt, mit Frau und Kind, nur in dem was sie an hatten: ihnen wurde einfach der Bettelstab in die Hand gedrückt, wenn sie noch das Glück hatten, der Ver-
119) Taiz. Prawda. 1930. 21. Mai; russisch: "udalenije nepokornych".
118a) Kolesnikof. Prawda. 1930. 27. Juni.
12°) Stalin. "Otwet towarischana kolchosnikam". Zweite Antwort; Jakowlew. Prawda. 1930. 19. Mai: vgl. Prawda. 1930. 13. Mai; 21. Mai; 24. Mai usw.
121& Taiz. Prawda. 1930. 21. Mai.
122) Bericht eines Dorfkorrespondenten. 1930. 27. Mai.
123) Prawda. 1930. 21. Mai. lä4) Prawda. 1930. 14. Mai.
125) Vgl. Ekonomitscheskaja Shisn. 1929. 19. November. 12e) Vgl. z. B. Ekonomitscheskaja Shisn. 1929. 24. November.
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Gattung, der gerichtlichen Aburteilung oder der Verbannung zu entgehen.127)
Es ist bemerkenswert, daß diese Enteignung oft als eine Neuverteilung des Vermögens (nach dem Vorbild der ersten Revolutionsjahre) betrachtet wurde. Im besten Falle wurde die enteignete Habe der Kulaken als "Basis für die Kollektivierung angesehen" und den Kollektivbetrieben zugewiesen.128) Im schlimmsten Falle wurde sie einfach verteilt.
Die Zahl
Es wäre schwierig, eine genaue Anzahl der enteigneten und zerstörten Bauernwirtschaften anzugeben. Es gab Bezirke, wo die Kommunisten bis 10 Prozent der Bauernschaft zu enteignen versuchten.128) Es gab Gegenden, wo der Prozentsatz der Ausgesiedelten nur 4 1/2 erreichte, — was z.B. nur in zwei großen Kosakdörfern des Kubangebietes rund 300 Einzelwirtschaften ausmachte.130) In dem Erlaß des Zentral-Komitees vom 15. März 1930 wurde die Zahl der liquidierten Wirtschaften auf 10—15 Prozent veranschlagt. Ein führender Kommunist, Milütin, berichtet über Gegenden, wo bis 40 Prozent Bauernwirtschaften enteignet wurden ... Demzufolge erscheint uns die Berechnung des ausgezeichneten Sachkenners Prof. B. Brutzkus, der zufolge allein in den Gegenden der "durchgehenden Kollektivierung" nicht weniger als 600.000 Bauernwirtschaften zerstört wurden, als überaus nüchtern und wahrscheinlich.131)
Die Bauern suchten hier und da dieser Enteignung zuvorzukommen: wer sich zu den "Hoffnungslosen" zählte, verkaufte einen Teil seines Vermögens, oder auch alles, und zog in die Stadt oder in wenig bewohnte Gegenden: er "ent-kulakisierte sich selbst", um wenigstens etwas noch zu retten132) und anderswo ein neues Leben anzufangen. Diese Liquidierung der eigenen Habe wurde auch von denen vollbracht, die an Ort und Stelle blieben und in die Kollektivbetriebe eingetragen wurden. Das tote und lebende Inventar wurde verkauft; Kühe, Schafe, Schweine wurden geschlachtet, verzehrt oder auf den Markt gebracht.133)
127) Siehe das Buch "Ein deutscher Todesweg" in der "Notreihe" des Eckart-Verlages, Heft 1-2, S. 92-107, Kapitel IX: Liquidierung des Kulakentums. Authentische Schilderungen aus den Briefen der enteigneten deutschen Kolonisten. Siehe auch in den Bulletins von Prof. Prokopowitsch. 1930. Februar. Nr. 76. S. 11.
128) Prawda. 1930. 26. Mai. Popowa; auch bei Kowalew. Prawda. 1930. 11. Mai u. a.
129) Prawda. 1930. 6. Mai. Staro-Jurjewsk.
130) Prawda. 1930. 20. luni. Aufsatz von Kusclmew.
131) Siehe Der Deutsche Volkswirt. 1930. 22. August und 10. Okt.
132) Vgl. Prawda. 1930. 19. Januar. 26. Januar usw.
133) ygl Prawda. 1930. 18. Januar: 7. Mai; 21. Mai: 2. Juni; Ekonom. Shisn. 1929. 30. Oktober tisw.
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"Der Markt war überfüllt von Pferden, Kühen, lebendem und totem Geflügel Pferdegeschirr und anderem wirtschaftlichen Zubehör. Vom Markte nach Hause gekommen, ließen sich die Bauern in die Kommune eintragen. In den Kollektivbetrieb brachten sie eine abgequälte Schindmähre und einen Sack für die zu beziehende Lebensmittelration."134) Ein Pferd konnte man schon für 5 Rubel kaufen."5) Die alte volkstümliche Kriegssitte, der zufolge "dem Feinde nichts in die Hände fallen darf", lebte wieder auf. Am 16. Januar 1930 wurde eine Verordnung erlassen, welche dieses Treiben zu bekämpfen suchte. Sie konnte aber nicht helfen. Im ganzen hat das Land im Laufe eines einzigen Wirtschaftsjahres 23 Prozent Rindvieh und über 40 Prozent Schweine verloren. . . . Nur die Ukraine allein verzeichnet für das Jahr 1929 einen Rückgang des Viehbestandes um 16 Prozent.136)
Die Eintretenden
Grundsätzlich steht der Bauer dem Kollektivbetriebe feindlich gegenüber. Ihm ist die ganze Kollektivierung widrig und verhaßt. Auf Privateigentum eingestellt, will er seine Privatwirtschaft gar nicht aufgeben; die Zwangskollektivie-rung erlebt er als Raub und Zerstörung. Auch glaubt er gar nicht an den wirtschaftlichen. Erfolg der Kollektivierung: "mit euren Kolchosen werden wir nur zugrunde gehen".137) Dementsprechend haßt und verachtet er die kommunistischen Beamten, die ihn "kollektivieren": "Ha, da bist du gekommen, uns zur Arbeit zu zwingen?! Hast dir eine Kanone an den Gürtel gehängt? Was für einen Gehalt beziehst du denn monatlich? Hundertzwanzig? Und wir können auch nicht zwanzig verdienen! Du hast leicht reden! Du bist ein Städter. Was verstehst du von den Bauernangelegenheiten?"138) usw.
Dennoch lassen sie sich in die Kollektivbetriebe eintragen. Aus welchen Gründen? Erstens deswegen, weil ihre Privatwirtschaft lahmgelegt ist und weiterhin bedroht wird. Die Kollektivbetriebe stellen aber bedeutende Vergünstigungen in Aussicht. Ein wirtschaftlich lahmgelegter Bauer, ohne Inventar und Zugvieh, hat keine Hoffnungen, sich selbständig durchzuschlagen: er sucht sich im Kollektivbetriebe einen etwas günstigeren Ausgangspunkt. Laut den Berichten des kommunistischen Agrar-Institutes verzeichneten die Kollektivbetriebe im Jahre 1928 etwa 70,9 Prozent Einzelwirtschaften ohne Ackerboden, 47,3 Prozent Bauernhöfe ohne Pferde, 70,1 Prozent ohne Kühe.
134) Prawda. 1930. 4. Juni. Schilderung eines Dorfkorrespondenten.
135) Siehe bei Prokopowitsch. Bulletin 76. S. 28.
136) Stalins Rede. Prawda. 1930. 29. Juni. Kossiors Rede. Prawda. 1930. 2. Juni.
137) Prawda. 1930. 14. Mai.
138) Prawda. 1930. 14. Mai. Vgl. Ekon. Schisnj. 1930. 5. September.
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Das Hauptkontingent der komplizierteren Kollektivbetriebe (Artel, Kommune) stammt also aus der Dorfarmut. Diese Dorfarmut möchte sich gerne vom Staate und dem sogenannten "sozialistischen Sektor" versorgen und verpflegen lassen.138) Daneben besteht aber die Hoffnung — den Kollektivbetrieb, als die begünstigte Stelle der Wirtschaft, auszunützen, dadurch wieder auf die Beine zu kommen und dann mit dem Ersparten und Angehäuften auszutreten und von neuem eine eigene Meierei zu schaffen.
Die Bauern lassen sich eintragen nur in der Hoffnung, wieder auszuscheiden. Dies ist auch in der kommunistischen Fachliteratur festgestellt: die Kollektive sind eben oft nichts anderes, als eine Art "Durchgangshof" — man geht ein und aus, um sich ein bestimmtes Minimum zu ersparen und wieder die individuelle Wirtschaft aufzunehmen.149) In diesem Zusammenhange sind auch viele Beispiele der sogenannten "Schein-Kollektive" zu erklären: eine Bauerngruppe schließt sich zusammen, schafft ein Kollektiv, übernimmt einen günstig gelegenen Gemüsegarten und schließt sich von der übrigen Umgebung ab, um keine weiteren Mitglieder aufzunehmen und die günstige Lage für sich auszuwerten.141) Diese letzte Form wird besonders gerne von Mittelbauern und von "Kulaken" benutzt: damit suchen sie auch ihr Vermögen zu verhehlen und der drohenden Enteignung zu entgehen.142)
Daraus ist schon leicht die neue Stufe der Bauerndifferenzierung in ihrem Gesamtbilde zu überblicken.
Der große Zwiespalt
Nach der großen Enteignung und Kollektivierung von 1929-1930 ist die gesamte Bauernklasse des Sowjetstaates in zwei große, aber ihrem sozialen Bestände nach nicht stabile Gruppen geteilt: nämlich — die "kollektivierten" (kolchosniki) und die "freiwirtschaftlichen" Bauern (jedino-litschniki). Das sind zwei feindliche Lager, die in Haß und Fehde einander gegenüber stehen.143) Der Haß ist so groß, daß die Menschen einander nicht grüßen und die Zigarette einander zum anrauchen nicht reichen;144) "da kommt ein Jedino-litschnik, uh, die Schlange!"145) Oder: "ihr seid Jedinolitschniki,
139) Vgl. Prawda. 1930. 18. Januar.
140) Siehe Prawda. 1930. 12. Juli. Jakowlews Rede. Siehe Gaister »Dostishenija i trudnosti kolchosnago stroitelstwa". Moskau. 1929; Prof. Prokopowitsch. Bulletin. 73. S. 8. 11; vgl. Prawda 1930. 12. Mai. Der Volkskommissar Jakowlew gibt noch folgende Gründe des Austrittes an: es treten aus — die gewaltsam hineingetriebenen; die durch die Desorganisation der Kollektivbetriebe Enttäuschten; und die der Kulaken-Agitation Zugänglichen. Prawda. 1930. 12. Juli.
141) Solche Beispiele gibt es unzählige, z. B. Prawda. 1930. 12. Mai, 22. Mai, 29. Juli; usw.
142) Prawda. 1930. 21. Mai u. a.
143) Prawda. 1930. 8. Mai; 22. Mai; russ.: "stena otcushdennosti".
144) Prawda. 1930. 23. Juni.
145) Prawda. 1930. 20. Juni.
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also unsere Feinde und Feinde der Sowjetregie rung!""5») Defl Kollektivierte hetzt die Freien;140) der Freie bezeichnet seinen! eigenen Zustand mit dem Worte, mit dem er das Aufheben der ] Leibeigensehaft bezeichnete — "wol,ja", "na wole" — und hetzt seinerseits den Kollektivierten.14"3)
Dieser Haß entsteht vor allem aus der aggressiven Haltung, die der Kollektivbetrieb dem Einzelbauern gegenüber einnimmt. Er sucht ihm die besten Stücke seines Ackerbodens — den Gemüsegarten, den Weideplatz — zu enteignen;147) er sucht auch seinen Anteilboden zu kürzen und dadurch den eigenen Machtbereich zu erweitern; hie und da liest man von großartigen Plänen — ganze Dörfer abzureißen und die freien Bauern aussiedeln zu lassen148) usw. Tatsächlich gelingt es auch den von der Kommunistischen Partei geführten und auf Bodenraub eingestellten Kollektivbetrieben die Versorgung der kollektivierten Bauern mit Boden (pro Kopf gerechnet) bedeutend zu steigern.148") Auch werden die aus den Kollektivbetrieben austretenden Bauern meist "eingekniffen", d. h. übervorteilt und ganz ungerecht behandelt.149) Selbstverständlich wird diese aggressive Haltung mit einem erbitterten Kampf seitens der freien Bauern beantwortet.
Als ausgesprochene Feinde der "Kolchosy" werden besonders die Weiber, die Privathändler, die angeblichen "Kulaken", dann auch die Priester, die Sektierer, die Dorfschullehrer und alle, denen das politische Wahlrecht und also auch das Recht auf Lebensmittelkarten genommen ist ("Lischenzy", die "Entrechteten") bezeichnet.150) Gegen die Kollektivbetriebe werden meist drei Hauptgründe ins Feld geführt: erstens — die Aufhebung des Privateigentums und der IndividualWirtschaft; zweitens — die Unwirtschaftlichkeit, die in den Kollektivbetrieben herrscht und immer herrschen wird; drittens — die Gottlosigkeit, die von den kollektivierenden Kommunisten gepredigt und aufgezwungen wird ("das Siegel des Antichristen").151) Besonders lehrreich ist es auch festzustellen, daß die Kommunisten auf dem Lande (Parteimitglieder aus den Bauern) — selten und recht ungern in die Kollektivbetriebe eintreten, im Gegenteil an ihrer Privatwirtschaft festhalten und von den oberen Parteibehörden zum Eintritt nicht gezwungen werden: ihnen gegenüber wird nämlich "Vorsicht" empfohlen.152)
145a) "Soz. Semledelije". 1930. 16. Oktober.
146) Jakowlew. Prawda. 1930. 19. Mai; 12. Juli.
146a) Ekenom. Shisnj 1930. 23. August.
147) Prawda. 1930. 28. Mai: 22. Mai.
148) Siehe Prawda. 1930. 22. Mai. Aufsatz von Nikulichi«.
148a) Laut einigen Angaben sogar auf das Doppelte. Schazkin. Prawda. 1930. 30. Juni.
149) Siehe z. B. Prawda. 1930. 22. Mai; 24. Mai; 27. Mai usw.
150) Vgl. Prawda. 1930. 7. Mai; 14. Mai; 21. Mai usw.
151) Siehe ganz besonders den Bericht von Tretjakoff. Prawda. 1930. 14. Mai. Vgl. "Sozialistitscheskoje Semledelije". 1930. 7. Nov.
252
Selbstverständlich ist die große Masse der kollektivierten Bauern immer bereit, aus den Kollektivbetrieben auszutreten: im Frühling, kaum fängt es draußen an zu grünen, kaum braucht der Bauer nicht mehr das kollektivierte Futter für sein Pferd und seine Kuh, — will er schon austreten;153) ist er dann noch nicht ausgetreten, hat er die Frühlingssaat im Kollektiv mitgemacht, so sucht er die Saatfläche (pro Kopf und geleistete Arbeit) aufzuteilen und die Ernte für sich allein heimzuführen.154) Aber auch während der Saat treten die Bauern "haufenweise" aus den Kollektivbetrieben.155) Der Bauer zieht die Freiheit vor; sei es auch oft ein freies Elen d.155a) Die kommunistische Kaserne, das sogenannte "Administrieren" der Kommunisten in den Kollektivbetrieben, die neue Leibeigenschaft — bleibt ihm widerlich. Am besten möchte der Bauer die Kollektivbetriebe "gewaltsam zerstören",156) oder anstecken und niederbrennen. Seine "Losung" lautet folgendermaßen: "wenn es sich um Freiwilligkeit handelt — so brauchen wir den Kollektivbetrieb gar nicht !"158a)
Die freien Bauern
Wenn wir nun die einzelnen Gruppen der Bauernschaft zu schildern versuchen und mit der freien Hälfte des Bauernmeeres anfangen, so müssen wir folgendes feststellen.
Der Arme
Es wäre falsch, sich vorstellen zu wollen, daß alle ärmeren Bauern (Bednjaki) sich in die Kollektivbetriebe sehnen. Nur arge Not und kommunistischer Druck bringen sie soweit. Dementsprechend ist bis jetzt ein bedeutender Teil der ärmeren Bauern nicht kollektiviert worden.158b) Der Kommissar für Landwirtschaft, Jakowlew, gibt offen zu, daß während der großen Kollektivierung die Zwangsnahmen der "übertreibenden" Parteigenossen auch den ärmeren Bauern galten.157) "Die Bednjaki", berichtet ein Aufsatz, "sind gegen die Kollektivierung."158) Die Armen, lesen wir in einer anderen Schilderung, wollten sich gar nicht eintragen: "je weniger er Vermögen hatte, desto mehr befürchtete er
152) Siehe z. B. Prawda. 19. Juni; siehe ganz besonders "Sa krupnije kolchosy". "Materialy I Wseross. Soweschanija krupnych Kolehosof." 1929. S. 375-377.
153) Prawda. 1930. 30. Mai.
154) Prawda. 1930. 23. Mai; 30. Mai usw.
155) Prawda. 1930. 16. Mai.
155a) Siehe über den Austritt der ärmeren Bauern: "Soz. Sernle-delije". 1930. 16. September.
156) Vgl. z.B. Prawda. 1930. 28. Mai; 4. Juli; 25. Juli.
156a) Zitiert vom Volkskommissar Jakowlew in den Sitzungen des aVI. Kommini. Kongresses. Prawda. 1930. 10. Juli.
156b) "Sozial. Semledelije". 1930. 15. Oktober.
157) Prawda. 1930. 19. Mai. Buchstäblich: "w prirnenenii mer prinushdenija i nassilija w otnoschenii serednjakow i bednjakow".
158) Prawda. 1930. 26. Mai.
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es zu verliere n".159) "Noch mehr als die Mittelbauern haben die Armen die ganze Angelegenheit (der Kollektivierung) verdorben."180) "Die Masse der Arm- und Mittelbauern klammert sich an die Erde, sie kämpft um den Boden, sie sucht ihre Saatfläche zu vergrößern", führt ein Kommunist grundlegend und verallgemeinernd aus.160a) So steht es auch in Wirklichkeit. Der Dorfarme, nach alledem, was er erlebt, durchgemacht und gelitten hat, schwärmt doch für seine private Einzelwirtschaft und empfindet die Kollektivierung als etwas Naturwidriges und alles auf den Kopf Stellendes. "Du denkst was, — wir hätten's leicht", erzählt ein kollektivierter Armbauer einem ausfragenden Kommunisten: "oh, wie wir es schwer haben! Uns ist vielleicht diese Kollektivierung — so—o schwer bekommen! ... Es ist gar nicht leicht, sich so umzubrechen und neu umzustellen. . . . Hättest du mich vor einem halben Jahre gesehen: so sah ich aus," — der Erzählende zeigt den mächtigen früheren Umfang seines Körpers, — "es ist nur ein halbes Jahr verstrichen, und ich bin trocken und mager geworden. . . . Und warum? . . . Die Sorge hat es gemacht.161) . . .
Der Mittelbauer
Was die Mittelbauern anbetrifft, so steht es fest, daß sie in Massen enteignet und zwangsmäßig ausgesiedelt wurden; es steht auch fest, daß die sogenannte "Rückgängigmachung der Übertreibungen" äußerst langsam und ungern ausgeführt wurde; daß die "wiederhergestellten" Wirtschaften der Mittelbauern schlechteren Boden und durchaus nicht den vollen Preis des Verlorenen bekamen. Auch nach der Kollektivierung wurde der Druck fortgesetzt: selbst in der Versorgung des Mittelbauern mit Industrieware sucht man ihm zu schaden — hat er zwei Kühe, so bekommt er aus dem Kooperativladen nur die Hälfte der normalen Quote, oder auch gar nichts (wenn die Warenmenge für alle nicht ausreicht).162) Die Lage dieser Mittelschicht ist jetzt ganz verhängnisvoll geworden: zu allen schon vorhandenen Schwierigkeiten sind die neuen Verluste der Kollektivierungszeit gekommen; und, da die obere Bauernschicht stark gelichtet ist, so wird die nächste Enteignungswelle dem Mittelbauern gelten. "Wenn ein Baum dreimal hintereinander umgepflanzt wird, so leiden daran die Wurzeln und es entsteht nichts gutes", erklärte ein Mittelbauer schon im März 1930;163) die Unsicherheit, der Druck, die Drohung, die teil-weisen Enteignungen — dies alles wird von den
159) Tretjakoff. Prawda. 1930. 14. Mai.
160) Popowa. Prawda. 1930. 26. Mai.
160a) Prawda. 1930. 22. Mai.
161) Prawda. 1930. 20. Juni.
162) Z.B. Prawda. 1930. 22. Mai.
163) Prawda. 1930. 16. März. Aufsatz von Preobrashensky.
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Kommunisten als Politik der freiwilligen Kollektivierung bezeichnet und diese Politik richtet den Mittelbauern zu Grunde. Die nächsten Monate werden dies statistisch belegen und bestätigen.
Nach alledem ist es auch ganz unmöglich geworden, irgend einen Grenzstrich zwischen dem Mittelbauern und dem Kulaken zu ziehen: denn die Ueberreste der ehemaligen gulaken sind jetzt zu Mittelbauern geworden, und jeder von Jen Mittelbauern kann nach Belieben zum Kulaken abgestempelt werden. Wenn deswegen die Kommunisten auch jetzt noch mit Pathos und Zorn von den Kulaken sprechen, ihnen nachspüren, um sie zu enteignen usw. — so gilt es einfach dem Bauern als solchem, insofern es ihm nicht gelingt, seinen Hang zum Privateigentum und zur Privatwirtschaft zu verhehlen. Der Kampf zwischen Kommunismus und Privateigentum wird immer heftiger auf dem Lande, und alles, was der Bauer in diesem Kampfe tut und leistet, wird von den Kommunisten dem Kulaken und der Kulaken-Politik zugeschrieben. Oft scheint es sogar, daß der Kommunist in seinem Verfolgungswahn einen "allgegenwärtigen Feind" — den alles verderbenden und zugrunde richtenden "Kulaken" vor sich hat, der mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden muß, aber noch immer nicht ausgerottet ist.
Der Kulak
Den kommunistischen Berichten zufolge ist der Kulak noch immer am Leben und führt einen überaus schlauen und zähen Kampf. Seine Hauptaufgabe besteht darin, den Mittelbauern zu beeinflussen164) und auf allen möglichen Schleichwegen, besonders über die Frauen, eine ausgiebige Schädlingsarbeit zu führen.165) Bald versucht er Scheinkollektive zu schaffen und sie auszunützen;166) bald sucht er sich in richtige Kollektivbetriebe einzuschleichen, um sie von innen zu sprengen ;165a) bald führt er eine hartnäckige Propaganda gegen die Bereitstellung des Getreides166a) und das Eintreten in die Kollektive überhaupt: "laßt euch doch nicht knechten!"167) Er sucht die kollektivierten Bauern zum Austritt zu bewegen,
164) Prawda. 1930. 15. Mai.
165) Prawda. 1930. 26. Mai; 23. Juni; 1. Juli, Rede von Kagano-witsch; 16. Juli; 29. Juli; 3. Oktober, "Der Kulak sucht die Arbeitsdisziplin in den Kollektivbetrieben zu zermürben"; 4. Oktober. Siehe weiter: "Ekonom. Shisnj." 1930. 2. August (Charkoff); 20. September. »Sozialistitscheskoje Semledelije". 1930. 15. Oktober; 23. Oktober, Aufsatz von Sorkin.
165a) "Ekonomitscheskaja Shisnj". 1930. 20. September; "Sozialistischeskoje Semledelije". 1930. 3. Oktober; 23. Oktober, Aufsatz von öorkin.
166) Prawda. 1930. 4. Juni.
166a) Prawda. 1930. 4. Juli. Ekonom. Shisnj. 1930. 20. September.
167) z.B. Prawda. 1930. 15. Mai; 22. Mai; 26. Mai usw.
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etwa so: "schleppt alles auseinander! nach Hause!";168) dies 1 gelingt ihm aber nicht immer. Dann sucht er sie zu terrorisieren: er mordet die "aktiven" Kommunisten; er verübt Brandstiftungen in den Kollektivbetrieben; er verbreitet beunruhigende Gerüchte.169) Die Kommunisten werden von den Kulaken beschimpft, mit Steinen beworfen; ihre Haustür wird mit Teer beschmiert.170) Die Saaten der Kollektivbetriebe '' werden von den Kulaken abgeweidet ;170a) Saatgut und Inventar absichtlich verdorben.171) Die Kulaken halten geheime Nachtsitzungen ab, um ihre Offensive zu organisieren.172) Geht man ihnen aber zu Leibe, so suchen sie ihre Habe zu verstecken oder sie vernichten böswillig ihr Vieh und Futter1") ... usw.
Dieser Kulakenterror beeinflußt die übrige Bauernschaft. Es werden schon Fälle verzeichnet, wo kommunistische Dorfbeamte nicht nur die Kulaken nicht enteignen, sondern ihr Vorhandensein direkt ableugnen: "in unserem Dorfe gibt es gar keine Kulaken!"174) Demgegenüber lauten die Parteibeschlüsse dahin, noch im Jahre 1930/1951 die übriggebliebenen Kulakenwirtschaften zu 100 Prozent zu ermitteln und zu enteignen:176) in die Kollektivbetriebe dürfen sie aber auf keinen Fall aufgenommen werden.176) Es steht übrigens fest, daß in vielen Gegenden die wohlhabenden Bauern wirklich ausgerottet sind. Da aber der Druck von oben nicht aufhört, so sucht man im Dorf nach einem Sündenbock . . . und enteignet die Mittelbauern : "jemanden müssen wir doch im Dorf für die individuelle Besteuerung ermitteln". . . . Oder: "die Kulaken sind nun entkulakisiert; jetzt ist niemand da, um individuell besteuert zu werden."
168) prawda. 1930. 25. Mai; 4. Juli; 13. Juli; 15. Juli; 21. Juli; 29. Juli: "rastaskiwaj wsö po domam".
169) Vgl. Prawda. 1930. 20. Januar; 15. Mai; 22. Mai; 2. Juni;
3. Juni; 29. Juni; 7. Juli; 15. Juli; 16. Juli; 18. Juli; 1. Oktober; Aufsatz von Schein. "Sozialistitscheskoje Semledelije". 1930. 15. Oktober.
17°) Prawda. 1930. 15. Mai. "oa) Prawda. 1930. 10. Juli.
171) Prawda. 1930. 22. Juni; 15. Mai.
172) Prawda. 1930. 21. Mai.
173) Prawda. 1930. 15. Mai. Vgl. "Noch nie haben sich die Kulaken soviel Mühe gegeben, um die zu versteuernden Objekte zu verstecken". Ekonom. Shisnj. 1950. 3. August; 4. August.
"*) Prawda. 1930. 22. Mai; 26. Mai usw. Ekonm. Shisnj. 1930.
4. August; 22. August. Soz. Semledelije. 1930. 23. Oktober.
176) Z. B. 1930. 2. Juni. Kossior.
176) Stalin. Ekonom. Shisn. 1929. 29. Dezember. Siehe "Handbuch der kollektiven Großwirtschaft" in deutscher Sprache von dem "Wolgadeutschen Verband der Kollektivwirtschaftsverbände" verlegt. 1930. Seite 44.
ifoa) Prawda. 1930. 10 Juli; "Ekonom. Shisnj". 1930. 5. August; 22. August.
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Die kollektivierten Bauern
Dementsprechend müßte man voraussetzen, daß die Anzahl der Kulaken in den Kollektivbetrieben tatsächlich bedeutend niedriger sein muß, als ihr politischer und wirtschaftlicher Einfluß zu sein scheint. Die Kollektivbetriebe müßten demzufolge nur aus drei sozialen Schichten bestehen: aus Landarbeitern, ärmeren Bauern und Mittelbauern, was ihr Leben vor einer scharfen sozialen Differenzierung und vor inneren Kämpfen177) nicht schützt.
Der Arme
Schon die ärmeren Bauern der Kollektivbetriebe zerfallen in zwei ungleiche Gruppen. Die wenigen, die sich in den Dienst der Kommunisten stellen und von ihnen zu "Leitern" der Betriebe ernannt werden (hauptsächlich Proletarier) — werden bald von einer echt kommunistischen "Produktionsbegeisterung angesteckt"178) und von einer Verwaltungsextase ergriffen. Sie halten Sitzungen ab, suchen alles bürokratisch zu regeln, führen einen hochmütigen Kommandoton178) und werden von den übrigen aufrichtig gehaßt. Das sind die sogenannten "aktiven Genossen". Diese "aktiven Genossen" schalten und walten, schreien180) und drohen;181) man berichtet auch über Fälle, wo sie gegen die angeblichen Faulenzer Revolverschüsse abgeben,182) Dagegen ist die übrige Masse der ärmeren Bauern niedergeschlagen und verstimmt; sie hält sich "passiv", arbeitet gar nicht oder ungern183) und beobachtet das selbstsichere, aber recht ungeschickte Treiben der leitenden Kommunisten mit Haß und Neid. Der arme Bauer fühlt sich wie nach einem Schiffbruch, aus dem er nichts außer dem Leben gerettet hat. Er sieht sich zum Mietknecht oder Tagelöhner degradiert, und die demagogischen Versicherungen der Kommunisten — er wäre jetzt der "Herr" im Kollektivbetriebe — gehen ihn sehr wenig an.181) ... Er hat nämlich alle Grundpfeiler seiner Privatwirtschaft eingebüßt; er ist meist ohne Pferd und ohne Kuh in den Betrieb eingetreten; er hat kein Recht zu fordern; im Gegenteil, er muß zwanzig Mal bitten und sich verbeugen, bevor er für seine oft zahlreiche Familie etwas ersteht. Sein Los ist von nun an — hoffnungslose Abhängigkeit und hoffnungslose Knechtung. Hieraus entsteht sein Neid und sein Haß gegen alle Bessergestellten.
177) Vgl. Prawda. 1930. 23. Juni; siehe ganz besonders Tretjakoffs Schilderung in der Prawda. 1930. 29. Mai.
178) Prawda. 1930. 8. Mai; russisch: "sarjashajetsja prois-wodstwennym entusiasmom".
179) Russisch: "komandowanije, dekretirowanije". Prawda. 1930. 23. Juni.
180) Russisch: "pokrikiwatj . Prawda. 1930. 29. Mai. Tretjakoff.
181) Prawda. 1930. 14. Mai; russisch: "budem shetsch kalönym shelesom".
182) Prawda. 1930. 29. Mai.
183) Prawda. 1930. 8. April: 8. Mai; Iswestija. 1930. 6. Mai. Prawda. 1930. 8. Juli.
184) Siehe z. B. die Formel eines führenden Kommunisten (Vorsitzender des "Kolchos-Zentr"), Jurkin: "Der Kolchosnik hat es vergessen, daß er der Herr des Betriebes ist und meint, der Vorstand des Betriebes hätte allein für den letzteren zu sorgen". Iswestija. 1930. 15. April.
257
Der Mittelbauer
Skeptisch und feindselig ist auch der Mittelbauer in den Kollektivbetrieben gestimmt. Er unterscheidet sich von den Ärmeren dadurch, daß er erstens eine Kuh und auch vielleicht Kleinvieh für sich behalten konnte; zweitens dadurch, daß sein sogenannter "Beitrag" in den Kollektivbetrieb (an Zugvieh, an Inventar, aber auch an Geld) ihm eine bestimmte Sicherheit und, wie er meint, gewisse Rechtsansprüche gewährt. Er "darf mitreden"; er versucht es auch: er will seine wirtschaftliche Erfahrung in Kritik und in positiven Ratschlägen auswerten. Das gelingt ihm aber nicht: er wird von den Kommunisten und von den ärmeren Bauern als klassenfremder und seiner ganzen Mentalität nach gefährlicher Kerl bezeichnet und bei Seite geschoben.185) Er hat noch zuviel Privatbesitz, um mitreden und mitverwalten zu dürfen. Wenn er schon beim Eintritt entschlossen war, die Überreste seines privaten Vermögens zu schonen und zu pflegen, die Angelegenheiten des Kollektivbetriebes aber für sich auszunützen, ohne sie gewissenhaft zu fördern, so sieht er sich jetzt noch dazu kaltgestellt und fühlt sich gekränkt.
Den Bauern der Kollektivbetriebe liegt "das Kollektive" überhaupt gar nicht am Herzen. "Selbstversorgung" bleibt ihre Hauptaufgabe.186) Sie bleiben insgesamt "kleine Eigentümer" und tragen sich mit entsprechenden Sorgen herum.187) Wenn sie für sich arbeiten, so arbeiten sie gut, — viel besser, als wenn sie eine kollektive Arbeit besorgen; sparen und anhäufen wollen sie nur für die eigene Wirtschaft, — "im individuellen Sektor" des Betriebes.188) Aber auch hier tun sie es mit Vorsicht: der Mittelbauer im Kollektivbetriebe darf für sich nicht zu viel behalten, alles "Überflüssige" (z. B. eine zweite Kuh, ein Pflug) wird sofort kollektiviert. Deswegen sieht er sich wirtschaftlich gehemmt; der gesunde Aufbau seiner Wirtschaft hört auf,188) und er sehnt sich zurück in die privatwirtschaftliche Freiheit.
Daraus ist schon zu ersehen, daß das ganze Leben der Kollektivbetriebe voll innerer Schwierigkeiten und Reibungen bleibt. Schon die Organisationsfragen allein sind nicht leicht zu erledigen.
185) Russisch: "satirajut", "otodwigajut ot raboty". Prawda. 1930. 19. Mai; 21. Mai: besonders 12. Juli.
18e) Russisch: "samosnabshenije". Prawda. 1930. 7. Mai.
187) Prawda. 1930. 7. Mai; 9. Mai usw.
188) Prawda. 1930. 9. Mai.
186) Russisch: "perestajut obsawoditsa". Prawda. 1930. 8. Mai.
258
Die drei Hauptformen
Die Kommunisten unterscheiden 5 Hauptformen der Kollektivierung. Die einfachste und leichteste Form ist die "Genossenschaft zur gemeinsamen Bodenbearbeitung" ("Tos"). In dieser Form bleibt das gesamte Vermögen im Privatbesitz der Bauern; es wird nur ein Vertrag über die gemeinsame Bodenbestellung abgeschlossen; die Raine bleiben bestehen; einen unteilbaren Fond" gibt es auch nicht: kollektiviert wird nur der Ackerbau. Die radikalste Form ist die "Kommune", die eine vollständige Kollektivierung "aller Wirtschaftszweige, des Verbrauchs und der Lebensweise" durchführt, -— oder, wie die Bauern das ausdrücken: in der Kommune "gibt es keine eigene Kost",190) da "schlafen alle unter einer Bettdecke". Die am meisten verbreitete und auch ziemlich radikale Form191) ist das "Landwirtschaftliche Artel":192) "die Raine werden vernichtet und sämtliche Felder" werden in ein "einheitliches Landmassiv verschmolzen"; "vergesellschaftet" werden — sämtliches Arbeitsvieh, Zucht- und Produktionsvieh, Inventar, Saatvorräte, Futtermittel, alle notwendigen Wirtschaftsbauten. . . . Darüber hinaus gibt es noch einen ziemlich hohen Eintrittsbeitrag und einen "unteilbaren Fonds", dem noch 25—50 Prozent des Wertes des jeweiligen kollektivierten Einzelvermögens beim Eintritt "zugeschrieben" werden. Nur der restliche Teil des Einzelvermögens wird als "Geschäftsanteil" (Paj) des betreffenden Mitglieds gebucht. Nach Ablauf des Wirtschaftsjahres deckt das Artel "aus den sich ergebenden Einkünften" — alle Unkosten und alle Auslagen zum Unterhalt der Arbeitsunfähigen; es macht die Abschreibungen in den unteilbaren Fonds (10-30 Prozent) und in die "anderen Fonds" (5-15 Prozent) und deckt die Verrechnungen zur Bezahlung der Arbeit. Außerdem müssen etwa 25-30 Prozent "des Bruttobetrages der durchschnittlich berechneten Ernte" — dem Staate zu festen Preisen ausgeliefert werden.193) Diese Quoten werden übrigens als ein Minimum angegeben; es gibt schon Gebiete, wo die Kollektivbetriebe 33 und 35 Prozent ihrer Bruttoeinnahme hergeben müssen (Ukraine, Nord-Kaukasus) und wo der Staatsapparat auf Abnahme weiterer "Überschüsse" reflektiert. Diese "Reflexionen" hatten Erfolg: Anfang November 1930 meldeten die Sowjetzeitungen von Kollektivbetrieben, die ihre Quote "zu 200 Prozent und mehr" erfüllt hätten.... 183a)
190) Prawda 14.05.1930
191) In Wirklichkeit ist der Unterschied zwischen Artel und Kommune kaum faßbar. So wird einfach festgestellt, daß die Artels oft den Kommunen sehr ähnlich sehen. Prawda. 1930. 21. Mai.
192) Siehe "Musterstatut" im Separatabdruck; oder auch das oben genannte "Handbuch".
193) Prawda. 1930. 23. Juni. Erlasse vom 13. April und 13. Mai 1930. Siehe Musterstatut des Artels.
259
Im übrigen wird das Artel von einem Verwaltungsorgan geleitet, welches in einer "allgemeinen Versammlung" "gewählt" wird. Die Hauptaufgaben des Artels sind — "Erweiterung der Saatfläche" und Hebung der Produktion. Kein Artelmitglied darf die ihm auferlegte Arbeit verweigern. Verletzungen der Disziplin werden bestraft.
Daß die Mitglieder des Artels auf ihren Geschäftsanteil nicht viel zu bekommen haben werden, ist ohne weiteres klar, besonders wenn man die niedrigen Staatspreise und die großen "Abschreibungen" in Betracht zieht. Die Versorgung der Artelmitglieder bleibt auch deswegen grundsätzlich problematisch, weil nur die alles sozialisierenden Kommunen die Versorgungspflicht wirklich übernehmen dürfen: "tatsächlich" aber können die Artels ihren Mitgliedern "schon von diesem Herbst an ein Existenzminimum nicht zusichern, das wäre eine vollständig unlösbare Aufgabe".194)...
Die inneren Schwierigkeiten
Nun hat sich schon ergeben, daß die Organisation und die Verwaltung der Artels auf einem sehr niedrigen Niveau stehen. Sie wurden ja, wie Volkskommissar Jakowlew offen feststellt, ohne jegliche "materielle und organisatorische Vorarbeit geschaffen".195) Dementsprechend steht es mit der Organisation der Kollektivbetriebe "schwach", "primitiv".186) Eine wirtschaftliche "Basis" fehlt.197) Von oben kommt ein Strom von "Richtlinien" und "Beschlüssen" auf 40-70 Seiten.198) Alles muß "durchgesprochen" werden. Die Statuten werden in Versammlungen besprochen: von 8 Uhr morgens bis 12 Uhr nachts, 3 Tage hintereinander, 114 Redner.199) ... Ein neuer "landwirtschaftlicher Bürokratismus" wuchert überall; die Anzahl der in der Verwaltung angestellten Genossen steigt in die Höhe.199a) Der Agrarbürokrat ist eine Erscheinung für sich: "in Schmierstiefeln, im russischen Hemd, unwissend, kaum schriftkundig, stumpfsinnig"200) sucht er alles aufs Papier zu bringen. Die städtischen Sowjetbürokraten nachahmend, stellt er Fragebogen aus: über das "Menü" im Kollektivbetrieb, über das Vorhandensein von Wannenbädern, über den Gebrauch von Zahnstochern201) (sic!) usw. ...
193a) Siehe Mikojans Rede. Prawda. 1930. 29. Juli: ganz besonders Ekonom. Shisnj. 1930. 5. November.
194) Taiz. Prawda. 1930. 21. Mai.
195) Siehe Jakowlews Bericht. Prawda. 1930. 19. Mai.
196) Prawda. 1930. 6. Mai; 21. Mai; 30. Mai; 2. Oktober.
197) Prawda. 1930. 8. Mai.
198) Prawda, 24.05.1930, Aufsatz von Gan. "Die Kollektivbetriebe ertrinken gänzlich in einem Meer von Papier-Verwaltung Prawda, 1930, 23.07.;
vgl. "Sozialistitscheskoje Semledelije". 14.10.1930
199) Prawda. 1930. 20. Juni. 188 a) Prawda. 1930. 10. Juli.
200) Schilderung eines maßgebenden Kommunisten, Kolzoll. Prawda. 1930. 18. Juni.
260
Die Kollektivbetriebe sind schlecht mit Inventar und besonders mit landwirtschaftlichen Maschinen versorgt. Oft wurde nur das vorhandene Inventar der Bauernwirtschaften zusammengetragen.202) Der Maschinenvorrat des Staates bleibt meistenteils in den Staatsdepots liegen;203) was zugestellt wird, ist von sehr schlechter und zwar immer fallender Qualität.204) Auch ist die Behandlung der Maschinen in den Kollektivbetrieben äußerst ungeschickt: es ist nicht leicht festzustellen, ob es aus Unwissenheit oder absichtlich geschieht, aber die Beschädigung und die Abnutzung der Maschinen gibt ein trauriges Bild ab.205)
Im ganzen herrscht eine vollständige Unwirtschaftlichkeit in den Betrieben. Die Verwaltung genießt keine Autorität; die Bauern üben eine scharfe und gerechte Kritik in den Versammlungen, und alles geht schief.206) Arbeitsdisziplin gibt es überhaupt nicht: oft wird die Arbeit gar nicht ausgeführt, weil die Bauern nicht erschienen sind.207) Es gibt Fälle, wo 70 Prozent der Bauern gar nicht erscheinen;208) meist erscheinen sie mit einer Verspätung um eine Stunde, zwei Stunden; oder nur gegen Mittagszeit.209) Sie haben überhaupt "kein Interesse" für die Arbeit.210) Wenn sie arbeiten, so arbeiten sie schlecht, schonen das kollektivierte Vieh nicht211) und wollen das gar nicht verhehlen: "jetzt sind wir ja die Herrschaften, wozu werden wir uns zwingen?",212) oder noch: "Was? Wir werden noch für diese Menschen arbeiten?!", "für die neuen Herrschaften!"213) ...
Dementsprechend werden im Lager der Kommunisten die Forderungen immer lauter — eine straffe Arbeitsdisziplin in den Kollektivbetrieben nach dem Muster der industriellen Betriebe zu schaffen.214)
201) Ebendaselbst.
202) Jakowlews Bericht. Prawda. 1930. 19. Mai.
203) "Sozialistitscheskoje Semledelije". 1930. 22. April.
204) Vgl. Prawda. 1930. 19. April; 21. April; 20. Mai; 16. Juli. "Sozial. Semledelije". 1930. 9. April; 12. April; 22. April.
205) "Sozial. Semledelije". 1930. 12. April; Prawda. 1930. 30. Mai. 1. Oktober. Trud. 1930. 20. Juni.
206) Prawda. 1930. 12. Mai; 28. Mai.
207) Prawda 21.05.1930, Vgl. ganz besonders Saslawskys Schilderung in der Prawda 1.10.1930: es wäre "gang und gäbe", daß der kollektivierte Bauer die Anweisung zur Arbeit ruhig entgegennimmt und zu erscheinen verspricht, den nächsten Morgen aber "sehr ruhig" zum Markt fährt oder "seine eigenen Angelegenheiten besorgt", "ohne jemandem" ein Wort gesagt zu haben..."
208) Prawda. 1930. 25. Mai; 8. Juli.
209) Prawda. 1930. 25. Mai; 30. Mai.
210) Prawda. 1930. 6. Mai.
211) Prawda. 1930. 7. Mai.
212) Prawda. 1930. 29. Mai.
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Das Lohnproblem
Die kollektivierten Bauern sind übrigens darin einig, daß sie den "sozialisierten Sektor" der Betriebe weder bedienen, noch pflegen wollen: jeder will etwas für sich gewinnen; keiner ist geneigt, sich übervorteilen zu lassen. Für den "Unteilbaren Fonds" sorgen nur die Kommunisten; die Bauern wollen von ihm wenig wissen.215) Uneinig werden die kollektivierten Bauern dann, wenn es gilt, den Arbeitslohn auszuzahlen, das Futter für die nicht-sozialisierten Kühe zu verteilen, die geleistete Arbeit zu berechnen, den Rest der Ernte nach der geleisteten Arbeit oder nach der Zahl der Familienmitglieder aufzuteilen.
Dann treten die sozialen Differenzen hervor: denn es ist selbstverständlich, daß der reichere Mittelbauer seinen "Geschäftsanteil" zur Geltung bringen will;215a) der ärmere dagegen — die geleistete Arbeit; der Familienvater mit vielen Kindern — die tatsächliche Zahl der zu versorgenden Menschen;215b) wer alte und kranke Eltern hat — besteht auf der Versorgung der Arbeitslosen usw. usw.216) Die sozialen Differenzen zeitigen oft einen harten Klassenkampf innerhalb der Betriebe. Sie treten aber sofort zurück, wenn es gilt, die eigenen Bedürfnisse der Mitglieder des Kollektivbetriebs höher zu veranschlagen und dem Staate für seine festen Preise so wenig wie nur möglich zu liefern.
Dieser Prozeß der sozialen Differenzierung ist weder in den Kollektivbetrieben, noch unter den freien Bauern abgeschlossen. Im Gegenteil: einerseits geht er weiter von selbst, andererseits wird er von den Kommunisten weitergetrieben.
213) Prawda. 1930. 25. Mai; 16. Juli.
214) Ekonom. Shisn. 1929. 6. und 12. Dezember. Prawda. 1930. 9. Mai.
215) Prawda. 1930. 10. Juli; Sozialistitschkoje Semledelije. 1930. 9. Oktober, Aufsatz von Gey.
215a) Vgl. Prawda. 1930. 10. Juli.
215b) Bei den Kommunisten wird dieses Prinzip der Verteilung "pro Kopf" oder "nach der Anzahl der Esser" ("jedök", "jedozkoje raspredelenije") als das "Kulaken-Prinzip" bezeichnet. Siehe z. B. "Sozialistitscheskoje Semledelije". 1930. 12. November.
216) Siehe darüber Prawda. 1930. 9. Mai; 25. Mai; 27. Mai; 18. Juni; 23. Juni; 27. Juli; 2. Oktober usw. Siehe auch "Ekonomitscheskaja Shisnj". 1930. 3. August; "Sozialistitscheskoje Semledelije". 1930. 9. Oktober.
262
Der Herbst 1930 hat nämlich den Bauern eine neue Welle von Besteuerung, Enteignung und Kollektivierung gebracht, die nicht so brausend wie im Jahre 1929 dahinrollt, aber grundsätzlich demselben Ziele zustrebt und dieselben Wege läuft. Dem neuen Angriff liegen wieder genau ausgearbeitete Pläne und "kategorisch" betonte Verordnungen zu Grunde, — wo, wieviele Bauernhöfe und zu welchem Termin kollektiviert werden müssen.217)
Man liest z, B. von Partei-Konferenz-Beschlüssen, denen zufolge in einer schwach kollektivierten Gegend mindestens 30 Prozent Bauernwirtschaften im Laufe des Herbstes und des Winters kollektiviert werden müssen.218) Es gibt auch Gebiete, wo die neue Kollektivierung nach Monaten genau verteilt ist, z.B. im Gebiete der Unteren Wolga müssen zum 1. Dezember 70 Prozent Bauernhöfe kollektiviert werden, zum 1. Januar — 85 Prozent, zum Beginn der Frühlingssaat — 100 Prozent210) usw. Es heißt: "die Hauptaufgabe der Parteiorganisationen" bestehe jetzt darin — "den neuen Aufschwung der Kollektivierung zu organisieren und zu leiten".220) ...
Dabei wird von vornherein erklärt, daß jedes Zurückbleiben hinter der vorgeschriebenen Norm auf eine "rechts-opportunistische Stimmung" der betreffenden Parteimitglieder zurückgeführt werden wird,222) was schon an sich eine Parteistrafe in Aussicht stellt. Es werden aus Kommunisten "Bauern-Initiativ-gruppen" geschaffen, die herumfahren und neue Kollektivbetriebe gründen.223) Oft werden folgende Erklärungen abgegeben: "der Kollektivierungsplan kann nicht durchgeführt werden, wenn nicht auf den Mittelbauern ein entsprechender administrativer Druck' ausgeübt werden wird"224) ...; oder noch: "der Staat organisiert Kollektivbetriebe, um womöglich mehr Getreide bereitzustellen; das ist die Hauptaufgabe; das Leben der kollektivierten Bauern zu verbessern — ist Nebensache."225) ...
Der neue Feldzug hat mit einem Vormarsch auf der ganzen Linie begonnen und die erwünschten Nachrichten treffen schon ein.
217) Russisch "kategoritscheskij charakter", "gde i skolko dolshno bytj kollektiwirowano". Prawda. 1930. 2. Oktober. Bericht aus dem Nord-Kaukasus.
218) In Wjasjma. Prawda. 1930. 5. Oktober.
219) Prawda. 1930. 4. Oktober. Aufsatz von Stawnew.
220) Prawda. 1930. 3. Oktober. Leitartikel.
222) Bericht aus dem Zentralgebiet der Schwarzerde. Prawda. 1930. 3. Oktober.
223) Z.B. Prawda. 1930. 5. Oktober.
224) Aufsatz von Bogatschoff. Prawda. 1930. 5. Oktober.
225) Aufsatz von Manu. Prawda. 1930. 3. Oktober.
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Parallel der Kollektivierung geht selbstverständlich die Besteuerung der angeblichen "Kulaken" vor sich. Alle "Getreide-TJeberschüsse" müssen ihm wieder genommen werden.226) Der heue Schlag muß hart sein; der Kulak und der wohlhabende Bauer müssen "gründlich enteignet" werden.227) Dem Mittelbauern braucht man nur 15 Prozent mehr, als im vorigen Jahr abzunehmen;228) aber die Ueberreste der wohlhabenden Bauern müssen zu Grunde gerichtet werden. Dementsprechend gibt es Gebiete, wo die Sätze der sogenannten "einheitlichen landwirtschaftlichen Steuer" u m 1100 Prozent im Vergleich zum vorigen Jahre gestiegen sin d.229) Man liest wieder in den Sowjetzeitungen, daß die "Selbstumlage" der Dorfgemeinde "auf ihre eigene Initiative", oder auch ohne ihre eigene Initiative durchgeführt werden darf.230) Die Zeitungen bringen immerfort Mahnungen — nach "versteckten Steuer^ objekten" bei den Bauern "energisch" zu suchen und sie hervorzuholen;231) die Bauern und die Kollektivbetriebe zu einem unverzüglichen Ausdreschen des Getreides zu veranlassen232) usw. Die Bauern, die "sich zu drücken" versuchen und ihr Getreide nicht hergeben, werden, wie vor einem Jahre, aus ihren Häusern geworfen unter Konfiskation des gesamten Vermögens.233) ...
Und doch geht die Enteignung nicht so, wie vor einem Jahre. Die kommunistischen Beamten auf dem Lande scheinen nach der enttäuschenden Umschwenkung des Parteizentrums im März — ihre Zuversicht und ihre Stoßkraft verloren zu haben. Auf Schritt und Tritt findet man in den Sowjetzeitungen solche Mahnungen und Vorwürfe, die vor einem Jahre nicht möglich waren: Die Kollektivierung wäre schlaff geführt,234) unentschlossen und verzögert; die lokalen Sowjetbeamten lehnen die . Getreide-Bereitstellungspläne des Zentrums ab, als "zu hoch veranschlagt";235) die Kommunisten "hätten Angst", den Kulaken hohe und harte Quoten aufzuerlegen238) usw.
226) "Sozialistitscheskoje Semledelije". 1930. 10. Oktober.
227) Russisch: "ussilenije udara", "krepkoje obiranije". Sozial. Semledelije. 1930. 2. Oktober.
228) Ekonomitscheskaja Shisn. 1930. 10. August.
229) Ekonom. Shisn. 1930. 10. August. 23°) Ekonom. Shisn. 1930. 21. August.
231) Z.B. Ekonom. Shisn. 1930. 10. August; 22. August usw.
232) Vgl. Ekonom. Shisn. 1930. 3. August; 4. August; 23. August; 17. September.
233) Z.B. Bericht aus Odessa. Ekonom. Shisn. 1930. 3. September.
234) Aufsatz von Berkowitsch. Sozial. Semledelije. 1930. 5. Okt.
235) Soz. Semledelije. 1930. 30. Oktober. Aufsatz von Narano-witsch; auch 6. November.
236) Soz. Semledelije. 1930. 24. Oktober.
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Noch mehr: es wird gemeldet, daß die Kommunisten in den Kollektivbetrieben "sich selbst zu versorgen trachten" und den Bauern gestatten, die kollektive Ernte auf freiem Markte für hohe Preise zu verkaufen.237) Dementsprechend wuchert die Getreide-Spekulation auf freiem Markte: die Kulaken kaufen ins Geheime das Getreide den Kollektivbetrieben ab;238) die Dorfsowjets helfen ihnen in diesem "illegalen" Treiben;238) das ganze Gebiet der Unteren Wolga treibt eine riesige Getreide-Spekulation und des nachts hört man überall "schwarze Getreidefuhren" (also illegale) dahinrasseln.240) ...
Schließlich berichtet ein hoher Beamter des landwirtschaftlichen Kommissariates, daß "einzelne Kommunisten aufs engste mit dem Kulakentum verwachsen wären"241) und daß daraus bestimmt nichts gutes entstehen könne.
Demzufolge müßte man voraussetzen, daß auf dem Lande nicht nur neue Differenzierungsprozesse vor sich gehen, sondern auch neue Integrierungsprozesse angebahnt werden. Die Bauern — die "freien", die "kollektivierten" und die "kommunistisch" eingestellten — bleiben nämlich insgesamt Bauern und werden, früh oder spät, nach kürzeren oder längeren Kämpfen und Leiden, sich finden und abfinden.
Auch werden die Kommunisten kaum recht haben, wenn sie die kollektivierte Bauernschaft für ihre eigentliche und sichere Stütze auf dem Lande halten werden.242) Die Bauern der Kollektivbetriebe bleiben vor allem Bauern und werden immer ihre Bauernmentalität behalten. Es mögen noch Jahre verstreichen; sie mögen sich alle aus verschiedenen Rücksichten in die Kommunistische Partei eintragen lassen,243) — zu Proletariern werden sie doch nicht244) und dem Kommunismus werden sie auch nicht huldigen.
Mit der Enteignung und Kollektivierung werden sie sich nie aussöhnen; nie werden sie auch die "ungeheure Menge des individuellen Leidens", die ihnen durch die Enteignung und Kollektivierung zugefügt wurde, vergessen;245) und werden immer auf die neue Losung "freie Wirtschaft auf eigenem Boden" hoffen und lauschen.
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237) Soz. Semledelije. 1930. 23. Oktober. Aufsatz von Sorkiu. Ekon. Shisn. 1930. 27. August.
238) Ekonom. Shisn. 1930. 24. August.
239) Ekon. Shisn. 1930. 27. August. Aus Cherson.
240) Ekon. Shisn. 1930. 27. August.
241) Jurkin. Soz. Semledelije. 1930. 6. November.
242) Jakowlew. Prawda. 1930. 19. Juni.
243) Prawda. 1930. 23. Juni.
244) Prawda. 1950. 25. Juni.
245) Kalinins authentischer Ausdruck. Prawda. 1950. 25. Juli.