10 Die Wohnungsfrage in Sowjetrußland
Von Dr. W. Höffding
Die Enteignung
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In dem gewaltigen Enteignungsexperiment, welches die letzten zwölf Jahre in der Geschichte Rußlands darstellen, nimmt das Kapitel Wohnungsfrage einen besonderen Platz ein, und zwar nicht nur wegen der Folgen, welche die "Nationalisierung" des gesamten Hausbesitzes von Anfang an für die Bevölkerung der russischen Städte hatte, sondern auch wegen der Lehren, die dieser Teil des Riesenexperiments für andere Länder hatte. Diese Lehren traten unter anderem deswegen besonders stark in Erscheinung, weil die kommunistischen Machthaber es hier mit einem Gebiet zu tun hatten, welches sich für die Enteignung — so schien es wenigstens auf den ersten Blick — besonders gut "eignete".
Die Häuser waren da, die Bewirtschaftung erschien verhältnismäßig einfach — jedenfalls viel einfacher als etwa die Betriebsführung einer Fabrik —, und die Erneuerung und Erweiterung des Hausfonds erschien damals noch als eine cura posterior. Man brauchte also nur den "kapitalistischen Ausbeuter", in diesem Fall den Hausbesitzer, zu entfernen und die Häuser für Eigentum des Staates oder der Gemeinde ("Munizipalisierung") zu erklären.
Für die neuen Machthaber lag außerdem noch ein besonderer, psychologisch-taktischer Anlaß vor, das große volksbeglückende Experiment von dieser Seite in Angriff zu nehmen: nirgends trat die "kapitalistische Ausbeutung" in den Augen der aufgewühlten Massen deutlicher in Erscheinung, als in dem immer "wiederkehrenden Muß" des an den Hausbesitzer zu zahlenden Mietzinses.
Dieser "Tribut" reizte die Masse bei ihrem primitiven Verstand weit mehr, als der noch theoretisch zu begründende, im Warenpreise steckende "Mehrwert".
Von den ersten Tagen des bolschewistischen Umsturzes an gingen die Kommunisten daran, "die Wohnungsfrage zu lösen". Diese Lösung sollte erstens darin bestehen, daß die Hausbesitzer ihres "Amtes" enthoben wurden, indem ihnen jedes Verfügungsrecht über ihren Besitz genommen wurde, und zweitens darin, daß nunmehr zu einer radikalen Umteilung der vorhandenen Wohnfläche geschritten wurde.
Die "Bourgeoisie" — ein Begriff, der sich als sehr dehnbar erwies — wurde auf die Straße gesetzt und mußte die Wohnungen oft innerhalb 24 Stunden räumen, wobei es als Selbstverständlichkeit galt, daß von den Wohnungseinrichtungen gar nichts und von den Kleidungsstücken nur ein Minimum mitgenommen werden durfte. Im günstigsten Falle wurde das Nutzungsrecht der "bourgeoisen" Wohnungsinhaber auf ein oder zwei Zimmer in ihrer eigenen Wohnung beschränkt.
In die auf diese Weise freigewordenen Wohnungen und Zimmer wurden die, die unmittelbare Gefolgschaft der Bolschewiken bildenden, deklassierten Elemente wie Matrosen und Soldaten, dann auch Arbeiter mit ihren Familien zwangseinquartiert. Was diese letzteren anbelangt, so wehrten sie sich bezeichnenderweise oft gegen die ihnen in dieser Form gewährte "Vergünstigung".
Denn in den meisten Fällen entsprach es weder den Interessen, noch den Wünschen der betreffenden Arbeiterfamilie, ihre noch so bescheidene, aber für sie bequeme 1- oder 2-Zimmerwohnung gegen eine theoretisch nach Quadratmetern berechnete Fläche in der Ecke einer Prachtdiele der Villa eines früheren Fabrikinhabers oder Bankdirektors zu tauschen.
detopia-2015: Dieser Aspekt wurde im Film <Dr. Schiwago> dargestellt.
Die Arbeiter hegten zudem noch Zweifel an der Dauerhaftigkeit des bolschewistischen Regimes.
Am 20. August 1918 erließ die Sowjetregierung ein Dekret über die restlose Aufhebung des Privateigentums an städtischem Grund- und Hausbesitz. Diesem Dekret folgten eine Reihe Verfügungen, durch die das Werk der kommunistischen Revolution auf diesem Gebiet "gekrönt" werden sollte, und welche die Mieter der nationalisierten Häuser von der Zahlung jeglicher Miete befreiten (Gesetzsammlung der Sowjetunion, derzeit U. R. S. F. S. R., 1920 Nr. 85, Art. 422 und 1921 Nr. 6, Art. 47).
So wurde also auf dem. ganzen Gebiete des ehemaligen Russischen Reiches seit Anfang des Jahres 1921 die Zahlung des Mietzinses überhaupt aufgehoben.
Der Zusammenbruch
Nach mehreren Jahren, in denen verantwortungslose Menschen in fremden Häusern eine Mißwirtschaft trieben und die kommunistische Bürokratie ihre Unfähigkeit an den Tag legte, zeigten sich die gefährlichen Seiten der nach völliger Enteignung der Hausbesitzer und nach Aufhebung der Mietzahlung geschaffenen Lage. Die verwaisten Häuser mußten irgendwie unterhalten, der Müll mußte abgeführt, die zerstörte Wasserleitung repariert werden usw.
Und nun kam es wie eine Erleuchtung über die Kommunisten, die von den Häusern Besitz ergriffen hatten: wie es in einem aus dem Jahre 1924 stammenden Kommentar zum Wohnungsgesetz hieß, "gab es bei der neugeschaffenen Lage eigentlich niemanden, der ein wirkliches Interesse an der dauernden Erhaltung der nationalisierten Häuser hatte".1
1) Siehe I. Koblenz, Das Wohnungsrecht (Verlag des Instituts für Sowjetrecht), Moskau 1924. S. 40. (Russ.) Sperrdruck vom Verfasser.
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Was aber den kommunistischen Kommentator besonders in Erstaunen versetzte, war die Tatsache, daß diese Interessen-losigkeit nicht nur für die enteignete Bourgeoisie, sondern auch für die angeblichen Nutznießer der neuen Ordnung — für das in die Wohnungen der Bourgeoisie einquartierte Proletariat — in gleichem Maße galt:
"In den bürgerlichen Bevölkerungsschichten hatte die Ueberzeugung feste Wurzel geschlagen, daß jede Wohnung zugunsten einer anderen Person oder einer Behörde fortgenommen werden würde, sobald man sie einmal instandgesetzt hätte. Daher fürchteten sich die zur früheren Bourgeoisie gehörenden Bewohner davor, irgendwelche Instandsetzungsarbeiten vorzunehmen. Andererseits wurden derartige Arbeiten von den neuen Bewohnern aus der Arbeiter- oder der Sowjetbeamtenklasse auch nicht unternommen, weil ihnen der Besitz der Wohnung nicht sicher genug erschien; sie ließen vielmehr die Wohnungen verwahrlosen, entwendeten Einrichtungsgegenstände usw."2
Die Folgen dieser Einstellung der Bewohner der zum "Volkseigentum" gewordenen Häuser, wie sie in dem kommunistischen Kommentar zur Wohnungsgesetzgebung geschildert wird, ließen naturgemäß nicht lange auf sich warten und äußerten sich, wie es in häufigen Klagen der zuständigen Sowjetorgane und der Sowjetpresse hieß, in einer Verwahrlosung der Häuser und einer"A ufzehrung des Baufond s", die "einer Zerstörung der Häuser gleichkam". Die weitere Folge dieser Zustände war eine Wohnungsnot in den russischen Städten, wie sie die Geschichte ihresgleichen nicht kennt. Die Zustände selbst und ihre Folgen wurden in der Sowjetpresse und Literatur ausgiebig und offen geschildert.
So wurden Anfang 1928 hierüber folgende Angaben veröffentlicht: "Die Abnutzung der Häuser geht ganz anormal schnell vor sich. Nach Angaben der Hauptverwaltung der Kommunalwirtschaft erreichte der Verfall des munizipalisierten Wohnungsfonds gegen Anfang des Jahres 1927 im Durchschnitt 35 Proz. (im Werte der Häuser ausgedrückt, der Verf.), in einzelnen Städten war dieser Prozentsatz aber noch bedeutend höher. So erreichte zum Beispiel in Leningrad, wo die diesbezüglichen Ermittlungen mit besonderer Sorgfalt durchgeführt wurden, die Abnutzung der munizipalisierten Häuser 59,4 Prozent, in Kostroma 39,8 Prozent, in Nowgorod 40,3 Prozent usw."3
Da dieser Verfall der enteigneten Häuser immer größere Ausmaße annahm und sich die Wohnungsnot — über die wir noch sprechen werden — von Jahr zu Jahr steigerte, sah sich der kommunistische Staat gezwungen, den Rückzug in doppelter Hinsicht anzutreten.
2) Daselbst, S. 42.
3) Siehe Koserenko, Wie bekämpft man die Raubwirtschaft im Wohnungswesen, Ekonomitscheskaja Shisn, 1928, Nr. 6 (russisch). Vgl. auch die Schilderung des gesamten Werdegangs in "Woprossy Truda". 1930. Nr. 5.
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Der "Rückzug"
Es wurden erstens die ganz kleinen Häuser (mit einer Wohnfläche von unter 125 Quadratmeter) den Eigentümern zurückgegeben, weil die Bewirtschaftung und Instandsetzung dieser Häuser für die Gemeinde, also den örtlichen Sowjet, unmöglich war (Dekret vom 28. Dezember 1921). Die Zahl dieser nunmehr entnationalisierten Häuser, die von Arbeitern, Handwerkern und anderen kleinen Leuten bewohnt wurden, war besonders groß in der Provinz. Gibt es doch hier Städte, die nach deutschen Begriffen eher Dörfer sind. Immerhin behielt der kommunistische Staat, wie wir noch sehen werden, über die Hälfte der gesamten städtischen Wohnfläche in seinen Händen.
Zweitens, äußerte sich dieser Rückzug darin, daß die Zahlung des Mietzinses wieder eingeführt wurde, um Mittel für die Instandsetzung der verfallenen Häuser zu beschaffen.
Gleichzeitig mußte die Sowjetregierung einsehen, daß der Staat nicht imstande ist, die nationalisierten Häuser unmittelbar durch die sogenannten "Kommunalwirtschaftlichen Abteilungen" der städtischen Sowjets zu bewirtschaften; es wurde vielmehr aus den Bewohnern eines jeden Hauses eine Art Zwangspachtgenossenschaft gebildet, die für die ordnungsmäßige Bewirtschaftung der Häuser und die Eintreibung der Mieten verantwortlich gemacht wurde.
Der Klassenmietzins
Der wieder eingeführte Mietzins war aber nicht für alle Gruppen der Bevölkerung gleich, sondern es war ein "K lassenmietzin s", der sich nach der sozialen Schicht der Bewohner abstufte. Er wurde am niedrigsten gehalten für die neuen privilegierten Schichten der Bevölkerung — Arbeiter und Mitglieder der Partei. Dann kamen die zahlreichen Sowjetbeamten und Angestellten, und schließlich mit den höchsten Sätzen — die "Parias" der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung: Handel- und Gewerbetreibende, Mitglieder der sogenannten freien Berufe usw. Ferner wurde innerhalb dieser Gruppen die Miete noch nach dem Einkommen der betreffenden Personen gestaffelt.
Von ganz besonderem Interesse — vom praktischen wie vom allgemeinen Standpunkte aus — waren die Auswirkungen dieser neu eingeführten "Klassenmiete", die sehr bald in Erscheinung traten. Es stellte sich nämlich sehr bald heraus, wie die Sowjetpresse mit Erstaunen feststellte, daß es gerade die Arbeiter, also — in der Theorie die Nutznießer des gegenwärtigen Regimes — waren, die unter dieser Neuordnung am meisten zu leiden hatten.
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Um dieses zu begreifen, muß man berücksichtigen, daß bei der "klassenmäßigen" Berechnung des Mietzinses die Rentabilität eines jeden Hauses, für die nunmehr die Pachtgenossenschaften und Hausverwaltungen wohl oder übel Sorge tragen mußten, davon abhing, in welchem Verhältnis die einzelnen ___ verschieden zahlenden — sozialen Gruppen unter den Bewohnern desselben vertreten waren. Bestanden die Bewohner des Hauses aus einer mehr oder weniger "gleichmäßigen Mischung" von wenigzahlenden Proletariern mit anderen höherzahlenden Elementen, so konnte die Rentabilität des Hauses oder wenigstens die Deckung der laufenden Ausgaben einigermaßen sichergestellt werden.
Dieses aber war ausgeschlossen, oder wenigstens sehr fraglich, sobald das Haus vorwiegend oder ausschließlich von Proletariern mit niedrigen Mietsätzen bewohnt war. Da nun die Hausverwaltungen, auch wenn sie ausschließlich aus Kommunisten bestanden, für die Deckung der Unkosten sorgen mußten und hierfür verantwortlich gemacht wurden, so mußten sie sich schließlich gegen das Einziehen allzu vieler Proletarier wehren. Die unausbleibliche, aber von den Kommunisten unbeabsichtigte und in ihrer Wirkung völlig unerwartete Folge dieser Verhältnisse war, daß die im Prinzip bevorzugten Proletarier nach und nach in die schlechteren Häuser verdrängt wurden. Dies aber erst in den allerletzten Jahren.
Und so kam es, daß es der Zentralverband der kommunistischen Gewerkschaften war, der in diesem Falle ausnahmsweise die Ansichten und Gefühle der breiten Arbeitermassen gegen den kommunistischen Doktrinarismus wiederspiegelte, und gegen das Klassenprivileg einer niedrigeren Miete, die den Interessen der Arbeiter nachteilig wurde, Protest erhob. In einem Gutachten (vom März 1928) wies der Hauptausschuß der Gewerkschaften darauf hin, daß das gegenwärtige System zu einer ungleichmäßigen Rentabilität der einzelnen Häuser und zu einer schlechteren Instandhaltung gerade derjenigen Gebäude führt, die durch schlechter bezahlte Arbeiter bewohnt werden. »Außerdem" — heißt es weiter wörtlich in diesem Gutachten — "schützt das gegenwärtige System die Arbeiter sehr unzureichend dagegen, daß sie in die schlechteren Häuser verdrängt werden, weil die Hausverwaltungen unter den verschiedensten Vorwänden versuchen, diese unvorteilhaften Mieter loszuwerden. Das System der Mieterhebung muß so geregelt werden, daß alle Mieter eine Miete zahlen, die für die Deckung der laufenden Ausgaben und für die Amortisation der Häuser ausreicht."4
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So kommen die russischen Arbeiter, durch die kommunistischen Experimente eines besseren belehrt, dazu, daß sie recht "kapitalistisch" klingenden Grundsätzen zu huldigen anfangen und selbst um die Beseitigung ihrer "privilegierten" Stellung ersuchen.
Übrigens reichte die neue "klassenmäßige" Miete auch in ihrer Gesamtheit nicht aus, um die laufenden Verwaltungs- und Instandsetzungskosten zu decken, und der Verfall der Häuser nahm seinen weiteren Gang. "Die Mieteinnahmen reichen bekanntlich nicht aus, um die laufenden Unkosten zu decken. Nach den Ermittlungen der Hauptverwaltung der Kommunalwirtschaft wird von diesen, auch nach der im Jahre 1926 vorgenommenen Erhöhung, nur etwa die Hälfte des erforderlichen Betrages aufgebracht."5) Der Verfasser des eben angeführten Aufsatzes kommt daher zu dem Schluß, daß kein Grund besteht anzunehmen, daß die Frage der "Aufzehrung" des Wohnungsfonds aus der Welt geschafft ist.
Die Wohnfläche
Wie gestalten sich nun unter dem Einfluß dieser Faktoren die Wohnungsverhältnisse der russischen Städte? Eine am 17. Dezember 1926 vorgenommene Wohnungszählung, die sich auf das gesamte Gebiet der Sowjetunion erstreckte, gibt hierüber interessante Aufschlüsse.6)
Die Wohnungsgesetzgebung und Praxis in Sowjetrußland betrachten 8 Quadratmeter Wohnfläche pro Kopf als dasjenige "sanitäre" Minimum, welches der Bevölkerung der Städte auf alle Fälle garantiert werden sollte. Die Zahlen der letzten Wohnungsaufnahme zeigen, daß diese Norm für die Gegenwart und wohl auch für die absehbare Zukunft als unerreichbares Ideal anzusehen ist.
Es wurden im ganzen in den Städten der Sowjetunion 2 881 931 Wohngebäude mit einer Gesamtfläche von 18? 770 100 Quadratmeter gezählt, wovon die bewohnte Fläche 153 839 300 Quadratmeter ausmachte. Von der gesamten städtischen Bevölkerung von. 26 310 084 Menschen, die von der Zählung in
4) "Der WZSPS (Zentralausschuß der Gewerkschaften) über die Wohnungsmiete", Trud vom 23. März 1928 (russisch).
5) Koserenko, Die nächsten Aufgaben auf dem Gebiete des Wohnungswesens, Ekonomitscheskaja Shisn vom 18. Januar 1928 (russ.).
6) Für eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der Wohnungszählung von 1926 s. A. Gibschmann, "Der Wohnungsfonds und die Wohnungsverhältnisse unserer Städte", in Statistitscheskoje Obosrenije (Statistische Rundschau). Moskau. Juli 1928, S. 76—84 sowie L. Wigodskij, "Die Wohnungsfrage im Spiegel der Wohnungszählung von 1926" in Ekonomitscheskoje Obosrenije (Wirtschaftliche Rundschau), Moskau, September 1928, S. 134—147 (beides in russischer Sprache).
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den 1920 Städten der Sowjetunion erfaßt wurden, wohnten 119 652 Personen in Räumen, die für das Wohnen nicht bestimmt oder nicht dazu geeignet waren (Fabriken, Lagerhäuser usw.); vom übrigen Teil der städtischen Bevölkerung wohnten 24 488 631 in gewöhnlichen Wohnungen und 1701615 in Gemeinschaftswohnungen.
Die auf eine Person entfallende Wohnfläche betrug im Durchschnitt für ganz Rußland nach der Zählung vom Jahre 1926 — 5,9 Quadratmeter, also etwa drei Viertel der von der Sowjetregierung als Minimalnorm angesehenen Fläche von 8 Quadratmetern. Dieser Durchschnitt war nur in denjenigen Städten höher, die infolge des bolschewistischen Umsturzes einen bedeutenden Teil ihrer Bevölkerung verloren hatten, und in denen das Wirtschaftsleben im allgemeinen zum Stillstand gekommen war. Zu dieser Gruppe gehörten St. Petersburg-Leningrad (die frühere Reichshauptstadt!) mit einem Durchschnitt von 8,7 Quadratmetern, Kiew (ehemals blühendes Handelszentrum) mit 7,1 Quadratmetern und Odessa (früher belebte Hafenstadt) mit 7,4 Quadratmetern. Auf der anderen Seite war die Wohnungsnot am schlimmsten in den Verwaltungszentren (Moskau und Charkow), die von der neuen Sowjetbürokratie überflutet wurden. Sehr schlecht schneiden auch die mittleren Industriestädte ab, wie Iwanowo-Wos-nesensk, Sormowo und a. m., wo die Fläche etwa 4 Quadratmeter pro Person, also die Hälfte der vorgeschriebenen Norm, beträgt.
Es ist überhaupt für die gegenwärtigen sowjetrussischen Zustände auf dem Gebiete des Wohnungswesens bezeichnend, daß man bei der Berechnung der Wohnungsnot und bei der Erörterung der Maßnahmen, die Abhilfe schaffen sollen, nicht etwa mit Zahlen von Wohnungen und Zimmern, wie in anderen Ländern, operiert, sondern vorwiegend mit Quadratmetern. — Hat doch der Sowjetbürger auch in den Verordnungen und in der täglichen Praxis der Behörden ein — wenn auch nur theoretisches — Anrecht nicht auf eine Wohnung oder ein Zimmer, sondern eben auf eine nach Quadratmetern bemessene Fläche.
Legt man aber den auch in Deutschland üblichen Maßstab für die Bemessung der Wohnungsnot an, — nämlich die Anzahl der auf eine Wohnung entfall en den Familien —, so erhält man erst eine richtige Vorstellung von der Wohnungsnot in den russischen Städten, die das Ergebnis der konsequenten Durchführung der kommunistischen Theorien auf dem Gebiete des Wohnungswesens darstellt.
Man spricht in Deutschland — und zwar mit Recht — von einer schweren Wohnungsnot, wobei nach den Angaben der letzten Wohnungsaufnahme im Deutschen Reich auf 100 ver-
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fügbare Wohnungen im Durchschnitt 108 Familien entfielen.7) Das bedeutet mit anderen Worten, daß auf 100 Familien, die im Besitze einer eigenen Wohnung waren, 8 Familien kamen, die sich mit einer Unterkunft in einer fremden Wohnung zufrieden geben mußten. Will man aber diese Zustände mit den in Rußland herrschenden vergleichen, so erfährt man, daß in Moskau auf 100 Wohnungen etwa 300 Familien kamen. In St. Petersburg waren es 250, in Charkow 200 usw. Im Durchschnitt entfielen für ganz Rußland auf 100 Wohnungen 168 Familien.
Legt man ferner einen anderen, in europäischen Ländern üblichen Maßstab an die Verhältnisse in Sowjetrußland an, nämlich die Zahl der auf ein Zimmer entfallenden Personen, so ergeben sich folgende Vergleichszahlen: England 0,94, Deutschland 1,2, Schweden 1,3, Tschechoslowakei 1,6, Sowjetrußland 2,0. Nur in einem europäischen Staate wurde diese letzte Zahl — wenn man der sowjetrussischen Quelle, der diese Angaben entnommen sind, Glauben schenken darf — überboten, und zwar in Polen mit 2,1 Personen pro Zimmer.8) Nimmt man aber die kleinen Wohnungen von 1 und 2 Zimmern allein, so behält auch hier der kommunistische Staat mit 4,1 und 2,4 Personen pro Zimmer die Führung gegenüber allen "kapitalistischen" Staaten Europas, Polen nicht ausgenommen.9)
Die gegenwärtigen Besitzer
Von Interesse ist ferner die Frage, wie sich nach dem im Jahre 1921 vollzogenen teilweisen Rückzuge der Sowjet-regierung in der Enteignung des städtischen Hausbesitzes die Zahl der Häuser und die Wohnfläche auf die einzelnen Gruppen des Besitzes — Staat, Genossenschaft und Private — verteilt. Hierüber geben die folgenden Zahlen Aufschluß:
Besitzer Zahl der Gebäude Bewohnte Fläche
in °/" der in 1000 Qua- in ><l" der
Gesamtzahl dratmetern Gesamtfläche
Staat 512 064 17,7 101118,9 53,8
Genossenschaften 11203 0,4 1511,9 0,8
Private 2 358 664 81,9 85139,5 45,4
Insgesamt 2 881931 100,0 187 770,1 100,0
Auf den ersten Blick dürften diese Zahlen überraschen, insofern als 81,9 Proz. oder etwas über vier Fünftel sämtlicher bewohnten Gebäude sich in Privatbesitz befinden. Dieses findet aber, wie früher bereits angedeutet, in der großen Zahl kleiner, von Arbeitern bewohnter, meist hölzerner
7) Siehe Wirtschaft und Statistik, 1927, Nr. 16.
8) Siehe R. Siefmann, "Die Wohnungsverhältnisse im Westen und bei uns", Statistitscheskoje Obosrenije (Statistische Rundschau), Moskau, 1927, Dezember, S. 88 (russisch).
9) Daselbst, S. 90.
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Häuschen in der russischen Provinz seine Erklärung. Betrachtet man dagegen die Verteilung der Wohnfläche, ergibt sich ein wesentlich anderes Bild. Hier befindet sich schon über die Hälfte der Gesamtfläche in den Händen des Staates. Und in den Großstädten erreicht der Anteil des Staates über drei Viertel der Gesamtfläche.
Welche Bewandtnis es mit den über zwei Millionen "Privathäusern" hat, geht schon daraus hervor, daß von diesen nicht weniger als 567 448 Gebäude "aus anderem Material als Ziegelsteinen und Holz erbaute Häuser" sind, mit anderen Worten — elendeLehmhütten. Wie es in einem der bereits erwähnten Berichte über die Wohnungszählung von 1926 heißt, "wurden nicht nur die größten, sondern auch die besten Häuser nationalisiert".10) Es waren somit nicht nur die kleineren, sondern auch die schlechteren Häuser, die in den Jahren 1921 bis 1923 wieder in die Hände der Besitzer zurückwanderten.
Diese Uebersicht wäre unvollständig, wenn man nicht einen weiteren Faktor der Wohnungsnot in den russischen Städten erwähnte, der gewissermaßen als Funktion der kommunistischen Staats- und Wirtschaftsordnung betrachtet werden muß. Es handelt sich darum, daß von der der unmittelbaren Verfügung des Sowjetstaates unterstehenden Wohnfläche ein für normale europäische Verhältnisse enormer Teil von den unzähligen und riesigen staatlichen Büros und Behörden belegt und infolgedessen Wohnzwecken entzogen wurde.
"Zur Zeit der Wohnungszählung von 1923" — so lesen wir in einem amtlichen Bericht — "bestand folgende Lage: in der Sowjetunion waren im Durchschnitt 33,8 Prozent der gesamten Wohnfläche von staatlichen Behörden beleg t." In Moskau waren von den Behörden 17 Prozent der Gesamtzahl der nationalisierten Häuser und 30 Prozent der Wohnfläche der allgemeinen Benutzung den Wohnzwecken entzogen. In einzelnen Provinzstädten stieg aber der Prozentsatz der für behördliche Zwecke benutzten, nationalisierten Häuser ins Uferlose. So betrug er in Woronesch 48,7 Prozent, in Orel 52,4 Prozent, in Wjatka 56,8 Prozent usw.
Der in den Jahren 1923 bis 1926 von der Sowjetregierung aus finanziellen Gründen vorgenommene Abbau der Behörden und deren Angestellten10"-) hat, was die Interessen der wohnungsbedürftigen Bevölkerung anbelangt, keine durchgreifende Aenderung gebracht.
10) Siehe Koserenko, "Was kann uns eine Verminderung des Verwaltungsapparates bringen?", Ekonomitscheskaja Shisn vom 22. Januar 1928 (russisch).
10a) Siehe den Aufsatz "Kommunismus als Beamtenherrschaft" im vorliegenden Sammelwerke.
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"Obwohl die Angaben der Wohnungszählungen von 1925 und 1926 mit denjenigen von 1923 schwer vergleichbar sind, so ergibt sich doch, daß auch nach dem vorgenommenen Abbau im Jahre 1926 mehr als ein Drittel des nationalisierten Wohnfonds von den Behörden belegt gehalten wird."11)
Wie der Arbeiter wohnt
Besser als diese trockenen statistischen Durchschnittszahlen, unterrichten uns die in der Sowjetpresse in Menge erscheinenden anschaulichen Schilderungen von Arbeiterwohnungen über die menschenunwürdigen Verhältnisse, in denen besonders die Arbeitermassen leben müssen. Eine seltene Ausnahme bilden die Musterwohnungen, die in erster Linie ausländischen Delegationen gezeigt werden.
So teilt zum Beispiel das Organ der kommunistischen Gewerkschaften "Trud" ("Die Arbeit") vom 19. Januar, mit, daß auf den Uralschen Fabriken in einer Arbeitersiedlung auf einem Flächenraum von 2 Quadrat-Sashenj (ca. 8 Quadratmeter) 17 bis 18 Arbeiter hausen! "Dieses Rätsel" — schreibt die Zeitung — "findet durch ein Drei-Schichten-System seine Lösung, d. h. ein und dasselbe Bett wird im Laufe von 24 Stunden von drei Arbeitern nacheinander zum Schlafen benutzt." Eine andere Schilderung findet sich in der gleichen Zeitung vom 20. Januar 1928. Es werden hier die grausigen Wohnungsverhältnisse auf der von der Sowjetregierung selbst neulich erbauten, großen Glasfabrik "Da-gestanskije Ogni" im nördlichen Kaukasus geschildert. Im Hinblick darauf, daß als Entschuldigung für derartige Zustände die Bolschewiken — besonders in der ausländischen Pressepropaganda — mit Vorliebe den Hinweis ins Feld führen, daß die miserablen Wohnungen das "Erbe" der kapitalistischen Industrie darstellen, sind die Bemerkungen, welche die kommunistische Zeitung an die Schilderung der Wohnungsverhältnisse auf dem eben erwähnten Glaswerk knüpft, von besonderem Interesse. "In solchen grauenerregenden, 'unmenschlichen Verhältnissen leben die Arbeiter des Werkes "Dagestanskije Ogni", — einer Fabrik, die nach den neuesten Forderungen der Technik erbaut sein soll."
Es darf daher nicht wundernehmen, wenn in dem aus dem Prozeß der deutschen Ingenieure bekannten Schachty-Kohlen-revier Südrußlands die Arbeiter die ihnen von der Regierung zugewiesene Wohnfläche mit einem düsteren Galgenhumor mit dem Worte "die Sargnorm" bezeichnen.12)
11) Daselbst.
12) Für weitere Schilderungen der Wohnungsverhältnisse russischer Arbeiter siehe W. Hoeffding, <Der russische Arbeiter unter der kommunistischen Herrschaft>. Berlin 1928 (in deutscher Sprache).
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Eine nicht weniger erschütternde Schilderung der Wohnungsverhältnisse auf einer in der Nähe Moskaus gelegenen Textilfabrik schließt neuerdings der Berichterstatter der Moskauer "Komsomolskaja Prawda" (vom 6. März 1929) mit der melancholisch klingenden Bemerkung: "Man kann kaum glauben, daß derartige Verhältnisse unter der proletarischen Diktatur und in einer Entfernung von 30 Kilometern von Moskau möglich sein könnten. . . . Unter solchen Verhältnissen muß der Arbeiter in seinem eigenen Staate leben."
Im Jahre 1930 bringt eine führende kommunistische Zeitschrift noch eine lehrreiche Zusammenstellung.1211) Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person, in Quadratmetern gerechnet, wird jetzt in den Städten für einzelne Bevölkerungsgruppen wie folgt angegeben:
Insgesamt in der Sowjetunion 5,86 qm Arbeiter 4,91 "
Angestellte 6,96 "
Unternehmer 5,46 "
sonstige Gruppen 6,86 "Daraus ist zu ersehen: erstens, daß seit der Zählung vom Jahre 1926 die allgemeine Durchschnittsnorm nicht gestiegen, sondern noch etwas zurückgegangen ist (damals 5,9 qm — jetzt 5,86 qm); zweitens, daß "die Arbeiterschaft in bezug auf den Wohnraum sehr viel schlechter gestellt ist als andere Gruppen der Bevölkerung" (4,91 qm); drittens, daß die kommunistische Bürokratie (Gruppe der Angestellten) sich die größte Wohnfläche zuzusichern verstanden hat (6,96 qm); viertens, daß es der am meisten sowjetamtlich mißhandelten Unternehmergruppe gelungen ist, sich auf privatwirtschaftlichem Wege eine größere Wohnfläche zu verschaffen, als die Wohnfläche der "privilegierten" Arbeiterklasse.
Was ist nun vom kommunistischen Staate in den letzten Jahren' unternommen worden, um gegen diese erschütternden Zustände Abhilfe zu schaffen?
Der Wohnungsbau
Es sind im Laufe der letzten Jahre von den Kommunalverwaltungen, vom Staat und von der nationalisierten Industrie hunderte von Millionen Rubel für Wohnungsneubauteu ausgegeben worden. Diese Neubauten haben aber kaum vermocht, eine weitere Verminderung der auf den Kopf der Bevölkerung entfallenden Wohnfläche zu verhüten, geschweige denn eine merkliche Besserung der Wohnverhältnisse herbeizuführen.
12a) "Woprossy Truda", 1930, Nr. 5.
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"Die Durchschnittsnorm der Wohnfläche pro Kopf der Bevölkerung" — heißt es in der letzten Fassung des berühmten <Fünfjahresplanes> — "ist im Laufe der letzten Jahre dauernd zurückgegangen, und erst im Jahre 1927/28 ist es gelungen, sie auf einem niedrigen Niveau zu stabilisieren. Obwohl die Umteilung der gesamten Wohnfläche in den Städten im Interesse der breiten Arbeitermassen die auf einen Arbeiter entfallende Fläche gehoben und sie dem Durchschnitt für die gesamte Bevölkerung nähergebracht hatte, so hat der nachdem eingetretene Rückgang auch die Arbeiter in Mitleidenschaft gezogen."13)
Es offenbart sich in dieser Feststellung eine der vom allgemeinen Standpunkte aus wichtigsten Lehren des gesamten russischen Enteignungsexperiments, nämlich, daß der Einzelne, als Mitglied einer größeren wirtschaftlichen Gemeinschaft, bei diesem Experiment immer viel mehr verliert, als er auf irgendwelchem Teilgebiet als unmittelbarer Nutznießer dieser Enteignung genießt oder auch nur scheinbar gewinnt. Um es in Bezug auf das uns hier beschäftigende Gebiet konkret nochmals auszudrücken: Was nützt es dem Arbeiter, wenn er infolge einer allgemeinen "revolutionären" Umteilung der gesamten Wohnfläche aus seiner Kleinwohnung in die — der Fläche nach — größere Diele der Prachtwohnung eines früheren Bankdirektors oder Fabrikbesitzers einquartiert wird, um dann infolge des allgemeinen Verfalls des wirtschaftlichen Lebens und des Stockens der Bautätigkeit sich bald in dieser Diele mit einer Ecke, mit den ihm zufallenden wenigen Quadratmetern zufrieden geben zu müssen?
Die Schwierigkeiten
Die Gründe, aus denen die zahlenmäßig bedeutenden Investierungen der Sowjetregierung in den Neubau von Wohnungen nicht im Stande waren, die Verschlechterung der Wohnverhältnisse aufzuhalten, sind: 1. die außerordentlich hohen Baukosten; 2. der Mangel an Baumaterialien; 3. die ständige, große Bevölkerungszunahme, der die Bautätigkeit in keiner Weise entspricht, und schließlich 4. die in der Sowjetpresse und insbesondere in den Berichten der Arbeiter- und Bauerninspektion (der höchsten Kontrollinstanz der Sowjetunion) oft betonte schlechte Qualität der verwendeten Materialien und der Ausführung selber, infolge derer die neugebauten Arbeiterwohnungen oft schon nach einem Jahre für das Wohnen unbrauchbar werden. An diesem schnellen Verfall der neugebauten Wohnungen ist übrigens zu einem nicht unbedeutenden Teile auch die mangelhafte Sorgfalt schuld, mit der dieses "Volkseigentum" seitens der Bewohner behandelt wird.
13) Siehe "Der Fünfjahresplan des wirtschaftlichen Aufbaues der UdSSR." (russisch), Moskau 1929, Band II, Teil 2, S. 273 (russisch).
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Die Höhe der Baukosten wird dadurch gekennzeichnet, daß der Preisindex für Baumaterialien gegenwärtig 2,65 (der Preisstand vor dem Kriege mit 1,0 angenommen) beträgt. Das bedeutet, wie die "Ekonomitscheskaja Shisn" es ausdrückt, daß, "wenn wir 300 Millionen Rubel in den Bau von neuen Wohnungen investieren, so vergrößern wir hierdurch unseren Wohnfonds nur um 100 Millionen".14) Mit anderen Worten, um den Realwert der in Neubauten investierten Beträge festzustellen, und ihn mit dem Wert des Gesamtbaufonds vergleichen zu können, muß man die entsprechenden Zahlen zuerst durch drei dividieren.
Einem schnellen Verfall und einer frühzeitigen Abnutzung unterliegen auch die Arbeiter-"Musterwohnungen", und zwar aus Gründen, über die ein Delegierter der Leningrader Gewerkschaften, Weinberg, in der Plenarversammlung des Zentralausschusses der Gewerkschaften folgendes ausführte:
"Es werden bei uns viele Zwei- und Drei-Zimmerwohnungen gebaut, während der Arbeiter nur ein Zimmer bewohnen kann. Das Ergebnis ist, daß Arbeiterfamilien des öfteren alle Zimmer vermieten und selbst in der Küche oder in einer kleinen Kammer hausen. Dieser Umstand trägt natürlich keineswegs zur Erhaltung der Häuser bei. In Leningrad befinden sich erst kürzlich erbaute Arbeiterwohnungen in einem äußerst verwahrlosten und verfallenen Zustande.'")
Während auf dem Gebiete der industriellen Produktion der neue "Fünfjahresplan" sich das großartige Ziel setzt, die kapitalistischen Staaten — Amerika nicht ausgenommen — in diesem kurzen Zeitraum "nicht nur einzuholen, sondern auch zu überflügeln", sind die kommunistischen Verfasser dieses Planes auf dem Gebiete des Wohnungswesens viel bescheidener.
"In den kommenden 5 Jahren" — schreiben sie, — "werden wir auf dem Gebiete des Wohnungsbaues nicht in der Lage sein, die westeuropäischen Staaten einzuholen und eine Wohnfläche zu schaffen, bei der auf eine Person wenigstens ein Zimmer entfallen würde. . . . Ein solcher Umfang der Bautätigkeit würde einen Geldaufwand erfordern, den wir uns nicht leisten können; außerdem würde ein solches Programm an dem Mangel an Baumaterialien scheitern."16)
14) Siehe Koserenko, "Die nächsten Aufgaben des Wohnungsbaues", Ekonomitscheskaja Shisn, 18. Januar 1928 (russisch). Seitdem hat sich die wirtschaftliche Lage des Landes bedeutend verschlechtert.
15) "Die Wohnungsfrage in der Plenarversammlung des Zentralausschusses der Gewerkschaften", in der Zeitung "Trud" (Die Arbeit) vom 1. März 1928 (russisch).
16) Der Fünfjahresplan usw., Band II, Teil 2, S. 274 (russisch).
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Der Fünfjahresplan sieht die Schaffung einer Wohnfläche vor, die es eventuell ermöglichen wird, für die Arbeiterbevölkerung dje im Jahre 1927/28 angeblich vorhandene Norm von 4,8 Quadratmetern Wohnfläche pro Kopf bis zum Jahre 1932/33 auf 6,6 Quadratmeter zu bringen, was immer noch unter dem Niveau liegt, das die Kommunisten selbst als das hygienische Minimum bezeichnen.17)
Zusammenfassung
Zehn Jahre kommunistischer Wirtschaft haben auf dein Gebiete des Wohnungswesens Verhältnisse geschaffen, wie sie kein zivilisiertes Land bisher gekannt hat. Nachdem aber das Fiasko dieser Politik keinem Zweifel mehr unterlag, begann die kommunistische Regierung in den letzten Jahren, an die "Selbsthilfe" der Bevölkerung zu appellieren. Die Bevölkerung, und insbesondere die unter den furchtbaren Wohnungsverhältnissen am meisten leidenden Industriearbeiter, warteten übrigens gar nicht auf diesen Appell, und begannen die Wohnungsfrage unabhängig vom kommunistischen Staate, der sie im Stich gelassen hatte, "zu lösen". Sie bauten in der Nähe der Fabriken und der Städte eigene kleine Häuser, meistens elende Lehmhütten, die ihnen immerhin eine notdürftige Unterkunft gewährten. Viele von diesen neuen, durch keine behördlichen "Pläne" vorgesehenen Arbeitersiedlungen brachten sogar in den ihnen von der Bevölkerung selbst gegebenen Namen und Bezeichnungen zum Ausdruck, daß sie eigenmächtig, ohne Genehmigung, ja sogar gegen den Willen der zuständigen Sowjetbehörden entstanden sind.18)
Die Folge dieser Sachlage war die, daß in den Jahren 1924 bis 1927 der private Kleinbau im ganzen eine Wohnfläche von 7,8 Millionen Quadratmetern schuf, während der Staatsbau im gleichen Zeitraum und mit dem Aufwand von proportional viel größeren Geldmitteln nur 6,4 Millionen Quadratmeter herstellte.
Auch der Fünfjahresplan spricht davon, daß "die Beteiligung der Bevölkerung selbst mit sehr beträchtlichen Mitteln — die notwendige Voraussetzung für die Beseitigung der Wohnungskrise bleibe".18)
17) Daselbst, S. 277.
18) So weiß z. B. das Gewerkschaftsorgan "Trud"( von euier solchen in der Nähe von Jekaterinburg "vorschriftswidrig" entstandenen Arbeitersiedlung zu berichten, welche der Volksmund mit dem schwer zu übersetzenden Namen "Nachalowka" (etwa "Frechdachs-Bau") benannte.
19) Der Fünf jahresplan usw., S. 275.
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Nicht nur an die eigene Bevölkerung, sondern auch an das ausländische Kapital mußte die kommunistische Regierung appellieren, als die durch ihre Politik verursachte Wohnungsnot immer schrecklichere Ausmaße annahm. Am 28. August 1928 erließ sie ein Dekret, das ganz außerordentliche — vom Standpunkt des geltenden Sowjetrechts — Begünstigungen für ausländisches Privatkapital vorsah, welches im Wohnungsbau investiert werden würde. Unter anderem sollten die Bauherren das Recht haben, die Wohnungen in den von ihnen erbauten Häusern freihändig zu vermieten und eine von ihnen selbst zu bestimmende Miete fordern zu dürfen.
Es sind seit der Veröffentlichung dieses Dekrets bereits über zwei Jahre verflossen, und trotzdem hat sich, soweit man nach der Sowjetpresse urteilen kann, noch kein ausländischer Kapitalist gefunden, den diese Begünstigungen verlockt hätten, sein Geld in den Wohnungsbau in der Sowjetunion langfristig zu investieren.
Und somit bleibt die Bevölkerung der russischen Städte, infolge des völligen Fehlschlagens des kommunistischen Experiments auf dem Gebiete des Wohnungswesens, darauf angewiesen, auf absehbare Zeit in den schwierigsten und geradezu menschenunwürdigen Wohnungsverhältnissen zu leben.
Zum Schluß sei noch besonders unterstrichen, daß diese Zustände nicht nur schwere materielle Entbehrungen mit sich bringen, sondern auch schlimmste Schäden viel ernsterer Art im Gefolge haben. Das Zusammenpferchen von einander fremden Leuten, ja von mehreren Familien, in einem kleinen Raum bewirkt eine allmähliche Zermürbung des gesunden Familienwesens, eine geistige Verrohung und ein Herabsinken des sittlichen Niveaus der heranwachsenden russischen Jugend.20
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20) Siehe die Aufsätze "Die Ehe und die Lage der Frau" und "Die Jugend im Sowjetstaate" im vorliegenden Sammelwerk.