T3-1  Start    Weiter

  Teil 3    Kultur  

 

 

1  Bolschewismus und Religion       Von  Prof. N. S. Arsenjew

Arseniew, Nikolaj (* 16.05.1888, Stockholm - † 18.12.1977, New-York) - Theologe, Geschichtswissenschaftler, Schriftsteller. In den Jahren 1920-44 dozierte an der Universität Königsberg.

 

 

    Bolschewismus ist Weltanschauung   

437

Der Bolschewismus ist in erster Linie eine Weltanschauung, die Gott und die Seele leugnet. Nicht deshalb nur leugnet er die Religion, weil sie von ihm als eine Verbündete seiner politischen und sozialen Gegner aufgefaßt wird, d. h. nicht nur aus taktischen, praktischen Gründen, sondern absolut, an und für sich. Die Kraft und die Wucht des Bolschewismus besteht darin, daß er mehr als ein bloßes politisches und soziales Programm ist: er ist Weltanschauung, und diese Weltanschauung ist grund­sätzlich antireligiös, nicht bloß irreligiös, d.h. indifferent der Religion gegenüber, sondern direkt feindselig der Religion.

Der Kommunismus ist ein zielbewußter Plan, der darauf hinausläuft, sich auf Erden ohne Gott, ohne Anerkennung jeglicher höheren, absoluten Bindungen, sei es religiöser oder moralischer Art, einzurichten; daher ist aggressiver Unglaube sein Wesenszug. Das ist der Kernpunkt der bolschewistisch-kommunist­ischen Weltanschauung: Bolschewismus und Gottesglauben sind grundsätzlich unverträglich miteinander. 

Dies wissen, dies gestehen und verkündigen laut die Bolschewiken; darin sind sie vollkommen einmütig. "Die Religion und der Kommunismus sind unversöhnbar untereinander, ebenso theoretisch wie auch praktisch", schreiben z.B. Bucharin und Preobrashenski in ihrem "ABC des Kommunismus". — Gott ist, nach einem Ausdruck Lenins, "der Erzfeind der kommunistischen Gesellschaft"

"Jede religiöse Idee", schreibt Lenin in seinem bekannten Briefe an Gorkij — "jede Idee von irgendeinem Gott, ja sogar jedes Kokettieren mit solchen Gedanken ist eine unaussprechliche Gemeinheit, die nieder­trächtigste Infektion".1) und diese Überzeugungen werden immer von neuem, unermüdlich eingeschärft. 

"Die Religion und der Kommunismus" — so lesen wir z.B. im bolschewistischen Sammelwerke <Antireligiöse Propaganda unter den Frauen>2) "sind zwei sich feindlich gegen­überstehende Mächte, zwei Welten, die in einem unversöhnlichen Kampfe begriffen sind, zwei Feinde, von denen der Kommunismus nie seine Hand der Religion reichen wird." 

1)  Siehe Lenin, "Mysli Lenina o religii", russ. Sowjetausgabe, S. 130. Der Ton in russischer Sprache ist höhnisch. Vgl. bei Lenin ebendaselbst, S. 23, 25, 26, 90, 112, 114, 119, 117-118, 132, 137 u.a.: vgl. bei Lunatscharsky über "Das ekelhafte Phantom der Gottheit" in den ersten Heften des "Besboschnik".
2) 1926, S. 16.


Dem § 13 des Statuts der Kommunistischen Partei gemäß ist jedes Parteimitglied verpflichtet, eine antireligiöse Tätigkeit zu entfalten. Immer wieder hört man aus dem Munde einzelner Kommunisten ähnliche Bekenntnisse: "Der Kommunist soll seine Zugehörigkeit zur Partei im Wichtigsten zum Ausdruck bringen; er soll endgültig, 100prozentig, mit der Religion brechen".3) 

Es liegt Pathos, Begeisterung, Feuereifer, ja eine Selbstberauschung in dieser grundsätzlichen Gottesleugnung. Der ganze Mensch, das ganze Gemütsleben kann davon ergriffen werden; man versteigt sich in Ausdrücke eines leidenschaftlichen Hasses, eines Hasses, der dabei nicht zufällig, sondern grundsätzlich ist. "Wir hassen das Christentum und die Christen", sagte Lunatscharsky, der Kommissar für Volksbildung, in seiner bekannten öffentlichen Rede in Moskau, "sogar die besten unter ihnen sollen als unsere schlimmsten Feinde betrachtet werden. Sie verkünden die Liebe zum Nächsten und die Barmherzigkeit, was unseren Prinzipien zuwiderläuft."

 

  Haß gegen die Religion  

Man könnte meinen: dieser Haß gegen die Religion erklärt sich genügend aus dem vom Kommunismus gepredigten Klassenkampf — denn die Religion sucht den Klassenkampf zu neutralisieren, ihn zu überbrücken, und wird so in den Augen der Kommunisten zu einer Stütze der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft.4)

Diese Begründung des Hasses gegen die Religion ist zum Teil durchaus richtig, aber nicht erschöpfend: die Wurzeln liegen tiefer. Der bolschewistische Mensch will keine höhere göttliche Macht über sich anerkennen, vor der er sich freiwillig beugen müßte — das ist der letzte, der metaphysische Hintergrund der ganzen kommunistischen Weltanschauung, der ihr das Gepräge gibt. Daher ist, wie gesagt, der Kampf gegen Gott nicht eine zufällige, bloß historisch bedingte Erscheinung in der Geschichte und Entwicklung des Bolschewismus, sondern er gehört zum Wesen der Sache. Damit steht und fällt der Bolschewismus. Bolschewismus ohne Kampf gegen Gott ist kein Bolschewismus mehr. Diese weltanschauliche Anmaßung gibt dem Bolschewismus auch seine verführende und werbende Kraft (nicht bloß in kommunistischen Kreisen).

3)  Sammelband "Antireligiöse Arbeit unter Frauen", S. 61.  
4)  Vgl. z. B. den Artikel des Bolschewiken Anton Loginof: "Der Tag der jahrhundertlangen Täuschung" (in der abendlichen "Roten Zeitung", Moskau, 3. Mai 1929) über die Osterfeier. Da lesen wir u. a.: "Vom Standpunkte eines bewußten Proletariers ist in seinem Milieu der Osterkuß ein verräterischer Schlag gegen die Revolution. Denn das Osterfest Christi ist ja die Feier der Klassen-verbrüderung. Ostern ist ein gegenrevolutionäres Manöver, mit dessen Hilfe die Weltbourgeoisie versucht, den Klassenhaß der Arbeiter abzuleiten, der bereit ist, auf das Haupt der Weltbourgeoisie im Revolutionssturm niederzubrausen".

438


Daraus erhellt auch die unendliche Wichtigkeit des religiösen Geisteskampfes im gegenwärtigen Leben Sowjetrußlands: zwei geistige Welten stehen hier gegeneinander. Der Kampf gilt den letzten Prinzipien des menschlichen Daseins, den Urgründen, den letzten Wurzeln des Daseins überhaupt, der letzten Fundierung des gesamten Weltbildes und der gesamten Lebensgestaltung. Daß dem so ist, geht aus der durchaus grundsätzlichen Bedeutung hervor* die diesem Kampfe vom Bolschewismus zugeschrieben wird, und der stetigen Betonung, daß ein Ausgleich unmöglich sei. Dieser Kampf ist daher das Tiefste und Bedeutsamste von allem, was sich auf dem Boden Sowjetrußlands abspielt.

 

  Die Bekämpfung  

In welchen Formen gestaltet sich nun dieser Kampf? Die Religion wird in Sowjetrußland verfolgt, obwohl sie dem äußeren Anscheine nach "gesetzliche Duldung" genießt. "Verfolgt" müssen wir sagen, denn die scheinbare "Duldung" ist mit stärkster Bedrückung, mit äußerster Entrechtung und vielfachen Martern verbunden.5) Die Sowjetregierung sucht einfach die Religion auszurotten, soweit sie es kann.

Diese verfolgende Bekämpfung der Religion verhehlen die Kommunisten selbst gar nicht (nur vielleicht naiven Ausländern gegenüber). So lesen wir z. B. bei Lenin: "Wir müssen gegen die Religion kämpfen. Dies ist das ABC des ganzen Materialismus und also auch des Marxismus." Es muß "ein kriegerischer Atheismus", "ein kriegerischer Materialismus" geschaffen werden. "Es wäre töricht, zu denken, daß in einer Gesellschaft, die auf einer unendlichen Bedrückung und Verrohung der Arbeitermassen beruht, die religiösen Vorurteile durch einfaches Herumpredigen aufgelöst werden könnten''.") Nein; die Sache muß staatsamtlich angegriffen und geführt werden. "Wir besitzen Aemter, oder wenigstens Staatsbehörden, welche diese Arbeit" (des kriegerischen Atheismus) "besorgen. Aber ihre Arbeit wird sehr schlapp, sehr unbefriedigend geführt".7) ..... Bucharin begründet den ganzen Kampfplan im einzelnen: die Bekämpfung der Kirche und der Religiosität; den antireligiösen Kampf um die Kinder, die anti-religiöse Erstürmung der Familie usw.8)

5)  Der Ausdruck "Verfolgung" (russisch "Presledowanije") für die Bezeichnung der Sowjetpolitik den verschiedenen Sekten gegenüber wird von den Kommunisten selbst gebraucht. "Diese Verfolgung hat im Jahre 1924 die Bildung neuer Sektierer-Gemeinden zum Stillstand gebracht." Siehe auch das Beispiel Bontsch-Brujewitsch und Jaroslawsky ("Na antireligiosnom Fronte", S. 68). 
6)  Lenin, "Mysli Lenina o religii" (Lenins Gedanken über die Religion, russ. Sowjetausgabe), S. 25, 118, 115.
7)  Ebendaselbst, S. 117-118.

439


Grundsätzliches bringt auch Jaroslawsky, der den ganzen Kampf leitet: "Die Religion steht dem Kommunismus im Wege." "Wo die Religion siegt, da wird der Kommunismus schwach. Die kommunistische Lebensordnung wird nur da verwirklicht werden können, wo das Volk von der Religion befreit sein wird." "Wir sind verpflichtet, jegliche religiöse Weltanschauung zu zerstören."9) Es heißt grundlegend: "Krieg gegen die Religion";10) und dieser Krieg wird durchaus nicht "bildlich" gemeint: "Wenn man für den Sieg einer bestimmten Klasse zehn Millionen Menschen umzubringen braucht, wie es der letzte Krieg gemacht hat, — so muß es gemacht werden und es wird getan....."11)

Was nun den Wortlaut der Sowjetgesetze über die Kirche betrifft, so wird er nur nach Kenntnisnahme dieses authentisch formulierten Standpunktes klar verständlich. Es gilt — die Kirche, als eine lebendige und das Leben beeinflussende Organisation, auf allen Gebieten zu schwächen. Zunächst begnügte man sich mit einer allgemein durchzuführenden Säkularisation des Lebens.

Im § 4 der ursprünglichen Sowjetverfassung konnte man lesen: "Um den Arbeitenden wirkliche Gewissensfreiheit zu ermöglichen, wird die Kirche vom Staate und die Schule von der Kirche getrennt; die Freiheit der religiösen und der antireligiösen Propaganda wird allen Bürgern zuerkannt." Charakteristisch ist aber, daß, im Gegensatz dazu, in der letzten, veränderten Fassung dieses Gesetzes vom Frühjahr 1929 nur noch von der "Freiheit der religiösen Bekenntnisse und der antireligiösen Propaganda" die Rede ist, also: nach dem genauen Wortlaut wird die Freiheit der religiösen Propaganda nicht mehr gewährleistet. Aber schon die Gesetzgebung der ersten Jahre stellte auch theoretisch die Religion in eine denkbar ungünstigste Lage. Der Kirche, den Kirchengemeinden und den religiösen Gemeinschaften überhaupt wurde und wird bis auf den heutigen Tag das Recht einer juristischen Person versagt.12) Daher dürfen weder die Gesamtkirche noch einzelne

 

8)  Bucharin und Preobrashensky, "Das ABC des Kommunismus", russ. Sowjetausgabe, S. 184, 185, 186, 188-190.
9)  Jaroslawsky, "Na antireligiosnom Fronte", russ. Sowjetausgabe, S. 93, 47, 66.
10)  Ebendaselbst, S. 44, 59 u. a.
11)  Ebendaselbst, S. 132.
12)  Vgl. z. B. "Die religiösen Gemeinschaften als solche genießen nicht das Recht einer juristischen Person" (Zirkularyerordnung des Volkskommissariats der Justiz und des Volkskommissariats des Innern vom 15. August 1921, § 5—6). "Die religiösen Verbände, gemäß dem Dekret von der Trennung der Kirche vom Staate, haben nicht das Recht auf Besitz, und genießen nicht die Rechte einer juristischen Person" (Zirkular des Volkskommissariats der Justiz vom 18. Mai 1920, Zirkular des Volkskommissariats der Justiz, des Volkskommissariats des Innern, des Volkskommissariats der Volksbildung und des Kommissariats der Inspektion vom 15. Juli 1921). Und in der neuesten Fassung: "Religionsgesellschaften und Gruppen von Gläubigen genießen nicht das Recht einer juristischen Person" (Verfügung des Allrussischen Zentralvollzugskomitees und des Rates der Volkskommissare der RSFSR. über die religiösen Vereinigungen vom 8. April 1929, § 3; vgl. §§ 1, 4, 5, 11, 12, 17, 18, 19, 22, 25, 39, 40).

440


Kirchengemeinden irgend ein Eigentum besitzen. Dementsprechend wurde das gesamte ehemalige Vermögen der religiösen Organisationen enteignet (einschließlich der Kultusgebäude und der Kultusgeräte). Kultusgebäude und Kultusgerätschaften werden seitdem vom Staate den religiösen Gemeinden nur zur Nutznießung bis auf Widerruf überlassen.13) Sie können aber von den Behörden auch zu ganz anderen Zwecken benutzt werden, wie es auch recht häufig geschieht.

Noch eine weit größere Knebelung stellt die gesetzmäßige und planvolle Unterdrückung des religiösen Unterrichts dar. Nicht nur, daß jeglicher religiöse Unterricht in öffentlichen Schulen und in Privatschulen allgemein-bildenden Charakters absolut verboten bleibt,14) nein, es darf überhaupt Personen unter 18 Jahren kein religiöser Unterricht erteilt werden;15) auch in Kirchenräumen nicht,16) ebenso wenig wie in Privathäusern; eine Ausnahme bildet der Hausunterricht, wenn er nicht mehr als 3 Kindern zugleich erteilt wird.17) Für Personen, die ihr 18. Jahr vollendet haben, dürften wohl, dem Wortlaute des Gesetzes nach, spezielle religiöse Unterrichtsanstalten gegründet werden, aber nur in Gouvernementsstädten (d.h. Provinzialhauptstädten) und nur mit Genehmigung des jeweiligen Gouvernements-Vollzugs-Komitees, das seinerseits sich mit den Zentralbehörden verständigen muß.18) Man kann indes sich wohl vorstellen, wie diese Gesetze von den die Religion kriegerisch bekämpfenden kommunistischen Behörden gehandhabt und angewandt werden.

 

13)  Vgl. z. B. § 25 der letzten, schon erwähnten Formulierung des Religionsgesetzes (vom 8. April 1929): "Das Vermögen für die Ausübung des Kultus, und zwar: das den Religionsgesellschaften vertragsmäßig übergebene wie auch das von ihnen neu erworbene oder für Kultuszwecke geschenkte ist Nationaleigentum und unterliegt der Aufsicht der entsprechenden Behörden zwecks Benutzung seitens der Gläubigen". Vgl. die Erklärung des Volkskommissariats der Justiz vom 24. Juni 1925, daß nicht nur die Kirchen, die im Jahre 1918 nationalisiert worden sind, sondern auch diejenigen, die nach diesem Jahre von den Gläubigen neu errichtet werden, zum Staatseigentum gehören.
14)  Instruktion des Volkskommissariats der Justiz vom Jahre 1918, Art. 33.
15)  Erlaß des WZIK. (= Allrussischer Zentral-Exekutiv-Ausschuß) vom 13. Juni 1921.
16)  Erklärung der Kultus-Abteilung (= Sektion 5) des Volkskommissariats der Justiz vom 16. Juli 1924.
17)  Erklärung der 5. Sektion des Volkskommissariats der Justiz vom 1. September 1924.
18)  Erklärung der 5. Sektion des Volkskommissariats der Justiz vom 2. Mai 1923.

441


    Das Gesetz vom Jahre 1929   

Diese an sich schon scharf antikirchliche Gesetzgebung ist durch das neue Gesetz vom 8. April 1929 noch verschärft worden. Zwar ist die Zahl der Gläubigen, die erforderlich ist, um eine religiöse Vereinigung zu gründen, nach dem neuen Gesetze von 50 auf 20 herabgesetzt worden, und das Recht der Kultusausübung (das nudum jus) wird auch weiterhin gewährt: aber dagegen lesen wir:

"§ 17. Den religiösen Vereinigungen ist verboten:

a) Die Bildung von Unterstützungskassen, kooperativen Genossenschaften, Arbeitsgemeinschaften, sowie überhaupt die Benutzung des vorhandenen Vermögens zu irgend welchen anderen Zwecken, außer zur Befriedigung der religiösen Bedürfnisse;

b) die Zuwendung von materieller Unterstützung an ihre Mitglieder;

c) die Veranstaltung von Sonderversammlungen für Kinder, für die Jugend, für Frauen. Ferner: die Abhaltung von Gebetsversammlungen, Bibelstunden, Literatur-, Hand-arbeits-, Arbeitsversammlungen, sei es für Gruppen oder für kleine Kreise, desgleichen besondere Religionsunterrichtsstunden, Ausflüge, Kindergärten, die Eröffnung von Bibliotheken und Lesezimmern, die Einrichtung von Sanatorien und Krankenhäusern, ärztliche Hilfe. ..."

Nun enthält dieses Gesetz zum Teil nur eine ausdrückliche Bestätigung dessen, was die Sowjetbehörden schon früher in der Praxis auf rein administrativem Wege zu bekämpfen und zu unterdrücken suchten, zum Teil aber eine Kodifizierung und Einschärfung früherer Einzelerlasse. Doch bedeutet dies eine erhebliche Verschärfung der bisherigen Lage — gerade durch die Verallgemeinerung und Absolutisierung dieser Verbote.

 

    Staat und Kirche   

Das Wichtigste und das Ausschlaggebende aber in dem ganzen Verhalten des Sowjetstaates der Religion gegenüber liegt darin, daß dieses Verhalten keineswegs — sei es auch nur in annähernd adäquater Weise — durch den Wortlaut des Gesetzes charakterisiert wird. Es ist eine Tatsache, daß keine wirkliche Trennung von Staat und Bekenntnis besteht; denn der bolschewistische Staat ist eine äußerst enge und organische Verbindung mit dem atheistischen Bekenntnis eingegangen, und nutzt nun seine staatliche Gewalt dahin aus, um jegliche Art religiöser Bekennt-

442


nisse wenn nicht direkt zu unterdrücken, so doch zu bekämpfen, zu untergraben und zu erschweren. Darum ist die Stellung des Sowjetstaates der Religion und insbesondere der christlichen Kirche gegenüber durch bewußte U n a u f -richtigkeit gekennzeichnet. Von einer wirklichen Trennung des Bekenntnisses vom Staate, von einer wirklichen Gleichstellung der Religion und der Irreligion kann keine Rede sein; die religiöse Propaganda wird bekämpft und verhindert — jetzt auch dem Wortlaut des neuen Gesetzes nach; _- die irreligiöse Propaganda aber wird vom Staate gefördert, und nicht bloß gefördert, sondern auch gefordert. Darin liegt die Eigentümlichkeit der religiösen Verhältnisse in Rußland: der Sowjetstaat hat sich mit allen seinen Machtbefugnissen bewußt und grundsätzlich in den aktiven Dienst des Unglaubens — nämlich einer agressiven Gottesverleugnung gestell t.19) Das "Minder" oder "Mehr" an Strenge oder Milde in den Vorschriften und Maßnahmen der Sowjetregierung in Bezug auf die Religion hat daher nichts mit Toleranz oder auch mit Indifferentismus zu tun, sondern wird lediglich durch taktische Rücksichten, durch die jeweilige Lage diktiert.

Eine höchst bedeutsame, neue Phase der Entwicklung ist, wie wir aus soeben angeführten Zitaten teilweise schon ersehen konnten, seit dem Frühjahr-Sommer 1929 eingetreten, und dauert bis heute fort. Sie kennzeichnet, wie schon angedeutet worden ist, eine Verschärfung des Angriffs und Verschlimmerung der Lage. Besonders seit dem Herbst 1929 trägt die

 

19) Man vergleiche damit folgende Zitate, meist Verordnungen und Beschlüsse der offiziellen Sowjetorgane:

"Das Element des Klassenbewußtseins, der internationalistischen und antireligiösen Erziehung muß in den Schulprogrammen verstärkt werden" (Beschluß des 14. Kongresses der Sowjets. "Narodnoje Prosweschenije", Nr. 6, 1929).

"In Verbindung mit dem Wachstum der religiösen Gemeinden und Sekten hat der Sownarkom (Rat der Volkskommissare) es für notwendig gefunden, erfahrene Instrukteure den Departments der Volkserziehung der Kreis-, Distrikt- und Exekutivkomitees zur Verfügung zu stellen, deren Aufgabe die Stärkung der antireligiösen Propaganda miteinschließen wird" ("Krasnaja Gaseta", 16. Mai 1929).

"In Erfüllung des Beschlusses des Sownarkoms (Rat der Volkskommissare) hat der Narkompros (Volkskommissariat für Volksbildung) den Entschluß gefaßt, Inspekteure der antireligiösen Arbeit zu ernennen" (Utschitelskaja Gaseta", 25. Mai 1929).

"Das antireligiöse Textbuch für Bauern, zusammengestellt gemäß dem Programm eines antireligiösen Bauernzirkels, mit der Gut-heifiung des Staatlichen Forschungsrats" ("Das antireligiöse Textbuch für Bauern", 1928. Aus der Vorrede) usw.

Ähnliche Zitate können nach Belieben vermehrt werden, z. B. auch in bezug auf die vom Staate aufgezwungene antireligiöse Erziehung in der Roten Armee.

443


Politik des Sowjetstaates ganz entschieden die Züge einer Religionsverfolgung. Der Druck ist in der Praxis systematischer, grundsätzlicher und rücksichtloser geworden da er sich nun auf den neuen Wortlaut des Gesetzes stützen kann. Besondere Bedeutung hat die schon erwähnte Aenderung des § 4 der Verfassung des Sowjetstaates erlangt. Diese Aenderung wird von leitenden bolschewistischen Kreisen als ausdrückliches Verbot der religiösen Propaganda gedeutet. Sehr charakteristisch sind in dieser Hinsicht folgende Auslassungen in der kommunistischen Zeitschrift "Besboshnik" ("Der Gottlose") vom 6. Februar 1930, die die Ansichten der leitenden Kreise wiedergibt: 

"Die 14. Tagung der Sowjets veränderte am 18. Mai 1929 den Paragraphen 4 der Verfassung in Bezug auf religiöse Propaganda, und schaffte dadurch die Zweideutigkeit ab, die sowohl im alten Gesetz, wie im Gesetz vom 8. April 1929 noch vorhanden war. . . . Von nun an kann und darf jegliche Propaganda oder Agitation von seiten der religiös oder kirchlich Gesinnten nicht mehr als eine Tätigkeit betrachtet werden, die gesetzlich erlaubt ist, sondern im Gegenteil als eine Tätigkeit, die über die Grenzen der vom Gesetze gewährleisteten Bekenntnisfreiheit hinausgeht und die daher unter die Wirkung des Strafgesetzes fällt. . . . Die neue Fassung des in Betracht kommenden Paragraphen bedeutet, daß von nun an die Tätigkeit aller religiösen Kreise sich lediglich auf die Ausübung des Kultus zu beschränken hat. Keine andere Tätigkeit . . . wird gestattet. Sogar religiöse Propaganda wird nicht erlaubt. Bekenntnis, aber keine Propaganda." 

Diese Formel ist sehr bequem; denn unter "religiöser Propaganda" kann nach Belieben jede Äußerung verstanden werden. Dadurch wird Religion schon als solche, an und für sich, durch ihr Bestehen allein, als konterrevolutionär angesprochen. Sie ist daher zu unterdrücken; und dabei behielt der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Rykof, doch die Möglichkeit, den Korrespondenten ausländischer Zeitungen gegenüber zu behaupten, daß nur diejenigen Priester hingerichtet und verschickt werden, die "konterrevolutionär" sind. Politische Verbrechen konnten aber bei den vielen Prozessen, die den später trotz alledem hingerichteten Geistlichen gemacht wurden, nicht nachgewiesen werden. Der Nachweis war nicht möglich; denn die Kirche verhält sich der Gewalt gegenüber loyal, betätigt sich nicht in der Politik. Jedoch behält die Tatsache ihres Bestehens schon an sich die Bedeutung einer "Konterrevolution", denn ihr Bestehen ist schon "Propaganda"; religiöse Propaganda ist aber jetzt auch gesetzlich unterdrückt, ist ungesetzlich und daher konterrevolutionär.

444


Das ist auch unmißverständlich von dem früheren Volkskommisar für Volksaufklärung, Luna-tscharsky, in einem Aufsatz in der Sowjetzeitung "Isvestija" (8. Juni 1929) ausgeführt worden: ".... Die Kirche ist nicht nur ein Feind auf dem Gebiete der Kultur, sondern dadurch auch auf dem der Politik; sie ist unveränderlich, unvermeidlich und immer, wie sie sich auch nenne, ein bestimmter politischer Feind." Die Sittenpredigten von zwei hingerichteten Priestern, Prjachin und Shurawljoff (die gegen sittliche Laxheit auftraten und zur Buße aufriefen), wurden — ich bringe den buchstäblichen Wortlaut des bolschewistischen Berichtes — "vom Gerichte als schwerstes, gewandt maskiertes Verbrechen eingeschätzt, das zur Zeit eines verschärften Klassenkampfes vollbracht wurde" (die Zeitung "Besboshnik", 18. August 1929). Dieser Wortlaut ist charakteristisch: "gewandt maskiertes Verbrechen" und noch "zur Zeit des verschärften Klassenkampfes" als weitere Motivierung. ... Es ließ sich wahrhaftig diesen Priestern kein politisches Verbrechen nachweisen. Aber eine herzergreifende Sittenpredigt, ein Bußeruf ist an und für sich konterrevolutionär ("religiöse Propaganda!") — nach bolschewistischer Auffassung. Daher ist sie strafbar; sie ist gewaltsam zu unterdrücken. Demzufolge ist auch die Kirche strafbar; ihre "Schuld" besteht darin, daß sie für "die Sache des Proletariates" schädlich ist, daß sie das Leben und die menschlichen Herzen auf ihre Art beeinflußt. Sie muß verschwinden.19a)  

Zu diesem Zwecke — Vernichtung der Religion und der Kirche — werden verschiedene Mittel angewandt.

 

   Die Verbannung   

Während der ersten Revolutionsjahre hat der Sowjetstaat immer wieder versucht, die Religion blutig zu bekämpfen.20) Neben der Gesetzgebung über die Trennung der Religion vom Staate und über die Freiheit des Bekenntnisses fanden wirkliche Religionsverfolgungen statt. Besonders wollte man an den leitenden Persönlichkeiten — an den angesehendsten Vertretern des Klerus — ein einschüchterndes Exempel für die Gläubigen statuieren. Die Zahl der Blutzeugen unter dem Klerus, allein in den ersten 5 Jahren der Bolschewikenherrschaft, ist sehr groß: sie übersteigt 8000.21)

 

19a)  Siehe ausführlichere Darstellungen des ganzen Kampfes gegen die Religion in "Das Notbuch der russischen Christenheit", 2. Auflage 1930, Eckart-Verlag, Berlin. 
20)  Dies ist von Jaroslawsky offen zugegeben, siehe "Na anti-religiosnom fronte", S. 83, 102. 
21)  Die ungefähren Zahlen der von den Bolschewiken in den ersten Jahren ihrer Herrschaft hingerichteten Kultusdiener lauten nach dem Berichte eines früheren Bischofs der sogenannten "Lebendigen Kirche", Nikolai Solowej, vom Jahre 1924 wie folgt: Priester 2691, Mönche 1962, Nonnen und Novizen 3447, zusammen 8100.

445


In den danach folgenden Jahren der Sowjetherrschaft — bis vor kurzem (seit dem Herbst 1929 ist die Politik der Sowjetregierung der Kirche gegenüber wieder blutiger) — war die blutige Seite des Kampfes gegen die Religion stark in den Hintergrund getreten. Und doch muß man auch für diese Periode von einer Verfolgung, und durchaus nicht immer in verschleierter Form, sprechen. Denn wahrlich — die Hinrichtung ist nicht die einzige Verfolgungsweise. Ihr fallen in erster Linie die besonders markanten Persönlichkeiten der kirchlichen Hierarchie zum Opfer, die sich um die Hebung des religiösen Glaubens verdient machten.

Viele Hunderte, ja Tausende von ihnen befinden sich noch bis auf den heutigen Tag in den Gefängnissen und Konzentrationslagern, oder in harter Verbannung, im entferntesten Norden Sibiriens; darunter nicht weniger als 100 orthodoxe Bischöfe (also die Hälfte der Gesamtzahl der Bischöfe der orthodoxen russischen Kirche). — Was die eingekerkerten und verbannten Bischöfe häufig zu erleiden hatten, möge aus folgenden authentischen Briefen (die über Finnland nach Westeuropa ihren Weg gefunden haben) erhellen. Diese Briefe sind vor ungefähr zwei bis drei Jahren geschrieben, aber die in ihnen geschilderten Zustände haben sich im wesentlichen nicht verändert. 

"Am Osterdienstag", lesen wir in einem dieser Briefe, 

"sind die Bischöfe aus unserer Stadt in die Verbannung geschickt worden, einer von ihnen war dabei krank. Dies geschah ganz plötzlich, es wurde ihnen sogar nicht gestattet, von den Angehörigen und der Gemeinde Abschied zu nehmen. Ungeachtet des Geheimnisses, welches ihre Abreise umgab, hat sich doch eine beträchtliche Menge am Bahnhof angesammelt, um sie noch einmal zu sehen. Rote Soldaten waren zur Stelle. Es wurde verboten, sich dem Eisenbahnwagen zu nähern, dessen Fenster mit Absicht mit Ruß verschmiert waren. Als der Zug sich in Bewegung setzte, segneten die Bischöfe die Gläubigen mit einer Kerze — sonst war ja nichts zu sehen durch die verschmierten Fensterscheiben. Aus Briefen wissen wir, daß sie unterwegs beschimpft wurden. Als sie in N. eintrafen, wurden sie zum Stadtkommandanten geführt, der in ihrer Anwesenheit sagte, das Gefängnis sei überfüllt und er könne diesen <Betrügern> nicht erlauben, in der Stadt herumzuhocken. Er befahl, sie weiter nach Irkutsk abzuschieben. Die Bischöfe wurden in denselben Zug zurückgebracht, der jetzt mit gemeinen Verbrechern vollgepfropft war. Die Verbrecher überfielen die Bischöfe, die Wachen konnten es nicht verhindern. Bischof J. leidet noch von den Schlägen, die er erhielt. Gott weiß, welche neue Prüfungen ihnen noch bevorstehen."

Als Ergänzung möge hier der Brief eines eingekerkerten Bischofs folgen: "Nach meiner Ankunft in K.", schreibt er da, 

446


"begann ein furchtbares Leben. Wir wurden militärisch gedrillt und wurden gezwungen, stundenlang laut aus voller Kehle den Soldatengruß zu schreien; unsere Instruktoren waren zwei ruchlose junge Kommunisten. Die konnten kein Wort sagen, ohne dabei in der schrecklichsten, gotteslästerlichsten Weise zu fluchen. Ich wurde in einer hölzernen Baracke untergebracht, die vollgepfropft ist mit Gefangenen. So eng ist der Raum, der mir auf der Pritsche zugewiesen wurde, daß ich nur auf der Seite liegen kann. Meine Gefangenschaftsgenossen sind Diebe und Mörder, die sehr heruntergekommen und sehr schmutzig sind. Wir leiden an Wassermangel, denn das Wasser wird uns nur aus der Nachbarstadt per Eisenbahn herbeigeschafft. Wochenlang bekamen wir kein heißes Wasser, um uns Tee zu machen. Das schlimmste Gefängnis würde als ein Palast erscheinen im Vergleich mit unserem Aufenthaltsort. Läuse überfielen mich schwarmweise, und nun lassen sie mich keinen Augenblick in Ruhe. Dreimal am Tage mußte ich mein Hemd ausziehen, um die Läuse herauszuschütteln. Mein ganzer Körper blutet noch vom heftigen Kratzen. Um sechs Uhr morgens beginnt die Arbeit, und was für eine Arbeit! — die schwerste und schmutzigste, die man sich nur denken kann. Mein Leidensgenosse war Bischof R. aus S., ein Schwindsüchtiger im vorgerückten Stadium; es war kein Platz für ihn im Krankenhaus — er hatte zu leiden und zu sterben in dieser furchtbaren Umgebung."

 

   Die  Hinrichtungen    

In den letzten Monaten — Ende 1929 und erste Hälfte 1930 — haben wieder, wie schon angedeutet worden ist, besonders zahlreiche Verhaftungen, aber auch nicht wenige Hinrichtungen von Kultusdienern stattgefunden. Nur einige Namen seien hier angeführt! Im Laufe des vergangenen Herbstes (1929) und Winters (1929/30) sind nach Berichten bolschewistischer Zeitungen u. a. erschossen worden: Die Priester: Siletzki und Pomriassinski ("Die Schullehrerzeitung", 26. Okt. 1929); die Priester Rymarew und Sladkopevzew ("Isvestija", 26. Jan. 1930); der Priester Modestof ("Isvestija", 26. Jan. 1930); die Priester Kudriavzew und Winogradof ("Der Gottlose", 3. Jan. 1930; sie sollten das Haus einer kommunistischen Zelle in Brand gesetzt haben!); der Priester Pawlenko und der Kantor Didenko ("Der Gottlose" 6. Febr. 1930); der Priester Wojnof und der Kantor Muchotin ("Die Abendliche Rote Zeitung", 11. Febr. 1930). Nach dem Berichte der Zeitung "Sowjet-Sibirien" (Nr. 3, 1930) ist Priester Gabriel Lepa-rinski dafür hingerichtet worden (erschossen), daß er in einer Predigt gesagt hatte: "Im Ausland wächst der religiöse Glaube, so wird es auch bei uns sein! Bald wird das Wort Gottes in unserem ganzen Lande siegreich werden." Das wurde als "konterrevolutionär" gewertet. Diese Namenliste könnte noch vermehrt werden.

Die Hinrichtung der Geistlichen im Herbst 1929 und Winter 1929/30 stehen häufig in unmittelbarer Verbindung mit den seit dem Herbst besonders häufigen gewaltsamen Schließungen der Kirchen in Sowjetrußland.

447


    Die Kirchen   

Schon in den vorangegangenen Jahren wurde eine jährlich steigende Anzahl von Kirchen geschlossen. So sind im Jahre 1928 nach den Angaben der Moskauer "Isvestija" (vom 22. März 1929) in Sowjetrußland 354 Kirchen, 38 Klöster, 59 Synagogen, 38 Moscheen und 43 andere Gebetshäuser geschlossen worden. Jetzt, seit dem Herbst 1929, wo die Anwendung des verschärften "antireligiösen Kurses" immer offenbarer und fühlbarer wurde, übertrafen die Massenschließungen alles, was auf diesem Gebiete früher geschehen war.

Den Auftakt bildete die gewaltsame Zerstörung (über Nacht! Ende Juli 1929) der vom Volke besonders verehrten Mutter-Gottes-Kapelle, in der das berühmte "Iberische" Muttergottesbild sich befand (in der Nähe des "Schönen Platzes" in Moskau). 

Nicht weniger Aufsehen verursachte die gewaltsame Zerstörung des großartigen und schönen, aus dem 14. Jahrhundert stammenden Simonovklosters (in einem Vorort von Moskau): zur Leninfeier am 22. Januar 1930 ist dieser Riesenbau in die Luft gesprengt worden. Ein ausführlicher Artikel der Sowjetzeitung "Moskau am Abend'' ("Wetshernjaja Moskwa", 27. Januar 1930), der den ganzen Vorgang triumphierend darstellt, schließt mit dem Jubelrufe: "Das Simonskloster ist tot!" . . .

Daneben erfolgten zahllose andere Kirchenschließungen. In der kommunistischen Zeitschrift "Trud" vom Dezember 1929 lesen wir: "Die Religion zappelt wie ein hart bedrängtes Tier. Sie ist verfolgt ohne Erbarmen und wird es auch weiter sein. Es gab 675 Kirchen in Moskau, nun sind nur noch 287 geblieben. Im Jahre 1928 hat man in der Sowjetunion 542 Bethäuser, 445 Kirchen, 59 Synagogen, 38 Moscheen geschlossen; bis zum 1. Januar werden es sicher 1000 werden. Die Glocken winseln traurig, aber man weiß nichts und will nichts von Erbarmen wissen."

Die folgenden Angaben sind auch kommunistischen Quellen entnommen. In Moskau "in der Kirche bei dem Nikolski-Tor ist eine Tee- und Imbißstube geschaffen"; in dem Skorbia-schenski-Kloster ist ein Klub, ein Theater, ein Vergnügungsgarten eingerichet; die "Heilandskirche" ist in ein Speiselokal des U. S. P. O. (Moskauer Verband der Konsumgenossenschaften) verwandelt worden; niedergerissen wurden die "Drei-Heiligenkirche" bei dem Roten Tore, die "Nikolauskirche" bei dem Miasnitzki-Tor, die "Nativitätskirche" in der Stoleschnikofgasse. Die Christuskathedrale soll — so schlägt

448


man vor — in einen "Tempel der Kultur und der Wissenschaft" verwandelt werden ("Besboshnik u Stanka", Nr. 20, 1929).22) Offiziellen kommunistischen Berichten gemäß sind in Moskau allein im Laufe des Jahres 1929 73 Kirchen geschlossen worden. Auf der Tagung der Moskauer "Liga der kriegerischen Gottlosen" (die in den Räumen des Moskauer Komitees der Kommunistischen Partei stattgefunden hat, Juni 1929), hat der Vorsitzende des antireligiösen Ausschusses, Genosse Polidorof, folgende Mitteilung gemacht: "Wenn wir bisher noch sehr behutsam in der Frage der Kirchenzerstörung vorgingen, so können wir jetzt kühn vorschreiten. Die Politik der Kollektivierung (auf dem Lande) hat uns unsere Arbeit erleichtert. Wir vertreiben die Kulaken aus dem Dorf, und beinahe alle Kirchengemeindevorsteher sind Kulaken."

In Petersburg (Leningrad) werden folgende Kirchen niedergerissen oder sind bereits zerstört: "Die Georgskirche, die Jelissejevsche, die Mitrofanievsche, die Kirche der Großmärtyrin Katharina, die Verkündigungskathedrale, die Kirche auf dem Wolkofschen Friedhof, die Kirche Johannes des Täufers auf der Wyborgschen Seite wird zum Klub der physischen Kulturpflege umgewandelt." ("Besboshnik u Stanka", 1929, Nr. 18). Der Petersburger Sowjet hat den Beschluß gefaßt, die Glocken der Isaakskathedrale, ein Meisterstück, mit den Basreliefen der großen Künstler Monferrando und Vitali, zu vernichten. 

Da es schwierig war, die Glocken in ihrer unversehrten Gestalt zu entfernen, so wurden sie zunächst in Stücke zerschlagen (s. "Prawda" 14. Jan. 1930). Nach der Schätzung der Behörden sollen die Glocken der Isaakskathedrale mehr als 6000 Pud Kupfer und Silber ergeben. Die Kathedrale soll in ein antireligiöses Museum verwandelt werden. Das Präsidium des Petersburger Sowjets hat verordnet, die Choralsynagoge auf der Großen Masterskaja-Straße zu schließen, ebenso die lutherische und die reformierte Kirche, und noch 4 orthodoxe Kirchen im Zentrum der Stadt. (Diese Nachricht bezieht sich schon auf das Jahr 1930, die vorangehende Notiz des "Besboshnik u Stanka" bezog sich auf den Herbst 1929.)

Besonders energisch in der Vernichtung der "Symbole der Religion" ist man in Woronesch und Brjansk vorgegangen. Über Smolensk teilt eine der Nummern des "Besboshnik", 1930, folgendes mit: Das Awraamievski-Kloster ist in ein Lokalarchiv umgewandelt worden, das Himmelfahrtskloster in einen Arbeiterklub der Drucker, die Muttergottes-

 

22)  Siehe noch "Wetscherniaja Moskwa", 1929. IV. 22; Prawda, 1930, I. 14; Prawda, 1929, X. 12 — über zahlreiche Kirchen und Kathedralen (in Kiew, in Nowgorod, in Petersburg), die in antireligiöse Museen verwandelt wurden.

449


Kirche in einen Klub der elektrischen Bahn, die obere Verkündigungskirche in ein Museum des Verbandes der Gottlosen, die untere Nikolajkirche in ein "Haus des Bauern", die Nikolo-Wwedenskaja in ein Depot des "Gosfond", die Bogos-lovskaja in eine Bibliothek, die Duchovskaja in einen Arbeiterklub, die Odigitrievskaja in einen Pionierklub, die Heilandskirche in ein Lokalmuseum.

Mitte Februar 1930 ist, wie uns die "Krasnaja Gaseta" mitteilt, die Kathedrale von Kronstadt geschlossen worden. Auf dem Großen Platz in Kronstadt wurde aus dieser Veranlassung ein antireligöses Meeting abgehalten unter der Beteiligung der Vertreter der Sowjetregierung.

Nur noch wenige weitere Tatsachen. Besonders stark ergoß sich die Welle der Kirchenschließungen über Rußland im Februar und Anfang März 1930. So sind z.B. in der Stadt Orjol die letzten 24 Kirchen geschlossen worden; der Verband der Gottlosen von Orjol brüstete sich damit, daß seine Stadt das erste große Zentrum sei, in dem alle Kirchen geschlossen worden sind. Die bolschewistische Zeitschrift "Der Gottlose an der Drehbank" ("Besboshnik u Stanka", 1930, Nr. 7) teilt uns mit, daß z.B. allein im Rjasanschen Bezirk binnen kurzer Zeit 192 Kirchen geschlossen worden sind, davon sind nur 31 "für kulturelle Bedürfnisse verwendet worden; 83 sind einfach verriegelt worden". 

Der "Antireligiosnik" (auch eine bolschewistische, antireligiöse Zeitschrift, Nr. 3, 1930) berichtet, daß im Bezirk Beschetzk vom 1. Oktober 1917 bis zum 1. September 1929 von 520 Kirchen nur 12 geschlossen worden waren. Dafür sind dort während der Weihnachtskampagne (1929) 100 Kirchen geschlossen worden. Im Kreis Molokowo schloß man 17 Kirchen aus der Gesamtzahl von 22. Im Bezirk Tula sind in der Zeit vom Oktober 1929 bis Ende Januar 1930 von 760 Kirchen 200 geschlossen, im Bezirk Serpuchow von 278 Kirchen — 100".

Zugleich sind jetzt die meisten Kirchen Rußlands, auch diejenigen, die noch nicht geschlossen sind, ihrer Glocken beraubt worden.

 

    "Auf Wunsch der Bevölkerung"   

Diese unzähligen Kirchen sollen übrigens "auf Wunsch der Bevölkerung geschlossen oder aufgehoben worden sein" — wie Rykof, der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, dem Ausland gegenüber ausdrücklich behauptet hat.

Diese Behauptung ließe sich aufrecht erhalten, wenn man unter "Bevölkerung" den winzigen Bruchteil derselben (nicht einmal ein Prozent),23) den der Verband der Gottlosen ausmacht, verstehen würde.

 

23)  Nach dem Berichte des Zentralkomitees des Bundes der Gottlosen, von einem gewissen Genossen Oleschtschuk auf der Tagung des Bundes im Juli 1929 vorgelesen, betrug die Zahl der Mitglieder des Bundes im Jahre 1928 240—250 000, dagegen 1929 ca. 1 Million; derselbe Oleschtschuk gab in der Zeitung "Prawda" für 1929 die Zahl 600 000 an. Die Gesamtbevölkerung Rußlands beträgt aber 150 Millionen. (Im April 1930 soll nach bolschewistischen Berichten die Zahl der "Gottlosen" schon auf 2K Millionen gestiegen sein — s. "Krasnaja Gaseta", 19. April 1930.)

450


Selbstverständlich gehören dessen Mitglieder auch zur "Bevölkerung". Ist es aber möglich und richtig, diese als "die Bevölkerung" zu bezeichnen? Und wie kann eine verschwindend kleine Minorität,24) oder vielmehr ein zufällig zusammengeworfener Haufen von halbwüchsigen Burschen oder Kindern, oft auch von Leuten, die nur vorübergehend an dem betreffenden Orte anwesend sind, im Namen der Bevölkerung sprechen und entscheiden? 

Der sogenannte "Wunsch der Bevölkerung" ist daher in der überwältigenden Anzahl von Fällen nur eine äußerliche Inszenierung, wobei der wirkliche Wille der Bevölkerung auf brutalste Weise vergewaltigt wird. Hier nur einige bolschewistische Berichte, die uns über die Art und Weise dieser Inszenierungen Aufschluß geben. So lesen wir z.B. in der "Schullehrer-Zeitung" vom 25. November 1929, daß auf Grund der Initiative der Schulkinder und der Lehrer, die sich an den Vorstand des Leningrader Sowjet wandten, die Cyril- und Methodiuskirche geschlossen worden ist, und der Kirchenraum der Schule N 103 zugewiesen wurde. "In dem Moskau-Narva-Viertel von Leningrad haben Tausende von Arbeitern die Schließung der Lettischen Lutherischen Kirche auf dem Sagorodny Prospekt verlangt", ("Besboshnik", 3. Januar 1930), d.h. Leute, die gar nichts mit dieser lutherischen Kirche zu tun hatten. Oder die Soldaten der N-Sky-Division verlangen "die unverzügliche Herunternähme aller Glocken der Stadt Tschernigof" ("Besboshnik", 11. Februar 1930).

"Perwomaisk. Die organisierten Kinder der Stadt verlangten die Enteignung der Kirche. Sie veranstalteten eine Demonstration, an der über 3000 Kinder teilnahmen. Gemäß dem Beschluß des städtischen Sowjets, ein Kinderkino ins Leben zu rufen, verlangten sie die sofortige Schließung der Kirche zwecks Durchführung dieses Beschlusses. In der Kirche sollte das Kino und eine Lesehalle für Kinder untergebracht werden." ("Komsomolskaja Prawda", Nr. 57, vom Jahre 1930.)

Alle folgenden, wie auch die oben angeführten Berichte stammen aus kommunistischen Quellen, und sind in ihrem unveränderten Wortlaut wiedergegeben:

"Im Dorfe Gorodischtsche kamen von 1572 vollberechtigten Bürgern zur Versammlung nur 128 Personen. Obgleich für die Entfernung der Glocken nur wenige stimmten, beschloß der Sowjet des Dorfes, die Enteignung der Glocken durchzuführen. ...."

 

24)  Siehe bei Jaroslawsky: bei uns "gehören 95 Prozent der Bevölkerung zu verschiedenen religiösen Konfessionen", "Na anti-religiosnom Fronte", S. 94, 109.

451


Im Dorfe Peschtschonka beschloß die Dorfbehörde, trotzdem die Versammlung dagegen stimmte, die Glocken zu entfernen. In der Stanitza Nagajewskaja "ist die Kirche trotz vielfacher Proteste, die nicht nur von Seiten der Kulaken erfolgten, geschlossen worden". ("Besboshnik" Nr. 14, 1930.)

"Es kam manchmal vor, daß die Stoßtrupps der Gottlosen die Häuser der Bauern eines Dorfes nacheinander absuchten und die Gottesbilder fortnahmen" ("Besboshnik", Nr. 18, 1930).

"Im Dorfe Remmle ist die Kirche auf Beschluß des Dorfaktivs25) geschlossen worden. Für die Schließung stimmten 23, dagegen 13, bei 9 Stimmenthaltungen." ("Besboshnik", Nr. 18, 1930.) Dieses Beispiel ist charakteristisch. In derselben Nummer des "Besboshnik" lesen wir weiter: "Manchmal wurde die Entfernung der Kirchenglocken an den Feiertagen oder auch während des Gottesdienstes vorgenommen. In der Stadt Morschansk waren die an einem Kirchenfeiertag zur Enteignung der Glocken Gekommenen betrunken." ("Besboshnik", Nr. 18, 1930.)

Noch lehrreicher scheint uns aber der Wortlaut des Erlasses des Zentral-Vollzugs-Komitees (W. Z. J. K.) der Sowjetunion vom 15. März 1930 zu sein, in dem öffentlich festgestellt wird, daß "die Praxis" eine Methode ausgearbeitet hat, "die Kirchen durch administratives Vorgehen zu schließen, und dieses Verfahren durch fingierte freiwillige Wunschäußerung der Bevölkerung zu verschleiern". ("Isvestija", 15. III 1930.) Diese seit Jahren geübte und allgemein bekannte Methode wurde nun gerügt: der Erlaß ist in einem Augenblick erschienen, wo es galt der um sich greifenden Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse Rechnung zu tragen und ihren wirklichen Wünschen etwas entgegenzukommen..... Diese

Wünsche äußerten sich aber in Versuchen der Bevölkerung, die Kirchen gegen gewaltsame Schließung zu verteidigen. Manchmal war es nur ein passiver Widerstand, durchaus loyal gegen die Sowjetbehörden, manchmal kam es beinahe oder auch tatsächlich zu Unruhen. Es wurden dann in erster Linie die Priester für alles verantwortlich gemacht und wegen "Konterrevolution" hingerichtet. Eine lange Reihe von solchen Erschießungen der Geistlichen aus dem Winter 1929/30 ist uns aus der kommunistischen Presse bekannt.

 

25) Gemeint sind die Kommunisten des Dorfes.

452


Solche Vorgänge haben sich z.B. im Dorfe Peski des Nikolaewschen Bezirkes, in der Stadt Wenjow (im Gouvernement Tula), in Kimry (im Mai 1929, der Gerichtsspruch erfolgte aber erst Ende November 1929) usw. abgespielt. Ausführliche und sehr belehrende Berichte über einzelne Vorgänge kann man z. B. in der bolschewistischen Zeitschrift "Besboshnik u Stanka" ("Der Gottlose an der Drehbank"), 1929, Nr. 21 und Nr. 18, und in der bolschewistischen Zeitung "Krasnaja Gazeta" ("Rote Zeitung") vom 29. November 1929 finden.

Uebrigens gibt es noch viele andere Möglichkeiten, das Erwünschte, nämlich die Schließung der Kirchen, zu erreichen: im Einklang mit den geltenden Rechtsnormen des Sowjetstaates. Eine Kirche kann "rechtlich" geschlossen werden:

1. wenn das Kirchengebäude nach dem Gutachten der Sowjetbehörden "für Staatszwecke oder soziale Zwecke notwendig wird";
2. wenn sich keine Gläubigen melden, um die Kirche in Nutznießung zu nehmen (z.B. wegen des unerschwinglich hohen Steuerzinses, oder wegen Verhaftung aller zu religiöser Initiative veranlagter Mitglieder der Gemeinde usw.);
3. wegen "amtlich" erwiesener "Baufälligkeit" der Kirche.

Man sieht, welches weite Feld "gesetzlicher" Möglichkeiten sich ohne weiteres ergibt. Es genügt z. B. eine kleine Vernachlässigung in der Reparatur, um die Kirche für "baufällig" zu erklären. Da die mannigfaltigen Steuern und die Versicherungsprämien in ganz phantastisch-willkürlicher Weise von den Lokalbehörden den Kirchen auferlegt werden, so ist es kein Wunder, daß die Gläubigen oft nicht imstande sind, diese ungeheuren Lasten zu tragen. Dann wird aber die Kirche ohne weiteres den Gläubigen weggenommen.

 

   Die Propaganda   

Sehen wir hier von den anderen Mitteln der antireligiösen Propaganda ab — von der Unmasse antireligiöser Literatur, von den Roten Lesehütten ("Isba-Tschitalnja") in den Dörfern usw. Verweilen wir nur noch bei den antireligiösen Karnevalsfesten, wie sie von den antireligiösen Verbänden und dem Komsomol unter Beistand der Behörden während des Weihnachts- und Osterfestes (Die heilige Nacht!) veranstaltet werden, um die Bevölkerung von der religiösen Feier fernzuhalten und um die Andacht der Gläubigen möglichst zu stören. Schon eine Reihe von Jahren hindurch bemühen sich die Kommunisten in dieser Richtung; mit besonderem Eifer gingen sie an die Arbeit z.B. im vorigen Jahre — 1929. Einige Auszüge aus den Sowjetzeitungen zeigen uns, mit welchem Ernst und mit welchem Aufwand die Sache betrieben wurde.

453


So zum Beispiel lesen wir in der Zeitung "Kabotschaja Moskwa" vom 4. Mai 1929 den folgenden Aufruf:

"Arbeiter, brich mit der Religion! Das jauchzende Geläute der Osterglocken verbirgt nur das schlaue Antlitz des Feindes der Revolution. Stelle dich in die Reihen der organisierten Gottlosen!"

Darauf folgt eine lange Aufzählung der verschiedensten Vergnügungen, die im Laufe der Osternacht stattfinden werden, um die Arbeiter von der kirchlichen Osterfeier wegzulocken; dabei diese charakteristische Anmerkung: "Am 4. Mai (Vorabend der Osternacht) fangen alle Theatervorstellungen um 10 Uhr abends an, ihr Schluß wird gegen 2 Uhr nachts angesetzt. Um 10 Uhr abends fangen ihre Arbeit alle Kinos der Stadt Moskau an. Kino-Aufführungen dauern bis 4 Uhr morgens." Das waren die Vorbereitungen zur "antireligiösen Schlacht"; und hier haben wir einige Beschreibungen, wie diese Anti-Osterfeier ausffel.

"Antireligiöse Kämpfe auf den Straßen und Plätzen Moskaus." Mit diesen emphatischen und sensationellen Worten wird in' großen Lettern von der Zeitung "Wetschernjaja Moskwa" (in der Nummer vom 7. Mai 1929) die Schilderung der "Osternachtsfront" überschrieben. Dann folgt noch eine zweite Ueberschrift: "Wie im Kriege."

"Vieles in dieser Nacht", so fängt dieser Aufsatz an, "erinnerte an den Krieg. Das Feuerwerk rasselte und platzte auf gleich Geschossen. Die Fackeln qualmten. Bataillone zogen vorüber. Tatsächlich war dies auch eine Schlacht. Eine ungewöhnliche Schlacht — wider die Kirche. Ganz Moskau mit seinen Boulevards, Straßen und Plätzen war das Aufmarschgebiet. . . . Schon von weitem her, wenn man sich der Christuskathedrale näherte, konnte man eine unbeschreibliche Menge Volkes auf dem Platze sehen. Alles ist da von Menschen überflutet. Zweierlei Schauspiele spielen sich ab: das eine dort, innerhalb der Marmormauern der Kirche, das andere hier, unter, dem Sternenhimmel, auf improvisierten Bühnen, im Leuchten der Fackeln und des Feuerwerkes. Die Aufmerksamkeit der vieltausendköpfigen Menge ist auf die Bühnen, auf die Karnevalszüge gerichtet. Hier wird auch getanzt; ein Meeting wechselt ab mit antireligiösen Spottliedern; plötzlich erscheint auf dem Platze ein riesengroßer Tank, von Karrikaturgestalten überfüllt, die Pfaffen und Ausbeuter darstellen" . . . usw. Bis 4 Uhr morgens folgten einander ohne Unterbrechung in der ganzen Stadt Bühnenstücke, Varietenummern, Kino-Aufführungen usw. Am Ochotny Rjad (Wild-und Geflügel-Markt) hat eine Gruppe von "Gottlosen" eine ganze Menge von "Götterfiguren" feierlich verbrannt. 

454


145.000 Exemplare der antireligiösen Broschüre Rumjantzews: "Ostern, seine Bedeutung und Herkunft" wurden auf Staatskosten verbreitet. Die "Komsomolskaja Prawda" meldete bereits am 24 April, daß 500 Fabriken beschlossen haben, die Arbeit an den Ostertagen nicht zu unterbrechen.

Die Anti-Osterkampagne des Jahres 1930 war durch das Verstummen der Glocken in Moskau und in den meisten Städten und Ortschaften Sowjetrußlands gekennzeichnet. Immer mehr wird der Kampf gegen die christlichen Feiertage mit Mitteln des Zwanges geführt. Die Beamten und die Fabrikarbeiter, die aus Anlaß der Feier nicht zum Dienst erschienen sind, werden gemaßregelt: sie müssen Geldbußen zahlen und werden mit Dienstentlassung bedroht. Die Moskauer Zeitungen brachten im Frühjahr 1930 einen zahlenmäßigen Ueberblick über das Erscheinen der Arbeiter zur Arbeit am ersten Ostertage: in einigen Fabriken waren diq Arbeiter vollzählig erschienen, in anderen 98 Prozent der Arbeiterschaft usw.26) -..

Der Zwang kommt auch in der Einführung der fünftägigen Woche und in der Abschaffung des Sonntags zum Ausdruck, weiter in der Unterdrückung jeglichen religiösen Schrifttums, im ge+ samten Zwangssystem des bolschewistischen Schul- und Erziehungswesens. Häufig werden während der Haussuchungen Bibeln, überhaupt religiöse Bücher konfisziert und vernichtet. Der Neudruck der Heiligen Schrift und der Bücher religiösen Inhalts wird nicht gestattet.27) Auch die Zusendung von religiösen Büchern aus dem Auslande ist unstatthaft: sie werden entweder vernichtet oder, wenn die Sendung eingeschrieben ist, an den Absender zurückbefördert, mit dem auf gestempelten Vermerk in französischer Sprache: "Retour comme interdit ä l'entree par TAdministratiön des ouvrages de presse." Dementsprechend hat auch die Verwaltung der berühmten Oeffentlichen Staatsbibliothek zu Leningrad (Petersburg) den Beschluß gefaßt, alle religiösen Bücher aus dem Bestand der Nachschlage- und Ausleihewerke der Bibliothek zu entfernen und sie hinfort nur auf Grund besonderer "Empfehlungen" für spezielle "Forscherarbeiten" benutzen zu lassen.

 

26)  Übrigens hatten nicht überall diese Zwangsmaßnahmen gleichen Erfolg. So wird aus Nishny-Nowgorod berichtet, daß dort auf der Istevsky-Fabrik 1000 Arbeiter während der Ostertage abwesend waren ("Komsomolskaja Prawda", 27. April 1930). Auf den "Baltischen" Werken, Leningrad, waren am 20. April (= ersten Ostertag) 495 Arbeiter nicht erschienen anstatt der üblichen 1000; auf den Roten Putilowschen Werken fehlten am 20. April 602 Arbeiter gegen die üblichen 2400 usw.
27)  Die sehr selten zu verzeichnenden Ausnahmen deuten immer auf eine besondere Verständigung mit der kommunistischen Staatspolizei (GPU.), deren Gewährungen in politischer Hinsicht nie umsonst erteilt werden.

455


   Die Schule   

Die Sowjetschule ist durchweg nicht neutral in Religionsfragen, sondern versucht mit allen möglichen Mitteln den Kindern Atheismus beizubringen. Sie ist daher ihrer Grundidee nach eine Bekenntnisschule (wie auch der Sowjetstaat ein Bekenntnisstaat ist), und zwar eine atheistische Bekenntnisschule.

Charakteristisch sind in diesem Zusammenhange die Worte, die der frühere Volkskommissar für Volksaufklärung, Lunatscharsky, auf dem, Mitte Mai 1929 stattgefundenen, allrussischen Rätekongreß in bezug auf die Bekämpfung des Glaubens in der Sowjetschule aussprach: "Mit Vergnügen las ich in Emigrantenzeitungen, daß der bekannte kulturelle Sadist Lunatscharsky sich jetzt damit beschäftige, den Sowjetkindern den Glauben zu nehmen. Mit Vergnügen erkläre ich, daß ich dieses Unkraut aus unseren Feldern und Gärten auf sadistische Art ausreißen und ausjäten will." Diese Deklaration ist bezeichnend. Seit einem Jahre ist nun auch auf diesem Gebiete eine wichtige Weiterentwicklung und zugleich eine endgültige Klärung eingetreten. Die Zeitschrift "Der Gottlose" ("Besboshnik") schildert diese Wendung im Heft 7 des Jahres 1929 folgendermaßen:

"Das Kommissariat für Volksbildung hat sich jetzt statt der nur a-religiösen, das Prinzip der anti-religiösen Erziehung in der Schule zu eigen gemacht. Eine Korrektur in bezug auf die Rechte der religiösen Organisationen ist in der Verfassung der USSR. aufgenommen worden. Der Kongreß der Gottlosen muß beide Tatsachen als einen großen Sieg der antireligiösen Bewegung kennzeichnen."

Kinder werden für spezielle antireligiöse Unterrichtskurse nach Moskau gebracht. Auf der Schule erhalten sie auch eine besonders eingehende antireligiöse Erziehung. Das Novemberheft (Nr. 11) 1929 der Zeitschrift "Der Gottlose" berichtet, daß in mehreren Schulen Moskaus kommunistische Lehrer den Schülern befohlen hätten, sich abwechselnd nach den benachbarten Kirchen zu begeben und sich alle diejenigen zu merken, die dorthin beten kommen, um zweimal täglich darüber einen Bericht an die kommunistischen Behörden einzureichen. Die Sowjetzeitschrift empfiehlt auch den übrigen Pädagogen, diesem Beispiel zu folgen, und versichert mit Genugtuung, dal« diese neue Methode der Spionage große Erfolge gezeitigt hat.

 

   Die Kollektivierung   

Die Kollektivierung der bäuerlichen Wirtschaften trägt auch eine ausgesprochen antireligiöse Spitze. Mitte Januar 1930 behauptete Jaroslawsky in einem Leitartikel, daß der berühmte "Fünfjahresplan" auf dem Gebiete der Landwirtschalt den "endgültigen Tod der religiösen Vorurteile" herbeiführen würde.28) Die "Bednota" schreibt: "Bei der Liquidation des Kulakentums als Klasse ist es notwendig, auch seine ideologische Umhüllung — die religiösen Organisationen, in Stücke zu brechen."29)

456


    Der Priesterstand   

Dieser ständige und vielseitige Druck lastet ganz ungeheuer auf dem Priesterstande. Die Kultusdiener (aber auch die Vorsteher und die leitenden Mitglieder der Kirchen-gemeinderäte) werden entrechtet: es wird ihnen das Wahlrecht und damit auch alle Sowjetbürgerrechte genommen; demzufolge bekommen sie auch keine Lebensmittelkarten und verlieren das Recht auf Wohnfläche in den Städten; sie werden daher immer wieder ohne weiteres aus ihren Behausungen herausgeworfen; daneben wird ihnen eine ungeheure Steuerlast auferlegt, und wenn sie nicht zahlen können, wird ihnen ihre ganze Habe enteignet. Entziehung der Lebensmittelkarten bedeutet im jetzigen Rußland langsamen Hungertod. Denn im Privathandel bekommt man Lebensmittel nur zu schwindelerregend hohen Preisen.

Ausrottung des Glaubens durch Verelendung, durch Aushungerung der Kultusdiener, aber auch der Gläubigen, die sich aktiv am Kirchenleben beteiligen, — ist wohl die härteste, aber auch die wirksamste Waffe. Hier einige Beispiele aus der Sowjetpresse.

"In den Schlüsselburger Werken arbeitete ein Diakon Trawnikof, der stellenlos war, nachdem die örtliche Kirche geschlossen worden ist. Die Gottlosen des Werkes beantragten bei der Verwaltung, den Diakon zu entlassen. Der Antrag wurde unverzüglich ausgeführt. Der Diakon, der nun ohne Arbeit geblieben war, warf sich in ein Eisloch der Newa."30)

"Im Ort Jegorjewskoje im Moskauer Bezirk wurde auf Verlangen der örtlichen Gottlosengruppe der 24 jährige Schlosser Ledenjoff entlassen, weil er das Amt eines Gemeindeältesten bekleidete."31)

"In Rybinsk wurde die Aerztin Maritzkaja entlassen, weil sie den Nonnen des örtlichen, jetzt geschlossenen Klosters kostenlos ärztliche Hilfe zuteil werden ließ."32)

Eine Person, die im Frühjahr 1930 aus Rußland eingetroffen ist, erzählt, daß sie mit eigenen Augen ein paarmal Priester gesehen hat, die in Kehrichthaufen herumsuchten, ob sie nicht etwas Eßbares darin fänden usw.

28) Prawda, 1930, 15. Januar.
29) Bednota, 1930, 16. Februar; vgl. auch im "Besboshnik u Stanka", Heft 2, 1930: "Der agressive Gottlose weiß selbst recht gut, daß ein "Kolchos" (Kollektivwirtschaft) mit einer Kirche und mit einem Popen etwas ist, was in eine humoristische Zeitschrift hineingehört".
30) Besboshnik, Nr. 391.
31) Ebendaselbst.
32) Besboshnik, Nr. 394.

457


    Die Verfolgung wird fortgesetzt   

Nach dem etwas zurückschraubenden Auftreten Stalins (Anfang März 1930) und dem erwähnten Erlasse des W.Z.J.K. vom 15. März 1930 — ist eine gewisse Änderung im Tempo und in der herausfordernden Offenheit dieses Ausrottungsverfahrens eingetreten. Der Kampf wird jedoch weiterfortgesetzt; nur nicht so hastig und nicht so ostentativ. Hier und da werden den Bauern auf dem Lande sogar die Kirchen zurückgegeben. Allein an vielen Orten gab es keine Priester mehr, da sie im Laufe des letzten Jahres hingerichtet oder verbannt wurden. ..... Der desorganisierende Stoß war einem Erdbeben gleich, und das Zerstörte läßt sich nicht so leicht aus einem gewährten "nudum jus" wiederherstellen; damit haben die Kommunisten auch von Anfang an, als sie den Stoß vornahmen, mit Sicherheit gerechnet.

Daneben werden aber immer neue Kirchen geschlossen oder gesprengt — wie z.B. die schöne Nikolai-Kathedrale in Charkow (Mitte Mai 1930). Bischöfe und Priester schmachten nach wie vor in Konzentrationslagern und Gefängnissen und verrichten Sklavenarbeit in dem jetzt weltbekannten Konzentrationslager Solowki; der Priesterstand bleibt entrechtet und der Verelendung ausgesetzt. In einem im "Observer" vom 17. August 1930 veröffentlichten Interview gab der gegenwärtige Sowjetkommissar für Volksbildung, Bubnoff, auf die Frage, ob in der Schule antireligiöse Propaganda gemacht werde, folgende Antwort: "Die Sowjetschule ruht auf einer wissenschaftlichen Basis und muß daher notwendigerweise antireligiös sein." Zehn neue "antireligiöse Universitäten" werden allein in Russisch-Zentralasien aus Staatsmitteln gegründet, und fangen demnächst ihre Arbeit an (siehe "Wetschernjaja Krasnaja Gaseta", 12. August 1930).

Im Einklang mit diesen Tatsachen steht auch das, was die kommunistische Presse über die Weiterführung des antireligiösen Kampfes schreibt. <Besboshnik> berichtet am 25. April 1930, daß "eine feste Linie ergriffen sei zur Verstärkung des weiteren Kampfes gegen die Religion." ... Ein Leitartikel des "Besboshnik" vom 30. Mai 1930 behauptet, die Hauptaufgabe bestehe darin, "die Arbeit auf der antireligiösen Front zu stärken". Und im Leitartikel vom 25. Mai 1930 lesen wir, daß "die Linie der Kommunistischen Partei eine Linie des entschiedenen und schonungslosen Kampfes gegen die Religion ist.... Die Weiterführung des Kampfes gegen die Religion ist eine der verantwortlichsten Aufgaben ......"

 

Auf diesen Kampf gegen die Religion können und werden die Kommunisten, solange sie Kommunisten sind, nie verzichten. Und mitten im Leiden wird von den Getreuen aller Religionen und Konfessionen der Glaube an Gott und die Freiheit des menschlichen Geistes bis ans Ende behauptet werden.

458

  # 

 

 ^^^^