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7  Das Gerichtswesen - Theorie und Praxis       Von Dr. A. Melkich

 

 

 

  Die Anfänge der Klassenjustiz  

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Die Geschichte des sowjetrussischen Gerichtswesens und der entsprechenden sowjetrussischen Gesetzgebung hat mit der Beseitigung aller früheren Gerichte und der Abschaffung aller bis zu der Zeit geltenden Gesetze begonnen (Dekret Nr. 1 vom 24. November 1917). 

Die bei der Bevölkerung beliebte Institution der Friedensrichter wurde nicht abgeschafft, sondern in ihrer Tätigkeit nur "provisorisch eingestellt", und zwar bis zum Ersatz derselben durch "Ortsgerichte, bestehend aus einem ständigen Ortsrichter und zwei Beisitzern, die wechselnd zu jeder Tagung aus der Reihe der in besonderen Listen geführten Beisitzer hinzugezogen werden"; ihnen wurde gestattet, sich der früheren Gesetze zu bedienen, sofern dieselben "von der Revolution nicht abgeändert waren und dem revolutionären Gewissen und dem revolutionären Rechts­bewußtsein nicht widersprachen".

Die Wahl der Richter durch die Lokalsowjets widersprach eigentlich dem Parteiprogramm der Kommunisten, welches noch auf dem 2. Kongreß derselben im Jahre 1903 ausgearbeitet worden war; desgleichen auch dem Dekret vom 24. November 1917, durch welches in Verfolgung des Partei­programms eine "demokratische" Grundlage der Wahlen proklamiert wurde. 

Aber das "demo­kratische Prinzip", das den Bolschewiken, bevor sie zur Macht gelangten, wünschenswert und notwendig erschien, "erwies sich nicht nur als unnütz, sondern sogar als für die Revolution schädlich", wie ein bekannter Sowjetjurist erklärte,1 und wurde durch Beschluß des VIII. Kommunistischen Kongresses im Jahre 1919 gänzlich aus dem Programm der Partei gestrichen. 

"Das Leben selbst" — führte der genannte Jurist aus — "hat dieses demokratische System weggefegt, in dem es ein Klassen­gericht forderte, welches im Kampfe mit den Feinden der Klasse Standhaftigkeit, Festigkeit und Entschlossenheit zum Schutze der Interessen der Revolution an den Tag zu legen hatte. Dieses Gericht konnte nicht ein Spiegel sein, der den Kampf wiederspiegelt, — es mußte eine Waffe werden".

Aus diesen Gründen wurden die Gerichte, welche zu sehr an die Institution der Friedensrichter erinnerten, schon im Dekret vom 24. November 1917 mit Mißtrauen behandelt.

Das Dekret schuf "revolutionäre Arbeiter- und Bauern-Tribunale, bestehend aus einem Vorsitzenden und sechs Beisitzern, die von den Gouvernement- und Städte-Sowjets gewählt wurden" (P. 8). Die Beisitzer wurden übrigens später für unnütz befunden. Diese Revolutionstribunale mußten "den Kampf gegen die konterrevolutionären Kräfte führen, um die Revolution und deren Errungenschaften zu schützen, — den Kampf mit Marodeuren, Plünderern, mit Sabotage und anderen Schädigungen und Vergehen der Kaufleute, der Industriellen, der Beamten und anderer Personen".

Die revolutionären Tribunale, welche in der ersten Zeit allenthalben: in den Gouvernements, in den Bezirken, Städten usw., ja beinahe in jeder größeren Sowjetbehörde entstanden, bildeten sich in ihrer weiteren Tätigkeit immer deutlicher zu einem Instrument der Klassenjustiz aus, welche logischerweise das System der "Diktatur des Proletariats" krönen mußte. Bald bildeten sie ein durchgebildetes Netz von "Ausnahmegerichten", eng verbunden mit der Wetscheka,1a) und ermöglichten es den Bolschewiken, ihre Macht über das ganze Reich auszudehnen.

 

   Die weitere Ausbildung   

Die Bestimmungen über die Gründung der revolutionären Tribunale vom 12. Mai 1919 unterstellte ihrer Machtbefugnis alle Vergehen gegen die Errungenschaften der Oktoberrevolution und gegen die Macht und die Autorität der Sowjetregierung, wobei keinerlei Einwände betreffs der Zuständigkeit des Gerichts, sofern dasselbe die eine oder andere Angelegenheit zur Aburteilung angenommen hatte, zugelassen waren; das Strafmaß wurde durch nichts beeinträchtigt oder begrenzt.

Da aber in diese Tribunale, gemäß Dekret vom 23. Juli 1921, "ausschließlich" verantwortungsbewußte, politische Parteimitglieder gewählt wurden, erwiesen sie sich "zu raschen und erbarmungslosen Repressalien gegen die Feinde der Revolution" besonders geeignet. In der Zeit des sogenannten "Kriegskommunismus" war, nach Ansicht der Sowjetjuristen, "die Vorzugsstellung der Tribunale eine unbedingte Notwendigkeit". "Soweit diese Epoche überhaupt einen Aufbau auf dem Gebiete des Gerichtswesens gestattete, mußten alle Kräfte den Revolutionstribunalen gewidmet werden. Diese waren die weittragenden Geschütze an der Front des Bürgerkrieges; ihre Urteile erteilten den Feinden auf ihre verzweifelten Angriffe nicht weniger grausame Antworten."2

1)  D. Rubinstein. Ugolownij Sud RSFSR. Moskau Staatsverlag, S. 17 (russ.). (Das Kriminalgericht der RSFSR.)
1a)  Politische Polizei des kommunistischen Staates, später Gepeu genannt; siehe den Aufsatz "Das System des Terrors" im vorliegenden Sammelwerke.
2)  D. Rubinstein. Op. cit. S. 19.

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Die Organe der "normalen Justiz" konnten solche Schläge nicht führen. Die Ortsgerichte "waren dem nicht angepaßt", den Feinden grausame Schläge zu versetzen, Schläge, die ihnen aber von den Revolutions­tribunalen versetzt wurden, da die ersteren sich, bis zu einem gewissen Grade, das äußere Ansehen von objektiven Gerichten bewahrt hatten. Ihnen stand das Recht zu — sich nach Gesetzen und sogar nach den alten Gesetzen, — wenn auch nur mit der angeführten Einschränkung: "soweit — als", — zu richten. Allerdings, höher als das Gesetz galt auch bei den Ortsgerichten das "revolutionäre Gewissen und das revolutionäre Rechtsbewußtsein", aber es gab nach dem Urteil des jetzigen Vorsitzenden des Obersten Gerichtes der RSFSR, Stutschka, "damals noch gar kein besonderes revolutionäres Rechtsbewußtsein",3) und das "bourgeoise Recht" "fuhr fort, unerlaubt, gleichsam unterirdisch, zu bestehen. Selbstverständlich lebte es auch weiter im Gehirn jedes beliebigen Kommunisten".4)

Die Ortsgerichte, die sich während des Bürgerkrieges und der Zeit des Kriegskommunismus für die Ziele der Sowjetmacht wenig eigneten, erwiesen sich indes sehr nützlich beim Uebergang zur sogenannten "Neuen ökonomischen Politik", die nach Lenins Worten als "ein strategischer Rückzug" vor dem Kapitalismus gedacht war.

 

    Das Wesen der "Neuen ökonomischen Politik"   

Das Neue an der "Neuen ökonomischen Politik" bestand in der Hauptsache darin, daß die Sowjetmacht nicht nur das "privatwirtschaftliche Element", mit dem sie bisher erfolglos gekämpft hatte, in bestimmten eng gezogenen Grenzen legalisierte, sondern daß sie den Versuch machte, einheimische und ausländische privatwirtschaftliche Kräfte für einen sogenannten "sozialistischen Aufbau" zu gewinnen.

Der Versuch, privatwirtschaftliche, "bourgeoise" Kräfte zum wirtschaftlichen Aufbau heranzuziehen, konnte natürlich nur nach Einführung einer Rechtsordnung einige Aussicht auf Erfolg haben, die doch wenigstens insoweit einer gesunden bürgerlichen Rechtsordnung glich, als sie auf geschriebenen Rechtsnormen aufgebaut war und ein bestimmtes Mindestmaß persönlicher und wirtschaftlicher Freiheit gewähren konnte. Eine solche "scheinbare" bürgerliche Rechtsordnung wurde dann auch durch eine Reihe von "Kodexen" geschaffen; sie festigte die "Eroberungen der Revolution" und ließ doch einen genügenden Spielraum, um die Revolution weiter zu "vertiefen".

Aus der Zahl dieser "Kodexe" müssen hier der strafrechtliche und der zivilrechtliche besonders hervorgehoben werden, da die Sowjetgerichte hauptsächlich mit diesen beiden arbeiten.

3)  P. Stutschka. Kurs sowetskago graschdanskago prava, I., 1927, S. 36. (Lehrbuch des Sowjet-Zivilrechts, russ.)
4)  Ebendaselbst, S. 37.

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    Der strafrechtliche Kodex 1922 und das Kriterium der <sozialen Gefährlichkeit>   

Der strafrechtliche Kodex wurde am 1. Juni 1922 eingeführt, und zwar, wie das Dekret erläuterte, "zum Schutze des Arbeiter- und Bauernstaates und der revolutionären Rechtsordnung vor ihren Verletzern und zur Schaffung fester Grundlagen des revolutionären Rechtsbewußtseins". Als Kriterium der strafrechtlichen Verantwortung wurde nicht mehr die Schuld, sondern die "soziale Gefährlichkeit" einer Handlung oder eines Verbrechers "unter den gegebenen Bedingungen des Ortes und der Zeit" angegeben. Als Verbrechen galt aber "jede aktive oder passive Tat, welche geeignet schien, Grundlagen des Sowjetstaates und die revolutionäre Rechtsordnung zu gefährden" (vgl. § 6). 

Um aber die Möglichkeit zu haben, "unter den gegebenen Bedingungen des Ortes und der Zeit" "jede aktive oder passive Tat" evtl. auch den Täter für "gemeingefährlich" anzusprechen, auch wenn im Kodex keine direkten Hinweise angegeben waren, "wurde verfügt, daß diejenigen Paragraphen des Kodex in Anwendung zu bringen seien, die für "nach Wichtigkeit und Art des Verbrechens" ähnliche Handlungen vorgesehen waren (§ 10). Damit wurde das grundlegende Axiom "nulluni crimen sine lege" vollständig zertreten. Später, mit der Einführung eines ausgearbeiteten Strafrechts, wurden diese den Sowjetgerichten erteilten Vollmachten noch erweitert. § 5 dieses neuen, ausgearbeiteten Strafrechts (vom Jahre 1926) untersagt den Gerichten, sofern eine "gemeingefährliche" Tat vorhanden ist, einem strafrechtlichen Verfahren überhaupt auszuweichen oder eine Strafverfolgung nur aus dem Grunde einzustellen, weil im Strafgesetzbuche die Merkmale dieser Tat nicht angegeben werden. So behielt sich die Sowjetregierung das Recht und die unbeschränkte Möglichkeit vor, Strafverfolgungen dort aufzunehmen, wo keinerlei v om Gesetze verbotene Handlungen vorlagen. Indem sie den "Klassengeist" des Sowjet-Strafrechts aufrechterhielt,5) überließ sie es den Gerichten, Repressivmaßnahmen nach "ihrem sozialen Rechtsbewußtsein" zu wählen und zu verhängen (§ 9, Zv. Kod. 1925).

 

   Regulierung der zivilrechtlichen Verhältnisse   

Nachdem die Sowjetmacht so den Arbeiter- und Bauernstaat vor Verletzungen der "revolutionären Rechts­ordnung" geschützt hatte (unter die auch verschiedene Rechtsübertretungen fallen, die meistenteils nach dem Zivilkodex geregelt werden, z. B. eine Reihe sogenannter "wirtschaftlicher Verbrechen"), trat sie an die Reform der zivilrechtlichen Verhältnisse heran, wobei sie auch hier die

 

5)  M. Issajew. Aufsatz "Ugolownoje prawo". Im Sammelwerk "Osnowy sowjetskago prawa". S. 436 (russ.).

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"Eroberungen der Revolution" unbedingt zu schützen suchte, um, wie sich Stutschka6) ausdrückt, "auch das bürgerliche Recht der Äquivalenz" den Zwecken des Kommunismus dienstbar zu machen. Um dies zu erreichen, behielt sie einerseits die sogenannten sozialen "Kommandohöhen" in ihrer Hand, andererseits suchte sie, das von ihr so wie so nur ungern gewährte Mindestmaß wirtschaftlicher Freiheit bedingt und abhängig zu gestalten.

 

"Die Kommandohöhen"

Als "Kommandohöhen", die dazu berufen wären, das privatwirtschaftliche Element im Lande zu bändigen und in Schranken zu halten, wurden von den Kommunisten selbst aufgezählt: a) die Diktatur des Proletariats; b) das alleinige Eigentumsrecht des Staates an den Produktionsmitteln; c) das Monopolrecht auf den Außenhandel und, wegen des engen Zusammenhangs mit diesem, auch auf den Binnenhandel (das Binnenhandels-Monopol wurde übrigens erst später eingeführt).

Ein gewisses Minimum an privat-wirtschaftlicher Freiheit war von der Sowjetmacht im Dekret vom 22. Mai 1922 — "über die grundsätzlichen Privatrechte und Vermögensrechte der Bürger" anerkannt worden. Aber auch in diesem Dekret war schon ein Vorbehalt gemacht worden, nämlich, daß dieses Minimum nur zum Zwecke der Entwicklung der produktiven Kräfte des Landes anerkannt werde. 

Dieser auf den ersten Blick harmlos erscheinende Vorbehalt sollte, nach Erläuterung der Sowjetjuristen,7) unterstreichen, daß die Sowjetmacht "zivile Rechtsfähigkeit durchaus nicht als etwas Unerläßliches, Selbstverständliches, als eine den Bürgern von Natur aus anhaftende Eigenschaft oder als ein notwendig vorauszusetzendes Naturrecht" ansehe, sondern daß sie die zivile Rechtsfähigkeit nur in streng begrenztem Maße und für die Erreichung genau angegebener Zwecke dulde. Dieser Gedanke kam auch in dem von den Sowjetjuristen eilig verfaßten Zivilkodex zum Ausdruck (am 1. Januar 1923 eingeführt; vgl. § 4 des Zivil-K.). Die grundlegende Tendenz dieses Kodex, der, was in der Absicht seiner Verfasser lag, nur ein sehr eng begrenztes Gebiet der Rechtsverhältnisse behandelte (fast nur das Sachrecht und das Obligationsrecht) war: "Alles, was nicht speziell gestattet ist, ist verböte n".8) 

6 Stutschka. Op. cit. S. 142.
7)  Siehe Rajewitsch "Chosajstwennoje prawo" im Sammelwerk "Osnowy sowjetskago prawa". S. 154 (russ.).
8)  P. I. Stutschka. Op. cit. S. 170. Vgl. seinen Aufsatz im Sammelwerk "Osnowy sowjetskago prawa", S. 156.

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In der Praxis späterhin mußte aber auch noch das Gebiet des "speziell Erlaubten" viel stärker nach den "allgemeinen politischen Richtlinien der Arbeiter- und Bauernregierung", d. h. der Kommunistischen Partei, bestimmt werden, als nach den Gesetzen, in denen die "grundsätzlichen Privatrechte und Vermögensrechte der Bürger" verankert waren. Eine ganze Reihe von Paragraphen des Zivilkodex und des im Anschluß daran ausgearbeiteten Zivilprozeßkodex eröffnete für die Sowjetgerichte die allerweitesten Möglichkeiten . . .

"Eine freiere Auslegung des Zivilkodex" — wie es in § 5 des Einführungsgesetzes zum Zivilkodex heißt — "wird nur in dem Falle gestattet, in dem es zum Schutz der Interessen des Arbeiter- und Bauernstaates sowie der werktätigen Massen erforderlich erscheint". "Die Zivilrechte werden vom Gesetze geschützt mit Ausnahme der Fälle, wo sie entgegen ihrer sozialwirtschafllichen Bestimmung ausgeübt werden" — lautet der sehr weite Anwendung findende § 1 des Zivilkodex.

"Wenn die Gesetze und Verordnungen nicht ausreichen zur Entscheidung einer Gerichtssache, so entscheidet das Gericht dieselbe nach allgemeinen Grundsätzen der Sowjetgesetzgebung und nach der allgemeinen Politik der Arbeiter- und Bauernregierung" — bestimmt § 4 des Zivilprozeßkodex, indem er den Punkt auf das i setzt.

Der Zivilprozeßkodex, der einen "sozialen Richter, einen Richter-Politiker" voraussetzt und sich "von jeglichem juristischen Fetischismus" freihält, gewährt diesem Richter das Recht, die Grenzen der formellen Gesetze zu überschreiten — in den Fällen, wo die Gesetze mit den Zielen der Arbeiter- und Bauernregierung nicht im Einklang stehen. In diesen Fällen "tritt das Gesetz hinter dem sozialistischen Rechtsbewußtsein zurück".9) So wurde der § 4 des Zivilprozeßkodex von den Sowjetjuristen erläutert.

Da man sich aber nicht völlig auf die politische Intuition und auf das "sozialistische Rechtsbewußtsein" des Richters verlassen wollte, ermächtigte der Gesetzgeber den Staatsanwalt, jedesmal, wenn es sich nach seinem Ermessen um die Interessen der werktätigen Massen oder des Arbeiter- und Bauernstaates handelt, in jeder Phase des Prozesses entweder für den Beklagten oder für den Kläger einzutreten (§ 2, Zivpr. - K.).

 

9)  Siehe im Sammelwerk "Osnowy sowjetskago prawa", S. 501.

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Das Kriterium des Klasseninteresses

Dies alles schuf eine legale Möglichkeit, den Umfang der Sowjet-Bürgerrechte veränderlich nach der "Methode der Rechtsregulierung" und jeweils in Anpassung an die Ziele und die allgemeine Politik der Sowjetregierung festzusetzen. Auch hierzu beeilten sich die Sowjet Juristen eine theoretische Rechtfertigung herzustellen, indem sie sich auf die Notwendigkeit beriefen, die "Interessen der Klasse in ihrem Ganzen" zu schützen.10) Diese "Interessen" der Klasse sind, wie sie erklären, nicht nur denen der Bourgeoisie und des einzelnen Bourgeois entgegengesetzt, sondern sie können auch mit den realen Interessen einzelner Bauern und Arbeiter nicht übereinstimmen, was auch tatsächlich vorkommt.

Es mag sein, daß die Klasse sich diese Interessen noch nicht zum Bewußtsein gebracht hat; ferner, daß diese Interessen einer Zweckbedeutung insofern entbehren, als nur ein bewußtes Interesse zum Zwecke wird. Objektiv sind die Interessen dennoch vorhanden. Sie zum Bewußtsein zu bringen, zu formulieren und dadurch zum Zwecke zu machen — ist die Aufgabe der Staatsmacht oder, was dasselbe ist, der kommunistischen Klassenpartei. Die "Interessen der Klasse in ihrem Ganzen" zum Zwecke zu erheben und dadurch dem Rechte überhaupt einen Zweck zu setzen, ist etwa so viel, wie eine "Rechtspolitik" schaffen und die Grundlagen für eine mögliche "Rechtsregulierung" abgeben. Aber die Durchführung einer Politik im Rechtsleben, was nach Stutschka "nichts anderes als die Durchführung einer Staatszweckmäßigkeit und demnach auch einer Klassenzweckmäßigkeit" bedeutet, setzt nicht nur eine ganz besondere Empfindlichkeit des Gesetzgebers allen Lebensfragen gegenüber, sondern auch einen, den politischen Klassenführern gehorsamen Gerichtsapparat voraus.

 

Die Gesetzerläuterung der NÖP-Periode

Unter diesen Bedingungen zeichnete sich die Epoche der NÖP. durch eine ungeheuer lebendige Betätigung der Sowjetregierung auf dem Gebiete der Gesetzgebung und der Gesetzerläuterung aus. Gleich einem Figaro bringt sie es fertig — bald hier, bald dort — die Rechtsnormen, die zur Grundlage der damals geführten NÖP.-Politik wurden, zu erläutern, zu ergänzen und zu vervollkommnen und gleichzeitig den "Fetischismus des Rechts" zu bekämpfen, der, wie einer der Verfasser des Zivilkodex sich ausdrückt,11) "noch ein viel berauschenderes und betäubenderes Opium für das Volk darstellt als selbst die Religion".

 

10)  Stutschka. Op. cit. S. 12-17, 131-142.
11)  Siehe Goichbarg. "Osnowy tschastnago imuschestwennago prawa". S. 1. ("Die Grundlagen des privaten Vermögensrechts", russ.)

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Um einen Begriff über die gesetzgeberische und gesetzerläuternde Tätigkeit der Sowjetmacht während der NÖP zu geben, genügt es zu sagen, daß die "Sammlung der Gesetze und Verordnungen der Arbeiter- und Bauernregierung" nur für die RSFSR. (Abt. 1) folgende Novellenunmengen enthält: Im Jahre 1923—1057 Novellen, 1924 — 916 Novellen, 1925 — 690, 1926 — 668, 192? — 838, 1928 — 940, und in der ersten Hälfte des Jahres 1929 — 457 Novellen. Daneben enthält die Sammlung der Gesetze und Verordnungen für die ganze UnionderSSSR. (Abt. 1) im Jahre 1924 — 265 Novellen, 1925 — 643 Novellen, 1926 — 629, 1927 — 696, 1928 — 645 und im ersten Halbjahr 1929 — 353 Novellen.

 

Das gegenwärtige System der Gerichtsbehörden

Einen in Bezug auf die Befehle der Staatsgewalt feinfühligen und gehorsamen Gerichtsapparat zu schaffen — das war die zweite wichtige Aufgabe der Sowjetregierung.

Ein dahinzielender Versuch wurde im Jahre 1922 gemacht: damals nämlich hat man es unternommen, die Volksgerichte und die revolutionären Tribunale zu verschmelzen und ein einheitliches System von Gerichtsbehörden herzustellen.

Dieses System, das bis zur heutigen Zeit keine wesentlichen Aenderungen erfahren hat, besteht aus drei Stufen:

A. dem Volksgericht,

B. dem Gouvernementsgericht,

C. dem Obersten Gericht der RSFSR.

Im Jahre 1923 wurde dieses "einheitliche System" durch das Oberste Gericht der Union (SSSR.) gekrönt. Ihm fiel die Aufgabe zu, im Bereiche der ganzen Union über die "revolutionäre Gesetzlichkeit" zu wachen und die Rechtssprechung aller Obersten Gerichte der einzelnen Republiken in Uebereinstimmung zu bringen.

 

Die charakteristischen Merkmale des "einheitlichen Gerichtssystems"

Die charakteristischen Merkmale dieses "einheitlichen Gerichtssystems" sind folgende:

1. Jedes Glied des "einheitlichen Systems" bildet ein Gericht erster Instanz für die ihm zustehenden Fragen. Es besteht aus einem ständigen, gewählten Richter und zwei nicht ständigen, gewählten Volksbeisitzern.

2. Apellationsinstanzen kennt das "einheitliche System" nicht; sie werden durch Kassations- und Revisionsinstanzen ersetzt. Als solche Kassations-Revi-sionsinstanzen fungieren die Gouvernementsgerichte für die Volksgerichte und das Oberste Gericht für die Gouvernementsgerichte. Das Oberste Gericht ist zugleich zuständig für die höchste Gerichtskontrolle über alle Gerichte der betreffenden Republik. Die Kassations-Revisionsinstanzen arbeiten kollegial in der Besetzung von drei ständigen Richtern.

3. Die höchste Verwaltungsbehörde für die Verwaltung der Gerichte ist das Justizkommissariat.

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Die "Volksbeisitzer" 

Die Beteiligung der "gewählten Volksbeisitzer" — aber nur in erster Instanz — bildet die erste besonders hervorzuhebende Eigenart der Sowjetgerichte. Es wäre indes verkehrt, diese Volksbeisitzer des Sowjetgerichts mit den Geschworenen oder den Schöffen des deutschen Gerichts zu vergleichen.

Der Sowjetjurist Rubinstein äußert sich zur Charakteristik der Rolle und der Bedeutung der Volksbeisitzer im System der Sowjetgerichte folgendermaßen:12) "Der Grundgedanke des Gesetzgebers, der unsere Gerichtsbarkeit auf dem Prinzip weitester Beteiligung von Volksvertretern aufbaute, bestand keineswegs in der Anerkennung der historischen Bedeutung dieses Institutes. Bei uns ist dieser Einrichtung eine politisch-gerichtliche Bedeutung beigemessen worden. Einerseits sichert sie die notwendige Höhe des Klassenprinzips, andererseits läßt sie jährlich zehntausende von Arbeitern durch unsere Gerichte gehen, läßt diese den proletarischen Staat schützen und damit zugleich eine Schule des "proletarischen Rechts durchmachen. So wird das Gericht zu einem organisierenden Faktor der sozialistischen Wirtschaft". Somit sind die Volksbeisitzer in keiner Weise "Gewissensrichter", wie es die Geschworenen sind. Aus gleichem Grunde haben sie nichts mit den Schöffen des deutschen Gerichts gemein. Sie sind auch keinesfalls Vertreter des Volkes — vielmehr sind sie Vertreter der Klasse oder, richtiger, der Kommunistischen Partei, und hüten nur deren Interessen. An der Wahl dieser Volksbeisitzer dürfen sich ausschließlich "klassenbewußte" und politisch zuverlässige Menschen beteiligen. In Verfolgung dieses Grundsatzes ist — 1. das aktive und passive Wahlrecht von einer Reihe Bedingungen abhängig gemacht, die erfüllt sein müssen, um die Zugehörigkeit der betreffenden Menschen zur privilegierten Klasse sicherzustellen (§ 18 der Gerichtsverfassung); 2. wird von den Kandidaten für den Posten eines Volksbeisitzers außerdem eine bestimmte "politische Vorbereitung" verlangt, eine Forderung, die besonders kategorisch in bezug auf die Wahl und Wählbarkeit zu den Gouvernementsgerichten zum Ausdruck gebracht ist; und 3. ist den Instanzen, welche die Aufgabe haben, die endgültige Zusammenstellung der Listen der Volksbeisitzer zu besorgen oder zu bestätigen, das Recht gegeben, einzelne Personen zu streichen.

 

12)  D. Rubinstein. Op. cit. S. 74. Die Sperrung stammt vom Verfasser des Aufsatzes.

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Außerordentlich einfach und offen werden die Listen der Volksbeisitzer für das Oberste Gericht zusammengestellt. Ein besonders geregeltes Verfahren ist vom Gesetz gar nicht vorgesehen, und infolgedessen hat das zuständige Präsidium des WZIK. darin völlig freie Hand. Desgleichen ist die Reihenfolge der einzuberufenden Volksbeisitzer zu den Sitzungen der Gouvernementsgerichte und des Obersten Gerichts vom Gesetz nicht vorgeschrieben. So bleibt nach Auslegung der Sowjetjuristen "dem Gerichte die Möglichkeit, aus der bestätigten Liste, Volksbeisitzer nach Zweckmäßigkeit einzuberufen".13) Mit anderen Worten ist dem Obersten Gericht und den Gouvernementsgerichten das Recht gegeben, die für bestimmte Zwecke politisch besonders geeigneten Volksbeisitzer auszusuchen. Was aber die Volksbeisitzer der Volksgerichte anbelangt, so werden sie in besonders eingeführten Uebungs-Lehrgängen unterwiesen, was unter "Interesse der führenden Klasse in ihrer Gesamtheit" zu verstehen ist. So steht es um die Volksbeisitzer. Und nun zu den Volksrichtern!

 

Die Volksrichter

"Der proletarische Richter ist durch seine Klasse zur richterlichen Arbeit berufen. Er verwirklicht das Klassenrecht und hält es für seine Pflicht, nicht nur zur Kommunistischen Partei zu gehören, sondern für sie auch aktive Arbeit zu leisten. Ein Bürger oder eine Bürgerin, die im Laufe von zwei Jahren die Schule des Kommunismus durchgemacht haben, d. h. sich an der professionellen Arbeit oder an der Parteiarbeit beteiligt haben — sind zweifellos gut vorbereitete Kandidaten für einen Richterposten. Sie besitzen schon die Eigenschaften, welche die größte Sicherheit gewähren für ein richtiges Funktionieren des Strafgerichtes".")

 

  Die Art der Ernennung der Richter und ihre Folgen  

 

Dies ist das Ideal des Kandidaten für einen Richterposten, wie es den Sowjetjuristen vorschwebt. Dementsprechend kommt es ihnen nicht so sehr darauf an, welchen Anforderungen die Anwärter auf Richterposten zu genügen haben, als vielmehr auf die Art und Weise ihrer Wahl, die in der Praxis einer Ernennung der Richter durch das Justizkommissariat gleichkommt.

Die Folgen dieses "Wahlsystems" liegen auf der Hand. Am 1. Januar 1929 gehörten nach offiziellen Angaben15) von 878 "verantwortlichen Angestellten" der Gouvernements- und Gebietsgerichte 91,6 Prozent der Kommunistischen Partei an, und nur 8,4 Prozent waren parteilos. 

13)  D. Rubinstein. Op. cit. S. 73. 
14)  D. Rubinstein. Op. cit. S. 48.
15)  Siehe die "Eshenedelnik Sowetskoj Justizn" (Wochenschrift der Sowjet Justiz). 1929, Nr. 6, Aufsatz von A. Stalmachomitz (russ.).

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Aus der Gesamtzahl von 3063 Volksrichtern der RSFSR waren 85,9 Prozent Kommunisten und 14,1 Prozent parteilos. Das Vorhandensein eines wenn auch geringen Prozentsatzes von parteilosen, aber der Kommunistischen Partei natürlich nahestehenden Richtern ist nicht so sehr auf Mängel des Wahlsystems zurückzuführen, als vielmehr darauf, daß es nicht genügend Kommunisten gibt, die für die betreffenden Posten geeignet wären und sie auch zu bekleiden wünschten. Wir stellen somit nochmals ausdrücklich fest, daß die Auswahl der Richter vollständig in den Händen des Justizkommissariats und der Kommunistischen Partei liegt. Dieselben Instanzen bestimmen auch die weitere Laufbahn der schon ernannten Richter.

 

Abhängigkeit und Absetzbarkeit der Sowjetrichter

Das Prinzip der Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit der Richter ist dem Rechtsbewußtsein der Sowjetjuristen vollständig fremd. "Diese beiden Prinzipien stellen", nach ihrer Ansicht, "einen der Fäden im kunstvollen Gespinst der bourgeoisen Verlogenheiten und Heucheleien dar, die unter dem Mantel verschiedener Rechtsgebiete sich eingenistet haben." - "Wollen wir für einen Augenblick an die Möglichkeit einer Verwirklichung dieser Prinzipien glauben: bestimmt würde in diesem Falle der Richterstand ausarten, da ja ein Zustrom neuer Kräfte ausbleiben müßte. Diese Richter würden eine geschlossene Kaste in engen Vorurteilen befangener und unglaublich egoistischer Menschen bilden."18

Um diesen entsetzlichen Folgen vorzubeugen, verordneten die Sowjetgesetzgeber 1. eine kurze Amtszeit für den Richterstand — d. h. nur ein Jahr; — gewährten sie 2. den Sowjetexekutivkomitees das Recht, die amtierenden Richter im beliebigen Augenblick nach eigenem Ermessen oder auf Wunsch des Justizkommissariats abzuberufen; — sicherten sie 3. auch der unmittelbaren Obrigkeit das Recht zu, auf dem Disziplinarwege eine Entlassung oder eine Versetzung der Richter auf einen niedrigeren Posten zu veranlassen. Als zulässiger Grund für die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens gegen einen Richter wurde unter anderem angegeben: "die Kassation eines seiner Urteilssprüche durch das Oberste Gericht; ein Urteil, das von dem Richter in offenbarer Nichtübereinstimmung mit den Gesetzen der RSFSR oder aber mit den Interessen der werktätigen Massen gefällt wurde" (§ 192, der Gerichtsverfassung).

Um in vollem Maße die Motive solcher Disziplinarverfahren würdigen zu können, muß man gewisse Eigentümlichkeiten des Sowjetkassationsgerichtes in seiner Praxis in Betracht ziehen. 

16)  D. Rubinstein. Op. cit. S. 49.

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Das Kassationsverfahren

Im Gegensatz zu den in der übrigen Welt üblichen Grundsätzen der Kassationsinstanzen begnügt sich das Sowjetkassationsgericht nicht mit der Behandlung formeller Verletzungen.

Das Sowjetkassationsgericht ist ausdrücklich verpflichtet, in einem Revisionsverfahren Inhalt und Wesen der Sache zu überprüfen (§ 412 der Gerichtsverfassung), ohne sich dabei an die Grenzen zu halten, die durch die Klage gezogen sind. Es darf die Urteile der ersten Instanz ändern, ohne die Sache einem anderen Gerichte zu einer neuen Begutachtung zu übergeben (§ 419 Str. Pr. Kod. und § 246 Ziv.Pr. Kod.). Und endlich — das ist das allerwesentlichste — darf das Sowjetkassationsgericht, ohne daß eine Kassationsklage vorliegt, nach eigenem Ermessen und aus eigener Initiative jedes Urteil der ersten Instanz aufheben und abändern, auch wenn es schon rechtskräftig geworden ist (§§ 426—430 Str. Pr. Kod., § 254 Ziv. Pr. Kod.).

Als zulässige Gründe für die Aufhebung oder Abänderung der Urteile untergeordneter Instanz sind unter anderen vorgesehen: "Ausgesprochene Ungerechtigkeit des Urteils" (§ 415 Str. Pr. Kod.). "Nichtübereinstimmung der Urteile mit den Grundlagen der Sowjetgesetzgebung oder mit der allgemeinen Politik der Regierung" (§§ 4 u. 237 Ziv. Pr. Kod.) usw.

Es ist nur folgerichtig, aber auch anerkennenswert aufrichtig, wenn der Vorsitzende des Zivilkassationskollegiums des Obersten Gerichtes in einem Berichte betont, daß "in der Praxis der Gerichte das Prinzip der revolutionären Gesetzlichkeit am besten eingehalten werden wird, wenn das Gericht in jedem einzelnen Falle, nicht in beamtenmäßiger Erfüllung der formellen Forderungen irgendeines veralteten Gesetzes" . . . "und nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes richtet, sondern nach den bestehenden Anforderungen der Parteipolitik und der Regierun g". Natürlich muß der Sowjetrichter solchen Zumutungen Folge leisten. Eine eventuelle Nichtbeachtung derselben würde ihm ein Disziplinarverfahren oder gar die Entlassung aus dem Amte eintragen. So huldigt er aus Pflichtgefühl den Anordnungen seiner Obrigkeit, von der sein Schicksal und seine Karriere abhängt. Und so sieht er sich auch gezwungen, "eine enge Verbindung mit den Parteikomitees herzustellen, um ihnen rechtzeitig von allen dem Sowjetstaate schadenden Ordnungswidrigkeiten berichten zu können.17) 

Der Richter begibt sich also ins Parteikomitee, um "Verbindung herzustellen", wobei er sich auch gleichzeitig Weisungen holt, wie er in der einen oder anderen Sache zu urteilen hat. Der Volkskommissar für Justiz, Janson stellt höchstselbst fest, daß die Gerichtsorgane der Sowjetunion die Neigung zeigen, zu "stummen Vollstreckern erteilter Richtlinien in jeder noch so minderwertigen Angelegenheit zu werden", und daß bei den Richtern nur der "eine Wunsch besteht, zu einem oder zum anderen hinzulaufen, um einen Teil seiner Verantwortung auf andere abzuwälzen."18

 

17)  Siehe "Wochenschrift der Sowjetjustiz". 1929, Nr. 9—10. Bericht des Volkskommissars für Justiz, Janson, an den V. Kongreß der Staatsanwaltschaft.

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Der Richter und die Partei

Eine besonders deutliche Vorstellung von der herrschenden Atmosphäre, von der Hörigkeit und Unterordnung, in der die Sowjetrichter arbeiten, gibt ein Rundschreiben desselben Volkskommissars für Justiz, Janson, in dem der lokalen Gerichtsobrigkeit vorgeschrieben wird, "aufs strengste darauf zu achten, daß in Zukunft, vom Augenblicke des Eingangs dieses Rundschreibens an, von den Volksrichtern kein einziges Urteil gefällt wird, das eine kurzfristige Freiheitsstrafe verhängt". "Es ist den Richtern besonders einzuschärfen", lautet das Rundschreiben weiter, "daß, falls eine solche Uebertretung nachgewiesen werden wird, der Richter selbst, der ein solches Urteil gefällt hat, unter Anklage wegen Nichterfüllung der Verordnung der Zentralregierung gestellt werden und aus eigener Erfahrung kennen lernen wird, was Zwangsarbeit heiß t."10) Dieses Rundschreiben bedarf kaum eines erläuternden Zusatzes.

Wie wir schon wissen, sind die Sowjetrichter in ihrer überwältigenden Mehrzahl Kommunisten. Ihr Klassenzensus ist einwandfrei, dagegen ist ihr Bildungsgrad kaum genügend. Verhältnismäßig gut steht es mit der Bildung bei den Volks-mitersuchungsrichtern, von denen 45 Prozent über mittlere Schulbildung verfügen und 6 Prozent sogar über höhere. Unter den Volksrichtern haben nur 4 Prozent eine mittlere Bildung zu verzeichnen; 2 Prozent haben gebietsjuristische Kurse durchgemacht (d.h. eine populäre Jurisprudenz-Schule); die übrigen 94 Prozent haben entweder nur eine Anfangsschule absolviert, oder entbehren jeglicher Bildung. In den Gouvernementsgerichten haben 74,8 Prozent Volksschulbildung zu verzeichnen, und nur 48 Personen haben Gebiets- oder höhere juristische Kurse durchgemacht.20)

Es wäre kaum gerechtfertigt, ungebildeten Menschen gegenüber mit hochgestellten Anforderungen aufzutreten. Ihre juristische Hilflosigkeit, ihre Unfähigkeit, die elementarsten Rechtsfragen zu analysieren und zu erledigen, ihre mangelnde Urteilskraft — Eigenschaften, die von der humoristischen Seite betrachtet, einzigartige Perlen der Komik zeitigten — machen

18)  "Wochenschrift der Sowjetjustiz". 1929, Nr. 9-10, Bericht von Janson.
19)  "Wochenschrift der Sowjetjustiz". 1929, Nr. 2, Rundschreiben Nr. 5, 14. Januar 1929.
20)  "Wochenschrift der Sowjet Justiz", 1929, Nr. 6 und 27, Aufsätze von Stalmachowitz.

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  Das sittliche Niveau  

 

ihre Lage überaus schwierig. Selbstverständlich fehlt es diesem parteimäßig so hoch qualifizierten Richterstande an Selbständigkeit in jeder Hinsicht, und daher hat sich eine Atmosphäre peinlichster politischer Liebedienerei über das ganze Gerichtswesen des Landes gebreitet.

"Unsere <Hervorgeschobenen>21) stoßen auf Bände von Gesetzen, auf amtliche Instruktionen und Rundschreiben, und kommen zu dem Schluß, daß man zuerst lernen muß und dann erst arbeiten darf. Daher gibt es auch sehr wenige, die bei uns arbeiten wollen."22) 

So wird die Sachlage von Sowjetbeamten geschildert, die sich Rechenschaft darüber abgeben, wie schwer die Arbeit des Richters ist. Die anderen suchen sich nur die Gunst ihrer Obrigkeit zu sichern, indem sie bedingungslos deren Richtlinien folgen. Solche Richter machen unter der Hand häufig nicht einwandfreie Geschäfte. Daher sieht sich die Obrigkeit genötigt festzustellen, daß im Sowjetgerichtsapparat 

"Leute zufällig und ohne genügende Prüfung angestellt werden. So kommt es dazu, daß von 1911 Menschen (24 Prozent des Gesamtbestandes), die jährlich aus den Behörden des Justizkommissariates ausscheiden, 35 Prozent wegen diskreditierender Handlungen, wegen Verbindungen mit klassenfremden Elementen, wegen Trunksucht, moralischer Zersetzung und krimineller Verbrechen entlassen werden; 25 Prozent werden wegen Untauglichkeit und die übrigen, — aus verschiedenen Gründen entlassen." 

Letzten Endes 

"ist bei uns niemand für seine Handlungen verantwortlich. Bei uns kann man einen Menschen ins Verhör schleppen, man kann ihn ohne sachlichen Grund in eine Korrektionsanstalt einsperren und dann wieder befreien. ... Man kann einen sinnlos beschuldigen, ihm eine Bürgschaft abfordern und die Ausreise untersagen, man kann ihn entehren. ... Um sich zu überzeugen, daß es tatsächlich so ist, genügen wenige Zahlen: 70% der Verfahren, die durch Untersuchungsbehörden gegangen sind, und 35 Prozent solcher, die vom Untersuchungsrichter und vom Staatsanwalt bearbeitet worden sind, werden eingestellt, 20 Prozent enden mit Freispruch. In die Gefängnisse werden 40 Prozent aller Angeklagten geworfen'".23

Dieses Zeugnis eines der höchsten Beamten des Justizkommissariats über die Eigenschaften der Gerichtsbeamten und den Wert ihrer Arbeit bedarf wohl keiner weiteren Erläuterungen.

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21)  Russisch: "wydwishenzi"; damit sind die Mitglieder der neu "hervorgeschobenen" Sowjetbürokratie gemeint, die neuen Beamten. Siehe die Aufsätze "Die Ziele und die Hoffnungen" und "Kommunismus als Beamtenherrschaff'. 
22)  "Wochenschrift der Sowjetzustiz", Nr. 9-10, 1929, VI. Kongreß der Gerichtsbeamten, 214.   23)  "Wochenschrift der Sowjetjustiz", 1929, Stalmachowitz, S. 594.

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