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8   Die Literatur   Von  Prof. N. Kulman

 

 

  Die Zerstörung  

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Jede Revolution im ungestümen Drange nach dem Neuen, wirkt zunächst niederreißend und hält alles Alte, oder wenigstens einen Teil des Früheren für ungerecht, scheußlich, unnütz und schädlich, das Neue aber — für schön, vielverheißend und frucht­bringend. Doch haben auch Revolutionen ihren "Honigmond" zu verzeichnen. Wenn die Leidenschaften verraucht sind und die Ernüchterung eingetreten ist, tritt die Vernunft wieder in ihre Rechte ein. Es wird der Saldo der Verluste und Gewinne gezogen, wobei der Wert der "Errungenschatten der Revolution" nur allzu häufig in ein sehr fragliches Licht rückt.

Eine von Sinnen gekommene Menge hat vielleicht noch nie und nirgends, in keiner anderen Revolution, so blindwütig alle materiellen und geistigen Güter zerschlagen, wie dies in der russischen Revolution geschehen ist. In dieser Zerstörungswut lag etwas ganz wildes; es war, möchte man sagen, eine Zerstörung aus Freude am Zerstören selbst. Der Held eines sowjetistischen Romans erklärt: "Wir bringen es nicht über uns, an einem leerstehenden Hause vorbeizugehen, ohne ihm die Fenster einzuschlagen."1)

Diese Zerstörung wurde äußerlich und innerlich in einer unerhört brutalen Art und Weise vollzogen. Wir lesen in einer offiziösen Sowjetzeitung: "Der 'Mutterschimpf'2) macht heute 75 Prozent aller von den Kommunisten ausgesprochenen Worte aus; sogar Kinder eignen sich beim Sprechenlernen vor allem die Schimpfwörter an."3)

Vom enthusiastischen Glauben an die Revolution war in Wirklichkeit nur ein kleines Häuflein ergriffen worden. Die große Masse ergab sich einfach dem Genuß an dem Ausleben ihrer verdrängten Instinkte. Aber je schlimmer der Rausch der Zerstörung wird, desto schmerzlicher und erschütternder wird auch die Ernüchterung.

Die russische Revolution ist noch nicht zu Ende, doch ist aus allem das Herannahen ihres Zusammen­bruchs schon zu spüren. Es mögen die Führer — aus Überzeugung oder aus Berechnung — noch immer die Sturmesglocke der Revolution läuten, das Volk hört sie nicht und will sie nicht hören.

1)  "Nowaja Skrishalj" von Romanoff.  2)  Ein im Deutschen nicht wiederzugebendes obszönes Schimpfwort.  3)  "Prawda" vom 30. IX. 1920.


Teils mit Wehmut, teils mit Reue sieht es vor sich die Trümmerberge aufgetürmt, glaubt gar nicht an die Lebensfähigkeit des neuen, kommunistischen "Aufbaues" und gedenkt der unzähligen Reichtümer, die nun begraben liegen und die durch ganze Reihen von Geschlechtern geschaffen worden waren, — und sucht instinktiv einen Ausweg. Es ist zweifellos, daß die Stunde der Wiedergeburt des russischen Volkes nicht weit ist. Bald wird mit einer wirklichen Aufrichtung des Zerstörten und mit der Schaffung von neuen Werten begonnen werden können, und zwar auf der Grundlage dessen, was in der Vergangenheit gesund, wertvoll und schön gewesen ist. Die Sturmglocke der Revolution tönt mit jedem Tage dumpfer, und ihre einstmals sieghaft aufrufenden Schläge verwandeln sich schon in Begräbnisklänge.

Selbstverständlich ist die Zukunft unklar, und es ist überhaupt schwer, sie vorauszusagen. Wenn wir aber versuchen, uns die Ergebnisse des kommunistischen Wirkens auf den verschiedenen Kulturgebieten zu vergegenwärtigen, so können wir schon heute einige ganz bestimmte Schlußfolgerungen ziehen. Jedenfalls liegt auf dem Gebiete der Literatur alles klar zutage: wir kennen wohl dasjenige, was die Kommunisten zerstören oder abschaffen wollten, und auch die neue sogenannte "proletarische" bzw. sowjetistische Literatur; wir können auch die Richtung erkennen, in welcher die russische Literatur sich weiterzuentwickeln verspricht.

 

Der Kommunistische Aufbau

Genau, wie auf allen anderen Gebieten, sind die Kommunisten und deren Mitläufer auch auf dem Gebiet der Literatur bestrebt gewesen, das Vermächtnis Lenins zu erfüllen, — zuerst zu zerstören und dann aufzubauen. Dieser Losung wurde gewissermaßen Folge geleistet, und es begann denn auch gleich in den ersten Jahren der Revolution ein eigenartiges literarisches Experimentieren in der offensichtlichen Absicht, mit der literarischen Tradition zu brechen. Dennoch fanden sich in diesen Versuchen Elemente der früheren extremen, künstlich hervorgebrachten Moderichtungen vor. Es tauchte eine Reihe kurzlebiger Strömungen mit vielsagenden Benennungen auf: — der Präsentismus, der Imashinismus, die Nitschewoken, der Biokosmismus, der Superdivismus u.a.m. Jede dieser Richtungen bemühte sich, die anderen im Radikalismus ihres Bruches mit der geistigen und nationalen Überlieferung zu übertrumpfen. Es handelte sich hierbei fast ausnahmslos um junge Menschen, deren Versuche eine Mischung von Unwissenheit, Ausgelassenheit und absichtlicher Verzerrung darstellten. Ein Programm, besonders ein marxistisches, war in diesen Erzeugnissen nicht zu bemerken. Es war nur eine Widerspiegelung der Zerstörungspsychose, die die Masse erfaßt hatte, auf dem Gebiete der Literatur. Nichts weiter.

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Später entstand auch eine "programmatische" Literatur, eine Literatur der "Epoche", die "proletarische" Literatur. Nach der Absicht der Führer sollte sie die Welt in Erstaunen versetzen.) "Von den Liedern des Proletariats werden die Wege des Erdkreises erglänzen", kündete ein kommunistischer Dichter, Radof, an. Es wurde tatsächlich auch viel Lärm um die sowjetrussische Literatur gemacht. Vor zwei Jahren erklärte Lunatscharsky stolz, daß sich in der Sowjetunion "eine riesige Woge der breit angelegten kommunistischen Kultur erhebt", und daß "die talentvollen Erzeugnisse der Literatur überall in Bächen aus dem Boden springen".5)

Diese Reklametrommel hat in größerem oder geringerem Maße ihr Echo in der ganzen Kulturwelt gefunden. Eine besonders große Aufmerksamkeit wurde der Sowjetliteratur in Deutschland entgegengebracht, was sowohl in der Übersetzung sowjetrussischer Schriftsteller, als auch in Aufsätzen über sie zum Ausdruck kam. Bedeutend weniger wurde die Sowjetliteratur in Frankreich beachtet, am wenigsten in den angelsächsischen Ländern. Es haben sich aber auch einige amerikanische Kritiker bemüht, Interesse für sie zu erwecken. Sie vermerken, als bezeichnende Eigentümlichkeit der Sowjetliteratur, deren völlige Absage an die Welt Tolstois, Dostojewskys, Gontscharoffs, Andrejews (übrigens eine sonderbare Zusammenstellung von Namen!) und versuchen in ihr den Ausdruck einer Energie und eines Kräfteüberschusses, den Aufruf zu neuen Idealen, neue Stilformen und eine Bereicherung des Wortschatzes zu sehen.6)

Es ist nicht leicht festzustellen, worauf eine derartige Beachtung und Schätzung der Sowjetliteratur zurückzuführen ist,— auf einfache und natürliche Neugierde, auf eine naive Entzückung oder auf den freundlichen Wunsch, den Kommunisten einen Dienst zu erweisen. In einzelnen Fällen werden wohl alle drei Triebfedern mitgespielt haben. Wie dem auch sein mag, können wir doch, nach einem 13jährigen Bestehen der kommunistischen Macht, in einer ruhigen Art, sine ira et studio, an die Charakteristik des literarischen Lebens im Sowjetlande herantreten.

 

4)  Die eigentliche Idee einer besonderen "proletarischen" Literatur war nicht neu. Schon im Jahre 1914 war ein von Maxim Gorki redigiertes Sammelwerk unbegabter "proletarischer" Schriftsteller erschienen. In der Einleitung zu diesem Sammelwerk schrieb M. Gorki, daß man sich an die Herausgabe desselben einst erinnern werde, als an den ersten Versuch des "russischen Proletariats, eine eigene schöne Literatur zu schaffen."
5)  "Thesen über die Aufgaben der marxistischen Kritik." ("Nowij Mir", Nr. 6, 1928 (russ.).
6)  Calverton in "The Modern Quaterley", June-September 1927; Elias Tobenkin in "Bookman", January 1928; John Cournos, ein anglo-amerikanischer Schriftsteller, der jUebersetzer von Ssologub in die englische Sprache, in "Monthly Cnterion", 1928.

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Die Ausgewanderten

Als die kommunistische Macht sich konstituiert hatte, erwies es sich, daß fast alle bedeutenden russischen Schriftsteller, der Glanz der russischen Literatur, nach und nach sich jenseits der russischen Grenzen begeben haben (Bunin, Balmont, Schmeloff, Kuprin, Mereschkowski, Remisoff, Boris Saizew, Amfiteatrof, der jetzt verstorbene Arzybaschew, Sinaida Hippius, Teffi, B. Lasarewski, Nemirowitsch-Dantschenko, Eug, Tschirikoff; hierbei sind die jüngeren noch nicht einmal aufgezählt).

Die einen früher, die anderen später, hatten sie alle die Bitterkeit eines Flüchtlingsdaseins in der Fremde dem Stande eines Sklaven in der Heimat vorgezogen. Auch ist es bemerkenswert, daß die Mehrzahl der Schriftsteller zu einer Zeit auswanderte, als (im Jahre 1921) der verlockende Aufruf erklang: "Die Krise ist vorüber. Die Lage hat sich geklärt. Ihr habt entweder dieses euch verhaßte Rußland anzuerkennen, oder Rußland ganz zu verlieren."

Da verstanden die Schriftsteller, daß sie Rußland viel eher in Rußland verlieren würden, und verließen die Heimat einer nach dem anderen. Und wahrlich, wie konnten diejenigen Menschen nach Rußland einladen, welche diesen Namen ausgelöscht hatten, und ohne Umstände erklärten, daß die neue Epoche "Rußland als Opfer abschlachte" und daß "Rußland kein Territorium mehr sei, sondern nur die Funktion der Kultur­beschleunigung der Menschheit, das Bindeglied von Weltteilen, die Weltintelligenz im System der Völker.7)

Die wenigen wirklich begabten Schriftsteller, die in Rußland verblieben, standen vor der Wahl, entweder auf ihre menschliche und dichterische Würde zu verzichten, oder sich in den Tod hineinzuschweigen. Wer dem Ideal eines Dichters nicht untreu werden wollte, mußte ein düsteres Dasein auf sich nehmen. Einige wurden zu Schweigern; das Schicksal anderer nahm ein wahrhaft entsetzliches Ende.

 

Das Martyrium

Gumilew, ein begabter Lyriker, wurde verhaftet und auf eine grausame Weise aus einfachem Verdacht, ohne jegliches Gerichtsverfahren erschossen.

Rosanof, den Hungertod vor Augen, diktierte seiner Tochter die "letzten Gedanken". Wohl kann es einem Europäer schwer fallen, sich das Maß des russischen Leidens vorzustellen, — jene Atmosphäre der Sklaverei, der Kälte und des Hungers, in welche dieser berühmte Kritiker und Philosoph geraten war, zu vergegenwärtigen. ... 

7)  Leshnew in "Rossija", Nr. 5, 1924.

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"Nadja, zünde den Kienspan8) wieder an, schnell, man kann nicht mehr warten, er verlöscht gleich wieder. Während er brennt, können wir noch für einen Rubel schreiben. ... Keine Hoffnung, sich zu erwärmen! Alles Glühende, Heiße kommt mir als eine unsagbare Seligkeit vor, die dem Sterblichen und dem Schicksal der Sterblichen vollständig unzugänglich ist. Darum bieten die <Hölle> oder die Flamme nichts Schreckliches, viel eher etwas Ersehntes. Das ist ja alles zur Erwärmung gut, die Erwärmung ist aber das einzige Erwünschte. Gemütszustand — gibt es gar nicht. Weil es auch keinen Geist mehr gibt. Es ist nur Materie vorhanden, Ausgezehrtes, einem Lappen gleich, der auf irgendwelche Haxen angehängt ist. Der Körper ist so ausgezehrt, daß nichts Geistiges mehr einfällt." 

Rosanof stirbt an Auszehrung, — ein Skelett in Lumpen, zerfressen von Hunger und Kälte.

 

Der begabte Dichter und Schriftsteller Fjodor Ssollogub bekundet in einem Gedicht, das er vor seinem Tode für sich selbst geschrieben hatte (für andere konnte er unter den Kommunisten nur schweigen), mit der Hoffnungslosigkeit eines Fatalisten:

Erstarrt von rauhem Unbehagen 
Wie ein im Sturm zerschlagner Kahn 
Werd' ich vom Riesenstrom getragen, 
Der grausen Wogen Spiel und Wahn.

Der Dichter Alexander Block, der in seinem Poem "Die Zwölf", ein "Hosianna" der Revolution gesungen hatte, verzichtete bald darauf selbst auf die Idee. Das kommunistische "Paradies" erschien ihm als das Grab des lebendigen Geistes, und er verließ diese Welt in einem eigenartigen Zustande tragischer Ergebenheit — er starb in Hunger und Elend an Skorbut.

Jessenin haben die Kommunisten als ihren Dichter anerkannt. Sie rühmten sich seiner und benutzten ihn zur Reklame. Jessenin wollte aber Russe bleiben. Der Verfasser der "Inonia" liebte Rußland und vermochte nicht, sich um des Kommunismus willen von seinem Vaterlande loszusagen. Das wurde sofort vermerkt, und nun wurde unnachgiebig von ihm verlangt, er solle "Schulter an Schulter mit der Epoche als ihr Herold marschieren". Er sollte die "Leninsche Inonia"9) besingen. Jessenin, der Sänger der Revolution, ging darauf doch nicht ein.

8)  Für Nichtkommunisten gab es damals keine andere Beleuchtung. Sogar der berühmte Physiologe Pawlof mußte bei Kienspanbeleuchtung arbeiten. Auch die geniale Moskauer Schauspielerin Olga Ssadowskaja wurde auf ihrem Sterbebette bei der letzten ärztlichen Untersuchung durch brennendes Kienspan beleuchtet. 
9)  "Krasnaja Nowj", Nr. 1-2, 1924.

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In einem seiner letzten Gedichte rief er in Verzweiflung aus:

Das ist ein Land! Und ich zum eitlen Tand — 
Ich brüllt' in Versen, ich wär' mit dem Volk befreundet?! 
Nein, meine Dichtung schlägt hier in den Sand 
Und schließlich werd' ich selbst als unnütz angefeindet. 

Jessenin setzte seinem Leben durch Selbstmord ein Ende.

 

Andrej Ssobolj, ein begabter Schriftsteller, verzehrte sich unter dem Druck der materiellen Verhältnisse. Im harten Winter 1925 mußte er seinen Ofen aus Mangel an anderem Brennstoff mit Möbeln und Büchern heizen; mit eigenartigem Friedhofshumor erzählte er dabei, daß die Werke von Heine besser als andere im Ofen verbrennen. Er litt aber auch moralisch. Ssobolj war bereit, "der Revolution zu lauschen", forderte aber nur eines — das Recht, ohne bestimmte Weisung schreiben zu dürfen, ohne fragen zu müssen: "Was beliebt?" 

Er behauptete, daß die schöne Literatur ohne diese elementare Freiheit des künstlerischen Schaffens zu einer Art "Unterabteilung einer professionellen Nachhilfe-Zeche" wird, der Künstler aber "im besten Fall zum Profagitator",10) im schlimmeren — zum "Trommler". "Und wenn wir nur die untergeordneten Finger an einer gewissen eisernen Hand wären", versuchte Ssobolj zu argumentieren, "so müßten wir uns wenigstens weigern dürfen, unsere Bewegungen nur nach den Anweisungen des einen Zeigefingers auszuführen". Das war ein Herausfordern eines verzweifelten Menschen. Bald danach beging Ssobolj Selbstmord.

Unter den von früher her bekannten Schriftstellern fanden sich natürlich auch einige, die ihre Gaben zum Werkzeug der Liebedienerei machten (der verstorbene W. Brjussoff, A. Bjely, S. Gorodetzki, A. N. Tolstoj, Maxim Gorki, welch letzterer es allerdings vorzog, seinen Wohnsitz in Sorrento aufzuschlagen und die Maßnahmen des Terrors von ferne zu preisen). 

Zur Ehre der russischen Literatur muß aber festgestellt werden, daß es sich nur um vereinzelte Ausnahmen handelt. Daß diese Ausnahmefälle vorkamen, kann nicht Wunder nehmen, denn zu allen Zeiten und unter allen möglichen politischen Regimes haben sich, vielleicht als Ausnahme, Schriftsteller mit Sklavenseelen gefunden. Unter der Diktatur der Kommunisten hat aber der Schriftsteller auch eine besonders enge Wahl — entweder zugrunde zu gehen, oder auszuwandern, sich in Schweigen zu hüllen oder sich irgendwie anzupassen. 

10)  D. i. professioneller Agitator.

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Wenn z.B. in der Sowjetunion ein Professor für allgemeine Pathologie, um sich seinen Lehrstuhl zu erhalten, beweisen muß, daß er selbst "der Epoche der sozialistischen Rekonstruktion der Wirtschaft entspricht"; oder wenn ein akademischer Sprachforscher in seinem Buch "Die Sprachkunde und der Materialismus", der kommunistischen Regierung fröhnend, ausführen muß, "daß es keine allgemein-nationale Sprache gibt, sondern nur eine Klassensprache", — so ist es schon erst recht möglich, daß manche Dichter — aus Willensschwäche oder aus mangelnder sittlicher Widerstandskraft — sich der "geltenden", von den Kommunisten vorgeschriebenen Richtung nicht werden entziehen können. ...

 

Was wird gefordert ?

Der Marxismus ist in der Sowjetunion gleichsam eine obligatorische "Religion": wer an ihre Dogmen nicht glaubt» ihren Ritus nicht befolgt, ihren Priestern nicht huldigt und sich vor ihren Göttern nicht demütigt — wird entweder verstoßen oder in Verdacht genommen. Die "proletarischen" Versemacher (Dichter kann man sie beim besten Willen nicht nennen) singen zwar, daß mit Lenin, diesem "Führer", diesem "Genie" und "Schöpfer einer neuen Welt" — "die Sonne einen neuen Glanz erhalten habe" und "das Morgenrot der Freiheit aufgegangen sei" ...; aber in Wahrheit ist die russische Literatur in so eine Klemme geraten, wie es noch nie und nirgends, auch in den Ländern mit der härtesten Despotie, irgendwie vorgekommen ist. 

Die Schriftsteller werden vor solche Forderungen gestellt, wie sie noch von keiner Regierung oder Zensur der Welt erhoben worden sind.

Eine Pressefreiheit kann es im Sowjetstaat überhaupt nicht geben, und das dichterische Schaffen ist dort, wie jedes freie Denken, in Ketten gelegt worden. Das ergibt sich zwangsläufig aus dem Wesen der kommunistischen Literatur. Die Literatur hat eine bestimmte offizielle Aufgabe zu erfüllen, — hat Klassenliteratur zu sein. Vom Standpunkt der Sowjetmacht ist die Literatur nur ein Werkzeug der sozialen Organisation; augenblicklich hat sie den Interessen der proletarischen Literatur und dem sozialistischen Aufbau zu dienen. Wenn jede Klasse — nach den Anschauungen der Kommunisten — ihre eigene besondere Klassenwahrheit besitzt, so muß die zeitgenössische russische Literatur die "Wahrheit des Proletariats" zum Ausdruck bringen. Wie das Proletariat seinen Siegeszug in drei Etappen durchschreitet, — Eroberung der Macht, Wiederherstellung der Wirtschaft, Aufbau des Sozialismus, — so muß auch die Literatur mit diesen Etappen Schritt halten. Der Schriftsteller "ist verpflichtet» sich den Standpunkt der Klasse anzueignen und den Marxismus nicht nur als ein soziologisches System, sondern auch als eine großartige Kulturbewegung zu verstehen".11)

11)  "Nowij Mir", 1928, Nr. 7 (russ.).

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Der "soziale Auftrag"

Die Literatur darf, nach der Meinung der Kommunisten, ohne "sozialen Auftrag" nicht bestehen, der Schriftsteller aber muß einen "sicheren Klassenspürsinn, sowie eine "thematische Aktualität" besitzen und es verstehen, "in den Mittelpunkt seiner Erzählung immer eine bedeutsame Erscheinung des sozialen Lebens zu stellen". Er wird sogar für seine Helden verantwortlich gemacht. Uns mag ein solches Postulat ganz widersinnig erscheinen, vom Standpunkt der Kommunisten ist dies aber ganz natürlich. 

Dementsprechend macht z.B. die orthodoxale kommunistische Kritik dem begabtesten Schriftsteller der Sowjetliteratur, Leonof, folgende Bemerkung: "Wenn wir hören, wie seine Helden die Zweckmäßigkeit bezweifeln, um des 'unerreichbaren' sozialistischen Ideals willen Blut zu vergießen, — so hat der Leser keinen genügenden Grund, anzunehmen, daß es nicht der Dichter selbst ist, der durch den Mund der betreffenden handelnden Personen spricht."12) Aus demselben Grunde wird dem Schriftsteller Pilnjak vorgehalten, er besitze "keine Klarheit in seiner Grundeinstellung" und lehne häufig in seinen Werken die Aufmerksamkeit von den Verhältnissen in der Sowjetunion ab.

Diese Ansicht, der zufolge der Dichter die Aufgabe hätte, "soziale Aufträge" auszuführen, findet beredten Ausdruck in einem Gedicht von Demjan Bjednij, der den Ehrentitel eines "Trommlers der Revolution" trägt:

O, die vielen Reimflechter — ungefähr nicht zu zählen! 
Und es sagt ihnen niemand — was nicht zu verhehlen, 
Daß die Dichtkunst, die "reine", — nur ein Trugbild; 
Daß, zum Beispiel, die Sowjetmuse mit ihrer Gesinnung 
Nur ein Mitglied ist der roten Innung, 
Ein Mitglied, und zwar ein gemeines.....

 

12)  D. Gorbof, "Nowij Mir", 1928, Nr. 10. — Derselbe Vorwurf wird gegen Bachmetjew erhoben, den Verfasser eines künstlerischschwachen Romans "Martins Verbrechen", der jedoch in Rußland Aufsehen erregt hat. Martin ist kein gewöhnlicher Kommunist und kein einfacher Proletarier: sein Vater ist ein Fischer, seine Mutter stammt aus einer reichen Gutsbesitzerfamilie. Nach der Grundidee des Verfassers hat er eine hervorstechende Individualität, einen Zug zu allem Ungewöhnlichen und Unüberwindlichen und einen Drang zur Einsamkeit. Der kommunistische Kritiker äußert sich darüber folgendermaßen: "Wenn das Problem auf eine im höchsten Grade individualisierte Persönlichkeit projiziert wird, wenn das Problem auf einen solchen Menschen zugeschnitten ist, wie er in dieser Art sehr selten unter uns zu finden ist, also gewissermaßen auf einen weißen Raben in einem Schwärm von Dohlen, — dann ist es berechtigt, die Nützlichkeit des Problems und seinen demokratischen Charakter in Zweifel zu ziehen". Sei. Steinmann in "Swesda", 1928, Nr. 4.

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Die kommunistische Regierung, ihre Aufgaben, ihre Ideologie und ihre Verwaltungsmethoden müssen natürlich zum Gegenstand besonderer Verehrung und Begeisterung der Dichter werden. Manchmal steigert sich diese Lobpreisung bis zu einer merkwürdigen Unverschämtheit. Ein Versemacher ruft z.B. aus:

Dieser Quatsch! ... "Hunger" ... "Tscheka" ... 
Die Halunken verstehen zu lügen ....13)

Dies wurde in einer Zeit geschrieben, wo die Leistungen der Tscheka allen und jedem bekannt waren; in einer Zeit, wo sogar die offiziöse "Prawda" berichtete, daß die aus Hunger entstandene "Menschen- und Leichenfresserei zu einer Massenerscheinung wird"; und wo in dem Werk des sowjetrussischen Schriftstellers Marienhof "Die Zyniker" folgende Zeilen zu lesen waren: "In Slovenka, Kreis Pugatschoff, verteilte die Bäuerin Golodkina die Leiche ihrer verstorbenen Tochter in gleichen Teilen an ihre noch lebenden Kinder. Die Hände der Verstorbenen wurden aber von den Waisen Sseliwanoff gestohlen".

Es werden noch andere Ansprüche an den Schriftsteller im Sowjetland gestellt: er ist verpflichtet, ein "sozialistisches Bewußtsein zu haben, die bürgerlich-kapitalistische Welt zu hassen, nicht dem Individuum, sondern dem Kollektiv zu huldigen" — dem Beherrscher des Lebens und dem Richter der Moral. Die Persönlichkeit muß überhaupt überwunden und alles Persönliche im Namen des sozialen Ganzen ausgetilgt werden. 

Diese Eigenart der kommunistischen Lebensordnung wird in dem von der Sowjetregierung verbotenen, vorzüglich geschriebenen Roman von Samjatin "Wir" anschaulich geschildert; sie wird hier enthüllt in ihrer ganzen Lächerlichkeit und Entsetzlichkeit.

 

Selbstverständlich haben sich nicht alle in Rußland lebenden Schriftsteller in blinde Werkzeuge der Kommunisten verwandeln lassen. Bald nach Beginn der Oktoberrevolution haben sich diejenigen Schriftsteller, welche die literarische Tätigkeit nicht aufgeben wollten, nach und nach unwillkürlich in zwei Hauptgruppen geteilt. Die eine Gruppe umfaßt die tatsächlich sowjetistisch gesinnten, "proletarischen" Schriftsteller. Sie bemühen sich, den marxistischen Anweisungen streng zu folgen; sie übernehmen und führen die sogenannten "sozialen Aufträge" aus; sie verwandeln ihre Literaturwerke in Hymnen und Lobreden auf die kommunistische Macht und auf das Proletariat und wachen aufmerksam darüber, daß die Anderen keinerlei Abschwenkungen auf die Seite der "bürgerlich-kapitalistischen" Literatur hin begehen. Sie halten sich für das Salz der Erde. 

 

13)  Michael Danilof im Gedicht "Der Neger Dshim".

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Ihr Organ "Na Postu" (Auf dem Posten) wurde zu dem besonderen Zweck gegründet, diejenigen Strömungen aus der Literatur auszuschalten, in denen eine "offenbar weißgardistische" Ideologie zu Tage treten könnte, sowie diejenigen, welche unter dem Deckmantel des Revolutionären eine "reaktionäre und konterrevolutionäre" Ideologie durchschmuggeln möchten. Die Redaktion erklärte geradezu: "Jegliche ideologischen Schwankungen sind vollkommen unzulässig und werden stets von uns aufgedeckt werden. ... Wir werden die Aufmerksamkeit unserer Partei mobilisieren und zur Wachsamkeit aufrufen, wir werden kurzen Schluß machen." Die Schriftsteller dieser Gruppe nennen sich "Napostowzy", d. h. die auf dem Posten Stehenden.

 

Die Mitläufer

Die andere Gruppe der sowjetrussischen Schriftsteller, denen es noch irgendwie gelungen war, den Geist der echten, freien Dichtkunst in sich aufzunehmen, hat an die frühere russische Literaturtradition angeknüpft. Sie sind keine Kommunisten, sind aber gezwungen, sich mehr oder weniger anzupassen, und dürfen in ihren Werken gegen die Ansprüche des Kommunismus nicht ganz verstoßen. Das sind die sogenannten "Poputschiki" (Mitläufer).

Die "Napostowzy" sind zweifellos Kommunisten vom reinsten Wasser; als Schriftsteller sind sie aber überraschend unbegabt. Die Regierung steht ihnen bei, und so fühlen sie sich trotzdem an der Spitze, greifen an, beschuldigen und denunzieren. Die "Poputschiki", — unter denen bestimmt dichterische Begabungen zu finden sind, — schlängeln sich im Gefolge des Kommunismus, suchen sich zu verteidigen und zu rechtfertigen. Die "Napostowzy" sind nicht nur eine Art kommunistischer Zensoren, sondern auch literatur-politische Detektive, und als solche eifrige Diener der kommunistischen Diktatur.

Interessant sind die Erwägungen von Lunatscharsky über die Frage dieser Literaturschnüffelei: 

"Wir werden gefragt, ob es denn überhaupt eine Sache der Kritik wäre, über die politischen Vergehen, die politische Verdächtigkeit, Schädlichkeit oder Minderwertigkeit dieser oder jener Schriftsteller Urteile zu fällen? Wir sehen uns genötigt, derartige Proteste mit aller Entschiedenheit zurückzuweisen. ... Ein Kritiker, der eine solche Beschuldigung gelegentlich unüberlegt und unabgewogen hinwirft, ist liederlich und leichtsinnig. Wer sich jedoch scheut, die Resultate seiner gewissenhaft geführten sozialen Analyse mit lauter Stimme zu verkünden, entstellt das Wesen der marxistischen Kritik und ist als ein schlapper, politisch passiver Mensch zu kennzeichnen. ... Kein folgerichtig denkender und ehrlicher Kommunist kann auf den Charakter des Kampfes in der gegenwärtigen Literatur und bei ihrer Beurteilung verzichten."14

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Wie wir sehen, ist die Literaturschnüffelei zum Prinzip erhoben worden. Literarische Denunziation wird jedem kommunistischen Literaturkritiker zur Pflicht gemacht.

Die kommunistische Macht hat die "Poputschiki" zwar anerkannt, hat ihnen aber aus begreiflichen Gründen nie Vertrauen entgegengebracht. Man duldet sie, zeitweise findet man sie sogar nützlich, entläßt sie aber nie aus dem Joche der Überwachung und Bedrohung. Die Kommunisten verfahren mit den "Poputschiki" in der Literatur genau so, wie mit den Mitläufern auf allen anderen Gebieten.15) Von Zeit zu Zeit werden sie daran erinnert, daß weder irgendwelche antikommunistische Tendenzen, noch eine "neubürgerliche" Richtung zulässig seien. Für diejenigen Schriftsteller aber, die zu dieser Richtung neigen, — wie z.B. für die begabten Samjatin und Bulgakof, — ist das verächtliche und drohende Stichwort "inneres Emigrantentum" geprägt worden. Die Bedeutung dieser Bezeichnung bedarf keiner Erläuterung.

 

Die Verdächtigen

In der letzten Zeit stellen die Kommunisten fest, daß viele "Poputschiki" "immer mehr von der Position des Mitläufertums abrücken und sich der neubürgerlichen Literatur annähern".16) Diese Tatsache verdient besondere Beachtung: augenscheinlich sehnt sich der sowjetrussische Schriftsteller, sofern er überhaupt einen Funken Talent besitzt, instinktiv nach einer elementaren Freiheit des Denkens und Empfindens und dürstet wenigstens nach der Illusion einer Unabhängigkeit. 

Jedoch dürfen die Kommunisten natürlich nicht einmal eine solche Illusion zulassen. Als der weltbekannte russische Physiologe Pawlof erklärte, "daß es unmöglich sei, ohne Freiheit zu leben und zu schaffen", hat ihm Bucharin auf eine, nach der Ansicht der Kommunisten, glänzende Art bewiesen, daß es überhaupt keine Freiheit gibt und daß dem Schaffensprozeß des Gelehrten und des Künstlers immer bestimmte Klassenvoraussetzungen, bestimmte wirtschaftliche Verhältnisse zugrunde liegen. 

Dementsprechend verlangen die "Napostowzy", daß alle schwankenden Schriftsteller sich im Verlaufe von 24 Stunden entweder umstellen oder aus dem Staube machen, während andere Genossen vorschlagen, man solle das Anwachsen der "neu-bürgerlichen" Tendenzen mindestens mit demselben Ernst behandeln, mit dem man seinerzeit die Pornographie und andere Verfallserscheinungen behandelt hatte.17)

 

14)  A. Lunatscharsky, "Thesen über die Aufgaben der marxistischen Kritik". ("Nowij Mir", 1928, Nr. 6 russ.)
15)  Besonders scharf äußerst sich dies im Verhalten zur Akademie der Wissenschaft und zu den Universitäten.
16)  Unter Verdacht stehen auch Leonoff, Mandelstamm, die Kommunistin Seifullina, Ws. Iwanoff, Ehrenburg und Pilnjak. Sogar ... bei einigen "proletarischen" ... Schriftstellern, z. B. bei A. Nowikof und bei dem Kommunisten Artein Wessjolij wird eine Neigung zur "neubürgerlichen" Literatur konstatiert.

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Das zaghafte Bestreben, die von der Sowjetmacht zugewiesenen "Positionen" zu verlassen, zeigt sich nicht nur bei den Schriftstellern aus der Gruppe der "Poputschiki", sondern sogar bei einigen Kommunisten. Das ist ein schlagender Beweis dafür, daß es den Kommunisten nicht gelungen ist, die Literatur auf den einen kommunistischen Nenner zu bringen. Wenn es überhaupt schwer fallen muß, einen Menschen in einen Automaten, in eine seelenlose Maschine zu verwandeln, so ist ein derartiger Versuch mit einem Schriftsteller, besonders, wenn er Talent besitzt, von vornherein als aussichtslos zu bezeichnen. Das Beispiel der sowjetrussischen Literatur läßt uns einsehen, wie wahr die Worte des berühmten russischen Dichters sind:

Dem freien Denken Bann und Joch zu geben —
    Entweiht des Herren Hort: 
In tiefster Seele aufgeblüht zum freien Leben,
    Blüht es in Ketten fort. 18)

Die sowjetrussischen Schriftsteller versuchen, wenn auch sehr zaghaft, sich etwas Luft zu machen. Lunatscharsky sieht darin eine Fortsetzung des Klassenkampfes: das Alte und das Neue kämpfen, seiner Meinung nach, in der Literatur gegeneinander; man fühle den Einfluß der verhaßten europäischen Kultur, des Vergangenen, der Überreste der ehemals herrschenden Klassen. Er sagt: 

"diese Umstände legen der Kunst, besonders aber der Literatur die Aufgabe eines Wächters auf, und geben ihr eine außergewöhnlich große Bedeutung. Neben dem Erscheinen einer proletarischen oder einer der proletarischen nahestehenden Literatur rufen aber dieselben Umstände auch eine Literatur ins Leben, welche die uns feindlichen Mächte widerspiegelt, worunter ich nicht nur die bewußt feindlichen Elemente verstehe, sondern auch die unbewußt feindlichen, wie z.B. solche, die es infolge ihrer Passivität, ihres Pessimismus und Individualismus oder ihrer Vorurteile sind, u.s.f."19)

 

17)  "Shisn i Revoluzija" (russ.).
18)  Graf A. K. Tolstoj im Poem: "Johannes der Damaszener".
19)  Lunatscharsky, "Thesen über die Aufgaben der marxistischen Kritik" (russ.).

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Natürlich nehmen die Kommunisten an, daß eine derartige Passivität (d.h. der Mangel an leidenschaftlicher Liebe der Schriftsteller zum Kommunismus), ein derartiger Pessimismus (d.h. der mangelnde Glaube an die Fruchtbarkeit des kommunistischen Aufbaus), ein derartiger Individualismus (d.h. die Behauptung des Eigenwerts der Persönlichkeit), — zeitweilige Erscheinungen sind, und mit der Befestigung der kommunistischen Lebensordnung verschwinden werden. Sie übersehen jedoch, daß dieses bewußte oder unbewußte Streben der Schriftsteller nach Freiheit nur eine von den Äußerungen des ewigen Strebens des menschlichen Geistes nach Freiheit des Schaffens, ein Symptom des ewigen Kampfes der Persönlichkeit für das Recht der freien Geistesarbeit ist, und daß es keine Macht gibt, welche dieses Streben endgültig zu unterdrücken imstande wäre.

 

Die Tradition

Auch das Gesetz der literarischen Tradition stellte sich den Absichten der Kommunisten entgegen. Alle hervorragenden Schriftsteller in Sowjetrußland stehen unter dem Einfluß von Tolstoj, Dostojewski, Leskoff oder gar Melnikof-Petscherski, und von den Zeitgenossen — unter dem Einfluß von Bunin, Schmeloff, Remisof und einiger anderer Schriftsteller der Emigration. Das stellt die Sänger der Revolution vor ein Rätsel. Einer von ihnen (Kassatkin) gibt jedoch zu, indem er allerdings zunächst mit Vergnügen feststellt, daß der Kommunismus "bei vielen literarischen Känguruhs und Nashörnern das Knochengerippe gebrochen hat": "Jetzt sehen wir, daß wir den Riesenbau unseres literarischen Erbes unnütz umgestürzt haben. . . . Zur Besinnung gekommen kriechen wir jetzt unter den Trümmern hervor und sehen: vor uns steht noch immer die auf alten Wegen ausgefahrene klassische Kutsche".

Im Zusammenhang damit hört man in der Sowjetliteratur manchmal den Ruf nach Rückkehr auf die Bahnen der alten Literatur oder die Aufforderung, bei dem, den Kommunisten so verhaßten, "faulen" Westen in die Schule zu gehen. Ein sowjetrussischer Schriftsteller20) schreibt: "Von der Kultur des Westens muß man viel lernen, und sich dessen Disziplin im Schaffen ernsthaft aneignen." Ein anderer21) drückt sich noch bestimmter aus: "Man muß zugeben, daß wir ein wenig ungebildet sind, daß wir den Westen zu leicht und schnell abfertigen, wie auch unser eigenes Erbe, das uns von unseren eigenen ,Europäern' überliefert ist."

Dieser Mißerfolg der kommunistischen Experimente auf dem Gebiete der Literatur ist keine Zufallserscheinung; wie sie beim Aufbau einer widernatürlichen sozialen und wirtschaftlichen Ordnung zum Scheitern verurteilt sind, genau so mußten sie auch im Kampf mit der Literatur die Schlacht verlieren, weil sie nämlich die Kunst zwingen wollten, Wege einzuschlagen, die deren eigenstem Wesen widersprechen. So mußte es geschehen trotz ihrer Rücksichtslosigkeit in der Auswahl der Kampfmittel und trotz der furchtbaren Gewalt ihres despotischen Druckes.

20)  Lidin.     21)  Ssobolj.

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Die Leser

Das literarische Leben setzt aber nicht nur Schriftsteller, sondern auch Leser voraus. Vom Standpunkt der Kommunisten ist ja die Literatur nur ein Mittel im Klassenkampf, nur ein Werkzeug zur Propaganda der kommunistischen Ideen. Deswegen ist die Frage nach dem sowjetistischen Leser und nach seinem literarischen Geschmack von besonderem Interesse.

Die überwältigende Mehrzahl der Sowjetschriftsteller schreibt begreiflicherweise nicht speziell für die Masse der Arbeiter und Bauern, sondern wendet sich vornehmlich an den gebildeten Leser. In dieser Hinsicht ist die sowjetrussische Literatur auf der alten Einstellung geblieben. Allerdings hat sich das kulturelle Niveau der jungen Generation der gebildeten Schichten in Sowjetrußland bedeutend gesenkt, und der heutige junge Leser steht im allgemeinen unter dem Bildungsstande derer, für die Puschkin, Turgenew, Dostojewski, L. Tolstoi, Tschechof, Bunin und Schmeloff, Kuprin u. a. geschrieben haben; immerhin gibt es aber gebildete Leser. Außerdem ist auch eine neue Leserschicht aus den weiter fortgebildeten Bauern- und Arbeiterkreisen entstanden. Was liest nun dieser neue Leser, dessen literarischer Geschmack durch die "proletarische" Literatur geschult werden sollte, — und wie schätzt er das Gelesene ein?

Unterlagen für eine Beantwortung dieser Frage finden sich in der statistischen Bearbeitung der Nachfrage in den Bibliotheken; ferner in den Ergebnissen von Rundfragen in Arbeiterkreisen; und endlich in den Beobachtungen der Volksschullehrer.

Die städtischen Leser aus dem Kreise der Intelligenz bevorzugen offensichtlich, nach den Angaben der Bibliothekstatistik, die vorrevolutionäre russische Literatur.22) Von den Schriftstellern der Gegenwart sind diejenigen am beliebtesten, welche über ein gewisses Talent verfügen und zugleich gewissermaßen an die russische literarische Tradition anknüpfen, wie Samjatin, Leonof, Bulgakof und einige andere. 

Die moderne Poesie wird überhaupt nicht gelesen. Eine Unzahl talent- und geistloser Dichterlinge hat in den Jahren des Kommunismus eine so gewaltige Menge geschmackloser, seichter, vollständig wertloser, teilweise auch ganz sinnloser Gedichte hervorgebracht, daß der Leserschaft jede Lust zur Lektüre solcher Erzeugnisse vergangen ist.

22)  Die vorrevolutionäre Literatur ist den Lesern nur zum Teil zugänglich.

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Besonderes Interesse hat für uns die Leserschaft aus den Arbeiter- und Bauernkreisen. Sind es doch die Arbeiter und Bauern, in deren Namen die Kommunisten, wie sie selbst behaupten, die Revolution gemacht haben; sie sind es, mit deren Hilfe die Kommunisten die "Flammen des Weltbrandes" entfachen wollen; sie sind es auch in erster Linie, denen das "sozialistische Bewußtsein" eingeimpft wird. Die "proletarische" Literatur müßte sich eigentlich bei den Arbeitern und Bauern einer besonderen Beliebtheit erfreuen. In Wirklichkeit stehen die Dinge ganz anders.

 

Was gelesen und geschätzt wird

Die proletarischen Dichtungen sind in den Arbeiter- und Bauernkreisen ganz unbeliebt. Die Kommunisten erklären dies damit, daß der niedrige Bildungsstand der breiten Volksmassen mit dem im Laufe von Jahrhunderten angesammelten Reichtum an poetisch-technischen "Errungenschaften" nicht fertig werden kann.23) Die technischen Errungenschaften kommen hier jedoch gar nicht in Betracht. Wenn die frühere Dichtkunst wegen des Reichtums ihres künstlerischideellen Inhalts dem geistig unentwickelten Leser unzugänglich sein konnte, so erscheint ihm die Poesie der Sowjetepoche einfach als sinnloses Wortspiel ohne Inhalt. Auch die Prosa der Sowjetepoche begegnet geringem Interesse. Übrigens werden die authentischen Äußerungen der Leser aus den Kreisen der Arbeiter und Bauern selbst am besten dartun können, was und warum es ihnen gefällt oder nicht gefällt.

Wenn wir die Antworten der Arbeiter auf die Rundfrage bezüglich der Literatur durchsehen, ist deutlich zu bemerken, wie trotz der Anonymität der Beantwortung viele von ihnen um jeden Preis zeigen wollten, daß sie echte Kommunisten sind. Diese erklärten z.B., daß der Roman von Gladkoff "Zement" ihrer Meinung nach besser sei als "Krieg und Frieden" von Tolstoi, oder daß die "Komsomolka" von Besymennij höher stehe als "Eugen Onegin" von Puschkin. Die Stimmen dieser orthodoxen Kommunisten verschwinden jedoch in der Menge der anders gesinnten Bekenntnisse.

"Ich habe versucht, die neuen Schriftsteller zu lesen", antwortet ein Arbeiter, "aber sie wollten mir nicht recht in den Kopf; ich habe auf keine Weise etwas verstehen können; ganz, ganz selten verstehe ich dazwischen etwas; dagegen geht Puschkin wie geschmiert, und Lermontof geht wie geschmiert." Ein anderer Arbeiter schreibt: "Die alten Schriftsteller schrieben interessanter. Die neuen Bücher sind meist grob geschrieben." 

23) "Swesda", 1928, Nr. 10 (russ.).

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Ein Dritter bemerkt: "Die alten Schriftsteller bearbeiteten ihre Sachen, befeilten sie, und dann erst brachten sie ihre Sachen vor den Leser. Die neuen sputen sich zu sehr. Es ist natürlich interessant, von dem Tun und Schaffen eines Arbeiters zu lesen, aber es ist gar nicht interessant zu lesen, wie er gröblichst schimpft.". Ein Vierter äußert sich noch bestimmter: "Bei den neuen Schriftstellern ist es schlecht, daß sie immer nur von ein und demselben schreiben: von der Revolution und dem Bürgerkrieg. 99,999 Prozent aller Bücher behandeln den Bürgerkrieg, der ganz obligatorisch den Sieg der Kommunisten bringt; — der Rest der Bücher behandelt andere Themen, wobei auch hier meistens geschildert wird, wie die Kommunisten siegen. Ich muß sagen, daß die Arbeiter dieses Thema satt haben." Ein Fünfter erklärt: "Es sind schon 10 Jahre verflossen, seitdem die Revolution zustande gekommen ist; es wäre schon Zeit, daß man mit der Agitation aufhöre: wen man konnte, hat man schon heranagitiert." Ein Sechster schreibt über die Sowjetpoesie: "Was ist denn das für eine proletarische Poesie, wenn wir sie nicht verstehen."24)  

Dieselbe abstoßende Wirkung der Sowjetliteratur läßt sich auch bei der Bauernschaft beobachten. Nach dem Zeugnis des Volksschullehrers Toporoff neigen die Bauern mehr zu den alten Klassikern. Nicht nur der "Revisor" und die "Toten Seelen" von Gogol, sondern auch die "Palata Nr. 6" von Tschechoff und "Das Dorf" von Bunin werden mit verhaltenem Atem angehört. Sehr drastisch bemerkt Toporoff: "Die Bauern können die hüpfende, rebusartige Form des Boris Pilnjak und der anderen nicht besser vertragen als der Teufel den Weihrauch."25)

 

Die Tendenz der Kommunisten

Das heißt also, welche Mühe die Kommunisten sich auch geben, den Massengeschmack ins Grobe zu verdrehen und die Interessen auf den Kreis der Fragen des "sozialistischen Aufbaus" zu beschränken, — die russische klassische Literatur steht doch einmal da, und der Leser, auch aus den Arbeiter- und Bauernkreisen, empfindet lebhaft ihren künstlerischen Vorrang. Außerdem interessieren die in der Sowjetliteratur behandelten programmatischen, auf Bestellung bearbeiteten, monotonen Themen den Leser nur wenig. Die Wechselbeziehungen zweier Generationen der Kommunisten — der alten Garde und der Jungen, die Episoden des Bürgerkrieges, Abrechnung der Kulaken mit den Kommissaren, die "Industrialisierung" des Dorfes, der Konflikt der Liebe zur Frau und der Liebe zur Revolution, die Frage der Abtreibung, die Sexualfrage, das Verhältnis des Individuums zum Kollektivwesen usw. — diese Fragen üben keine Anziehungskraft auf den Leser in Sowjetrußland aus. 

24)  "Krasnaja Now", 1928, Nr. 10-11.    25)  "Sibirskije Ogni", 1927-1928. 

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Da aber die Kommunistische Partei nur einen ganz geringfügigen Prozentsatz des russischen Volkes ausmacht, so wird den meisten Lesern auch der schmeichlerische, servile Ton gegenüber der herrschenden Macht und die Begeisterung für den Kommunismus, dessen sich die meisten Verfasser befleißigen, widerlich.

Auch die brutale Art der Darstellung verschiedener Lebenserscheinungen mit der Absicht, jeglichen "Idealismus" in den Seelen auszumerzen, vermag die Masse der Leser nicht zu begeistern. Die Darstellung von Vergewaltigungen oder des Geschlechtsaktes, die ausschließlich vom Gesichtspunkt der Sexualität gesuchte Lösung der Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter, sind Dinge, die augenscheinlich nur einen Teil der Mitglieder des Komsomol26) beschäftigen, deren geschlechtliche und sonstige Zügellosigkeit allerdings durch solche recht häufig wiederholten und verschiedenartig variierten Erörterungen unterstützt wird: 

"Die Liebe ist der Geschlechtstrieb, von dem menschlichen Bewußtsein ausgeschmückt. Merkst du bei dir diesen Trieb, dann sage darüber einem Mädchen, als Kameraden, offen und ehrlich. Wenn sie dich wird befriedigen wollen — ist niemand euer Richter. Ist der Trieb vorbei — dann genug und Schluß! Zum Teufel mit den Seufzern und allen Eifersuchtserregungen. Wenn sie es nicht wollen wird, dann suche dir eine andere: ist es nicht gleichgültig, ob sie Mascha oder Dascha heißt?"27) 

Oder, wie ein Mädchen aus dem Komsomol philosophiert: "Weißt du, warum es in der Geschlechtssphäre so viel Krankhaftes gibt, besonders bei der Frau? Weil sich alles auf die berüchtigte Frauenehre stützt. .... Ich würde die Frau von diesem erdrückenden Joche befreien. Man müßte die Kennzeichen dieser Reinheit bei den Mädchen noch im Kindesalter beseitigen."28) Eine derartige Ideologie der geschlechtlichen Zuchtlosigkeit hat Einfluß auf viele Mitglieder des Komsomol und unterstützt amoralische Menschen in ihrem Verhalten.29)

Wenn die Mehrzahl der Leser im Sowjetrußland kein erhebliches Interesse an einer bestimmten Tendenzliteratur hat, — wie wir das ausgeführt haben, — so ist damit noch nicht gesagt, daß wir an dieser Literatur kein ausgesprochenes Interesse haben könnten: diese Literatur vermittelt uns die Kenntnis des allgemeinen Lebenszuschnitts in Sowjetrußland und gibt uns einen lebendigen Einblick in die während der Revolution vor sich gegangenen sozialen und geistigen Umwälzungen. 

26)  Kommunistischer Jugendverein.    27)  N. Bogdanof, "Das erste Mädchen" ("Perwaja Dewuschka", russ.).
28)  W. Rjachowski, "Auerhähne" ("Gluchari", russ.).     29)  Näheres darüber siehe in den Aufsätzen "Die Ehe und die Lage der Frau" und "Die Jugend".

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Einen für uns besonders wertvollen Zug sehen wir in der Tatsache, daß der Realismus in der Sowjet­literatur häufig in einen ganz groben Naturalismus überschlägt. Dieser bisweilen abscheulich zynische, widerwärtige Naturalismus entbehrt natürlich eines künstlerischen Wertes, er verleiht aber einer Reihe bolschewistischer Werke den Charakter eines Dokumentes, einer photographischen Aufnahme, eines Gerichtsprotokolls.

 

Zusammenfassung

So sieht das kurzgefaßte Bild der Sowjetliteratur aus. Alles, was der Kommunismus berührt, sucht er zu unterdrücken. Er trägt den Hauch des Todes mit sich. Die Kommunisten gedachten irgendeine neue, noch nie dagewesene "proletarische" Kultur zu schaffen, in deren Namen sie eine gewaltige Zerstörung unternommen haben. 

Das war nicht schwer, weil Zerstörungsarbeit von jedem Wilden und jedem Kinde geleistet werden kann. Aufbauende, schöpferische Arbeit haben sie auf dem Gebiete der geistigen Kultur nicht geleistet. Sie haben einerseits vergessen, daß es, nach den Worten unseres bekannten Dichters, "schwerer ist, ein kleines Gräschen aufkeimen zu lassen als steinerne Häuser niederzureißen"; andererseits konnten sie nicht begreifen, daß die Quelle aller materiellen und geistigen Reichtümer in der Persönlichkeit verborgen liegt, in deren Freiheit und individueller Unabhängigkeit. 

Sie haben auch noch etwas vergessen: Daß die Kraft jeder Kultur in der Tradition liegt. Aus der Vergangenheit schöpft sie die belebenden Säfte, um die Gegenwart zu erneuern und die Zukunft zu befruchten. Jahrhunderte überwachen die Kultur, und jeder Wunsch, das ewige Band zu zerreißen, muß scheitern. Wenn im Bereiche der Kultur die Nachkommen die Arbeit vorausgegangener Geschlechter verschmähen und deren Früchte vernichten, so droht ihnen ein Absterben. Aus allen Lebensgebieten der Sowjetunion ertönt denn auch immer vernehmlicher der an die Kommunisten gerichtete Warnungsruf: memento mori! Dies memento mori erklingt auch auf dem Gebiete der Literatur.

Rußland ist des Blutes, der Bosheit und des Hasses müde geworden. Diese Müdigkeit spricht besonders aus einem Lied, das dort jetzt von religiösen Sektierern gesungen wird:

"Jugend, siehe! Kummer, Trauer 
Überströmt die Welt mit Schauer .... 
Nimm dem Herz des Stolzes Stachel, 
Und im Geist der Demut wache, 
Daß der Leibesgötze sterbe, 
Der Materie böses Erbe. ... 
Herr, erleuchte Du von oben 
Unsres Landes wüstes Toben!

Hilf uns, hilf dem jungen Leben 
Ohne Blut den Kampf zu weben, 
Daß wir Rußland wirklich retten 
Und das Reich der Liebe hätten!  ...

Ein großer Läuterungsprozeß steht Rußland bevor. Früher oder später wird auch die Literatur ihre Ketten sprengen, sich vom Geiste des Kommunismus läutern und wieder als echte Kunst aufblühen.

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Ende 

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