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1  Warum wir die Schule "abschaffen" müssen

 

 

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Viele Schüler, zumal wenn sie arm sind, wissen intuitiv, was die Schulen mit ihnen anstellen. Sie werden geschult, Verfahren und Inhalt miteinander zu verwechseln. Wird dieser Unterschied erst einmal verwischt, so gilt eine neue Logik: je mehr Behandlung, desto besser die Ergebnisse; oder auch: Eskalation führt zum Erfolg. 

Dem entspricht die Erwartungshaltung des Schülers: ihm wird systematisch beigebracht, Lehren und Lernen miteinander zu verwechseln, ebenso das Versetzt­werden mit Bildung, ein Zeugnis mit Sachkenntnis und Geläufigkeit mit der Fähigkeit, etwas Neues zu sagen. Die Schule richtet ihn darauf ab, Dienstleistungen anstelle von Werten zu akzeptieren. 

Ärztliche Behandlung wird irrigerweise für Gesundheitspflege gehalten, Sozialarbeit für eine Verbesserung des Gemeinschaftslebens, Polizeischutz für Geborgenheit, militärisches Gleichgewicht für nationale Sicherheit und Pöstchenjägerei für produktive Arbeit. 

Gesundheit, Lernen, Würde, Unabhängigkeit und schöpferisches Bemühen gelten allenfalls als Leistungen der Institutionen, die angeblich diesen Zwecken dienen. Deren Verbesserung aber macht man davon abhängig, daß man der Leitung von Krankenhäusern, Schulen und anderen derartigen Einrichtungen mehr Mittel zur Verfügung stellt.

In diesen Aufsätzen will ich zeigen, daß die Institutionalisierung von Werten unweigerlich zu Umweltverschmutzung, sozialer Polarisierung und psychologischer Impotenz führt: drei Dimensionen eines Ablaufs von weltweitem Verfall und modernisiertem Elend. Ich möchte darlegen, wie dieser Verfallsprozeß beschleunigt wird, wenn immaterielle Bedürfnisse in Nachfrage nach Waren verwandelt werden; wenn Gesundheit, Bildung, persönliche Beweglichkeit, Wohlfahrt oder seelische Heilung als das Ergebnis von Dienstleistungen oder "Behandlung" verstanden werden. 

Mir erscheint eine solche Erörterung dringlich, weil ich glaube, daß der größte Teil der heutigen Zukunftsforschung dazu angetan ist, Legitimationen für eine weitere Institutionalisierung von Werten zu liefern, und daß wir die Bedingungen festlegen müssen, die genau das Gegenteil ermöglichen würden. Wir brauchen Untersuchungen darüber, ob es möglich ist, die Technologie zu nutzen, um Einrichtungen zu schaffen, die dem persönlichen, schöpferischen und selbständigen Zusammenwirken und der Entstehung von Werten dienen, die im wesentlichen nicht von Technokraten beherrscht werden können. Wir brauchen Forschung, welche die heutige Futurologie kritisch prüft und ergänzt.

Ich möchte die allgemeine Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis von menschlicher Natur und dem Wesen der modernen Institutionen stellen, das unser Weltbild und unsere Sprache bestimmt. Um die Frage an einem Beispiel zu erörtern, in dem sich dieser Zusammenhang paradigmatisch verdichtet, habe ich die Schule als Brennpunkt meiner Untersuchung gewählt; ich behandele daher andere bürokratische Einrichtungen des Gemeinwesens nur mittelbar: die Verbraucherfamilie, die Partei, die Armee, die Kirche, die Massenmedien. Meine Analyse des verborgenen Curriculums der Schule müßte deutlich machen, daß das öffentliche Bildungswesen aus der Entschulung der Gesellschaft ebenso Nutzen ziehen würde wie das Familienleben, die Politik, die öffentliche Sicherheit, der Glaube und der Meinungsaustausch aus entsprechenden Verfahren.

In diesem ersten Aufsatz beginne ich meine Untersuchung mit dem Versuch, darzustellen, was die Entschulung der Gesellschaft bedeuten könnte. Danach sollte es leichter sein zu verstehen, warum ich die fünf besonderen, für diesen Vorgang wichtigen Aspekte ausgewählt habe, die ich in den weiteren Kapiteln behandele.

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Nicht nur das Bildungswesen, sondern die gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit ist verschult worden. Arme und Reiche in derselben Abhängigkeit schulisch auszubilden, kostet ungefähr dasselbe. Der jährliche Aufwand pro Schüler in irgendeiner von zwanzig nordamerikanischen Großstädten, ob in den Slums oder in den Wohnvierteln der Wohlhabenden, liegt in der gleichen Größenordnung und begünstigt manchmal sogar die Armen.1)  

Reiche und Arme sind gleichermaßen auf Schulen und Krankenhäuser angewiesen, die ihr Leben lenken, ihr Weltbild prägen und festlegen, was für sie legitim ist und was nicht. Reiche und Arme halten es für unverantwortlich, wenn man sich selbst kuriert; halten es für unzuverlässig, wenn man auf eigene Faust lernt; und betrachten ein Organisieren des Gemeinwesens, wenn es nicht von Behörden finanziert wird, als eine Form von Aggression oder Staatsfeindlichkeit. Die Abhängigkeit von institutioneller Behandlung läßt beiden Gruppen unabhängige Leistungen verdächtig erscheinen. Die fortschreitende Unterentwicklung des Selbstvertrauens und der Unabhängigkeit von einzelnen und Gruppen ist noch typischer für Westchester2) als für den Nordosten Brasiliens. Überall bedarf nicht nur das Bildungswesen, sondern die Gesellschaft als Ganzes der "Entschulung".

Wohlfahrtsbürokraten beanspruchen nämlich ein berufliches, politisches und finanzielles Monopol über die gesellschaftliche Phantasie und stellen Richtlinien dafür auf, was wertvoll und was erreichbar ist. Dieses Monopol ist das Grundübel der Modernisierung der Armut. Jedes einfache Bedürfnis, auf das man eine institutionelle Antwort findet, gestattet es, eine neue Klasse von Armen und eine neue Definition von Armut zu erfinden. Vor zehn Jahren noch war es in Mexiko üblich, im eigenen Hause zu sterben und von seinen Freunden begraben zu werden. Nur um die Seele kümmerte sich die institutionelle Kirche. Beginnt oder beschließt man heute sein Leben im eigenen Hause, so ist dies entweder ein Anzeichen für Armut oder für besondere Privilegierung. Sterben und Tod sind unter das institutionelle Management von Ärzten und Leichenbestattern geraten.

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Hat eine Gesellschaft erst einmal Grundbedürfnisse in Nachfrage nach wissenschaftlich produzierten Waren verwandelt, so wird Armut durch Maßstäbe bestimmt, welche die Technokraten beliebig verändern können. In die Kategorie der Armut fallen dann diejenigen, die auf einem wichtigen Gebiet hinter dem angepriesenen Ideal des Konsums zurückgeblieben sind. In Mexiko ist arm, wem drei Jahre Schulbildung fehlen, in New York sind es diejenigen, denen zwölf Schuljahre fehlen.

Die Armen sind immer ohne gesellschaftliche Macht gewesen. Das zunehmende Angewiesensein auf institutionelle Fürsorge verleiht ihrer Hilflosigkeit eine neue Dimension: seelische Ohnmacht, die Unfähigkeit, für sich selbst aufzukommen. Die Bauern auf den Hochebenen der Anden werden von Grundbesitzern und Kaufleuten ausgebeutet; sobald sie sich in Lima ansiedeln, geraten sie zusätzlich in Abhängigkeit von politischen Bossen und sind durch die ihnen fehlende Schulbildung benachteiligt. Die modernisierte Armut verbindet den Mangel an Macht über die Verhältnisse mit einem Verlust an persönlichem Durchsetzungsvermögen. Diese Modernisierung der Armut ist eine weltweite Erscheinung und ein Grundübel der gegenwärtigen Unterentwicklung. Selbstverständlich präsentiert sie sich in reichen und armen Ländern in verschiedener Gewandung.

Am stärksten empfunden wird sie wahrscheinlich in den Großstädten der USA. Nirgends sonst wird Armut mit größerem Aufwand behandelt. Nirgends sonst erzeugt die Behandlung der Armut soviel Abhängigkeit, Zorn, Frustration und zusätzliche Nachfrage. Nirgends sonst auch sollte es so deutlich zutagetreten, daß die Armut, wird sie erst einmal modernisiert, gegen eine Behandlung, die nur auf Dollars setzt, resistent wird; daher erfordert sie eine radikale Umwälzung der Institutionen.

In den USA können heute Schwarze und sogar Obdachlose mit einem Maß an institutioneller Unterstützung rechnen, das noch vor zwei Menschenaltern undenkbar gewesen wäre und den meisten Menschen in der Dritten Welt grotesk vorkommt. So können Arme in den USA darauf zählen, daß ein Jugendpfleger ihre schulschwänzenden Kinder in die Schule zurückbringt, bis sie siebzehn werden; oder daß ein Arzt sie in ein Krankenhausbett einweist, das täglich 60 Dollar kostet, was dem dreifachen Monatseinkommen der meisten Menschen auf der Welt entspricht. Solche Fürsorge macht sie aber nur noch abhängiger von weiterer institutioneller Behandlung und beraubt sie mehr und mehr der Fähigkeit, ihr Leben gemäß ihren eigenen Erfahrungen und Möglichkeiten in ihrem Gemeinwesen einzurichten.

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Die Armen in den Vereinigten Staaten wissen wie niemand sonst von der Gefahr zu sprechen, die alle Armen in einer Welt bedroht, die sich fortschreitender Modernisierung verschrieben hat. Sie erleben tagtäglich, daß noch so hohe Dollarsummen nicht die immanente zerstörerische Wirkung von Wohlfahrtseinrichtungen kompensieren können, wenn die professionellen Hierarchien dieser Institutionen die Gesellschaft erst einmal davon überzeugt haben, daß ihre Dienste moralisch notwendig seien. Die Armen in den Kerngebieten amerikanischer Großstädte können aus eigener Erfahrung den Trugschluß aufdecken, auf dem die Sozialgesetzgebung in einer "verschulten" Gesellschaft beruht.

William O. Douglas, Richter am Obersten Gerichtshof der USA, hat gesagt: "Der einzige Weg, um eine Institution zu etablieren, besteht darin, daß man sie finanziert." Douglas spricht als Amerikaner, für den das Wort "establishment" durch den Ersten Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung geprägt ist. "There shall be no establishment of religion" besagt, daß Steuergelder nicht für Kirchen verwendet werden dürfen. In diesem Sinne schlage ich vor, die Schulen den Kirchen gleichzustellen, und spreche von einem Disestablishment — nicht etwa von der Abschaffung — der "Schule". Nur indem man den Institutionen, die heute Gesundheitspflege, Bildungswesen und Fürsorge verwalten, die Dollars entzieht, kann man der weiteren Verarmung Einhalt gebieten, die eine Folge der nachteiligen Nebenwirkungen institutioneller Behandlung ist.

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Das müssen wir stets bedenken, wenn wir Hilfsprogramme der amerikanischen Regierung beurteilen. So wurden z.B. in amerikanischen Schulen von 1965 bis 1968 mehr als drei Milliarden Dollar aufgewendet, um die Benachteiligung von etwa sechs Millionen Kindern auszugleichen. Das Programm nennt sich "Titel Eins". Es ist das kostspieligste kompensatorische Programm, das jemals irgendwo im Bildungswesen aufgestellt wurde. Trotzdem kann man an den Lernergebnissen dieser "benachteiligten" Kinder keinerlei nennenswerte Verbesserung entdecken; im Vergleich zu ihren Klassenkameraden aus bürgerlichen Familien sind sie sogar weiter zurückgefallen. Überdies entdeckten Fachleute während der Umsetzung dieses Programms weitere zehn Millionen Kinder, die wirtschaftlich und bildungsmäßig benachteiligt sind. Das lieferte neue Gründe, um zusätzliche Bundesmittel anzufordern.

Wenn die Bemühungen um eine bessere Bildung für die Armen trotz aufwendigerer Behandlung so vollständig gescheitert sind, so kann man dafür drei verschiedene Erklärungen anführen:

  1. Drei Milliarden Dollar reichen nicht aus, um die Leistungen von sechs Millionen Kindern nennenswert zu steigern; oder

  2. das Geld wurde unverständig ausgegeben: Andere Curricula, bessere Verwaltung, stärkere Konzentrierung der Mittel auf arme Kinder und weitere Untersuchungen sind nötig und würden zum Ziel führen; oder

  3. Bildungsbenachteiligung läßt sich nicht beheben, wenn man sich auf die Ausbildung in der Schule verläßt.

Das erste trifft sicherlich zu, solange man das Geld über das Schulbudget ausgibt. Zwar erreichte das Geld die Schulen, welche die meisten benachteiligten Kinder hatten, doch wurde es nicht für diese allein ausgegeben. Die Kinder, für die das Geld bestimmt war, bildeten nur etwa die Hälfte derer, die Schulen besuchten, deren Haushalt über die zusätzlichen Bundesmittel verfügte. Daher wurden die Mittel nicht nur für Bildungszwecke, sondern auch für Aufsicht, Belehrung und gesellschaftliche Rollenwahl verwendet. All diese Funktionen sind in den Gebäuden, Curricula, Lehrkräften, Verwaltungen und anderen maßgebenden Bestandteilen dieser Schulen untrennbar miteinander verwoben, und damit auch in ihren Budgets.

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Die zusätzlichen Mittel ermöglichten es den Schulen, unverhältnismäßig viel für die reicheren Kinder zu tun, die dadurch "benachteiligt" waren, daß sie die Schule zusammen mit den armen Kindern besuchen mußten. Auf dem Weg über das Schulbudget entfiel auf ein Kind aus armer Familie nur ein Bruchteil von jedem Dollar, der seine Benachteiligung beim Lernen beheben sollte.

Ebenso könnte es zutreffen, daß das Geld unverständig ausgegeben wurde. Aber sogar eine außergewöhnliche Inkompetenz der Verantwortlichen kann nicht größer sein als die des Schulsystems selbst. Eben durch ihre Struktur verhindern Schulen, daß Vorrechte auf diejenigen konzentriert werden, die in anderer Hinsicht benachteiligt sind. Besondere Curricula, getrennte Klassen oder längere Unterrichtszeit bedeuten nur, daß mit höherem Aufwand noch mehr diskriminiert wird.

Noch sind die Steuerzahler nicht daran gewöhnt, das Verschwinden von drei Milliarden Dollar aus dem Erziehungsministerium so selbstverständlich hinzunehmen, als handle es sich um das Pentagon. Die derzeitige Regierung glaubt vielleicht, sie könne sich den Zorn der Pädagogen leisten. Das Bürgertum in Amerika hat nichts zu verlieren, wenn das Schulprogramm beschnitten wird. Arme Eltern hingegen befürchten, durch eine solche Maßnahme noch stärker benachteiligt zu werden, vor allem aber fordern sie Kontrolle über die Mittel, die für ihre Kinder bestimmt sind. Eine einleuchtende Methode, um das Budget zu beschneiden und, wie man hofft, zugleich gezielt denjenigen Vorteile zu verschaffen, die ihrer bedürfen, ist ein System von Zuschüssen zu Studiengeldern, wie es Milton Friedman und andere vorschlagen. Die Mittel würden direkt dem anspruchsberechtigten Empfänger zufließen und es ihm ermöglichen, sich einen Anteil an Schulbildung nach seiner Wahl zu kaufen. Würden solche Darlehen auf Ankäufe beschränkt, die in ein schulisches Curriculum hineinpassen, so würde dadurch ein höheres Maß an gleicher Behandlung geschaffen, nicht aber mehr Gleichheit der sozialen Anrechte.

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Es liegt doch auf der Hand, daß, selbst wenn es Schulen von gleicher Qualität gäbe, ein armes Kind nur selten mit einem reichen mithalten kann. Selbst wenn sie dieselbe Schule besuchen und im gleichen Alter eingeschult worden sind, fehlen den armen Kindern doch die meisten Bildungsmöglichkeiten, die dem Kind aus bürgerlichem Hause ganz selbstverständlich zur Verfügung stehen. Diese Vorteile reichen von Gesprächen und Büchern im Elternhaus bis zu Ferienreisen und einem anderen Selbstgefühl; sie gelten für das Kind, dem sie zuteil werden, innerhalb wie außerhalb der Schule. Deshalb wird der ärmere Schüler durchweg zurückbleiben, solange er für sein Wissen oder für sein Weiterkommen auf die Schule angewiesen ist. Die Armen brauchen Mittel, damit sie lernen können, nicht damit ihnen die Behandlung ihrer angeblich unverhältnismäßig großen Defizite attestiert wird.

Dies alles gilt für arme ebenso wie für reiche Nationen, doch tritt es in den reichen anders in Erscheinung. Die modernisierte Armut trifft in armen Nationen mehr Menschen sichtbarer, aber gegenwärtig auch oberflächlicher. Zwei Drittel aller Kinder in Lateinamerika verlassen die Schule, ehe sie die 5. Klasse abgeschlossen haben, doch sind diese "desertores" nicht so schlimm dran, wie sie es in den Vereinigten Staaten wären.

Heute sind nur noch wenige Länder Opfer der klassischen Armut, die vergleichsweise stabil war und weniger paralysierend wirkte. Die meisten Länder in Lateinamerika haben die letzten Schritte zum Auftakt wirtschaftlicher Entwicklung und konkurrierenden Konsums, und damit der modernisierten Armut, vollzogen: ihre Bürger haben gelernt, reich zu denken und arm zu leben. Die Gesetze schreiben eine sechs- bis zehnjährige Schulpflicht vor. Nicht nur in Argentinien, sondern auch in Mexiko oder Brasilien beurteilt der Durchschnittsbürger eine ausreichende Bildung nach amerikanischen Maßstäben, obwohl die Chance, eine so lange Schulbildung zu erhalten, sich auf eine verschwindende Minderheit beschränkt. In diesen Ländern sind die meisten Menschen bereits Gefangene der Schule, d. h. sie werden in dem Gefühl erzogen, den besser Geschulten unterlegen zu sein. Ihr Fanatismus für die Schule ermöglicht es, sie auf doppelte Weise auszubeuten: er gestattet es, daß mehr Mittel für die Erziehung von wenigen zur Verfügung gestellt werden, und vermehrt die Bereitschaft der vielen, sich mit gesellschaftlicher Kontrolle abzufinden.

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An dem Glauben, daß allgemeine Schulbildung unbedingt notwendig sei, wird paradoxerweise am unerschütterlichsten in den Ländern festgehalten, wo bisher die wenigsten Menschen in den Genuß der Schule gekommen sind und kommen werden. Dabei könnten die meisten Eltern und Kinder in Lateinamerika immer noch ganz andere Wege zur Bildung einschlagen. Dort dürfte der Anteil des Volksvermögens, der in Schulen und Lehrer investiert wird, zwar proportional höher liegen als in reichen Ländern, doch reichen diese Investitionen nicht entfernt aus, um der Mehrheit den Vorteil eines auch nur vierjährigen Schulbesuchs zu ermöglichen. Fidel Castro redet, als wolle er Entschulung anstreben, wenn er verspricht, daß Cuba bis 1980 imstande sein werde, seine Universität aufzulösen, weil bis dahin das ganze Leben auf Cuba ein pädagogisches Erlebnis sein werde. Auf dem Gebiet des höheren Schulwesens aber handelt Cuba — wie jedes andere lateinamerikanische Land —, als ob es ein für alle unhinterfragbares Ziel sei, einen als "Schulalter" bezeichneten Zeitabschnitt zu durchlaufen, was lediglich durch einen vorläufigen Mangel an Mitteln verzögert werde.

Das Ideal vermehrter Schulerziehung, wie sie in den USA tatsächlich geliefert und in Lateinamerika nur versprochen wird, hat sich als janusgesichtiges Trugbild entpuppt, dessen verheerende Wirkungen komplementär sind. Im Norden werden die Armen durch eben jene zwölfjährige Behandlung verkrüppelt, deren Mangel die Armen im Süden als hoffnungslos rückständig brandmarkt. Weder in Nordamerika noch in Lateinamerika erlangen die Armen durch allgemeine Schulpflicht Gleichheit. Aber hier wie dort werden sie durch das bloße Vorhandensein von Schulen entmutigt und daran gehindert, ihr Lernen selbst in die Hand zu nehmen. Überall auf der Welt hat die Schule eine bildungsfeindliche Wirkung auf die Gesellschaft: sie ist anerkannt als die Institution, die sich auf Bildung spezialisiert. Die Fehlschläge der Schule werden von den meisten Leuten als Beweis dafür angesehen, daß Bildung eine sehr kostspielige, sehr schwierige, immer geheimnisvolle und häufig nahezu unlösbare Aufgabe sei.

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Die Schule eignet sich das Geld, die Menschen und die Bereitschaft an, die für Bildungszwecke verfügbar sind, und hindert zudem noch andere Institutionen daran, pädagogische Aufgaben zu übernehmen. Weil Schulbildung als unverzichtbares Fundament für Lebensgestaltung und Wissen gilt, hängen Arbeit, Freizeit, Politik, städtisches Leben und sogar das Familienleben von den Schulen ab, anstatt selbst zu Mitteln der Bildung und Erziehung zu werden. Gleichzeitig werden Schulen sowie andere von ihnen abhängige Einrichtungen unerschwinglich.

In den USA sind die Pro-Kopf-Kosten der Schulbildung fast ebenso rasch gestiegen wie die Kosten der ärztlichen Behandlung. Medizinische Aufwendungen für Menschen über 45 haben sich im Laufe von vier Jahrzehnten mehrmals verdoppelt; das Ergebnis ist eine Zunahme der Lebenserwartung um 3 Prozent. Noch seltsamere Ergebnisse haben die Aufwendungen für das Bildungswesen erbracht; sonst hätte Präsident Nixon sich wohl nicht veranlaßt gesehen, im Frühjahr 1970 zu versprechen, daß jedes Kind bald das "Recht auf Lesen" haben solle, ehe es die Schule verläßt.

In den USA würde es jährlich 80 Milliarden Dollar kosten, das zu erreichen, was Pädagogen als gleiche Erziehung aller in Volksschule und höherer Schule ansehen. Das ist weit mehr als das Doppelte der gegenwärtig aufgewendeten 36 Milliarden. Unabhängig angestellte Berechnungen lassen vermuten, daß die Vergleichszahlen für 1974 107 Milliarden gegenüber den gegenwärtig projektierten 45 Milliarden sein werden. Dabei lassen diese Zahlen die gewaltigen Kosten für das sogenannte höhere Bildungswesen völlig außer acht, dessen Bedarf noch schneller zunimmt. Die Vereinigten Staaten, die 1969 fast 80 Milliarden Dollar für "Verteidigung" einschließlich des Einsatzes in Vietnam ausgegeben haben, sind offensichtlich zu arm, um gleiche Schulbildung für alle bereitstellen zu können. Der vom Präsidenten eingesetzte Ausschuß zur Untersuchung der Schulfinanzierung sollte nicht fragen, wie er solche wachsenden Kosten aufbringen oder beschneiden kann, sondern wie sie sich vermeiden lassen.

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Man muß realisieren, daß gleiche Schulbildung für alle mindestens wirtschaftlich unerreichbar ist. In Lateinamerika wird für jeden Universitätsabsolventen zwischen 350 und 1500 mal soviel an öffentlichen Mitteln aufgewendet wie für den Durchschnittsbürger (d.h. für denjenigen, der in der Mitte zwischen den Ärmsten und den Reichsten steht). In den Vereinigten Staaten ist die Diskrepanz geringer, die Diskriminierung jedoch schärfer. Die reichsten Eltern, etwa 10 Prozent, können sich für ihre Kinder eine private Ausbildung leisten und ihnen außerdem zu Stiftungsstipendien verhelfen. Außerdem aber erhalten sie an öffentlichen Mitteln noch etwa zehnmal soviel wie die Kinder jener 10 Prozent, welche die Ärmsten der Bevölkerung sind. Dies rührt vor allem daher, daß die reichen Kinder länger auf der Schule bleiben, daß ein Jahr auf der Universität unverhältnismäßig mehr kostet als ein Jahr auf der High School, und daß fast alle privaten Universitäten — mindestens mittelbar — auf die Finanzierung aus Steuergeldern angewiesen sind.

Obligatorische Schulbildung führt unweigerlich zur Polarisierung einer Gesellschaft. Darüber hinaus dient sie als Kriterium für die Einordnung ganzer Völker in ein internationales Kastensystem. Die Länder werden wie Kasten eingestuft, deren Bildungsrang sich danach bemißt, wieviele Jahre ihre Bürger durchschnittlich auf einer Schule zubringen. Dieser Bewertung liegt letztlich der Pro-Kopf-Anteil am Bruttosozialprodukt als ausschlaggebender Faktor zugrunde, nur wird sie in ihrer diskriminierenden Wirkung noch viel schmerzlicher als jener empfunden.

Der Widersinn der Schulen ist evident. Vermehrte Aufwendungen steigern ihre destruktive Wirkung, und zwar im Inland wie im Ausland. Dieser Widersinn muß in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Heute zweifelt niemand mehr daran, daß die natürliche Umwelt bald durch biochemische Prozesse zerstört sein wird, wenn wir den laufenden Entwicklungen in der Warenerzeugung nicht endlich Grenzen setzen und die Methoden der Produktion von Grund auf umstellen. Ebenso sollte man zugeben, daß das Leben der Gesellschaft und des einzelnen auf ähnliche Weise von einer Verschmutzung durch Bildungsverwaltung bedroht wird, die das unvermeidliche Abfallprodukt eines obligatorischen und wettbewerblichen Konsums von Fürsorge ist.

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Die Eskalation der Schulen ist ebenso destruktiv wie die Eskalation von Waffen, nur sind die Schäden, die sie anrichtet, weniger offensichtlich. Überall in der Welt sind die Kosten der Schulen schneller gestiegen als die Schülerzahlen und ebenfalls schneller als das Bruttosozialprodukt. Trotzdem bleiben die Aufwendungen für Schulen überall immer weiter hinter den Erwartungen von Eltern, Lehrern und Schülern zurück. Überall behindert dieser Zustand sowohl die Motivation als auch die Finanzierung einer umfassenden Planung nichtschulischen Lernens. Die Vereinigten Staaten lehren die Welt, daß kein Land reich genug sein kann, um sich ein Schulsystem zu leisten, das den Bedürfnissen gerecht wird, die ebendieses Schulsystem durch sein bloßes Vorhandensein hervorruft. Das liegt daran, daß ein erfolgreiches Schulsystem Eltern und Schüler dazu erzieht, größten Wert auf ein noch weiter ausgebautes Schulsystem zu legen, obwohl dessen Kosten unverhältnismäßig ansteigen, je mehr die Nachfrage nach höheren Stufen wächst und je knapper diese folglich werden.

Anstatt gleiche Schulbildung für alle als vorläufig unerreichbar zu bezeichnen, sollten wir zugeben, daß sie schlechterdings wirtschaftlich absurd ist und daß der bloße Versuch, sie zu erreichen, zu intellektueller Entkräftung und gesellschaftlicher Polarisierung führt und außerdem die Glaubwürdigkeit des politischen Systems zerstört, von dem sie propagiert wird. Die Ideologie der Schulpflicht kennt keine logischen Grenzen.

Dafür lieferte unlängst das Weiße Haus ein gutes Beispiel. Dr. Hutschnecker, der "Psychiater", der Mr. Nixon behandelte, ehe dieser Präsidentschaftskandidat wurde, empfahl dem Präsidenten, daß alle Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren ärztlich untersucht werden sollten, um diejenigen mit destruktiven Anlagen ausfindig zu machen; diese sollten dann zwangsweise behandelt und nötigenfalls in besonderen Anstalten erzogen werden. Diese Denkschrift seines Arztes legte der Präsident dem Erziehungsministerium zur Beurteilung vor. Vorbeugende Konzentrationslager für angehende Verbrecher wären allerdings eine logische Weiterentwicklung des Schulwesens.

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Gleiche Bildungschancen sind in der Tat ein wünschenswertes und auch erreichbares Ziel; wer dies aber mit allgemeiner Schulpflicht gleichsetzt, verwechselt die Erlösung mit der Kirche. Die Schule ist zur Weltreligion eines modernisierten Proletariats geworden und macht den Armen des technischen Zeitalters leere Erlösungsversprechungen. Der Nationalstaat hat sich diese Religion zu eigen gemacht und unterwirft nun alle Bürger einem abgestuften Curriculum, das zu einer Reihe von Diplomen führt, ähnlich den Initiationsriten und hieratischen Beförderungen früherer Zeiten. Der moderne Staat hat es sich zur Pflicht gemacht, das Urteil seiner Erzieher durch gutgemeinte Jugendpfleger und berufliche Anforderungen auf ähnliche Weise durchzusetzen wie einstmals die spanischen Könige das Urteil ihrer Theologen durch Konquistadoren und die Inquisition.

Vor zweihundert Jahren führten die USA eine weltweite Bewegung an, die das Monopol einer einzigen Kirche beseitigen sollte. Jetzt brauchen wir die verfassungsmäßige Beseitigung des Schulmonopols, also eines Systems, das kraft Gesetzes Vorurteil mit Diskriminierung verbindet. Der erste Artikel eines Grundrechtskatalogs für eine moderne, humane Gesellschaft würde dem Ersten Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung entsprechen: "Der Staat soll kein Gesetz zum Zwecke der Etablierung einer Bildungsinstitution erlassen." Es soll kein für alle verpflichtendes Ritual geben.

Um die Abschaffung der Pflichtschule wirksam zu machen, brauchen wir ein Gesetz, das jede Diskriminierung verbietet, welche die Anstellung, das Stimmrecht oder die Zulassung zu Bildungseinrichtungen davon abhängig macht, daß man an einem lehrplanmäßigen Unterricht teilgenommen hat. Eine solche Garantie würde Befähigungsprüfungen für ein Amt oder eine sonstige Aufgabe nicht ausschließen.

Sie würde aber die derzeitige absurde Benachteiligung gegenüber demjenigen beseitigen, der eine bestimmte Fertigkeit mit dem größten Auf-

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wand an öffentlichen Mitteln erlernt oder, was ebenso wahrscheinlich ist, ein Diplom zu erlangen vermocht hat, das nichts mit einer nützlichen Fertigkeit oder Tätigkeit zu tun hat. Nur wenn man den Bürger gesetzlich davor schützt, nach dem Kriterium eines "Bildungsstammbaums" disqualifiziert zu werden, kann eine verfassungsmäßige Abschaffung des Schulmonopols psychologisch wirksam werden.

Durch Schulunterricht werden weder Lernen noch Gerechtigkeit gefördert, da die Schulpädagogen darauf bestehen, Unterweisung mit Benotung zu verbinden. Lernen und die Zuweisung sozialer Rollen werden zur Schulung verschmolzen. Dabei bedeutet Lernen, eine neue Fertigkeit oder Erkenntnis zu gewinnen, während Beförderung von der Meinung abhängt, die sich andere gebildet haben. Lernen ist häufig das Ergebnis von Unterweisung, aber die Auswahl für eine Rolle oder Kategorie am Arbeitsmarkt hängt immer mehr von der Länge des Schulbesuches ab.

Unterweisung besteht in der Wahl von Umständen, die das Lernen erleichtern. Rollen werden zugeteilt, indem man in einem Curriculum den Kanon von Bedingungen festlegt, die der Bewerber erfüllen muß, um aufzusteigen. Die Schule verbindet die Unterweisung — nicht aber das Lernen — mit diesen Rollen. Dies ist weder vernünftig, noch wirkt es befreiend. Es ist zweckentfremdend, weil nicht etwa relevante Eigenschaften oder Fähigkeiten mit den Rollen verknüpft werden, sondern vielmehr das Verfahren, durch das man solche Eigenschaften angeblich erwirbt. Es wirkt nicht befreiend oder bildend, weil die Schule die Unterweisung denjenigen vorbehält, deren Lernen Schritt für Schritt Maßstäben einer vorher festgelegten gesellschaftlichen Kontrolle entspricht.

Das "Curriculum" hat von jeher dazu gedient, gesellschaftlichen Rang zu verleihen. Manchmal konnte es sogar pränatal sein: das Karma versetzt in eine Kaste, der Stammbaum verleiht Adel. Das Curriculum konnte die Form eines Rituals annehmen, einer Folge von heiligen Weihen; oder es bestand in einer Abfolge von Leistungen im Krieg oder bei der Jagd; der weitere Aufstieg konnte auch von einer Reihe vorhergehender fürstlicher Gunstbezeigungen abhängig sein. 

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Die allgemeine Schulbildung sollte dazu dienen, die Rollenzuweisung von den persönlichen Verhältnissen und vom Lebenslauf unabhängig zu machen. Sie sollte jedermann für jedes Amt die gleiche Chance verschaffen. Noch heute glauben viele Leute zu Unrecht, die Schule sorge dafür, daß öffentliches Vertrauen von relevanten Lernerfolgen abhänge. Anstatt jedoch Gleichheit der Chancen zu verschaffen, hat das Schulwesen deren Zuteilung monopolisiert.

Um hinreichende Befähigung vom Curriculum zu lösen, müssen Fragen nach dem Bildungsgang eines Menschen genauso unzulässig werden wie Fragen nach seiner politischen Einstellung, seinem Kirchenbesuch, seinen Vorfahren, seinen sexuellen Gewohnheiten oder seiner rassischen Herkunft. Es müssen Gesetze geschaffen werden, welche die Diskriminierung aufgrund des Kriteriums früherer Schulbildung verbieten. Natürlich können Gesetze nicht das Vorurteil gegen Ungeschulte beseitigen, auch sollen sie ja niemanden zwingen, einen Autodidakten zu heiraten — aber ungerechtfertigter Diskriminierung können sie begegnen.

Die zweite große Illusion, auf der das Schulsystem beruht, besteht in der Annahme, daß Lernen meistens das Ergebnis von Unterricht sei. Gewiß kann Unterricht unter bestimmten Umständen zu gewissen Arten des Lernens beitragen. Die meisten Menschen aber erwerben den größten Teil ihres Wissens außerhalb der Schule; in der Schule geschieht dies nur insoweit, als sie in einigen reichen Ländern zu dem Ort geworden ist, an dem Menschen während einer wachsenden Spanne ihres Lebens eingesperrt werden.

Das meiste Lernen erfolgt beiläufig, und selbst beabsichtigtes Lernen ist meistens nicht das Ergebnis von programmierter Unterweisung. Normale Kinder lernen ihre erste Sprache nebenbei. Die meisten Menschen, die eine zweite Sprache gut beherrschen, haben sie aufgrund irgendwelcher Umstände, nicht aber durch regelmäßigen Unterricht gelernt. Sie sind zu ihren Großeltern gezogen, die eine andere Muttersprache sprechen, sind viel gereist oder haben sich in einen Ausländer verliebt.

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Flüssiges Lesen ist auch häufig das Ergebnis außerschulischer Betätigung. Die Mehrzahl aller Leute, die viel und gern lesen, glauben nur, sie hätten dies in der Schule gelernt; spricht man sie darauf an, so trennen sie sich leicht von dieser Illusion.

Der Umstand, daß Lernen auch heute großenteils nebenbei erfolgt und Nebenprodukt irgendeiner anderen Tätigkeit ist, die als Arbeit oder Freizeit verstanden wird, bedeutet aber nicht, daß geplantes Lernen keinen Nutzen aus geplanter Unterweisung ziehe und daß beide nicht verbesserungsbedürftig seien. Für einen lernbegierigen Schüler, der vor der Aufgabe steht, eine neue, schwierige Fertigkeit zu erlernen, kann die althergebrachte Methode mechanischen Auswendiglernens und Übens, mit der die traditionellen Schulmeister einst Lesen, Hebräisch, Katechismus und Rechnen unterrichteten, durchaus förderlich sein. 

In der Schule ist diese Art von Paukunterricht heute selten geworden, doch gibt es viele Fertigkeiten, die ein eifriger Schüler, der normal begabt ist, auf diese Weise nach wenigen Monaten beherrschen kann. Dies gilt für die Decodierung wie Chiffrierung von Texten und Nachrichten, für zweite und dritte Fremdsprachen ebenso wie für Lesen und Schreiben; es gilt ferner für Spezialkenntnisse wie z.B. Algebra, Computer-Programmierung und chemische Analysen oder auch für manuelle Fertigkeiten wie Maschineschreiben, Uhrmacherei, Klempnerei, das Verlegen von elektrischen Leitungen, Fernseh­reparaturen oder auch schließlich für Tanzen, Fahren und Tauchen.

In gewissen Fällen könnte die Zulassung zu einem Lernprogramm, das eine bestimmte Fertigkeit zum Ziel hat, die Beherrschung einer anderen Fertigkeit voraussetzen. Sie sollte jedoch keinesfalls von dem Verfahren abhängig gemacht werden, mit dem solche erforderlichen Fertigkeiten erworben wurden. Um das Reparieren von Fernsehgeräten zu erlernen, muß man Lesen und Schreiben und ein bißchen Mathematik beherrschen. Das Tauchen erfordert gutes Schwimmen, das Autofahren aber von alledem sehr wenig.

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Der Fortschritt beim Erlernen von Fertigkeiten ist meßbar. Der optimale Aufwand an Zeit und Material, den ein durchschnittlich begabter Erwachsener benötigt, läßt sich leicht abschätzen. Eine zweite westeuropäische Sprache bis zu einem hohen Niveau der Sprachfertigkeit zu lehren, kostet in den USA zwischen 400 und 600 Dollar; bei einer östlichen Sprache müßte man für die Unterweisung wohl die doppelte Zeit rechnen. Das wäre immer noch sehr wenig im Vergleich zu den Kosten eines zwölfjährigen Schulbesuchs in New York City (annähernd 15000 Dollar), der beispielsweise Voraussetzung für die Anstellung im Gesundheitsamt ist. Sicherlich schützen nicht nur Lehrer, sondern auch Buchdrucker oder Apotheker ihr Gewerbe dadurch, daß sie die Öffentlichkeit glauben lassen, die dafür erforderliche Ausbildung sei notwendigerweise sehr kostspielig.

Gegenwärtig verschlingen die Schulen den größten Teil der für Bildungszwecke verfügbaren Mittel. Einpaukkurse, die weniger kosten als vergleichbarer Schulunterricht, sind heute ein Privileg von Leuten, die reich genug sind, um die Schulen zu umgehen, oder auch von denen, die entweder die Armee oder die Industrie in eigene Ausbildungsstätten schickt. Bei einem Programm fortschreitender Entschulung des amerikanischen Bildungswesens würden die für Einpaukkurse (drill training) verfügbaren Mittel zunächst begrenzt sein. Schließlich aber sollte es jedermann freistehen, zu jedem Zeitpunkt seines Lebens unter Hunderten von bestimmten Fertigkeiten auszuwählen und auf öffentliche Kosten darin ausgebildet zu werden.

Schon heute ließen sich für Menschen aller Altersstufen, und zwar nicht nur für die Armen, in begrenztem Umfang Bildungsgutscheine bereitstellen, die in jeder Ausbildungsstätte eingelöst werden könnten. Ich stelle mir solche Gutscheine in Form eines Bildungspasses oder einer Bildungskreditkarte vor, die jeder Bürger bei seiner Geburt erhält. Zugunsten der Armen, die ihre jährlichen Guthaben wahrscheinlich nicht schon in jungen Jahren ausnutzen würden, sollte eine Verzinsung vorgesehen werden, die später die Ausnutzung der angesammelten "Ansprüche" ermöglicht. Solche Bildungskredite würden es vielen Menschen ermöglichen, sich nach ihrem Belieben die am meisten gefragten Fertigkeiten anzueignen, und zwar besser, schneller, billiger und mit weniger unerwünschten Nebenwirkungen als in der Schule.

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Einen Mangel an potentiellen Lehrern für Fertigkeiten wird es niemals über längere Zeit hinweg geben, weil einerseits die Nachfrage nach einer Fertigkeit in einem Gemeinwesen nur gleichzeitig mit ihrer Anwendung zunimmt, und weil jemand eine Fertigkeit, die er ausübt, auch lehren kann. Heute aber werden Leute, die gefragte Fertigkeiten praktizieren, deren Aneignung einen Lehrer erfordert, daran gehindert, ihre Kenntnisse an andere weiterzugeben. Die Ursache dafür liegt einerseits bei den Lehrern, welche die Lehrbefugnis monopolisieren, und andererseits bei den Gewerkschaften, die ihre gewerblichen Interessen schützen wollen. Lehrstätten, die von ihren Benutzern nach ihren Ergebnissen beurteilt würden, und nicht nach dem von ihnen beschäftigten Personal oder nach ihren Lehrverfahren, würden ungeahnte Arbeitsmöglichkeiten erschließen, und zwar auch für diejenigen, von denen es heute heißt, man könne sie nicht mehr beschäftigen. Es ist übrigens nicht einzusehen, warum solche Lehrstätten nicht am Arbeitsplatz selber geschaffen werden sollten, so daß der Arbeitgeber und seine Mitarbeiter denen, die ihre Bildungsguthaben auf diese Weise ausnutzen wollen, zugleich Unterweisung und Arbeit bieten können.

In der Erzdiözese New York ergab sich 1956 die Notwendigkeit, mehreren hundert Lehrern, Sozialarbeitern und Geistlichen Spanisch beizubringen, damit sie sich den Puertoricanern verständlich machen konnten. Mein Freund Gerry Morris gab über eine spanisch sendende Rundfunkstation bekannt, daß er Leute aus Harlem benötigte, deren Muttersprache Spanisch war. Am nächsten Tag versammelten sich vor seinem Büro etwa 200 Jugendliche. Unter ihnen wählte er etwa fünfzig aus, darunter viele, die vorzeitig von der Schule abgegangen waren. Er unterwies sie im Gebrauch des Spanisch-Lehrbuches des amerikanischen Foreign Service Institute, das für Sprachstudenten mit Collegeausbildung bestimmt ist. Binnen einer Woche waren seine Lehrer selbständig. Jedem wurden vier New Yorker zugeteilt, welche Spanisch lernen wollten. Nach sechs Monaten war der Auftrag ausgeführt. Kardinal Spellman konnte behaupten, daß in 127 seiner Pfarreien jeweils mindestens drei Mitarbeiter sich auf Spanisch verständlich machen konnten. Kein Schulprogramm hätte es mit diesem Ergebnis aufnehmen können.

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Der Glaube an den Wert von Konzessionierung läßt Lehrer für Fertigkeiten knapp werden. Das Zeugniswesen ist eine Art von Marktmanipulation und erscheint nur einem verschulten Geist einleuchtend. Die meisten konzessionierten Lehrer in Berufsschulen sind weniger sachkundig, phantasievoll und begabt, sich mitzuteilen, als die besten Handwerker und Gewerbetreibenden. Sehr viele Lehrer, die in High Sehools Spanisch oder Französisch unterrichten, sprechen die Sprache nicht so korrekt, wie es ihre Schüler könnten, wenn sie sechs Monate an einem Einpaukkurs teilgenommen hätten. Versuche, die Angel Quintero auf Puerto Rico angestellt hat, legen den Schluß nahe, daß viele junge Menschen, gibt man ihnen nur den nötigen Anreiz und die richtigen Themen und Hilfsmittel, es besser als die meisten Schullehrer verstehen, ihresgleichen in die wissenschaftliche Beschäftigung mit Pflanzen, Sternen und Rohstoffen einzuführen und ihr Verständnis dafür zu wecken, wie ein Motor oder ein Rundfunkgerät funktioniert.

Die Möglichkeiten, eine Fertigkeit zu erlernen, lassen sich enorm vermehren, wenn wir den "Markt" erschließen. Das hängt davon ab, daß man den richtigen Schüler, wenn dieser sich von einem gescheiten Programm stark angesprochen fühlt, mit dem richtigen Lehrer ohne den Zwang eines Curriculums zusammenbringt.

Ein freier, wettbewerblicher Paukunterricht (drill instruction) erscheint dem orthodoxen Erzieher als zersetzende Blasphemie. Er löst den Erwerb von Fertigkeiten von der "humanistischen" Bildung, welche im Curriculum der Schule amalgamiert worden sind. Daher fördert er unkonzessioniertes Lernen nicht weniger als unkonzessioniertes Lehren für nicht vorherbestimmbare Zwecke.

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Jetzt liegt ein Vorschlag vor, der auf den ersten Blick sehr vernünftig wirkt. Er stammt von Christopher Jencks vom "Center for the Study of Public Policy" und wird unterstützt vom "Office of Economic Opportunity". Er sieht vor, daß Eltern beziehungsweise Schüler "Berechtigungen" oder Stipendien erhalten, die von der Schule ihrer Wahl eingelöst werden müssen. Solche individuellen Berechtigungen könnten immerhin ein wichtiger Schritt in richtiger Richtung sein. Wir müssen das Recht jedes Bürgers auf einen gleichen Anteil an Bildungsaufwand aus Steuermitteln gewährleisten, so daß er diesen Anspruch geltend machen und, falls er ihm verweigert wird, einklagen kann. Das ist eine Art Garantie gegen rückwirkende Besteuerung.

Der Vorschlag von Jencks beginnt jedoch mit einer bedenklichen Feststellung: "Konservative, Liberale und Radikale haben früher oder später alle darüber Klage geführt, daß das amerikanische Bildungswesen haupt­beruflichen Erziehern zu wenig Anreiz biete, den meisten Kindern eine hochwertige Bildung zu vermitteln." So bringt der Vorschlag sich selbst in Mißkredit, weil er Stipendien befürwortet, die dem herkömmlichen Schulsystem zugute kämen.

Ebensogut könnte man einem Lahmen ein Paar Krücken mit der Auflage geben, daß er sie nur benutzen dürfe, wenn deren Enden zusammengebunden sind. In seiner jetzigen Form kommt der Vorschlag für Bildungsstipendien nicht nur den hauptberuflichen Erziehern entgegen, sondern auch Rassisten, Trägern von religiösen Schulen und anderen, deren Interessen zu einer Spaltung der Gesellschaft beitragen. Vor allem aber sind Bildungs­berecht­igungen, die nur in Schulen gültig sind, Wasser auf die Mühlen derer, die weiterhin in einer Gesellschaft leben möchten, in der sozialer Aufstieg nicht an erwiesene Kenntnisse, sondern an den Lernstammbaum gebunden ist, mittels dessen sie angeblich erworben werden. Diese Diskriminierung zugunsten von Schulen, von der Jencks Erörterung einer Refinanzierung der Bildung beherrscht wird, könnte einen der wichtigsten Grundsätze der Bildungs­reform diskreditieren: daß nämlich Initiative und Verantwortung für das Lernen wieder dem Lernenden oder seinem unmittelbarsten Berater anvertraut werden.

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Die Entschulung der Gesellschaft setzt voraus, daß man die Komplexität des Lernvorgangs erkennt und der Unterschiedlichkeit seiner Verlaufsformen Rechnung trägt. Bestünde man allein auf dem Einpauken von Fertigkeiten, so könnte das verheerend sein; gleiches Gewicht muß auf andere Seiten des Lernens gelegt werden. Sind aber Schulen der falsche Ort, um eine Fertigkeit zu erlernen, sind sie es erst recht, um Bildung zu vermitteln. Die Schule erfüllt beide Aufgaben deshalb schlecht, weil sie häufig nicht zwischen ihnen unterscheidet. Zur Unterweisung in Fertigkeiten taugt die Schule nicht, weil sie an Curricula gebunden ist. In den meisten Schulen wird ein Programm, das eine Fertigkeit fördern soll, stets an eine andere, dafür irrelevante Aufgabe gekettet. Geschichte wird mit Fortschritten in Mathematik verknüpft, der Schulbesuch überhaupt mit dem Recht, den Sportplatz zu benutzen.

Noch weniger taugen Schulen dazu, die Art des schöpferischen Lernens zu fördern, der ich den Begriff "liberal education" vorbehalten möchte: die forschende Anwendung erworbener Fertigkeiten, die weder zweckgebunden noch auf bereits festliegende Ergebnisse ausgerichtet ist. Dies rührt vor allem daher, daß der Schulbesuch Pflicht ist und zur Schulung um der Schulung willen wird: der erzwungene Aufenthalt in Gesellschaft von Lehrern macht sich in dem fragwürdigen Privileg bezahlt, diesen Aufenthalt fortsetzen zu dürfen. Genau wie die Unterweisung in Fertigkeiten von curricularen Beschränkungen befreit werden muß, so setzt eine liberale Bildung die Entbindung von der Schulpflicht voraus. Sowohl den Erwerb von Fertigkeiten als auch die Aneignung von Bildung, die zu phantasievollem und schöpferischem Verhalten befähigt, kann man durch institutionelle Vorkehrungen fördern, doch muß dabei berücksichtigt werden, daß es sich um unterschiedliche, häufig gegensätzliche Arten des Lernens handelt.

Die meisten Fertigkeiten lassen sich durch Pauken erlernen und verbessern, weil Fertigkeit die Beherrschung von bestimmtem, vorhersehbarem Verhalten bedeutet. Die Unterweisung in Fertigkeiten kann sich daher auf Nachahmung der Praxis stützen.

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Die Erziehung zur forschenden, schöpferischen Anwendung von Fertigkeiten darf sich jedoch nicht auf Pauken verlassen. Bildung kann das Ergebnis von Unterweisung sein, allerdings eine Unterweisung, die dem Pauken diametral entgegengesetzt ist. Sie stützt sich auf das Verhältnis zwischen Partnern, die bereits einige von den Schlüsseln besitzen, welche den Zugang zu den von der Gemeinschaft angesammelten Wissensschätzen ermöglichen. Sie vertraut auf die Kritikfähigkeit all derer, die erinnertes Wissen schöpferisch verwenden. Sie rechnet mit der überraschenden Wirkung der unerwarteten Frage, die dem Suchenden und seinem Partner neue Türen aufschließt.

Wer eine Fertigkeit lehrt, stützt sich auf die Anordnung bestimmter Umstände, die es dem Lernenden ermöglichen, feststehende Antworten zu finden. Wer Bildung vermittelt, als Lehrer oder Berater, ist darum bemüht, passende Partner zusammenzuführen, damit Lernen stattfinden kann. Er stellt Kontakte zwischen einzelnen Menschen her, die von ihren eigenen ungelösten Fragen ausgehen. Allenfalls hilft er dem Schüler, seinen Problemen Ausdruck zu verleihen, weil nur eine klare Aussage ihm die Kraft geben wird, den passenden Partner zu finden, der sich genau wie er in diesem Augenblick gedrängt fühlt, dieselbe Frage in demselben Zusammenhang zu erforschen.

Anfänglich erscheint es schwieriger, sich vorzustellen, daß man Partner für Bildungszwecke zusammenführt, als daß man Lehrer für Fertigkeiten oder Partner für Freizeitunternehmungen findet. Das liegt zum Teil an der tiefen Ängstlichkeit, welche die Schule uns eingeflößt hat — eine Ängstlichkeit, die uns mißtrauisch macht. Die nicht konzessionierte Weitergabe von Fertigkeiten — selbst solche unerwünschter Art — ist leichter abzuschätzen und erscheint daher weniger gefährlich als die unbeschränkte Möglichkeit, mit Menschen zusammenzutreffen, die ein gemeinsames Problem haben, das für sie in diesem Augenblick von sozialer, intellektueller und emotionaler Bedeutung ist. 

 Paulo_Freire  1921-1997 

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Der brasilianische Lehrer Paolo Freire weiß das aus Erfahrung. Er hat entdeckt, daß jeder Erwachsene in etwa 40 Stunden die Anfänge des Lesens erlernen kann, wenn die ersten Wörter, die er entziffert, Bedeutung für das Leben der Allgemeinheit haben. Freire hat seine Lehrer dazu angeregt, in die Dörfer zu gehen und die Wörter herauszufinden, die zu diesem Zeitpunkt wichtige Probleme bezeichnen, etwa den Zugang zu einem Brunnen oder die Zinsen für das Geld, das man dem Pächter schuldet. Abends versammeln sich die Dorfbewohner, um über diese Schlüsselwörter zu reden. Sie beginnen zu erkennen, daß jedes Wort auf der Tafel stehen bleibt, auch wenn sein Klang verflogen ist. Die Buchstaben erschließen auch weiterhin die Wirklichkeit und machen sie als Problem faßbar. Ich habe oft erlebt, wie beim Diskutieren das soziale Bewußtsein der Menschen wächst und sie sich gedrängt fühlen, ebenso schnell, wie sie lesen lernen, auch für die Gemeinschaft aktiv zu werden. Es scheint, als nähmen sie die Wirklichkeit in die Hand, indem sie diese aufschreiben.

Ich denke an den Mann, der sich über das Gewicht der Bleistifte beschwerte: man könne schlecht mit ihnen umgehen, weil sie nicht so schwer sind wie eine Schaufel. Oder jenen anderen, der mit seinen Kameraden auf dem Weg zur Arbeit stehenblieb und mit der Hacke das Wort in den Boden schrieb, über das sie gerade sprachen: agua. Seit 1962 zieht mein Freund Freire von einem Exil ins andere, und zwar vornehmlich, weil er sich weigert, seinen Unterricht über Wörter zu halten, die von staatlich anerkannten Lehrern vorher ausgewählt werden, und nicht über Wörter, die seine Diskussionsteilnehmer in den Unterricht einbringen.

Eine andere Aufgabe ist es, Menschen zu Bildungszwecken zusammenzuführen, die mit Erfolg eine Schule absolviert haben. Die einer solchen Hilfeleistung nicht bedürfen, sind eine Minderheit — selbst unter den Lesern seriöser Zeitungen. Die Mehrheit läßt sich nicht zur Erörterung eines Slogans, eines Wortes oder eines Bildes ermuntern, und man sollte dies auch nicht versuchen. Der Zweck der Partnervermittlung ist jedoch der gleiche: es sollte ihnen ermöglicht werden, gemeinsam ein Problem in den Blickpunkt zu stellen, das sie aus eigener Initiative ausgewählt und formuliert haben. 

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Schöpferisches, forschendes Lernen macht es nötig, Gleichgesinnte zu finden, die in diesem Augenblick von denselben Fragen oder Problemen bedrängt werden. Große Universitäten versuchen dies vergeblich durch eine Vervielfachung ihrer Kurse zu erreichen. Im allgemeinen scheitern sie dabei, weil sie an Curriculum, Kursstruktur und bürokratische Verwaltung gebunden sind. In Schulen und Universitäten werden die meisten Mittel darauf verwendet, die Zeit und Motivation einer begrenzten Zahl von Leuten zu kaufen, um sie vorab festgelegte Probleme in einem rituell bestimmten Rahmen aufgreifen zu lassen. Die radikalste Alternative zur Schule wäre ein Netzwerk oder ein Service, der jedermann die gleiche Gelegenheit bietet, seine jeweiligen Anliegen mit anderen zu teilen, welche dieselben Anliegen haben.

Als Beispiel möchte ich anführen, wie man in New York City solche Kontakte zwischen Gleichgesinnten herstellen könnte. Es ließe sich einrichten, daß jeder zu beliebiger Zeit und mit minimalem Kostenaufwand über einen Computer seine Adresse und Telefonnummer angeben könnte sowie das Buch, den Aufsatz, den Film oder die Schallplatte, über die er mit einem Partner diskutieren möchte. Binnen weniger Tage könnte er durch die Post eine Liste von anderen Personen erhalten, die in letzter Zeit die gleiche Initiative ergriffen haben. Diese Liste würde es ihm ermöglichen, telefonisch eine Zusammenkunft mit Leuten zu verabreden, von denen er zunächst nur wüßte, daß sie ein Gespräch über den gleichen Gegenstand wünschen.

Menschen aufgrund ihres Interesses an einem bestimmten Werk zusammenzuführen ist im Grunde einfach. Es gestattet die Identifizierung passender Partner allein aufgrund des gegenseitigen Bedürfnisses, die Aussage einer dritten Person zu erörtern, und überläßt die Initiative für das Zustandekommen des Treffens dem einzelnen. Auf diesen schlichten Plan wird gewöhnlich mit drei Alternativvorschlägen reagiert, die Ausdruck bezeichnender Vorbehalte sind. Ich greife sie hier nicht nur auf, um die Theorie zu erläutern, die ich mit meinem Vorschlag anschaulich machen möchte — die Einwände beleuchten nämlich den tief eingewurzelten Widerstand gegen die Ent-Schulung des Bildungswesens und die Trennung von Lernen und gesellschaftlicher Kontrolle —, sondern auch, weil sich vor diesem Hintergrund bereits vorhandene, aber bislang nicht für Lernzwecke genutzte Möglichkeiten aufzeigen lassen.

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Hier ist der erste Einwand: 

Warum soll sich das Identifikationsmerkmal auf einen Erörterungsgegenstand beschränken, der — wie Texte, Filme oder Musikstücke — an einen bestimmten Autor oder Interpreten gebunden ist? Kann man die Vermittlung von Gleichgesinnten nicht auch auf eine Idee oder ein Problem gründen? Gewiß ließen sich auch solche subjektiven Vorstellungen bei einem Computersystem verwenden. Politische Parteien, Kirchen, Vereine, Clubs, Nachbarschaftsgruppen und berufsständische Verbände organisieren ihre Bildungsbemühungen bereits auf diese Weise und treten praktisch als Schulen auf. Sie alle führen Menschen zusammen, um gewisse "Themen" zu untersuchen; man behandelt diese in Kursen, Seminaren und Lehrplänen, wobei vorweg "gemeinsame Interessengebiete" festgelegt werden. Solche Diskussionen sind ihrem Wesen nach auf Lehrer angewiesen. Sie erfordern die Anwesenheit einer Autorität, die den Teilnehmern den Ausgangspunkt für ihre Diskussion erläutert.

Demgegenüber sind bei der Zusammenkunft aufgrund eines Buches oder Filmes die besondere Ausdrucksweise, die Umstände und der Rahmen, innerhalb derer ein Problem oder eine Tatsache dargestellt werden, durch den Autor des jeweiligen Werkes bestimmt. Ein solches Gesprächsarrangement ermöglicht es denen, die diesen Ausgangspunkt akzeptieren, sich gegenseitig — ohne die zentrierende Instanz einer Autorität — als Partner mit gleichem Anliegen zu identifizieren.

Läßt man Menschen zusammenkommen, um z.B. den Begriff "Kulturrevolution" zu erörtern, so endet das gewöhnlich in Verwirrung oder in Demagogie.

Wenn sich jedoch stattdessen die an einem bestimmten Aufsatz von Mao, Marcuse, Freud oder Goodman Interessierten zusammenfinden, um darüber zu diskutieren, so entspricht dies durchaus der großen Tradition liberalen Lernens: von Platons Dialogen, die sich in der Auseinandersetzung mit den Sokrates zugeschriebenen

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Äußerungen entwickeln, bis hin zu Thomas von Aquins Kommentaren zu den Sentenzenbüchern des Petrus Lombardus. 

Insofern unterscheidet sich das Zusammenführen aufgrund von Werken grundlegend von dem Konzept, nach dem beispielsweise die Buchgemeinschaften aufgebaut worden sind. Anstatt sich auf die von irgendwelchen Autoritäten getroffene Auswahl zu verlassen, können jeweils zwei Partner jedes beliebige Buch zum Gegenstand gemeinsamer Untersuchung machen.

Der zweite Einwand lautet: 

Warum sollen die Angaben bei der Partnersuche nicht auch Informationen über Lebensalter, Herkunft, Weltanschauung, Fähigkeiten, Erfahrungen oder andere Unterscheidungsmerkmale enthalten? Es gibt wiederum keinen Grund, weshalb solche einschränkenden Spezifikationen nicht von einigen der vielen Universitäten — mit oder ohne Mauern — übernommen werden sollten, die das Zusammenführen nach Werken zu ihrem organisatorischen Grundprinzip machen könnten. Ich könnte mir Zusammenkünfte interessierter Personen vorstellen, bei denen der Autor des ausgewählten Buches anwesend ist oder sich vertreten läßt; oder ein System, bei dem die Anwesenheit eines sachkundigen Beraters gewährleistet ist; oder andere Veranstaltungen, zu denen nur Studenten einer Fakultät oder einer Hochschule zugelassen sind; oder ausschließlich Zusammenkünfte von Menschen, die sich vorab auf einen bestimmten methodischen oder thematischen Zugang zu dem Werk einigen, über das sie sprechen wollen. 

Bei jeder solcher Beschränkung ließen sich Vorteile für das Erreichen bestimmter Lernziele feststellen. Ich fürchte jedoch, daß in der Mehrzahl der Fälle, in denen solche Beschränkungen vorgeschlagen werden, der eigentliche Grund Geringschätzung ist: sie entspringt der Annahme, die Leute seien unwissend. Konzessionierte Lehrer möchten verhindern, daß ein Unwissender sich mit einem anderen Unwissenden zur Erörterung eines Textes zusammentut, den sie vielleicht nicht verstehen und nur deshalb lesen, weil er sie interessiert.

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Der dritte Einwand:  

Warum stellt man den Partner-Suchenden nicht Hilfseinrichtungen zur Verfügung, die ihre Zusammenkünfte erleichtern, also Räume, Programme, Filmvorführungen und Versicherungsschutz? Das leisten jetzt Schulen mit der ganzen Unzulänglichkeit, wie sie große Bürokratien auszeichnet. Überließen wir die Initiative für Zusammenkünfte den Partner-Suchenden selber, so würden Organisationen, die heute niemand dem Bildungswesen zurechnet, wahrscheinlich die Aufgabe viel besser lösen. Ich denke an Restaurantbesitzer, Verleger, Telefonbeantwortungsdienste, Leiter von Warenhäusern und selbst an die Bahnverwaltung, die die öffentliche Nutzung des Nahverkehrs fördern könnte, indem sie ihre Dienstleistungen auch für diejenigen attraktiver macht, die zu Bildungsgesprächen zusammenkommen wollen.

Bei einer ersten Begegnung — angenommen in einem Cafe — könnten sich die Partner dadurch zu erkennen geben, daß sie das zur Rede stehende Buch neben ihre Tasse legen. Wer die Initiative zu solchen Zusammenkünften ergreift, wird bald lernen, welches Buch oder welchen Artikel er angeben muß, um die Menschen zu treffen, die er sucht. Das Risiko, daß die selbstgewählte Diskussion mit einem oder mehreren Fremden zu Zeitverlust, Enttäuschung oder gar Unannehmlichkeiten führt, ist gewiß geringer als das Risiko von jemandem, der sich um die Zulassung zu einem College bewirbt. Eine per Computer arrangierte Zusammenkunft in einem Cafe an der Ecke der Fourth Avenue, bei der ein Artikel aus einer großen Zeitschrift diskutiert werden soll, würde keinen Teilnehmer verpflichten, in der Gesellschaft seiner neuen Bekannten länger zu verweilen, als er braucht, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Auch müßte er keinen von diesen Leuten jemals wiedertreffen. Die Chance, daß eine solche Zusammenkunft dazu beitragen würde, das großstädtische Leben überschaubarer und transparenter zu machen und neue Freundschaften, selbstgewählte Arbeit und kritisches Lesen zu fördern, ist groß. 

(Die Tatsache, daß sich das FBI Zugang zu einem Computerverzeichnis privater Lektüren und Bildungskontakte verschaffen könnte, ist nicht zu leugnen; daß dies aber im Jahre 1970 noch irgend jemanden beunruhigen könnte, ist für einen freien Menschen nur komisch, der ja nolens volens seinen Teil dazu beiträgt, daß die Schnüffler in den von ihnen gesammelten Belanglosigkeiten ertrinken.)

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Der Austausch von Fertigkeiten und das Zusammenführen von Partnern beruhen auf der Annahme, daß Bildung für alle auch Bildung durch alle bedeutet. Nicht die Rekrutierung für eine spezielle Institution, sondern nur die Mobilmachung der gesamten Bevölkerung kann zu einer Volkskultur führen. Das gleiche Recht jedes Menschen, seine Fähigkeit zum Lernen und zum Unterweisen einzusetzen, wird heute durch konzessionierte Lehrer blockiert. Die Möglichkeiten des Lehrers wiederum werden auf das beschränkt, was in der Schule getan werden kann. Außerdem werden dadurch Arbeit und Freizeit einander entfremdet: Der Zuschauer soll ebenso wie der Arbeiter am Ort seiner Tätigkeit mit der Bereitschaft erscheinen, sich in eine für ihn vorbereitete Routine einzufügen. Gleichschaltung durch vorgegebene Produkt-Designs, durch Gebrauchsanweisungen und Werbung schleift beide für ihre Rolle ebenso zurecht wie der heutige Schulunterricht. Eine radikale Alternative zu einer verschulten Gesellschaft erfordert nicht nur neue Mechanismen für den geregelten Erwerb von Fertigkeiten und deren bildungsmäßige Verwendung. Eine entschulte Gesellschaft setzt eine neue Einstellung zu beiläufiger oder zwangloser Bildung voraus.

Die beiläufig erfolgende Bildung kann selbstverständlich nicht mehr zu den Formen zurückkehren, die das Lernen im Dorf oder in der mittelalterlichen Stadt hatte. Die traditionelle Gesellschaft glich eher einem konzentrischen Gefüge sinntragender Strukturen, während der moderne Mensch lernen muß, wie er einen Sinn in vielen Strukturen findet, zu denen er nur einen marginalen Bezug hat. Im Dorf standen Sprache und Baukunst und Arbeit und Religion und Familienbräuche miteinander im Einklang. Sie erklärten und verstärkten sich gegenseitig. Wuchs man in das eine hinein, dann auch in die anderen. Selbst fachliche Lehrzeit war ein Nebenprodukt fachlicher Betätigung, etwa der Schuhmacherei oder des Chorsingens. Auch wenn ein Lehrling niemals Meister oder Gelehrter wurde, trug er doch dazu bei, daß Schuhe gemacht oder die Gottesdienste feierlich ausgestaltet wurden. Die Bildung brauchte sich weder mit der Arbeit noch mit der Freizeit um Zeit zu streiten. Fast alle Bildung war vielfältig, lebenslang und ungeplant.

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Die heutige Gesellschaft ist das Ergebnis bewußter Entwürfe. Und Bildungsmöglichkeiten müssen ein integrativer Bestandteil dieser Entwürfe werden, indem man die Voraussetzungen für die Partizipation aller an gesellschaftlichen Einrichtungen schafft und diese für Bildungszwecke nutzbar macht. 

Wir werden uns künftig weniger auf spezialisierte Ganzzeitunterweisung durch Schulen verlassen dürfen, sondern werden neue Wege finden müssen, um zu lernen und zu lehren: Die bildende Wirkung aller Institutionen muß wieder zunehmen. Dies ist freilich eine sehr zweischneidige Prognose. Es könnte bedeuten, daß die Menschen in der modernen Großstadt in zunehmendem Maße zu Opfern eines durchgreifenden Prozesses totaler Unterweisung und Manipulierung werden, wenn sie nämlich auch noch der dürftigen Andeutung einer kritischen Unabhängigkeit beraubt werden, die liberale Schulen heute wenigstens einigen ihrer Schüler verschaffen.

Es könnte allerdings auch bedeuten, daß die Menschen sich weniger hinter Schulzeugnissen verschanzen und dadurch mehr Mut bekommen, die Einrichtungen, an denen sie teilhaben, durch Widerspruch zu kontrollieren und zu beeinflussen. Um eine solche Entwicklung zu sichern, müssen wir lernen, die soziale Bedeutung von Arbeit und Freizeit daran zu messen, wieviel Nehmen und Geben in puncto Bildung sie ermöglichen. Effektive Teilnahme an der gemeinnützigen Verwaltung von Einrichtungen, etwa einer Straße, eines Arbeitsplatzes, einer Bibliothek, eines Nachrichtenprogramms oder Krankenhauses, ist daher der beste Maßstab, um deren jeweilige Bedeutung als Bildungseinrichtung abzuschätzen.

Unlängst sprach ich mit einer Gruppe älterer Schüler, die gerade eine Widerstandsbewegung gegen ihre zwangsmäßige Versetzung in die nächste Klasse organisierten. Ihre Parole hieß: "Mittun, nicht heucheln!" Sie waren enttäuscht, daß man das als eine Forderung nach weniger und nicht nach mehr Bildung verstand.

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Das erinnerte mich an den Widerstand, den Karl Marx vor hundert Jahren gegen einen Absatz im Gothaer Parteiprogramm leistete, der Kinderarbeit für ungesetzlich erklärte. Er widersetzte sich dem Vorschlag jedoch um der Jugend willen, deren Bildung nur bei der Arbeit stattfinden könne. 

Sollte die wertvollste Frucht der Arbeit eines Menschen die Bildung sein, die er aus ihr gewinnt, und ferner die Möglichkeit, welche ihm die Arbeit verschafft, um die Bildung anderer in die Wege zu leiten, dann ist die pädagogische Entfremdung der modernen Gesellschaft noch schlimmer als ihre ökonomische Entfremdung.

Das Haupthindernis auf dem Weg zu einer echten Bildungsgesellschaft hat ein schwarzer Freund von mir in Chicago treffend benannt, als er sagte, unsere Phantasie sei "völlig verschult". Wir gestatten dem Staat, allgemeine Bildungsmängel seiner Bürger zu diagnostizieren und dann eine spezielle Institution zu schaffen, welche die Mängel beheben soll. So erliegen wir dem Trugschluß, daß wir unterscheiden könnten zwischen dem, was für andere notwendige Bildung sei und was nicht — genau wie frühere Generationen Gesetze schufen, die bestimmten, was heilig und was profan war.

Durkheim hat erkannt, daß die Einteilung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in zwei Reiche das Wesen der formalen Religion ausmacht. Es gebe, so stellt er fest, Religionen ohne Übernatürliches und andere Religionen ohne persönliche Götter; es gebe aber keine Religion, welche nicht die Welt in Gegenstände, Zeitabschnitte und Personen einteilt, die als heilig gelten — und andere, die demzufolge profan sind. Durkheims Einsicht läßt sich auf die Bildungssoziologie übertragen, denn die Schule bewirkt auf ähnliche Weise eine radikale Teilung.

Das bloße Vorhandensein pflichtmäßiger Schulen scheidet die Gesellschaft in zwei Reiche: Es gibt Zeitabschnitte, Vorgänge, Behandlungsweisen und Berufe, die als "akademisch" oder "pädagogisch" gelten, andere dagegen nicht. Diese Macht der Schulen, die gesellschaftliche Wirklichkeit aufzuteilen, kennt keine Grenzen: Die Bildung wird weltfremd, und die Welt wird bildungsfremd.

Theologen haben seit Bonhoeffer auf die Konfusion hingewiesen, die heute zwischen biblischer Botschaft und institutionalisierter Religion herrscht. Sie weisen auf die Erfahrung hin, daß christliche Freiheit und christlicher Glaube gewöhnlich aus der Säkularisierung Nutzen ziehen. Natürlich erscheinen solche Feststellungen vielen Männern der Kirche gotteslästerlich. Fraglos wird der Bildungsprozeß ebenso aus der Entschulung der Gesellschaft Nutzen ziehen, obwohl solche Forderung vielen Schulmännern wie ein Verrat an der Aufklärung vorkommt. Es ist aber gerade die Aufklärung, der heute in unseren Schulen der Todesstoß versetzt wird.

Die Säkularisierung des christlichen Glaubens hängt davon ab, daß in der Kirche verwurzelte Christen sich dieser Aufgabe widmen. Auf ganz ähnliche Weise hängt die erfolgreiche Entschulung der Bildung von dem Einsatz derer ab, die in Schulen erzogen worden sind. Ihr Curriculum kann ihnen nicht als Alibi für diese Aufgabe dienen. Jeder von uns bleibt verantwortlich für das, was aus ihm gemacht worden ist, selbst wenn er vielleicht nicht viel anderes tun kann, als diese Verantwortung zu akzeptieren und anderen als Warnung zu dienen.

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Ivan Illich 1971