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1.  Zwei Wasserscheiden 

 

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Das Jahr 1913 markiert eine Wasserscheide in der Geschichte der modernen Medizin. Etwa seit diesem Jahr lagen die Aussichten eines Absolventen einer medizinischen Fakultät, einen Patienten erfolgreich zu behandeln, bei mehr als fünfzig Prozent (sofern letzterer an einer der Standardkrankheiten litt, die der medizinischen Wissenschaft dieser Zeit bekannt war). Viele Schamanen und Naturheilkundige, die sich mit ortstypischen Erkrankungen und Heilmitteln auskannten und denen die Klienten vertrauten, hatten schon früher gleichwertige oder bessere Resultate erzielt.

Seither hat man sich in der Medizin bemüht, zu klären, was Krankheit ist und wie man sie behandelt. In der westlichen Welt hat die Allgemeinheit gelernt, eine wirksame medizinische Praxis entsprechend dem Fortschritt der medizinischen Forschung zu verlangen. Erstmals in der Geschichte konnten Ärzte die eigene Effizienz an Maßstäben messen, die sie selbst gesetzt hatten. 

Dieser Fortschritt war einer neuen Sicht der Ursprünge einiger uralter Geißeln der Menschheit zu verdanken; man war nun dazu in der Lage, Wasser zu reinigen und die Säuglingssterblichkeit zu senken; durch die Rattenbekämpfung konnte man der Pest Herr werden; Treponemen ließen sich unter dem Mikroskop sichtbar machen und mit Hilfe von Salvarsan mit statistisch faßbaren Risiken der Vergiftung des Patienten vernichten; die Syphilis konnte man meiden oder sie mit Hilfe relativ einfacher Prozeduren erkennen und heilen; man konnte die Diabetes diagnostizieren, und die Eigenbehandlung mit Insulin konnte das Leben des Patienten verlängern. 

Paradoxerweise war es aber so: Je einfacher die Werkzeuge, um so mehr bestand die Zunft der Mediziner auf einem Monopol bei deren Anwendung; um so länger währte nun die Ausbildung, die man für erforderlich hielt, ehe ein Medizinmann in die legitime Handhabung auch des simpelsten Werkzeugs initiiert werden konnte, und um so mehr meinte die Gesamtbevölkerung, den Arzt zu brauchen. Die Hygiene, bis dahin als Tugend betrachtet, wurde nun zu einem von Fachleuten ausgerichteten Ritual am Altar einer Wissenschaft.

Es gelang, die Säuglingssterblichkeit zu senken; verbreitete Infektionen ließen sich vermeiden oder behandeln; bestimmte Formen des Eingriffs in den Krankheits­verlauf erlangten einige Wirksamkeit. Der sensationelle Rückgang von Mortalität und Morbidität ließ sich auf Veränderungen in der öffentlichen Hygiene, in der Agrikultur, im Marktwesen und in der allgemeinen Einstellung zum Leben zurückführen. Aber obwohl diese Verbesserungen teilweise darauf zurückzuführen waren, daß Ingenieure neuen, von der medizinischen Wissenschaft entdeckten Tatsachen Beachtung geschenkt hatten, haben Ärzte doch nur gelegentlich einen Beitrag dazu geleistet.

Indirekt profitierte die Industrialisierung von den neuen Errungenschaften, als deren Urheber man die medizinische Wissenschaft betrachtete; die Arbeitsanwesenheit wuchs und mit ihr die Forderung nach Arbeitseffizienz. Es gelang, die Destruktivität neuer Werkzeuge dadurch vor der Öffentlichkeit zu verbergen, daß man den Opfern von industrieller Gewalt, wie die Geschwindigkeit von Autos, Arbeitsbelastungen und Umweltgifte, spektakuläre neue Behandlungsmethoden bot.

Die krankmachenden Nebenwirkungen der modernen Medizin waren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zu übersehen, aber die Ärzte brauchten Zeit, um arzneimittelresistente Mikroben oder genetische Schäden durch pränatale Röntgenuntersuchungen als neue Epidemien zu diagnostizieren. Die von George Bernard Shaw eine Generation davor aufgestellte Behauptung, Ärzte seien keine Heiler mehr und beherrschten nun allmählich das gesamte Leben des Patienten, konnte man noch immer als Übertreibung betrachten. Erst Mitte der fünfziger Jahre wurde offenbar, daß die Medizin eine zweite Wasserscheide überschritten und selbst neue Krankheiten verursacht hatte.

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Die bedeutendste der iatrogenen (durch ärztliche Einwirkung entstandenen) Krankheiten war die Anmaßung der Ärzte, ihren Patienten eine bessere Qualität der Gesundheit bieten zu können. Von ihr wurden zunächst Sozialplaner und Ärzte befallen. Bald griff diese epidemische Verirrung auf die Gesellschaft als ganze über. Während der vergangenen fünfzehn Jahre ist die Fachmedizin dann allmählich zu einer der schlimmsten Bedrohungen für die Gesundheit geworden. Riesige Geldsummen wurden aufgewendet, um den unermeßlichen Schaden einzudämmen, der durch medizinische Behandlung verursacht worden war. 

Die Kosten für die Heilung wurden von den Kosten für die Verlängerung kranken Lebens in den Schatten gestellt; immer mehr Menschen überlebten längere Monate, wobei ihr Leben an einem Plastikschlauch hing, sie Gefangene eiserner Lungen oder an künstliche Nieren angeschlossen waren. Neue Krankheiten wurden beschrieben und institutionalisiert; die Kosten dafür, Menschen das Überleben in ungesunden Städten und an krankmachenden Arbeitsplätzen zu ermöglichen, schossen in die Höhe. Dem Monopol der medizinischen Zunft wurden immer weitere Bereiche im Leben der einzelnen untergeordnet.

Daß Mütter, Tanten und andere Laien sich nun nicht mehr um ihre schwangeren, mißgebildeten, verletzten, kranken oder sterbenden Verwandten und Freunde kümmern durften, hatte zur Folge, daß die Nachfrage nach neuen medizinischen Dienstleistungen so schnell wuchs, daß das medizinische Establishment mit ihrem Angebot nicht mehr nachkam: Indem die Wertschätzung von Dienstleistungen stieg, wurde es den Menschen fast unmöglich, sich selbst um andere zu kümmern. Zugleich erklärte man immer weitere Beschwerden für behandlungsbedürftig und schuf neue Fachrichtungen oder halbfachliche Berufe, um die Werkzeuge weiterhin unter der Aufsicht der Zunft halten zu können.

Zur Zeit der zweiten Wasserscheide wurde es zum wichtigsten Anliegen der Zunft der Mediziner, den Erhalt des kranken Lebens von der Medizin abhängiger Menschen in einer ungesunden Umwelt zu sichern. 

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Kostspielige Prävention und kostspielige Behandlung wurden zunehmend zum Privileg derer, die sich durch den früheren Konsum medizinischer Dienstleistungen das Recht gesichert hatten, noch mehr davon in Anspruch zu nehmen. Spezialisten, Krankenhäuser mit hohem Prestige und lebensverlängernde Maschinen kann vornehmlich in Anspruch nehmen, wer in einer Großstadt lebt, wo die Kosten für grundlegende Krankheitsverhütung, wie für Wasseraufbereitung und Schadstoffkontrollen, sowieso schon außergewöhnlich hoch sind. Je höher die Pro-Kopf-Kosten für die Prävention, desto höher werden paradoxerweise die Pro-Kopf-Kosten der medizinischen Versorgung. Eine frühere Inanspruchnahme kostspieliger Vorsorge und Behandlung etabliert das Recht auf weitere, noch aufwendigere Betreuung. 

Wie das moderne Bildungssystem, so funktioniert die auf der Krankenhausversorgung gründende Gesundheitsfürsorge getreu dem Prinzip, daß diejenigen, die schon viel haben, noch mehr bekommen und den Habenichtsen das wenige, was ihnen verbleibt, auch noch genommen wird. Was den Bildungssektor betrifft, bedeutet das, daß denen, die sich schon als Ausbildungskonsumenten hervorgetan haben. Postgraduiertenstipendien zustehen, wogegen diejenigen, die die Schule nicht schaffen, lernen, daß sie Versager sind. In der Medizin wird mittels des gleichen Prinzips sichergestellt, daß sich das Leiden durch weitere medizinische Betreuung vergrößert; die Reichen werden sich immer häufiger wegen iatrogener Krankheiten behandeln lassen, wogegen die Armen daran einfach werden leiden müssen.

Nach diesem zweiten Wendepunkt griffen die unerwünschten gesundheitlichen Nebenwirkungen allmählich auf ganze Bevölkerungen über, statt nur einzelne zu treffen. In den reichen Ländern hielt die moderne Medizin nun Menschen mittleren Alters bei Kräften, bis sie schwach und gebrechlich wurden und weitere ärztliche Hilfe und immer komplexere medizinische Geräte benötigten. In armen Ländern überlebte ein zunehmender Prozentsatz der Kinder dank der modernen Medizin bis in die Pubertät hinein und immer mehr Frauen überlebten immer weitere Schwangerschaften.

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Die Bevölkerungen wuchsen so an, daß die Kapazitäten ihrer Umgebung nicht mehr ausreichten und sie aufgrund der Restriktionen und mangelnden Möglichkeiten ihrer Kultur nicht mehr zu ernähren waren. Westliche Ärzte setzten mißbräuchlich Medikamente zur Behandlung von Erkrankungen ein, mit denen die Einheimischen zu leben gelernt hatten. Damit trugen sie zur Entstehung neuer Stämme von Krankheits­erregern bei, mit denen moderne Behandlungsmethoden, natürliche Abwehrkräfte und traditionelle Kultur nicht fertig werden konnten. Auf der ganzen Welt, speziell aber in den USA, ging es bei der medizinischen Betreuung vor allem darum, einen Menschenbestand heranzuzüchten, der allein für ein domestiziertes Leben innerhalb einer immer kostspieligeren künstlichen, wissenschaftlich überwachten Umwelt tauglich war.  

Eine der Hauptrednerinnen bei der AMA-Convention2 1970 forderte ihre Kollegen aus der Kinderheilkunde auf, jedes Neugeborene als Patienten zu betrachten, bis dessen Gesundheit ärztlich bescheinigt sei. Im Krankenhaus geborene, mit Fertignahrung gefütterte, mit Antibiotika vollgestopfte Kinder werden so zu Erwachsenen, die in einer modernen Großstadt die Luft atmen, die Nahrung vertragen und die Leblosigkeit aushalten können und jeden noch so hohen Preis dafür zahlen werden, eine von der Medizin noch abhängigere Generation hervorzubringen und großzuziehen.

Die bürokratische Medizin verbreitete sich über die ganze Welt. 1968, als Mao zwanzig Jahre an der Macht gewesen war, mußte die medizinische Fakultät von Shanghai folgern, daß sie "sogenannte erstklassige Ärzte" ausbildete, "die fünf Millionen Bauern ignorieren und nur Minderheiten in den Großstädten dienen. Sie verursachen hohe Kosten für routinemäßige Labor­untersuchungen ... verschreiben unnötigerweise riesige Mengen an Antibiotika ... und in Ermangelung von Krankenhäusern oder Laboreinrichtungen müssen sie sich darauf beschränken, den Verlauf von Krankheiten Menschen zu erklären, für die sie nichts tun können und denen diese Erklärungen nichts nützen."

2)  AMA = American Medical Association.

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In China hat diese Erkenntnis zu einem wirklichen institutionellen Wandel geführt. Heute berichtet das gleiche College, eine Million Gesundheitshelfer hätten ein akzeptables Kompetenzniveau erreicht. Diese Gesund­heitshelfer sind Laien, die in Zeiten geringen landwirtschaftlichen Arbeitskräftebedarfs Kurzlehrgänge besucht haben, in denen sie anfangs Schweine seziert haben, dann zur Ausführung routinemäßiger Labortests übergegangen sind, die Grundlagen von Bakteriologie, Pathologie und klinischer Medizin, Hygiene und Akupunktur studiert und anschließend bei einem Arzt oder einem bereits ausgebildeten Kollegen in die Lehre gegangen sind.

Diese "Barfußärzte" verbleiben an ihren Arbeitsplätzen, werden aber gelegentlich entschuldigt, wenn Arbeitskollegen ihre Hilfe benötigen. Sie tragen Verantwortung für Umwelthygiene, Gesundheitserziehung, Impfung, Erste Hilfe, einfache medizinische Behandlung, Krankheitsnachsorge sowie für gynäkologische Betreuung, Empfängnis­verhütung und Aufklärung über den Schwangerschaftsabbruch. Zehn Jahre, nachdem man festgestellt hat, daß die westliche Medizin ihre zweite Wasserscheide überschritten hat, soll in China auf hundert Menschen ein Gesundheitshelfer kommen.

China hat bewiesen, daß es möglich ist, eine wichtige Institution schnell zur Umkehr zu bringen. Ob es gelingen wird, diese Entprofessionalisierung aufrechtzuerhalten angesichts der anmaßenden Fortschrittsideologie und des Drucks von seiten der Schulmediziner, ihr Barfußhomonym als Teilzeitfachleute auf der untersten Stufe einer medizinische Hierarchie einzugliedern, wird sich noch herausstellen müssen.

Im Westen wuchs die Unzufriedenheit mit der Medizin in den sechziger Jahren proportional zu deren Kosten, und sie erreichte ihre größte Intensität in den USA. Reiche Ausländer kamen in Scharen in die medizinischen Zentren von Boston, Houston und Denver, um exotische Ausbesserungs­arbeiten vornehmen zu lassen, während die Säuglings­sterblichkeit der Armen in den USA vergleichbar blieb mit der in manchen tropischen Ländern Afrikas und Asiens.

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Nur die ganz Reichen in den Vereinigten Staaten können sich heute das leisten, was alle Menschen in armen Ländern haben, nämlich eine persönliche Betreuung am Totenbett. Es ist für einen Amerikaner heute durchaus möglich, für zwei Tage privater Pflege das jährliche durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Weltbevölkerung auszugeben.

Anstatt jedoch offenzulegen, daß es sich um eine systemische Erkrankung handelt, prangert man in den USA nur die Symptome der "kranken" Medizin in der Öffentlichkeit an. Sprecher der Armen nehmen Anstoß an der kapitalistischen Voreingenommenheit der AMA und an den Einkünften der Ärzte. Kommunale Führer erheben Einwände dagegen, daß die Kommunen so wenig Einfluß auf die Dienstleistungssysteme des professionellen Gesundheitswesens oder der Krankenpflege haben, denn sie glauben, Laien in Kranken­hausbeiräten könnten dazu in der Lage sein, die medizinischen Fachleute in Schach zu halten.

Anführer der Schwarzen nehmen Anstoß daran, daß Stipendien vor allem für die Erforschung von Krankheiten zur Verfügung gestellt werden, die vorwiegend den weißen, älteren, übergewichtigen Stiftungsfunktionär befallen, der sie bewilligt. Sie fordern die Erforschung der Sichelzellenanämie, die nur die Schwarzen trifft.

Der Wähler im allgemeinen hofft, durch die Beendigung des Krieges in Vietnam könnten mehr Mittel freigesetzt werden, die einer Produktionssteigerung auf dem Gebiet der Medizin zugute kämen. Daß man sich im allgemeinen nur mit Symptomen beschäftigt, lenkt ab von der bösartigen Wucherung des institutionellen Gesundheitswesens, die die Ursache dafür ist, daß die Kosten steigen und sich das Wohlbefinden verringert.

Die Krise der Medizin ist viel tiefgreifender als deren Symptome erkennen lassen, und sie entspricht der gegenwärtigen Krise aller industrieller Institutionen. Sie resultiert daraus, daß sich ein professioneller Komplex von Fachleuten herausgebildet hat, der sich der Unterstützung der Gesellschaft sicher sein kann und von dem man erwartet, daß er für eine immer "bessere" Gesundheit sorgt, und aus der Bereitwilligkeit der Patienten, sich in diesem sinnlosen Experiment als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen.

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Die Menschen haben kein Recht mehr, sich selbst für krank zu erklären; die Gesellschaft erkennt deren Behauptung, sie seien krank, erst an, wenn ihnen medizinische Bürokraten dafür ein Attest ausgestellt haben.

Für diese Argumentation ist es nicht unbedingt notwendig, die Jahre 1913 und 1955 als die beiden Wendejahre vorauszusetzen, um zu begreifen, daß die medizinische Praxis zu Beginn des Jahrhunderts in eine Ära der wissenschaftlichen Verifizierung der eigenen Ergebnisse eintrat. Später mußte die Wissenschaft der Medizin dann selbst den augenfälligen Schaden legitimieren, der vom professionellen Mediziner verursacht worden war. Zur Zeit der Wasserscheide waren die positiven Auswirkungen der neuen wissenschaftlichen Entdeckungen leicht nachzuweisen und zu verifizieren. Durch keimfreies Wasser ließ sich die Diarrhöe-bedingte Säuglings­sterblichkeit senken; Aspirin verringerte die Schmerzen bei Rheumatismus und die Malaria konnte man mit Hilfe von Chinin in den Griff bekommen. 

Einige traditionelle Heilverfahren wurden als Quacksalberei entlarvt, aber, was wichtiger war, eine Reihe simpler Verhaltensweisen und Werkzeuge fanden schnell weite Verbreitung. Die Menschen begannen zu erkennen, daß ein Zusammenhang besteht zwischen Gesundheit und ausgewogener Ernährung, frischer Luft, Kallisthenie, sauberem Wasser und Seife. Neue Utensilien, von der Zahnbürste bis hin zu Pflastern und Kondomen, waren nun weitgehend zugänglich. Daß die moderne Medizin zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen positiven Beitrag zur Gesundheit des einzelnen geleistet hat, läßt sich kaum bezweifeln.

In der Folgezeit aber begann die Medizin, sich ihrer zweiten Wasserscheide zu nähern. Jedes Jahr hatte die medizinische Wissenschaft einen neuen Durchbruch zu vermelden. In neuen Fachrichtungen praktizierenden Ärzten gelang es, einzelne, an seltenen Krankheiten leidende Patienten zu heilen. Die medizinische Praxis ging immer mehr in die Hände von Kranken­haus­beleg­schaften über. Der Glaube an Wunderheilmittel ließ den gesunden Menschen­verstand und das tradierte Wissen über Heilung und Gesundheitspflege verkümmern.

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Der verantwortungslose Gebrauch von Heilmitteln griff von den Ärzten auf die Allgemeinheit über. Man näherte sich der zweiten Wasserscheide, als der Grenznutzen weiterer Professionalisierung immer geringer wurde, zumindest sofern man ihn als körper­liches Wohlbefinden der größtmöglichen Zahl an Individuen definieren kann. Die zweite Wasserscheide wurde über­schritten, als sich der Nichtnutzen vergrößerte, da die weitere Monopolisierung des medizinischen Establishments erkennen ließ, daß eine größere Zahl an Menschen nun mehr Leiden zu ertragen hatten.

Nachdem diese Wasserscheide überschritten war, gab die Medizin vor, weitere Fortschritte zu machen, gemessen an neuen Zielen, die sich die Ärzte selbst steckten und dann natürlich auch erreichten: Sowohl die Entdeckungen als auch der Preis dafür waren vorhersehbar. So überlebten beispielsweise eine kleine Zahl von Patienten nun die Transplantation verschiedener Organe. Andererseits waren die Gesamtkosten, die der Gesellschaft durch die Medizin aufgebürdet wurden, nicht mehr mit herkömmlichen Maßstäben meßbar. Es kann in der Gesellschaft einfach keine quantitativen Standards geben, an denen sich der Negativwert der Folgen medizinischer Behandlung, wie beispielsweise Selbsttäuschung, soziale Kontrolle, verlängertes Leiden, Einsamkeit, genetischer Verfall und Enttäuschung messen lassen.

Auch andere industrielle Institutionen haben die gleichen beiden Wasserscheiden überschritten. Das gilt in jedem Falle für die wichtigsten gesellschaftlichen Instanzen, die in den vergangenen 150 Jahren einer Neuorganisation nach wissenschaftlichen Kriterien unterzogen wurden. Das Bildungswesen, die Post, die Sozialarbeit, das Transportwesen, ja sogar der Hoch- und Tiefbau haben eine solche Entwicklung durchgemacht. Zuerst wird neues Wissen zur Lösung eines klar formulierten Problems eingesetzt, und es werden wissenschaftliche Maßstäbe angelegt, um die neue Effizienz unter Beweis zu stellen. An einem späteren Punkt jedoch wird der durch eine früher erbrachte Leistung bewiesene Fortschritt als Rechtfertigung dafür genutzt, die gesamte Gesellschaft um eines Wertmaßstabs willen auszubeuten, der von einem kleinen Teil der Gesellschaft, nämlich von einer der sich selbst autorisierenden berufs­ständischen Eliten, gesetzt und ständig revidiert wird.

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Was das Transportwesen betrifft, so hat der Übergang von einer Ära, in der motorisierte Fahrzeuge Dienste leisteten, in eine Ära, in der die Gesellschaft in fast sklavische Abhängigkeit vom Auto geraten ist, fast ein Jahrhundert gedauert. Zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs gelang es, Dampfkraft für Fahrzeuge nutzbar zu machen. Die neue Rationalität des Transports erlaubte es vielen, auf der Schiene so schnell zu reisen wie in einer königliche Kutsche, und zwar mit einem Komfort, den sich nicht einmal Könige hätten träumen lassen. Nach und nach assoziierte man wünschenswerte Mobilität immer mehr mit hohen Fahrzeug­geschwindigkeiten, bis man schließlich beide gleichsetzte. Nachdem der Transport jedoch seine zweite Wasserscheide überschritten hatte, trugen Fahrzeuge eher dazu bei, Entfernungen zu schaffen, als sie zu überbrücken. Insgesamt vergeudete die Gesamt­gesellschaft mehr Zeit um des Straßenverkehrs willen, als sie damit "einsparte".

Um die gegenwärtige gesellschaftliche Krise aus einer neuen Perspektive sehen zu können, genügt es, die Existenz dieser beiden Wasserscheiden zur Kenntnis zu nehmen. Innerhalb eines Jahrzehnts haben mehrere wichtige Institutionen gemeinsam ihre zweite Wasserscheide überschritten. Schulen können allmählich immer weniger den Anspruch erheben, effiziente Werkzeuge für die Wissens­vermittlung zu sein; Autos sind keine effizienten Massentransportmittel mehr; die Arbeit am Fließband ist als Produktions­weise nicht mehr akzeptabel.

Für die sechziger Jahre war es bezeichnend, auf die zunehmende Frustration mit einer weiteren Eskalation von Technik und Bürokratie zu antworten. Eine selbstzerstörerische Machteskalation wurde in den hochindustrialisierten Ländern zum wichtigsten Ritual. In diesem Kontext betrachtet ist der Vietnamkrieg entlarvend und verschleiernd zugleich. Er macht auf einem begrenzten Kriegsschauplatz der ganzen Welt deutlich, wie dieses Ritual vonstatten geht, und gleichzeitig lenkt er von der Tatsache ab, daß das gleiche Ritual auf vielen sogenannten friedlichen Schauplätzen zelebriert wird.

Der Verlauf dieses Krieges zeigt, daß einer konvivialen Armee, die selbst auf Fahrradgeschwindigkeiten beschränkt ist, durch die anonyme Macht­eskalation des Gegners gedient ist. Und dennoch sind viele Amerikaner der Meinung, daß die Ressourcen, die im Krieg im Fernen Osten vergeudet werden, sinnvoll eingesetzt werden könnten, um die Armut zu Hause zu bekämpfen. Andere wiederum möchten die zwanzig Milliarden Dollar, die der Krieg jetzt kostet, dafür verwendet sehen, die internationale Entwicklungs­hilfe aus ihrem derzeitigen Tiefstand von zwei Milliarden herauszuhelfen. Sie sind einfach unfähig, die institutionelle Struktur zu durchschauen, die einem friedlichen Krieg gegen die Armut ebenso zugrunde liegt wie einem blutigen Krieg gegen Anders­denkende. Beide lassen das eskalieren, was sie eigentlich eliminieren sollten.

Obgleich alles darauf hinweist, daß es zur totalen Niederlage führt, wenn man immer mehr vom gleichen fordert, meint man in einer dem Wachstumswahn verfallenen Gesellschaft, mehr und mehr zu brauchen. Es wird nicht nur verzweifelt nach mehr Bomben und mehr Polizei, nach mehr medizinischen Untersuchungen und mehr Lehrern gerufen, sondern auch nach mehr Informationen und weiterer Forschung. 

Der Herausgeber des <Bulletin of Atomic Scientists> behauptet, die meisten unserer heutigen Probleme rührten daher, daß in jüngster Zeit gewonnene Erkenntnisse schlecht umgesetzt wurden, und er folgert, daß nur weiteres neues Wissen gegen die Verwirrung helfen kann, die durch diese Erkenntnisse gestiftet worden ist. Man meint heute, die durch Wissenschaft und Technik entstandenen Probleme könnten nur mit Hilfe weiteren wissenschaftlichen Verständnisses und besserer Technik gelöst werden. Gegen ein unfähiges Management kann nur dessen Erweiterung helfen. Gegen die Folgen spezialisierter Forschung kann nur noch kostspieligere interdisziplinäre Forschung helfen, so wie gegen die Verschmutzung der Flüsse nur die Verwendung noch teurerer, nichtverschmutzender Waschmittel helfen kann.

Das Poolen von Informationsbeständen, der Aufbau von Wissenskapital, der Versuch, die gegenwärtigen Probleme mittels einer Erweiterung der Wissenschafts­produktion zu lösen, ist der verzweifelte letzte Versuch, eine Krise zu überwinden, indem man sie eskalieren läßt.

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